Unbestimmter Abschied

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Tenebrula

Mitglied
Unbestimmter Abschied

Du sagst, du möchtest reisen,
und räumst doch alle Schubladen aus,
denn es könnten die Brücken vereisen
und nichts brächte dich wieder nach Haus.

Du sagst, dich lockt die Ferne,
fremder Küsten geschwungener Saum.
Doch die Karten bei dir zeigen Sterne
und dahinter unendlichen Raum.

Du sagst, du wirst mir schreiben,
doch dein Blick sucht die Leere der Wand
und es wird nur Erinnerung bleiben
an den freundlichen Druck deiner Hand.

(2009)
 
Hallo Tenebrula,

gefällt mir sehr gut, ein wehmütiges Gedicht, Gedanken über ein Lyrisches Du, das sagt, es will nur verreisen, doch das LI nicht darüber hinweg täuschen kann, dass das Wiederkommen gar nicht geplant ist.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo Tenebrula,
ein tief berührendes Gedicht! Besonders gefällt mir, daß die Wehmut nicht direkt ausgesprochen ist,
sondern sich beim Lesen durch die Identifikation mit den lyrischen Ich von selber einstellt. Es ist alles in - sehr schwungvollen - Bildern gesagt, die ein gewisses - dem
Anlaß ja durchaus angemessenes - Pathos transportieren, das aber durch die lakonische Art ausbalanciert wird, in der das, was das lyrische Du sagt, und dessen
Handeln gegenübergestellt werden. Das Ich will sich dem Du gegenüber keine Blöße geben oder hat zu einer Resignation gefunden, unter der es noch brodelt -
oder beides. Dabei wird klar, daß die Wesensart des Du wenig Hoffnung auf eine Rückkehr läßt: Brücken (die ja der Verbindung dienen) mit Eis zu assoziieren
verrät ja schon einiges über die Gefühlswelt der Person (und eine faule Ausrede ist es obendrein, denn auch über vereiste Brücken kann man gehen),
und der folgende Satz ist zweideutig:
vielleicht gibt es ja zu Hause nichts, was zum Zurückkommen motivieren könnte. Das lyrische Du legt sich nicht gern fest (der Küstensaum liegt zwischen Land und Wasser), will sich prinzipiell ("deine Karten") unendliche Möglichkeiten ("unendlichen Raum" ) offenhalten ,indem es seine Ziele so hoch anlegt (Sterne), daß sie real nicht zu erreichen sind, und ist von vorneherein auf das Trennende
ausgerichtet (die Wand, deren Leere eine tabula rasa ist).
Hier ist in Bildern, die viele Assoziationen ermöglichen und in ihrer Kombination doch sehr genau sind, auf sehr einfache Art sehr vieles gesagt.
Viele Grüße
Anne Fröhlich
 

Tenebrula

Mitglied
Dankeschön euch beiden für eure Worte! Es freut mich sehr zu lesen, dass Lyrik im Herzen eine so genaue Resonanz erreichen und trotzdem noch Spielraum für eigene Assoziationen lassen kann.
Ich freue mich, hier zu sein und setze in der kommenden Zeit noch einiges dazu, Altes zumeist, aber mit der Hoffnung auf neue Inspiration :)
... und freue mich meinerseits gewaltig aufs Lesen in dieser reich sprudelnden Quelle!
Liebe Grüße!
 

Yeti

Mitglied
Hallo Tenebrula!

Noch ein wundervolles Gedicht von Dir!
Zu Form und Inhalt habe ich den Gedanken von Anne Fröhlich aber auch so gar nichts hinzuzufügen.

Nur in S1 bin ich kurz ins Stolpern geraten.
Vieleichst versuchst Du mal das:

(Am besten liest Du zuerst Deine Strophe noch einmal und danach meine)

Du sagst, du möchtest reisen,
und räumst doch die Schubladen aus ,
denn es könnten die Brücken vereisen
und nichts brächte dich wieder nach Haus.

Wenn Dir das ebenfalls flüssiger erscheint, darfst Du das natürlich gerne verwenden.

Liebe Grüße,
Yeti
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Yeti,

Jetzt sag ich nicht nochmal Danke, sonst nutzt sich das ab ;-)

Zu deinem Einwand: ich glaube, ich habe mich nicht im Metrum verzählt. Die Betonungsstruktur der Strophen ist nicht so ganz klassisch (jeweils der erste Vers ist in einem anderen Rhythmus, weil es um die Aussagen des lyr. Du geht), aber ich habe sie durchweg eingehalten:

- ' - ' - ' -
Du sagst, du möchtest reisen,
- - ' - - ' - - '
und räumst doch alle Schubladen aus ,
- - ' - - ' - - ' -
denn es könnten die Brücken vereisen
- - ' - - ' - - '
und nichts brächte dich wieder nach Haus.


Liebe Grüße,
Tenebrula
 

Yeti

Mitglied
Passt schon!
Bin halt nicht so der Metriker. Eher der Musikus (der für den Fluss)

Und Gruß,
Yeti
 

Tenebrula

Mitglied
Oh, das ist interessant. Schreibst du auch Liedtexte bzw. vertonst eigene Texte?

Musik mag ich auch, und versuche mich hin und wieder dran.

Stets einen inspirierten Fluss wünscht
Tenebrula
 

Yeti

Mitglied
Sorry, bin nur der Konsument, nicht der Könner. Wie in der Sprache, bin ich eher der Praktiker. Noten, grammatische Feinheiten, 'Theorie der Lyrik' - alles Bücher mit mehr Siegeln als ich verkraften kann...
Komischerweise konnte ich alles verkraften was ich gelesen habe.
Von Ephraim Kishon über Albert Camus und H.D. Thoreau bis zum Nibelungenlied -
(allerdings zweisprachig).

Danke für Deine inspirierenden Wünsche,
Yeti
 
Hallo Tenebrula,

ein hervorragendes Gedicht, ich fühlte mich durch den Klang an Rilke erinnert. Es schwingt eine ungeheure Wehmut mit, die ich unglaublich gerne empfinde, wenn ich ein Gedicht lese. Ich möchte gar nicht auf die einzelnen Assoziationen eingehen, denn das Gesamtbild ist so stimmig, dass eine Sehnsucht ausgelöst wird und doch eine Schwere; eine wunderbare Kombination, die überhaupt nur dann eintritt, wenn auch die Einzelheiten ein in sich (geschlossenes) Ganzes ergeben. Wobei vielleicht das geschlossene Ganze eines guten Gedichts die Unmöglichkeit der Ganzheit ist und die schwingt in deinem Gedicht in jedem Fall immer mit!

Alles Liebe,
Morgenlandfahrer
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo Tenebrula,

dein Gedicht ist wunderschön! Auch ich erkenne hier Rilke als Vorbild, aber das ist nicht schlimm, sondern eher etwas Gutes. Was mir besonders gefällt, ist, dass du bei den gereimten Versen nicht stringent die gleiche Silbenzahl verwendest, sondern diese, ohne aus dem Metrum auszubrechen, variierst.

Sehr gern gelesen!

Liebe Grüße
Frodomir
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Morgenlandfahrer,

Herzlich danke ich für deine Worte. Interessant finde ich deinen letzten Satz von der Unmöglichkeit der Ganzheit.
Wobei vielleicht das geschlossene Ganze eines guten Gedichts die Unmöglichkeit der Ganzheit ist
Meinst du damit vielleicht, dass es einen Widerspruch oder eine offene Frage geben muss, damit ein Gedicht interessant bleibt und es daher nie in sich geschlossen sein sollte?
Das wäre ein aussagekräftiger Schlüssel zum Schreiben, aber auch Lesen von Gedichten.

Lieben Gruß,
Tenebrula
 

Tenebrula

Mitglied
Hallo Frodomir,

Es freut mich sehr, dass dir das Gedicht gefällt. Und auch die Abweichungen in der Silbenzahl, richtig (die jeweils erste Zeile ist in der Silbenzahl verkürzt, weil das die Aussagen des lyrischen Du sind, und die sich damit etwas abgrenzen).

Liebe Grüße,
Tenebrula
 
Hallo Tenebrula,

ich glaube, dass ein gutes Gedicht gar nicht anders kann, als eine offene Frage oder ähnliches aufzuwerfen, weil das Gedicht sonst nicht lebendig ist, weil keine Bewegung mehr möglich ist. Ein Gedicht stünde dann immer im Werden und wäre nie vollkommen abgeschlossen, aber das macht es ja genau besonders/aufregend/geheimnisvoll. Vielleicht würde ich dann ein gutes Gedicht als ein behutsames Vortasten sehen zur Ganzheit, aber da jedes Gedicht noch immer ein Tasten ist, ist es nicht die Ganzheit selbst.

Ich könnte mir das sehr gut als einen (programmatischen) Schlüssel zum Schreiben oder Lesen von Gedichten vorstellen, auch wenn ich ehrlicherweise zugeben muss, dass es mir selbst beim Schreiben nicht immer leicht fällt, diesen Aspekt bewusst im Auge zu behalten. (Wobei die Frage, ob das bewusst mitgedacht werden muss, mal dahingestellt sei).

Viel wichtiger ist aber, dass diese Gedanken aufgrund deines Gedichts aufgekommen sind, weil es so eine sehnsüchtige Unabgeschlossenheit zurücklässt, die ich einfach persönlich an Gedichten sehr gerne mag!

Viele Grüße,
Morgenlandfahrer
 



 
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