Überzählig

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Auf der Bordsteinkante in unserer Straße saß gestern Abend ein Clown. Es war schon spät; er saß mit dem Rücken angelehnt an dem hochragenden Mast eines Straßenlichts, das über ihm der einfallenden Dunkelheit Paroli bot und ihn retuschierte zu einer farblosen Gestalt. Bloß die kugelförmige Pappnase in seinem Gesicht, sie blinkte ständig rötlich auf, schwach, wie ein kaum wahrzunehmendes Signal. Sein kariertes Hemd stand vier Knöpfe weit offen. Auf der Brust, die sich bei jedem Atemzug beachtlich hob und senkte, lag wie hingestreut eine welke Rose. An den Füßen trug er schwarze, an den Spitzen eingeknickte Schuhe. Die Hose war aus Segeltuch gefertigt, sie hätte Platz in sich gehabt für zwei, oder gar drei von seinem Schlag. Mit der rechten Hand hielt er den Griff einer auf seinen Schenkeln ruhenden Rätsche, ein einfaches Holzinstrument, das, wird es einmal in Bewegung gebracht, außer Krach nichts zustande bringt. So saß er ohne Erregung da, wobei der Abendwind sein Haar verwehte.
In Anbetracht seiner Deplatzierung hätte man auf den Gedanken kommen können, er wäre gerade aus einem Zirkuskarren gefallen. Ein durchaus durch Nichts zu erschütternder Mensch, der geduldig darauf wartete, von seiner Sippschaft wieder eingesammelt zu werden. Doch welcher Zirkus fuhr schon auf unserer abgelegenen Straße. Der Gedanke war der Realität zu sehr abhandengekommen, ich verwarf ihn, noch ehe er zu Ende gedacht. Während ich mir selbst eine Erklärung schuldig blieb, kam ein Junge des Weges. Er trug in seinen ausgestreckten Händen ein kleines elektrisches Spiel, er war blass im Gesicht und ganz darin vertieft. Ihm blieb nichts anderes übrig, als über die fast zu spät bemerkten, weit in die Straße reichenden Beine des überzähligen Menschen hinwegzusteigen. Da wurde der Clown auf einmal lebendig, er blickte an dem Jungen hoch und die Rätsche wurde von seiner Hand mit einer rotierenden Bewegung ausgeführt. Das Knattern war jedoch von kurzer Dauer. Mit Erstaunen sah ich, wie die Rose auf dem Clown zu glühen begann, zweimal schnell aufeinander. Der Junge aber schenkte ihm keine Beachtung, seine Schritte trugen ihn fort, so wie sie ihn gerade gebracht hatten, unpersönlich hallten sie wie in einem Stiegenhaus. Es dauerte nicht lange, und ein Mädchen trippelte daher, unnatürlich, wie der Junge zuvor, als wandelten sie beide im Schlaf. Das Mädchen war wie der Junge am Spielen. Und wieder begehrte das menschliche Hindernis auf, doch erneut umsonst.
Als ordnungsliebender Mensch hatte ich jetzt aber genug, weit hinaus lehnte ich mich aus dem Fenster.
„Was treibst du eigentlich da unten, du Clown?“
Er sah hoch zu mir und rief ganz laut: „Sehen Sie es denn nicht, Sie Narr, ich verende!“
 
E

eisblume

Gast
Lieber Gernot,

deine Geschichte geht mir richtig unter die Haut, besonders der letzte Satz, der hat es wirklich in sich.
Dein Clown ist ausgesprochen bildhaft und lebendig gezeichnet, die welke, glühende Rose, ein sehr schönes Detail, die Kinder, die sich für nichts anderes als ihr elektronischen Spielzeuge interessieren, dem gegenübergestellt die einfache Holzrätsche. Sehr gekonnt!

Kleinigkeiten:

So saß er ohne Erregung da, wobei der Abendwind sein Haar verwehte.
Ich meine, hier würde "Regung" ausreichen.
Ein durchaus durch Nichts zu erschütternder Mensch, der geduldig darauf wartete, von seiner Sippschaft wieder eingesammelt zu werden.
Brauchst du dieses "durchaus" hier wirklich?

Ich mag deine Sprache, deine Wortwahl, nur bei dem Satz geht mir irgendwie die Luft aus.
Es war schon spät; er saß mit dem Rücken angelehnt an dem hochragenden Mast eines Straßenlichts, das über ihm der einfallenden Dunkelheit Paroli bot und ihn retuschierte zu einer farblosen Gestalt.
Nicht, dass er mir zu lang ist, vielmehr ist er mir ein wenig zu unübersichtlich formuliert (kann man das so sagen?). Zudem schreibst du von Abend und einfallender Dunkelheit, daher meine ich, dass du "Es war schon spät" gar nicht brauchst.

Insgesamt ein sehr starker Text, den ich gern gelesen habe.

Lieben Gruß
eisblume
 
Liebe Eisblume, ich bedanke mich für die (Eis) Blumen.

Ich meine, hier würde "Regung" ausreichen.
Ja, ich habe heute lange darüber nachgedacht, "Erregung" ist zu doppeldeutig. Ändere ich.
Brauchst du dieses "durchaus" hier wirklich?
Für mich schon, weil ich solche Wortspielereien gerne lese und schreibe.
Ich mag deine Sprache, deine Wortwahl, nur bei dem Satz geht mir irgendwie die Luft aus.
Ich nehme "es ist schon spät" heraus. Du hast recht, das ist redundant. Hoffe, somit wird der Satz auch besser leserlich.
Wenn nicht, reklamiere.

Übrigens, schreibst du einen konstruktiven Kommentar, kannst du ihn getrost öffentlich hinterlassen.

K.
Gernot
 
Auf der Bordsteinkante in unserer Straße saß gestern Abend ein Clown. Er saß mit dem Rücken angelehnt an dem hochragenden Mast eines Straßenlichts, das über ihm der einfallenden Dunkelheit Paroli bot und ihn retuschierte zu einer farblosen Gestalt. Bloß die kugelförmige Pappnase in seinem Gesicht, sie blinkte ständig rötlich auf, schwach, wie ein kaum wahrzunehmendes Signal. Sein kariertes Hemd stand vier Knöpfe weit offen. Auf der Brust, die sich bei jedem Atemzug beachtlich hob und senkte, lag wie hingestreut eine welke Rose. An den Füßen trug er schwarze, an den Spitzen eingeknickte Schuhe. Die Hose war aus Segeltuch gefertigt, sie hätte Platz in sich gehabt für zwei, oder gar drei von seinem Schlag. Mit der rechten Hand hielt er den Griff einer auf seinen Schenkeln ruhenden Rätsche, ein einfaches Holzinstrument, das, wird es einmal in Bewegung gebracht, außer Krach nichts zustande bringt. So saß er ohne Regung da, wobei der Abendwind sein Haar verwehte.
In Anbetracht seiner Deplatzierung hätte man auf den Gedanken kommen können, er wäre gerade aus einem Zirkuskarren gefallen. Ein durchaus durch Nichts zu erschütternder Mensch, der geduldig darauf wartete, von seiner Sippschaft wieder eingesammelt zu werden. Doch welcher Zirkus fuhr schon auf unserer abgelegenen Straße. Der Gedanke war der Realität zu sehr abhandengekommen, ich verwarf ihn, noch ehe er zu Ende gedacht. Während ich mir selbst eine Erklärung schuldig blieb, kam ein Junge des Weges. Er trug in seinen ausgestreckten Händen ein kleines elektrisches Spiel, er war blass im Gesicht und ganz darin vertieft. Ihm blieb nichts anderes übrig, als über die fast zu spät bemerkten, weit in die Straße reichenden Beine des überzähligen Menschen hinwegzusteigen. Da wurde der Clown auf einmal lebendig, er blickte an dem Jungen hoch und die Rätsche wurde von seiner Hand mit einer rotierenden Bewegung ausgeführt. Das Knattern war jedoch von kurzer Dauer. Mit Erstaunen sah ich, wie die Rose auf dem Clown zu glühen begann, zweimal schnell aufeinander. Der Junge aber schenkte ihm keine Beachtung, seine Schritte trugen ihn fort, so wie sie ihn gerade gebracht hatten, unpersönlich hallten sie wie in einem Stiegenhaus. Es dauerte nicht lange, und ein Mädchen trippelte daher, unnatürlich, wie der Junge zuvor, als wandelten sie beide im Schlaf. Das Mädchen war wie der Junge am Spielen. Und wieder begehrte das menschliche Hindernis auf, doch erneut umsonst.
Als ordnungsliebender Mensch hatte ich jetzt aber genug, weit hinaus lehnte ich mich aus dem Fenster.
„Was treibst du eigentlich da unten, du Clown?“
Er sah hoch zu mir und rief ganz laut: „Sehen Sie es denn nicht, Sie Narr, ich verende!“
 
E

eisblume

Gast
Lieber Gernot,

du hast ja gesagt, ich darf reklamieren :)

Ich hab jetzt nichts gegen Wortspielereien und ich will jetzt nicht pingelig wegen dieses Wörtchens wirken. Ich empfinde es nur als unpassend - vielleicht, weil es mir nicht konkret genug ist.

Ein durchaus durch Nichts zu erschütternder Mensch, der geduldig darauf wartete, von seiner Sippschaft wieder eingesammelt zu werden.
Ich fände so etwas wie
geradezu - partout - ganz und gar - gänzlich - reinweg - zweifellos
einfach deutlicher. Da ich aber denke, dass es dir um die zweimal "durch" geht, will ich nichts gesagt haben :)

Dann auch nochmals zu diesem Satz:
Er saß mit dem Rücken angelehnt an dem hochragenden Mast eines Straßenlichts, das über ihm der einfallenden Dunkelheit Paroli bot und ihn retuschierte zu einer farblosen Gestalt.
Mir ist schon klar, dass du auf deine Satzbildungen besonderen Wert legst und dir etwas dabei denkst, aber dieser hier ist mir trotz der Streichung am Anfang immer noch zu unübersichtlich. Könntest du dich damit anfreunden, das "retuschierte" an das Satzende zu stellen?

Lieben Gruß
eisblume
 
E

eisblume

Gast
Lieber Gernot,

ich hatte nicht wirklich erwartet, dass es an anderer Stelle retuschieren könnte, aber ich wollte es trotzdem angesprochen haben.

LG
k eisblume
 



 
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