Und führe uns nicht in Versuchung
Diese Bitte ist aus meiner Sicht am schwierigsten zu interpretieren.
Die Suche nach dem rechten Weg zu Gott, zurück zur Einheit, ist sinnvoll und soll vom Menschen auch mit aller Energie betrieben werden. Die Suche nach dem rechten Weg ist oberste Aufgabe für alle Menschen. Doch auf diesem Weg, oder besser, während dieser Suche nach dem Weg, ist die Versuchung groß, sich den Verlockungen dieser Welt hinzugeben. Bei diesen Versuchungen wird zwar auch nach dem Weg gesucht, aber unbewusst, so dass die Entwicklung langsamer vor sich geht und auch in Sackgassen enden kann.
Die Frage bleibt aber, wieso uns ein Vater, zu dem wir zurückkehren wollen, überhaupt in Versuchung führen will, so dass wir bitten müssen, dies nicht zu tun.
Hier sehe ich eine Antwort, in der tiefen Wahrheit, dass letztlich Gut und Böse eins sind.
Baal Schem Tov drückt das treffend so aus:
"Die Einwohnende Herrlichkeit umfasst alle Welten, alle Kreaturen, Gute und Böse. Und sie ist die wahre Einheit. Wie kann sie denn die Gegensätze des Guten und des Bösen in sich tragen? Aber in Wahrheit ist da kein Gegensatz, denn das Böse ist der Thronsitz des Guten."
Wir leben aber in einer polaren Welt, in der die Gegensätze nicht vereint sind und wir haben die Wahl zwischen einem linken und einem rechten Weg. Wir wollen den rechten Weg gehen, denn dieser ist der solare Weg, der uns ins Licht führt. Doch dieser Weg ist auch der schwierigere und anstrengendere, denn dort muss den Versuchungen des linken, lunaren Weges widerstanden werden. Alle die Verlockungen dieser Welt zeigen uns, wie irrsinnig es ist, einen solaren Weg zu gehen, der von uns die Aufgabe aller Begierden fordert, der fordert, nichts für sich selbst haben zu wollen. Auf diesem Weg werden wir oft der Versuchung erliegen, den linken Weg als den eigentlich rechten anzusehen, vor allem dann, wenn wir dort die Möglichkeit haben, Samariterdienste zu tun und nur für die anderen da zu sein. Damit glauben wir auf dem rechten Weg zu sein und nichts für uns haben zu wollen, ohne zu erkennen, dass wir diese Hilfsdienste leisten, weil wir auf dem rechten Weg sein wollen.
Alle Selbstherrlichkeit und Machtherrlichkeit sind Verlockungen des lunaren, teuflischen Weges und in unserer Welt einfach der Gegenpol zum solaren, göttlichen Weg. Beide führen letztendlich zum selben Ziel. Der lunare Weg führt allerdings immer wieder in diese Welt, in der das Teuflische, das Diabolische (griech: auseinander werfen) die Herrschaft hat. Er ist damit der deutlich längere Weg und muss am Ende doch noch mit dem solaren ausgetauscht werden, da nur dieser aus der polaren Welt führt.
So kann diese Bitte "führe uns nicht in Versuchung", verstanden werden als eine Bitte, den Versuchungen auf dem solaren Weg widerstehen zu können, aber auch als eine Bitte nicht der Versuchung zu erliegen durch gute Taten den lunaren mit dem solaren, rechten Weg zu verwechseln.
Solange wir Dinge tun und uns hinterher von Lob oder Tadel getroffen fühlen, sind wir auf dem lunaren, linken Weg. Vielleicht wird spürbar, wie schwer es ist, nicht in Versuchung geführt zu werden.
LaoTse drückt dies im TaoTeKing in seiner unnachahmlichen Kürze so aus:
"Ehre und Ruhm bedeuten beide Gefährdung.
Was meint das:
Ehre und Ruhm bedeuten beide Gefährdung?
Ruhm bedeutet die Möglichkeit, Ruhm zu verlieren.
Ehre bedeutet die Möglichkeit, entehrt zu werden.
Habe ich nicht vorher Ehre erlangt,
Kann mich nicht nachher Entehrung treffen.
Habe ich nicht vorher Ruhm erlangt,
Ereilt mich nicht nachher Vergessen.
Ehre und Ruhm zielen auf Selbstheit.
Selbstheit ist aller Gefährdungen Born,
Führt zu Spaltung und Beunruhung,
Fernt von Einung und Beruhung,
Wer Selbstheit folgt, verliert sich im Begrenzten.
Wer Allheit folgt, findet sich im Unbegrenzten."
Was meint das:
Ehre und Ruhm bedeuten beide Gefährdung?
Ruhm bedeutet die Möglichkeit, Ruhm zu verlieren.
Ehre bedeutet die Möglichkeit, entehrt zu werden.
Habe ich nicht vorher Ehre erlangt,
Kann mich nicht nachher Entehrung treffen.
Habe ich nicht vorher Ruhm erlangt,
Ereilt mich nicht nachher Vergessen.
Ehre und Ruhm zielen auf Selbstheit.
Selbstheit ist aller Gefährdungen Born,
Führt zu Spaltung und Beunruhung,
Fernt von Einung und Beruhung,
Wer Selbstheit folgt, verliert sich im Begrenzten.
Wer Allheit folgt, findet sich im Unbegrenzten."
So bitten wir, nicht in diesen irdischen, für uns doch so edlen Gesinnungen stecken zu bleiben und nicht der Versuchung zu erliegen, Ruhm und Ehre auszukosten.
Wir müssen auf diesem Weg alles aufgeben, was uns von Gott entfernt, jeder Besitz trennt und führt nicht zur Einheit. Jedes Gut-sein trennt vom Böse-sein und führt somit nicht zur Einheit, denn diese enthält beides.
Führe uns nicht in Versuchung heißt auch, nicht nur das Gute zu akzeptieren und zu integrieren, sondern auch den Gegenpol. Es heißt, nicht in Versuchung geführt zu werden, irgendetwas besitzen zu wollen, sondern auf alles verzichten zu können, auch auf das Schwerste, auf unser Ich. Denn eingehen in die Einheit heißt, auf das Ich zu verzichten. Wird dies nicht getan, dann gibt es noch ein Nicht-Ich und somit ist nicht alles integriert.
Bei dieser schweren Aufgabe, sein Ich sterben zu lassen, ist die Versuchung natürlich besonders groß, wenigstens dieses Ich zu behalten, wenn ich schon auf alles andere verzichtet habe. Führe uns nicht in Versuchung, dieses Ich behalten zu wollen.
In dieser polaren Welt müssen wir aus eigenem Willen entscheiden und entscheiden uns, wenn die Verlockungen zu groß werden, doch für den lunaren Weg.
Die Gefahr, dass wir an diesem letzten Punkt, wo unser Ich aufgegeben werden muss, scheitern, ist sehr groß, denn wir erliegen hier nochmals der Gefahr des Scheiterns am übergroßen Erfolg und Stolz, es bis dahin geschafft zu haben.
Im TaoTeKing heißt es dazu:
"Besser ein Gefäß ungefüllt lassen,
Als füllen und mit beiden Händen tragen.
Besser ein Schwert nicht schleifen,
Als schleifen und sich der Schärfe rühmen.
Besser das Haus ohne Schätze,
Als Schätze und auf der Hut sein müssen.
Fülle und Vorzüge verleiten zu Äußerlichkeit.
Äußerlichkeit leitet ab vom Wesen.
Ist das Werk geäußert, sich ihm entäußern,
Also der Erwachte."
Als füllen und mit beiden Händen tragen.
Besser ein Schwert nicht schleifen,
Als schleifen und sich der Schärfe rühmen.
Besser das Haus ohne Schätze,
Als Schätze und auf der Hut sein müssen.
Fülle und Vorzüge verleiten zu Äußerlichkeit.
Äußerlichkeit leitet ab vom Wesen.
Ist das Werk geäußert, sich ihm entäußern,
Also der Erwachte."
Ist das Werk getan, so muss es wieder losgelassen werden. Führe uns nicht in Versuchung es festzuhalten. Genau das, was nicht sichtbar ist, was nicht ist, wird zum wahren Inhalt.
Nochmals sei hierzu aus dem TaoTeKing zitiert:
"Dreißig Speichen treffen die Nabe,
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
Die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern,
Die Leere da mitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus."
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
Die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern,
Die Leere da mitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus."
Führe uns also nicht in Versuchung, die Form eines Werkes als Vollendung anzusehen. Die Form, die äußere Welt kann ich beliebig ändern und der Versuchung erliegen, dies als das wahre Werk anzusehen. Wenn ich jedoch den unsichtbaren Inhalt, die Einstellung, die Gesinnung nicht ändern kann, ändert sich der Wert nicht und ich bin der Versuchung wieder einmal erlegen, den linken Weg gegangen zu sein, der meinem Ich doch viel mehr Ruhm und Ehre gebracht hat. Führe uns nicht in Versuchung, nach Ruhm und Ehre zu trachten für eine Tat, sondern lasse sie uns tun, weil sie getan werden muss.
Betrachten wir zum Schluss noch die Zahlensymbolik des Wortes Versuchung.
Das Wort Versuchung hat den Zahlenwert 44 = 2 x 22. Die Zahl 22 wird im positiven Aspekt als die Zahl des Meisters, des Erleuchteten gesehen, der alle positiven Eigenschaften der Grundzahlen 1 bis 9 in sich vereint. Ein Meister versteht es mit den Versuchungen der Polarität (2) umzugehen. Jesus hat den Verlockungen des Teufels, des Herrn dieser Welt (2) widerstanden. Er war der Meister.
In ihrem negativen Aspekt wird die 22 als Zahl der schwarzen Magie, der Suggestionskraft aufgefasst. Die Versuchungen, die Suggestionskraft führen in der polaren Welt (2) auch in die Dunkelheit, auf den linken, lunaren Weg.
Die Zahl 22 bedeutet auch Selbsttäuschung, Misserfolg. In der polaren Welt ist der Versuchung also Misserfolg für den solaren Weg bestimmt, verstärkt noch durch eine Portion Selbsttäuschung auf dem rechten Weg zu sein. Im Zusammenhang mit der 22 stehen auch die 22 großen Arcana bei den Tarotkarten, die die Grundsituationen des Menschen auf seinem Weg durch die polare (2) Welt in die Einheit symbolisieren. Dort werden symbolisch alle Prüfungen beschrieben, die auf dem Weg abzulegen sind.
Die Zahl 44 kann aber auch in 4 x 11 zerlegt werden.
Die 4 symbolisiert die Materie, also unsere Welt. Die 11 ist die Zahl der Offenbarung und des Märtyrertums, aber auch der Sünde.
So symbolisiert 44 also auch die Offenbarung und das Leid, die Sünde, die uns in dieser Welt durch die Versuchung gebracht werden.
Die Zahl 11 warnt auch vor Gefahr und Verrat, die in unserer materiellen Welt überall lauern.
Zum Schluss betrachten wir noch die Quersumme von 44. Die Zahl 8 hat in vielen Religionen den Status einer Gottheit. In den babylonischen Turmtempeln zum Beispiel, wohnt die Gottheit im achten Stockwerk, einem lichtleeren Raum. Die 8 ist auch im christlichen Bereich eine Glückszahl. So wurden 8 Menschen in der Arche gerettet, Abraham hatte 8 Söhne, der achte Tag ist der Tag der Auferstehung Christi. Es gibt 8 Seligpreisungen in der Bergpredigt Jesu.
So ist die Versuchung also auch als Glück zu sehen. In dem Sinne, dass sie den Menschen bei seiner Entwicklung weiterhilft, ist sie das auch. Doch ab einem gewissen Stadium der Entwicklung führt jedes Nachgeben einer Versuchung zu einem noch tieferen Sturz. Führe uns in diesem Stadium nicht in Versuchung oder gib uns die Kraft, dieser zu widerstehen.