... und alles wimmelnde Getier ...
In fünfhundert Metern Höhe, am Fallschirm seines Rettungssitzes baumelnd, hatte Miles Brandon geradezu einen Logenplatz, als die Pandora sich in die Felsabstürze einer nahen Bergkette bohrte und in einem grellen Lichtblitz verging.
Brandon war weit genug entfernt, um vor der Druckwelle und umherfliegenden Trümmern sicher zu sein, aber er krächzte einen ordinären Fluch, als ihm klar wurde, dass es dort nichts mehr zu bergen geben würde. Zu weiterem Nachdenken kam er zunächst nicht, denn er näherte sich rasch dem Boden.
Er zappelte mit Händen und Füßen, als könne er so seinen Fall bremsen. Denn er wollte nicht dort hinunter. Nicht auf diesen Planeten! Doch es ging nicht mehr darum, was er wollte. Sein Sitz raste unaufhaltsam dem Boden entgegen und grub sich in die Flanke einer weißen, weichen Düne.
Er hörte das Krachen der Gurte, die sich tief in sein Fleisch schnitten, bevor sie barsten und er kopfüber in den Sand geschleudert wurde. Augenblicklich war er wieder auf den Beinen spie taumelnd einen Mund voll Sand aus und schaute fassungslos zu den Bergen hinüber wo die Explosionswolke auf den Fallwinden wie eine schwärzliche Lawine zutal strömte.
Verdammt, er war zu früh hier unten - ganze 5 Tage zu früh!
Mit fahrigen Fingern tastete er über sein Gesicht, untersuchte die Haut seiner Hände und Unterarme. Gott sei Dank, da war nichts Auffälliges, alles sah normal und gesund aus. Seufzend ließ er sich wieder in den Sand sinken. Die Killer-Enzyme waren als schon abgebaut worden.
Er hatte sagenhaftes Glück gehabt: punktgenau hatte er den einzigen schmalen Sandstreifen entlang der ganzen Küste erwischt. Alles andere war nackter schwarzer Fels, der sich in mächtigen, ausgewaschenen Terrassen weit in die See vorschob, gleich einer titanischen Treppe, die vom Meer her zum Land aufstieg. Nur ein paar Meter weiter und er hätte sich sämtliche Knochen gebrochen.
Der erste leichte Schock des Aufpralls war abgeklungen und seine Prellungen und Zerrungen begannen sich bemerkbar zu machen. Er musste in Bewegung bleiben, wenn er vermeiden wollte, dass der Schmerz ihn bewegungsunfähig machte. Und wenn er nicht verdursten wollte. Wasser war im Notvorrat seines Rettungssittzes nicht enthalten. Es war einfach nicht genug Platz, etwas hinein zu packen, wovon man jeden Tag mindestens zwei Liter brauchte.
Ächzend richtete er sich auf und begann, sich um sein Überleben zu kümmern.
Es zeigte sich, dass er sich zumindest wegen des Wassers keine Sorgen zu machen brauchte. Am Fuß der Felsterrassen fand er mehrere flache Becken, welche von kleinen Rinnsalen gefüllt wurden, die von den Stufen herabrieselten. Glasklares Süßwasser. Nur in einigen der kleinen Teiche, die von der Flut erreicht wurden, schmeckte es brackig. Flutmarken auf den Felsen bewiesen ihm aber, dass zuweilen auch alle anderen Tümpel vom Meer überflutet wurden.
Schließlich wandte er sich seinem halb in den Sand gebohrten Rettungssitz zu holte den Koffer mit dem Notvorrat heraus und breitete alles vor sich im Sand aus. Es war nicht viel. Eine kleine Schachtel mit Medikamenten, eine Thermodecke, Aluminiumrohre und Folie, um ein behelfsmäßiges Zelt zu errichten, einige Meter grellgelber Folienbahnen und fünf große Dosen mit einer blassen teigigen Masse.
Er dachte an die gestrandeten Astronauten in den Abenteuergeschichten, die viele Monate lang von einer Handvoll sogenannter Nahrungsmittelkonzentrate überlebten. Gequirlter Schwachsinn - das konzentrierteste Nahrungsmittel war reines Fett. Mehr Kalorien ließen sich in ein vorgegebenes Volumen nicht hineinpacken, egal wie sehr man es konzentrierte. Die Standardkonzentrate bestanden denn auch aus fast reinem Fett, versetzt mit ein paar Vitaminen, Mineralien und essentiellen Aminosäuren. Und damit man das Zeug nicht gleich wieder rauskotzte, waren noch Emulgatoren und Schaumbildner enthalten. Wenn man es mit Wasser anrührte, entstand so ein Mousse-artiger Brei, denn man halbwegs hinunterwürgen konnte.
Fünf Kilodosen hatte er von dem Zeug. Machte alles in allem 45.000 Kilokalorien. Bei einer Minimalversorgung von 1000 Kilokalorien am Tag würde das Zeug also anderthalb Monate reichen. Bis dahin musste irgend jemand hergekommen sein und ihn abgeholt haben.
Er suchte nach dem Hyperfunkgerät. Eigentlich hätte es sich seitlich am Rettungssitz befinden müssen, aber er fand nur den ausgefransten Rest des Gurts, mit dem es befestigt gewesen war. Verdammt, das hätte nicht sein dürfen. Ohne das Funkgerät war die Chance, dass man ihn hier fand tausend Milliarden zu eins. Der Planet lag lichtjahreweit entfernt von allen befahrenen Routen. Niemand würde ihn hier suchen, geschweige denn finden - nicht in tausend Jahren.
"Du wirst hier nicht mehr wegkommen", flüsterte er sich selber zu und zum erstenmal kroch eine Angst in ihm empor, so schwarz und grausam, dass es ihn würgte. "Du wirst hier sterben ... allein …".
Es war dieses "allein", das ihm solche Angst machte.
Aber noch war es nicht so weit. Noch hatte er viele Tage Zeit, irgendetwas zu tun, um den Tod auf Distanz zu halten und dafür zu sorgen, dass man ihn bemerkte, falls der Zufall tatsächlich ein zweites Schiff herführen sollte. So kletterte er die Felsterrassen hinauf, hinter denen sich eine graue Ebene bis zum Horizont erstreckte, und legte dort die Folien zu einem großen gelben Kreuz aus. Das war alles, mehr konnte er nicht tun. Holz für ein Feuer würde er nicht finden, nicht einmal trockenes Gras, und es wurmte ihn gewaltig, dass er selber schuld daran war. Zum Teufel, warum hatte er sich nicht einfach aus dem Staub gemacht, nachdem der Schlamassel passiert war? Die OmniSpace verteilte schließlich keine Orden für Pflichterfüllung.
Brandon war freier Prospektor. Sein Auftrag war es gewesen, Planeten mit abbauwürdigen Erzvorkommen zu entdecken und für die OmniSpace-Gesellschaft registrieren zu lassen. Eigentlich kein ungewöhnlicher Job - aber er hatte die Enzym-Bombe dabei. Die Gesellschaft hatte darauf bestanden, Planeten mit ausschließlich niederem Leben vor der Registrierung zu sterilisieren. Doch etwas war schief gelaufen. Die Bombe hatte sich selbständig gemacht, noch bevor die Biosphärenanalyse beendet war.
Die tödlichen Enzyme der Bombe waren um den Planeten gerast wie tobsüchtige Rattenwölfe [1]. Getragen vom Wind und von den Meereströmungen, verbreitet von befallenen Lebewesen und in die Tiefe des Bodens gesogen von den Kapillarkräften. Sie hatten alles Leben vernichtet, indem sie es in seine Grundbausteine zerlegten und in feinen grauen Staub verwandelten. Die Enzyme griffen gesättigte Kohlenstoffbindungen an, brachen sie einfach auf und ließen Fleisch und Holz zerfallen wie trockenen Zunder.
Brandon hatte beschlossen, die sechs Wochen, bis die Enzyme sich wieder abgebaut hatten, im Orbit zu warten. Dann, fünf Tage zu früh, hatte etwas – ein Meteor wohl – die Pandora getroffen, aus der Bahn geworfen und ihn zum Schiffbrüchigen gemacht.
Bald begann es zu dämmern. Zwei kleine rote Monde stiegen über dem Horizont auf, wie ein Paar entzündete Augen. Er baute das Zelt neben einem der Süßwasserteiche auf, um sicher zu sein, dass die Flut ihn nicht erreichen konnte. Dann kroch er hinein und schlief fast augenblicklich ein - in dem sicheren Gefühl, dass ihm auf dieser Welt zwar nichts helfen, ihn aber auch nichts bedrohen konnte, außer schlechtem Wetter.
***
Obwohl er sicher war, nichts Brauchbares mehr zu finden, unternahm er am übernächsten Tag eine halbherzige Exkursion zu der Stelle, wo die Pandora niedergegangen war. Er hegte die schwache Hoffnung, unterwegs vielleicht doch noch irgendwelche Reste von organischem Material zu finden, die ihm als Nahrung dienen konnten. Aber von der Biosphäre des Planeten war nicht eine lebende oder tote Zelle übriggeblieben. Die Enzym-Bombe hatte außer feinem Staub und flüchtigen Gasen nichts übriggelassen. So war sie erdacht und gebaut worden; sie konnte nichts übersehen und keine Ausnahmen machen.
Tatsächlich fand er unterwegs nicht einen einzigen dürren Halm und am Grab der Pandora gab es auch nicht mehr zu sehen, als einen flachen Krater und von der Explosion glasierte Felsen. Immerhin entdeckte er einige Gesteinsproben, die auf reiche Erzlagerstätten schließen ließen. Sollte er also doch noch gerettet werden, würde er der reiche Mann sein, der er immer hatte sein wollen.
Als er sich gerade auf den Rückweg machen wollte bemerkte er unter einem kleinen Felsstück ein silbriges Glänzen. Hastig hob er den Brocken auf. Sein Funkgerät lag darunter, das Display zerfetzt und die Frontplatte eingebeult. Einige Drähte baumelten aus aus dem geplatzten Kunststoffgehäuse. Er warf das Ding in hohem Bogen weg und wollte den Felsbrocken hinterher werfen. Aber da war etwas Seltsames auf dessen Oberfläche. Brandon sah genauer hin. Da war deutlich eine Versteinerung erkennbar: ein kurzes Stück Wirbelsäule und eine flache Schädelplatte mit leeren Augenhöhlen, die sich halb aus dem Stein heraushob.
Verdammt, er hatte nicht nur Algen und Flechten vernichtet. Das Leben auf diesem Planeten war hochentwickelt gewesen und das schon vor vielen Millionen Jahren. Er würde nicht nur reich sein, wenn man ihn hier fand, sondern auch für den Rest seiner Tage in den Bau gehen.
Und das war noch nicht alles. Auf dem Rückweg fand er einen weiteren Beweis dafür, dass die Bombe zwar alles Leben annihilierte, nicht aber seine Spuren. Es waren einige Dutzend kleiner Lehmkuppeln, kaum größer als halbe Melonen. Sie lagen in einer kleinen Kuhle, neben einem Tümpel. Sicher, es konnten natürlich die Bauten niederer Tiere sein, auch Termiten und Wespen errichteten ja komplexe Strukturen, in denen sie lebten. Aber die kleinen dunklen Löcher sahen zu sehr nach Fenstern und Eingängen aus, als dass dieser Vergleich sein Gewissen hätte beruhigen können.
Auch die hellen Streifen zwischen den Kuppeln sahen eher den regelmäßigen Straßen einer Modelleisenbahnanlage ähnlich, als zufällig entstandenen Trampelpfaden. Eine unbestimmte Scheu hielt ihn davor zurück, eine der Kuppeln aufzubrechen und sich das Innere anzusehen. Er schluckte, presste die Lippen zusammen und ging rasch weiter.
„Ich war es nicht“, knurrte er. „Nicht ich. Die Bombe war es … reingelegt haben sie mich.“ In seinem Kopf kochte und brodelte es …
… ach was, Brandon, niemand verlangt von Ihnen, hochentwickelte Zivilisationen zu vernichten. Die Bombe ist intelligent, sie könnte das gar nicht. Sie ist… sagen wir, ein High-Tech-Kammerjäger. Wir sind keine Unmenschen, aber wir haben abzuwägen, zwischen den berechtigten Interessen unserer Investoren und ethischen Prinzipien, berechtigten ethischen Prinzipien!“
„Was wären den unberechtigte ethische Prinzipien?“
„Solche, die sich selbst im Weg stehen. Wissen Sie, unsere Gesellschaft wäre letztes Jahr fast den Bach runtergegangen, und warum? Ich sage es Ihnen: wir hatten einen vielversprechenden Planeten gefunden. Reiche Erzlager, unermessliche Ölvorkommen und ein hochinteressanter Genpool. Keine Spur von intelligentem Leben. Wir haben investiert, Gelder beschafft, Kredite aufgenommen, viele Milliarden. Und dann kamen diese Ethikfritzen vom Außenminsterium mit einer hanebüchenen Geschichte von angeblich intelligenten Schnecken. Intelligent, weil sie seltsam geformte Kriechspuren in den Sand zogen, die man für eine Form der Kommunikation hielt. Das Ergebnis: wir mussten das Projekt abblasen, alle Anlagen wieder abbauen und den Planeten verlassen. Lächerlich! Verstehen Sie Brandon, das ist genau der Punkt. Wir werden nicht wieder zulassen, dass unsere Anleger ihr sauer Erspartes verlieren, nur weil auf einem Planeten das Ungeziefer andersrum krabbelt als anderswo …“
„Natürlich nicht Mr. Harbinger…“
Den Abend verbrachte er damit, am Strand zu sitzen, den Horizont anzustarren und dem Wind zuzuhören. Zwischen seinen Fingern drehte er unablässig das kleine Fossil, wie ein Betender den Rosenkranz.
Auch an den folgenden Tage tat er kaum etwas anderes. Es schien, als sei mit dem Besuch der Absturzstelle jegliche Aktivität in ihm erloschen. Er bewegte sich kaum ein paar Meter vom Zelt fort, kletterte nur hin und wieder in den nahen Felsen herum.
Die einzige Beschäftigung zu der er sich aufraffen konnte, war es, dreimal am Tag eine Handvoll seiner Konzentrate anzurühren und sie dann mit mechanischer Langsamkeit zu verzehren. Oder er verteilte das Konzentratpulver aus den noch vollen Dosen gleichmäßig auf jene, die schon leer waren. Schüttelte sie, stieß sie auf, bis das Pulver eine perfekt ebene und glatte Oberfläche bildete.
Zuweilen badete er stundenlang in einem der Süßwassertümpel, plantschte mit den Füßen im Wasser und setzte sich wieder an den Strand, wo er den Wellen zuhörte und über seine Träume grübelte. Seltsame Träume hatte er in der letzten Zeit …
… er lief auf schmalen Pfaden durch einen seltsamen Wald. Grüne Stämme, glatt und astlos, die sich im Wind wiegten. Er lief schnell! Irgendetwas war geschehen und er rannte irgendwohin, um zu sehen ob dort alles in Ordnung war. Immer schneller, stolpernd, keuchend. Seine Herzen schlugen fünfhundertmal in der Minute. Dann teilte sich der Wald; er geriet auf einen breiten Weg aus weißem Sand. Links und rechts wuchtige Kuppeln aus Lehm mit leeren Fensterhöhlen. Er schaute sich atemlos um, er hatte Angst und wusste nicht wovor. Überall lagen graubraune, schüttere Haufen reglos auf den Wegen. Sie schienen seltsam formlos und der Wind löste große zerstiebende Fetzen von ihnen ab. Auf einem davon lag eine Kette aus kleinen roten Kieseln. Sie gehörte seiner Tochter. Aber wo war sie? Warum lagen ihre Sandalen zwischen den Haarbüscheln des selben Haufens?
Obwohl die Sonne hell im Zenit stand fühlte er eine plötzliche Kälte. Er schaute an sich herab und sah, wie der Wind sein Fell von der Haut löste und davontrug. Das Fleisch darunter war graurosa und wäßrig - schien sich zu verflüssigen. Es tropfte in schleimigen Fäden auf seine Füße und versickerte im Boden. Etwas geschah mit seinen Augen … sie platzten einfach und ihr Inhalt lief aus den Höhlen über seine Wangen …
Brandon war von einer Sekunde zur anderen hellwach, schwitzend, fröstelnd und zuckend. Er stank. Öliger Schweiß überzog seine Haut und ließ sein Shirt wie ein Abziehbild am Körper kleben. Mit einem trockenen Krächzen wuchtete er sich hoch, stürmte aus dem Zelt und ließ sich in den kleinen Tümpel fallen. Das Wasser fühlte sich eiskalt an, egal – nur fort aus aus diesem Traum! Weg mit diesen Bildern!
Als sein Atem sich wieder beruhigt hatte, setzte er sich auf und holte eine Handvoll feinen Sand vom Grund des Tümpels. Er musste sich waschen - den Schweiß und diese Nacht mit ihrem Traum wegspülen.
Während er seine Haut mit dem feinen weißen Sand abrubbelte, fiel ihm ein etwas an einem der halb im Wasser liegenden Steine auf. Da war kleiner, grünlich schillernder Fleck. Als er sich bückte und mit dem Finger darüber fuhr, fühlte es sich glitschig und schleimig an.
Algen! Das mussten Algen sein. Irgendwo in seiner Kleidung, in seinem Haar, unter seinen Fingernägeln oder sonstwo mussten ein paar Sporen mit ihm gereist und hier gestrandet sein.
Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als er für einen Moment daran dachte, dass man Algen essen konnte. Doch die Ernüchterung kam augenblicklich als er sich die Antwort selber gab: sie würden nicht schnell genug wachsen. Es war längst zu spät. Seine Konzentrate gingen zur Neige und würden aufgebraucht sein, lange bevor sich genug Algen gebildet hatten, um ihn auch nur für einen Tag zu ernähren. Vorsichtig löste er das winzige grüne Fadenknäuel vom Stein und schob seinen Finger in den Mund. Nichts. Es war zu wenig, um es auf der Zunge zu spüren, geschweige denn, etwas zu schmecken.
Als er kurz darauf am Strand saß, hatte er den kleinen grünen Fleck längst wieder vergessen. Es kostete Kraft, sich zu viele Gedanken zu machen. Kraft, die sein Gehirn nicht mehr aufbieten konnte und darum ein sparsames Eigenleben entwickelte. Es konnte einen einzigen kurzen Gedanken stundenlang in seinem Kopf kreisen lassen, wie eine Roulettekugel, ohne ihn zu Ende zu denken. Es scheute sich davor, denn schon das Denken an das Zu-Ende-denken bereitete ihm Unbehagen. Doch manchmal lebten auch seine Gedanken ihr eigenes Leben - dachten sich einfach ganz von alleine:
- wer spricht da? hat jemand etwas gesagt?
- nur wir.
- wer ist wir?
- der sand, der wind, die brandung …
- blödsinn, ich bin alleine hier.
- wie recht du hast … allein mit deiner schuld.
- schuld? Es war nicht meine schuld. die bombe hat mich verraten. diese bügelfaltenkretins. ich bin belogen worden.
- wolltest du nicht belogen werden? ohne dich wäre sie nie hergekommen.
- und wenn - es ist zu spät. nicht mehr zu ändern. es gibt nichts mehr zu tun.
- falsch. du hast deine aufgabe noch nicht erfüllt.
- es gibt keine aufgabe. ich werde nur noch sterben.
- aber du bist noch nicht gestorben, ist das nicht seltsam?
- zufall.
- zweck!
- welcher zweck?
- buße … wiedergutmachung … sühne
- es gibt nichts wieder gut zu machen. niemand ist hier, der mir vergeben könnte. auf dieser welt ist selbst gott vernichtet worden. seid jetzt still!
- geh in dich
- …
- nimm’s leicht
- …
- füg dich
- …
- büße
- …
Es gab Momente, da fühlte er, wie der Wahnsinn von ihm Besitz zu ergreifen versuchte und es gab welche, da fühlte er es nicht. Dann kroch er auf die Felsnase oberhalb seines Zeltes, erhob sich auf die Knie und schrie den Himmel an; brüllte den Sternen seine Rechtfertigungen entgegen. Die Rechtfertigungen eines armen Würstchens, das seine Chance gesucht hatte. Das nur die Anordnungen anderer befolgt und die Schuld anderer auf sich geladen hatte, und das nun von Weinkrämpfen geschüttelt um Vergebung bettelte.
Aber diese Momente wurden immer seltener. Je matter sein Körper, je lethargischer sein Geist wurde, desto mehr wurde der Felsen zu einem fernen unerreichbaren Land, das allein in seiner Erinnerung existierte.
Nur noch die immer kleiner werdenden Konzentratmahlzeiten waren wichtig. Und das Waschen. Seit seinem Traum hatte er nicht wieder damit aufgehört, sich mehrmals täglich gründlich zu waschen und mit Sand abzuschrubben. Manchmal so lange, bis die Haut durchgerieben war und der Schmerz ihn zwang aufzuhören.
Schließlich aber drang der Schmerz nicht mehr in sein abgestumpftes Bewusstsein. Dann stand er oft da, bis zu den Hüften im Wasser, und starrte teilnahmslos auf den feuchten Sand, der sich in seiner Hand zu einer roten Paste verwandelt hatte.
Erst als die letzten Konzentratkrümel aufgezehrt waren, zwang ihn die Schwäche, auch das Waschen aufzugeben. Er blieb ganze Tage lang im Zelteingang liegen und starrte zum Himmel hinauf oder kroch unter stundenlangen, zähen Anstrengungen zum Tümpel, wälzte sich ins seichte Wasser und dämmerte dahin, bis die Kälte ihn wieder ins Zelt trieb.
Ein rasselnder Husten stellte sich ein, nachdem er einmal im Wasser eingeschlafen war, seine Gelenke wurden steif und die Muskeln hart wie Holz. Er schien zu versteinern, noch bevor das Leben ihn verlassen hatte.
***
Es war der letzte Tag. Brandon wusste das, denn sein Körper hatte es ihm gesagt. Er würde noch einmal die Sonne dieser Welt sehen, aber die Nacht die dann kam, würde seine eigene sein.
Ein letztes Mal kroch er zum Tümpel und schob sich ins Wasser, bis sein Körper bedeckt war und nur noch sein Kopf herausragte. Es war schon Mittag, die Sonne hatte das Wasser erwärmt und es fühlte sich angenehm an, wie eine leichte glatte Decke, aber schwer genug, um ihn an jeder weiteren Bewegung zu hindern. Er lag lange so da und schaute in den Himmel, bis seine Augen der Sonne nicht mehr folgen konnte.
Dann sank sein Kopf zur Seite und sein Blick fiel auf einen kleinen Stein mit schillernden grünen Flecken. Er war zu schwach, um zu nicken, aber noch stark genug für ein verstehendes, einwilligendes Lächeln.
Nein, seine Aufgabe war noch nicht beendet. Sie begann erst, und es war die größte Aufgabe, die je einem Menschen aufgetragen worden war.
All die kleinen wimmelnden Wesen, die in und von seinem Organismus lebten - sie würden noch lange weiterleben, bis der letzte Rest von Miles Brandon aufgezehrt war. Lange genug vielleicht, um sich an ein Leben ohne ihn zu gewöhnen. Lange genug, um den Weg ins Meer zu finden und dort zu überleben.
Das Meer würde kommen und gehen und jedesmal würde es ein kleines bisschen seiner Sühne mit sich nehmen, ein Stück unvergänglicher Sühne ...
Die Finsternis kam und Brandon lächelte sie an ...
(c) 2003 by Achim Hildebrand
[1] Rattenwölfe
Im Mittelalter wurden die Deiche an den Küsten Nordeuropas häufig von Ratten unterwühlt und dadurch brüchig gemacht. Zur Abhilfe fing man einzelne Ratten und ließ sie so lange hungern, bis sie zu kleinen, wahnsinnigen Bestien wurden. Diese setzte man dann wieder in die Rattengänge in den Deichen, wo sie unter ihren Artgenossen wahre Blutbäder anrichteten.