Fredy Daxboeck
Mitglied
Aus dem Autoradio rieselte leise Countrymusic. Die Lichtfinger der Autoscheinwerfer tasteten sich zitternd den schmalen Weg unter den Bäumen entlang. Holpernd fuhr der rote Toyota zielstrebig immer weiter bergauf. Schatten huschten aufgeregt am Rande der Lichtkreise entlang. Der Mann hinter dem Steuer summte selbstvergessen die Melodie aus dem Radio mit. Ein Blick auf die Digitalanzeige der Uhr am Armaturenbrett verriet ihm die Zeit. Drei Uhr früh. Zeit genug.
Seine Gedanken wollten abschweifen, machten sich selbständig und wanderten zurück an längst vergangene Tage. Verärgert runzelte der Mann die Stirn und räusperte sich energisch. Er wollte nicht zurückdenken, sich nicht erinnern. Jetzt nicht. Das würde ihn nur sentimental machen. Und zornig. Er spürte schon die Wut in sich hochkriechen. Wut - und das Gefühl von Befriedigung. Aber diese Gefühle wollte er sich für später aufheben. Nicht jetzt. Seine Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad; auch eine dieser schlechten Gewohnheiten die er angenommen hatte.
"Nur noch eine kurze Strecke, dann hab ich's geschafft." murmelte er vor sich hin und versuchte seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen, der Musik zu lauschen. Vor dem Licht der Scheinwerfer schälte sich allmählich ein großer, weitflächiger Platz aus der Dunkelheit. Langsam rollte der Wagen aus und hielt schließlich am Rand des Parkplatzes. Umständlich krabbelte der Mann heraus und streckte und dehnte sich leise stöhnend. Er warf noch einen kurzen Blick in die Runde und machte sich auf den Weg.
Die Dunkelheit lag wie eine schützende Hülle über der stillen Landschaft. Nur der Mond sandte sein silbrig, glänzendes Licht um ihm den Weg zu weisen und malte asymmetrische Lichtflecken vor ihm auf den Boden. Bis auf das leise Knirschen von Sand und Steinen unter seinen leichten Halbschuhen lag der Berg wie ein lautlose Welt vor ihm. Der einsame Ruf einer Eule hatte ihn vor einiger Zeit aus seinen wirren Gedanken gerissen, in die er aber längst wieder versunken war. Sein keuchender Atem bildete weiße, dunstige Wölkchen vor seinem Mund und blieb als winzige Tröpfchen an den Enden seines Schnauzbarts hängen. Die Schritte des großen, hageren Mannes, dessen Gesicht im fahlen Schein des Mondes hart und kantig wirkten, waren hölzern und schwerfällig. Fast so, als würde der Mann einem inneren Zwang folgen und diesen steilen Bergpfad, der auf einen der schönsten Aussichtspunkte im Umkreis von hunderten Kilometern führte, hinaufwandern. Der harzige Geruch von Kiefernnadeln und feuchter Erde begleitete ihn auf seiner nächtlichen Wanderung.
Tausend Gedanken schossen dem Wanderer durch den Kopf, die er aber weder ordnen noch festhalten wollte. Er ließ sie nun einfach dahinziehen, wie düstere Gewitterwolken am finsteren Himmel. Immer höher stieg er den Pfad hinauf. Vorbei an kleinen, gemütlichen Rastplätzen mit schweren, aus Holz geschnitzten Tischen und Bänken und den obligaten Abfalleimern. Errichtet für kleine Gruppen von Erholungssuchenden, die mit oder ohne ihren Kindern hier heraufkamen. Vorbei an den letzten, mächtigen Kiefern, in die mit ungeübter Hand schiefe Herzen eingeritzt waren. Mit Datum und Initialen, und 'Ich liebe Dich' und 'R. liebt W.' und 'Peter liebt Renate'. Zwischen niedrigen, wetterharten Sträuchern, die den Übergang der Baumgrenze bildeten, entlang. Vorbei an verkrüppelten, windgebeugten Latschen, die ihm seltsam vertraut vorkamen. Auch er fühlte sich als vom Schicksal verkrüppelt und gebeugt. Bis nur mehr der schmale, kiesbestreute Bergpfad, der die weiten Wiesen mit seinem kurzen, harten Gras durchschnitt, vor ihm lag.
Jetzt war es nicht mehr weit. Jetzt hatte er nicht mehr lange zu gehen.
Nun wusste Stefan Horner, dass er sein Ziel, die Aussichtswarte des Tamischbachturms, rechtzeitig erreichen würde. Seine Schritte wurden unwillkürlich etwas langsamer. Die Zeit des Tagesanbruchs war noch lange nicht gekommen. Er würde sich also nicht beeilen müssen. Er konnte noch eine kleine Weile in Gedanken mit seiner Familie verbringen.
Ein Seufzen, fast ein Schluchzen entrang sich seiner Brust. Horner wischte sich mit einer fahrigen Geste seiner linken Hand über den Kopf, als ob er die Gedanken, die ihn störten, einfach beiseite wischen könnte. Mit weitausgreifenden Schritten stapfte er entschlossen weiter. Fast als wollte er vor jemandem fliehen. Obwohl er genau wusste, dass er im Umkreis von mehreren Kilometern mutterseelenallein war.
Bis auf die Geister in seinem Kopf.
Dann hatte er es geschafft. Nach einem fast zweistündigem Aufstieg war der Weg an der Abgrenzung vor dem Abgrund zu Ende. Eine dunkle Tafel, die er bei dem schwachen Licht des Mondes ohnehin nicht lesen konnte, warnte ihn vor dem Übertreten des Sicherungszaunes. Mit der geübten Bewegung eines Menschen, der dies nicht zum ersten Male machte, stieg er trotzdem über den niedrigen Zaun hinweg und tastete sich vor, so weit es der Berg zuließ.
Unter ihm gähnte der Abgrund.
Eine siebenhundert Meter hohe, senkrechte Felswand. Danach, ein noch einmal rund tausend Meter steil abfallender Berghang.
Wenn er hier hinunterstürzte würde er siebzig Sekunden im freien Fall fliegen, bevor er aufprallte und zerschmettert liegenblieb. Für immer tot.
Ein verlockender Gedanke für Stefan Horner.
Vorsichtig schob er sich so nahe wie möglich an den Abgrund, setzte sich ins nasse Gras und ließ seine Beine über den Abgrund baumeln.
'Verdammt, ich werde mir eine Erkältung holen im nassen Gras.' zuckte ein besorgter Gedanke hinter seiner Stirn auf, den er aber sofort wieder, mitleidig lächelnd, beiseite schob. Als ob es jetzt noch darauf ankäme.
Lange Zeit saß der Mann so da, die Kiefer fest aufeinandergepreßt, den Blick starr nach Osten gerichtet, während die Zeit träge dahinfloss. Er wartete.
Sekunden reihten sich an Sekunden, Minuten an Minuten, bis die erste Stunde voll war. Die Kälte die immer mehr unter seine Haut und in seine Glieder kroch, merkte er kaum. Seine Gedanken waren weit weg. Bei einem Vater, der mit seinem kleinen Jungen und dessen älteren Bruder oft und gerne hier heraufkam. Sie tollten beim schönsten Sonnenschein auf den weiten Wiesen herum, kletterten ein wenig in den Felsen, oder genossen die unendlich scheinende Aussicht.
Bei klarem Wetter konnten sie beinahe hunderte Kilometer weit sehen. Ein See, tausendsiebenhundert Meter unter ihnen, leuchtete wie ein kleines, blaues Insekt in einer grünen Wiese auf. Auf grauen, bleistiftdünnen Strichen, die sich in Schlangenlinien dahinzogen, bewegten sich im Schneckentempo winzige Lastkraftwagen, dahin. Für Kinderzwergenhände gebasteltes Spielzeug.
Sein Vater konnte stundenlang hier oben sitzen und den Ausblick genießen. Manchmal sogar vom frühen Morgen weg. Sie wanderten dann mitten in der Nacht hier herauf und warteten auf den Sonnenaufgang.
Der kleine Stefan hatte einmal den Vater gefragt, scheu, weil die Welt da draußen so groß aussah: "Warum guckst du denn so angestrengt, Dad? Kannst du etwas sehen das ich nicht sehen kann?"
Sein Vater hatte nicht geantwortet, eine lange Zeit. Bis der kleine Stefan seine Frage fast selbst vergessen hätte. Aus großen, verwunderten Kinderaugen hatte er den Mann an seiner Seite betrachtet, und es schien ihm, als würde er aus weiter Ferne zurückkommen. Zu ihm und seinem Bruder.
"Nein, mein Junge. Ich sehe auch nicht mehr als ihr. Ich versuche nur, etwas von der grandiosen Unendlichkeit, der ich hier so nahe bin, mit nach Hause zu nehmen."
Damals hatte Stefan die Worte seines Vaters nicht verstanden. Und nachhaken wollte er nicht, weil er die verhasste Bemerkung: "Dafür bist du noch zu klein, mein Junge!" fürchtete. Er wollte zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal fragen.
Doch dann waren seine Eltern und sein älterer Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und er war nicht mehr hier herauf gekommen.
Bis heute. Stefan schnaubte böse.
Ein leichter Wind hatte sich erhoben und strich ihm mit kühlen Fingern über die heiße Stirn. Die Sterne am Himmel verblassten allmählich, um dem ersten Grau des Tages Platz zu machen. In die Stille des Morgens tönte das vorsichtige, verschlafene Gezwitscher einer Lerche, die den neuen Tag begrüßte. Andere Vogelstimmen schlossen sich an, kleinlaut und leise vorerst, aber mit zunehmender Helligkeit freundlicher und lauter.
Über Stefans Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln, das aber ein düsterer Schatten sofort wieder verjagte. Ein dunkler Schleier legte sich über seine blassgrünen Augen.
Die Wolken, die vor ihm am Horizont dahinzogen, färbten sich von Dunkelblau und Violett in leichtes Orange bis Zinnoberrot. Tief unter ihm lag die Welt noch immer im Dunkel der Nacht. Nur vereinzelt blitzte hier und da ein Licht auf, wie ein winziger Stern, der auf der Erde herumwanderte, um im nächsten Augenblick wieder zu verglimmen.
Die Geister in Stefan Horners Kopf riefen jetzt wieder lauter, fordernder.
"Ja", sagte er. Nur dieses eine Wort. Ja. Jetzt kam auch der Zorn wieder. Und diesmal ließ er ihn zu. Ließ zu dass er mit ihm, Stefan, spielte.
"Ja", wiederholte er laut und stand langsam auf. Seine Zeit war gekommen.
Ein sardonisches Lächeln begleitete ihn auf dem Weg nach unten. Und der Ruf eines kleinen Vogels, den er noch im Springen vernahm.
Seine Gedanken wollten abschweifen, machten sich selbständig und wanderten zurück an längst vergangene Tage. Verärgert runzelte der Mann die Stirn und räusperte sich energisch. Er wollte nicht zurückdenken, sich nicht erinnern. Jetzt nicht. Das würde ihn nur sentimental machen. Und zornig. Er spürte schon die Wut in sich hochkriechen. Wut - und das Gefühl von Befriedigung. Aber diese Gefühle wollte er sich für später aufheben. Nicht jetzt. Seine Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad; auch eine dieser schlechten Gewohnheiten die er angenommen hatte.
"Nur noch eine kurze Strecke, dann hab ich's geschafft." murmelte er vor sich hin und versuchte seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen, der Musik zu lauschen. Vor dem Licht der Scheinwerfer schälte sich allmählich ein großer, weitflächiger Platz aus der Dunkelheit. Langsam rollte der Wagen aus und hielt schließlich am Rand des Parkplatzes. Umständlich krabbelte der Mann heraus und streckte und dehnte sich leise stöhnend. Er warf noch einen kurzen Blick in die Runde und machte sich auf den Weg.
Die Dunkelheit lag wie eine schützende Hülle über der stillen Landschaft. Nur der Mond sandte sein silbrig, glänzendes Licht um ihm den Weg zu weisen und malte asymmetrische Lichtflecken vor ihm auf den Boden. Bis auf das leise Knirschen von Sand und Steinen unter seinen leichten Halbschuhen lag der Berg wie ein lautlose Welt vor ihm. Der einsame Ruf einer Eule hatte ihn vor einiger Zeit aus seinen wirren Gedanken gerissen, in die er aber längst wieder versunken war. Sein keuchender Atem bildete weiße, dunstige Wölkchen vor seinem Mund und blieb als winzige Tröpfchen an den Enden seines Schnauzbarts hängen. Die Schritte des großen, hageren Mannes, dessen Gesicht im fahlen Schein des Mondes hart und kantig wirkten, waren hölzern und schwerfällig. Fast so, als würde der Mann einem inneren Zwang folgen und diesen steilen Bergpfad, der auf einen der schönsten Aussichtspunkte im Umkreis von hunderten Kilometern führte, hinaufwandern. Der harzige Geruch von Kiefernnadeln und feuchter Erde begleitete ihn auf seiner nächtlichen Wanderung.
Tausend Gedanken schossen dem Wanderer durch den Kopf, die er aber weder ordnen noch festhalten wollte. Er ließ sie nun einfach dahinziehen, wie düstere Gewitterwolken am finsteren Himmel. Immer höher stieg er den Pfad hinauf. Vorbei an kleinen, gemütlichen Rastplätzen mit schweren, aus Holz geschnitzten Tischen und Bänken und den obligaten Abfalleimern. Errichtet für kleine Gruppen von Erholungssuchenden, die mit oder ohne ihren Kindern hier heraufkamen. Vorbei an den letzten, mächtigen Kiefern, in die mit ungeübter Hand schiefe Herzen eingeritzt waren. Mit Datum und Initialen, und 'Ich liebe Dich' und 'R. liebt W.' und 'Peter liebt Renate'. Zwischen niedrigen, wetterharten Sträuchern, die den Übergang der Baumgrenze bildeten, entlang. Vorbei an verkrüppelten, windgebeugten Latschen, die ihm seltsam vertraut vorkamen. Auch er fühlte sich als vom Schicksal verkrüppelt und gebeugt. Bis nur mehr der schmale, kiesbestreute Bergpfad, der die weiten Wiesen mit seinem kurzen, harten Gras durchschnitt, vor ihm lag.
Jetzt war es nicht mehr weit. Jetzt hatte er nicht mehr lange zu gehen.
Nun wusste Stefan Horner, dass er sein Ziel, die Aussichtswarte des Tamischbachturms, rechtzeitig erreichen würde. Seine Schritte wurden unwillkürlich etwas langsamer. Die Zeit des Tagesanbruchs war noch lange nicht gekommen. Er würde sich also nicht beeilen müssen. Er konnte noch eine kleine Weile in Gedanken mit seiner Familie verbringen.
Ein Seufzen, fast ein Schluchzen entrang sich seiner Brust. Horner wischte sich mit einer fahrigen Geste seiner linken Hand über den Kopf, als ob er die Gedanken, die ihn störten, einfach beiseite wischen könnte. Mit weitausgreifenden Schritten stapfte er entschlossen weiter. Fast als wollte er vor jemandem fliehen. Obwohl er genau wusste, dass er im Umkreis von mehreren Kilometern mutterseelenallein war.
Bis auf die Geister in seinem Kopf.
Dann hatte er es geschafft. Nach einem fast zweistündigem Aufstieg war der Weg an der Abgrenzung vor dem Abgrund zu Ende. Eine dunkle Tafel, die er bei dem schwachen Licht des Mondes ohnehin nicht lesen konnte, warnte ihn vor dem Übertreten des Sicherungszaunes. Mit der geübten Bewegung eines Menschen, der dies nicht zum ersten Male machte, stieg er trotzdem über den niedrigen Zaun hinweg und tastete sich vor, so weit es der Berg zuließ.
Unter ihm gähnte der Abgrund.
Eine siebenhundert Meter hohe, senkrechte Felswand. Danach, ein noch einmal rund tausend Meter steil abfallender Berghang.
Wenn er hier hinunterstürzte würde er siebzig Sekunden im freien Fall fliegen, bevor er aufprallte und zerschmettert liegenblieb. Für immer tot.
Ein verlockender Gedanke für Stefan Horner.
Vorsichtig schob er sich so nahe wie möglich an den Abgrund, setzte sich ins nasse Gras und ließ seine Beine über den Abgrund baumeln.
'Verdammt, ich werde mir eine Erkältung holen im nassen Gras.' zuckte ein besorgter Gedanke hinter seiner Stirn auf, den er aber sofort wieder, mitleidig lächelnd, beiseite schob. Als ob es jetzt noch darauf ankäme.
Lange Zeit saß der Mann so da, die Kiefer fest aufeinandergepreßt, den Blick starr nach Osten gerichtet, während die Zeit träge dahinfloss. Er wartete.
Sekunden reihten sich an Sekunden, Minuten an Minuten, bis die erste Stunde voll war. Die Kälte die immer mehr unter seine Haut und in seine Glieder kroch, merkte er kaum. Seine Gedanken waren weit weg. Bei einem Vater, der mit seinem kleinen Jungen und dessen älteren Bruder oft und gerne hier heraufkam. Sie tollten beim schönsten Sonnenschein auf den weiten Wiesen herum, kletterten ein wenig in den Felsen, oder genossen die unendlich scheinende Aussicht.
Bei klarem Wetter konnten sie beinahe hunderte Kilometer weit sehen. Ein See, tausendsiebenhundert Meter unter ihnen, leuchtete wie ein kleines, blaues Insekt in einer grünen Wiese auf. Auf grauen, bleistiftdünnen Strichen, die sich in Schlangenlinien dahinzogen, bewegten sich im Schneckentempo winzige Lastkraftwagen, dahin. Für Kinderzwergenhände gebasteltes Spielzeug.
Sein Vater konnte stundenlang hier oben sitzen und den Ausblick genießen. Manchmal sogar vom frühen Morgen weg. Sie wanderten dann mitten in der Nacht hier herauf und warteten auf den Sonnenaufgang.
Der kleine Stefan hatte einmal den Vater gefragt, scheu, weil die Welt da draußen so groß aussah: "Warum guckst du denn so angestrengt, Dad? Kannst du etwas sehen das ich nicht sehen kann?"
Sein Vater hatte nicht geantwortet, eine lange Zeit. Bis der kleine Stefan seine Frage fast selbst vergessen hätte. Aus großen, verwunderten Kinderaugen hatte er den Mann an seiner Seite betrachtet, und es schien ihm, als würde er aus weiter Ferne zurückkommen. Zu ihm und seinem Bruder.
"Nein, mein Junge. Ich sehe auch nicht mehr als ihr. Ich versuche nur, etwas von der grandiosen Unendlichkeit, der ich hier so nahe bin, mit nach Hause zu nehmen."
Damals hatte Stefan die Worte seines Vaters nicht verstanden. Und nachhaken wollte er nicht, weil er die verhasste Bemerkung: "Dafür bist du noch zu klein, mein Junge!" fürchtete. Er wollte zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal fragen.
Doch dann waren seine Eltern und sein älterer Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und er war nicht mehr hier herauf gekommen.
Bis heute. Stefan schnaubte böse.
Ein leichter Wind hatte sich erhoben und strich ihm mit kühlen Fingern über die heiße Stirn. Die Sterne am Himmel verblassten allmählich, um dem ersten Grau des Tages Platz zu machen. In die Stille des Morgens tönte das vorsichtige, verschlafene Gezwitscher einer Lerche, die den neuen Tag begrüßte. Andere Vogelstimmen schlossen sich an, kleinlaut und leise vorerst, aber mit zunehmender Helligkeit freundlicher und lauter.
Über Stefans Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln, das aber ein düsterer Schatten sofort wieder verjagte. Ein dunkler Schleier legte sich über seine blassgrünen Augen.
Die Wolken, die vor ihm am Horizont dahinzogen, färbten sich von Dunkelblau und Violett in leichtes Orange bis Zinnoberrot. Tief unter ihm lag die Welt noch immer im Dunkel der Nacht. Nur vereinzelt blitzte hier und da ein Licht auf, wie ein winziger Stern, der auf der Erde herumwanderte, um im nächsten Augenblick wieder zu verglimmen.
Die Geister in Stefan Horners Kopf riefen jetzt wieder lauter, fordernder.
"Ja", sagte er. Nur dieses eine Wort. Ja. Jetzt kam auch der Zorn wieder. Und diesmal ließ er ihn zu. Ließ zu dass er mit ihm, Stefan, spielte.
"Ja", wiederholte er laut und stand langsam auf. Seine Zeit war gekommen.
Ein sardonisches Lächeln begleitete ihn auf dem Weg nach unten. Und der Ruf eines kleinen Vogels, den er noch im Springen vernahm.