Umarmung

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lietzensee

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Umarmung​


Etwas verfolgte ihn. Mit seinem Fahrrad fuhr er durch die Straßen der dunklen Stadt und die Novemberkälte prickelte in seinem Hals. Am Kanal entlang spiegelten sich Leuchtreklamen im schwarzen Wasser. Ampeln, Schilder, verlassene Kreuzungen, er trat in die Pedalen. Eine S-Bahn rauschte auf der Brücke und hinter den erleuchteten Fenstern waren fast alle Plätze leer. Etwas verfolgte ihn. Aber er blickte nicht hinter sich. Stattdessen hob er immer wieder den Kopf und kniff die Augen zusammen. Bildschirme ragten auf Säulen über den Fahrweg, Werbung für Waschmittel, Pizza und Onlinespiele. Dazwischen aber immer wieder die Warnungen. Bleib zuhause. Kontakte führen zu Infektionen. Infektionen kosten Leben. Er war zu Yasemin gefahren, einmal quer durch die Stadt. Er hatte geflucht über sein eigenes Verlangen. Doch er hatte vor ihrer Tür gestanden, die Maske vor dem Gesicht. Sie hatte nicht geöffnet. Konnte es wirklich sein, dass sie jetzt nicht zuhause war? Bildschirme flimmerten. Sein Puls raste. War er nicht nicht mehr richtig bei Verstand? Aber ein Geisteskranker würde sich so eine Frage nicht stellen. Zwischen den Warnungen auf den kalt leuchtenden Monitoren hatte sich etwas eingeschlichen. Rote Flecken verwischten die Botschaften. Sie schlossen sich zu neuen Formen zusammen. Aus der Anzeigetafel einer Bushaltestelle heraus verfolgten ihn zwei drohende Augen.

"… halten sie den Mindestabstand ..." kratzte ein Lautsprecher von einem der leeren Bahnhöfe herüber. Er trat so schnell er konnte. Doch der nächsten Leuchtreklame konnte er nicht entgehen. Sie wölbte sich quer über die Radspur und er duckte sich auf den Lenker, bevor er keuchend darunter hindurch fuhr.

Er hatte etwas sehr Dummes gewollt. Aber er fuhr ja schon wieder nachhause. Endlich war er wieder in seinem eigenen Bezirk. Da war das Modegeschäft am Anfang seiner Straße. Im dunklen Schaufenster schimmerten die Gesichter der Mannequins. Sein Rad klapperte auf dem Kopfsteinpflaster. Vor dem Tor sprang er ab. Die Schlüssel rasselte zwischen seinen Fingern und er machte kein Licht auf dem Hof.

Auf seinem Flur atmete er warme Staubluft ein und wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Hier fühlte er sich noch sicher. Er schlief, aß und arbeitete seit Wochen in seiner Wohnung und die Welt hier drin hatte sich abgesondert von dem, was draußen vor der Tür lag.

Yasemin war eine flüchtige Bekannte. Er hatte sie im Netz kennen gelernt und irgendwann war sie ihm anziehender erschienen, als die wenigen verbliebenen Freunde. Er wollte ihre Stimme hören nicht nur das Kratzen, das ihr billiger Laptop übertrug. Er wollte sie umarmen. Ihre Tür hatte eine neue Klingelanlage gehabt. Die neue Klingel hatte einen Bildschirm. Als er den Knopf drückte, hatte dieser Bildschirm aufgeleuchtet. War er wirklich verrückt geworden?

Er warf seine Jacke auf den Boden. Vorsichtig schlich er zum Küchenfenster und blickte hinaus. Hinter kahlen Ästen konnte er die Wohnungen gegenüber sehen. Eine Frau legte Karten auf ihrem Couchtisch. Jemand öffnete sein Badezimmerfenster. Ein Mann stand in seiner Küche und knipste das Licht aus. Dann knipste er es wieder an, wieder aus, wieder an, wieder aus. Ob seine Nachbarn verrückt geworden waren? Im Erdgeschoss klatschte eine alte Frau in die Hände und ein riesiger Fernseher flammte auf. Aus der Küche rannte er zurück in seinen Flur.

Nirgends war er mehr sicher. Er lief den Flur auf und ab und in seinem Kopf tanzten wirre Bilder. Das Büro ohne die Kollegen, leere Schreibtische und eine Kaffeetassen noch am selben Fleck an dem er sie vor Wochen abgestellt hatte. Die Siegessäule in der Stadtmitte, wo sich auf goldenen Flügeln eines Engels ein Schwarm Krähen niedergelassen hatte. Ein riesiges Gesicht, dass mit roten Augen im Nachthimmel kreiste. Ja, er trat vor den Spiegel, vielleicht war er verrückt. Auf dem leeren Flur sah er sich um und holte tief Luft.

Da klingelte es an seiner Tür. Das war schon ewig nicht mehr passiert. Er war so überrascht, dass er sofort öffnete. Draußen stand ein Mann in greller Uniform. Er hielt eine Schachtel Pizza in einer Hand und in der Anderen ein leuchtendes Tablett. Fragende Augen blickten über den Mundschutz.

Mit all seiner Kraft stieß er die Tür wieder zu. Er schloss drei mal ab. Dieser Kerl hatte einen Bildschirm in der Hand gehabt. Woher kam das? Was war das? Er schlug gegen seinen Kopf und wieder sah er sich mit der Hand an Yasemins Klingel. Hinter einer der anderen Türen hatte jemand gehustet. Dann war der kleine Bildschirm aufgeflammt. Bist du ansteckend? Stand auf der Anzeige, leuchtende Buchstaben, in drohend roter Farbe. Er war geflohen. Aber die Angst hatte ihn überall hin verfolgt. Im Flur lief er auf und ab und dachte an seinen Laptop im Schlafzimmer. Da konnte er sich nicht mehr hinein trauen. In die Küche mit der modernen Mikrowelle auch nicht. Nur hier im Flur gab es keine Monitore, nur hier im Flur … Sein Blick fiel auf den Spiegel, doch darin sah er keine Reflexion. Eine Fratze glotzte ihn an. Die Augen waren rot und zu dem Gesicht gehörte ein verzerrter Körper. Der presste sich von innen gegen das Glas. Dann zwängte er sich hindurch.

Die Gestalt schritt durch den Flur und er drückte sich gegen die Wand. Er war nicht verrückt. Dieses Monster war echt. „Komm näher!“, sprach eine kratzender Stimme. Jetzt ragte es groß über ihn auf und beugte sich hinunter. Es hustete mit seinem maskenlosen Maul. Es grinste. Dann umschlang es ihn und erdrückte seine Schreie.
 
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Hallo lietzensee,

super ausgefeilte Geschichte. Hochaktuell natürlich außerdem.

Nirgends war er mehr sicher. Er lief den Flur auf und ab und in seinem Kopf tanzten wirre Bilder. Das Büro ohne die Kollegen, leere Schreibtische und eine Kaffeetassen noch am selben Fleck an dem er sie vor Wochen abgestellt hatte.
Klingt nach einer Kleinigkeit, doch genau so etwas kann einen mit der Zeit verrückt machen.

Schade, dass Horrorgeschichten hier nicht so sehr beachtet werden.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

lietzensee

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
vielen Dank für deine Bewertung. Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Ich hab halt versucht, die aktuelle Stimmung einzufangen. Hoffen wir, dass das bald alles hinter uns liegt.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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