Und wenn er recht hat?

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Wipfel

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Später Abend. Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von KA. Auf seinem Stock gestützt sitzt er aufrecht auf der Bank vor seinem Haus. Er schaut mich unentwegt an, beobachtet mich. Ich versuche dem Blick standzuhalten.
„Was?“, frage ich gedehnt.
„Haste jetzt auch so ein Daddelding?“
„Opa, alle haben heute ein Handy. Ohne dem geht es nicht.“
„Geht es nicht, so so.“
„Hat sich halt geändert, das Leben. Alle Nachrichten kannst du zeitgleich auf der ganzen Welt verfügbar machen.“
„Alle?“
„Ja klar. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, kannst du live dabei zuschauen. Irgendeiner streamt das, garantiert.“
Ich versinke wieder in meinem Daddelding, da hebt der Alte plötzlich seinen Stock und zeigt zum Himmel.
„Dann halt dein Teil doch mal zum Himmel. Live.“
„Hä? Warum das denn? Himmel bei Nacht ist doch ohne Sinn. Nicht mal Sterne sind zu sehen.“
„Es wird Krieg geben. Und die ganze Welt kann es hören. Oder hörst du das nicht?“
Für einen Augenblick schaue ich tatsächlich hoch.
„Hörst du es?“
„Ein Flugzeug höre ich, mehr nicht. Was willst du?“
Wieder auf dem Stock gestützt sagt er: „Nicht ein Flugzeug. Eines nach dem anderen. Alle ohne Positionslichter. Sie fliegen von Ramstein nach Süden, die ganze Nacht. Jede Nacht. Seit Wochen schon.“
„Woher willst du das wissen?“
„Sie fliegen ihr Zeugs zum nächsten Stützpunkt. So nah wie möglich an die Grenzen des Irans. Von Ramstein aus, verstehst du? Und wir dachten immer, von deutschem Boden darf nie wieder so was ausgehen.“
„Das hast du dir ausgedacht, komm hör auf…“
„Das war beim ersten Irak-Krieg so, beim zweiten auch. Ich saß hier draußen und hörte den Krieg kommen.“

Still bin ich, höre das unaufhörliche Brummen. Denke, und wenn er recht hat?
 
Der Autor setzt in erstaunlicher Knappheit eine sehr ansprechende Idee um, die neben der Erinnerung an einen großen Grundsatz unserer Nachkriegspolitik die Lebenserfahrung des Alters würdigt.

Auch gefällt mir der differenzierte Sprachgebrauch sehr gut. Hier wird sogar das eher seltsame Wort "Daddelding" sinngerecht verwendet. Der Grundgedanke wird in einer angemessenen Geschichte transportiert, ist dabei jedoch angenehm verdichte. Der Autor widersteht der Versuchung, das Thema zu sehr aufzublasen.

Für etwas problematisch und auch unnötig halte ich die Verwendung unvollständiger Sätze außerhalb der wörtlichen Rede, die den Text zu hastig und zu effekthaschend wirken lassen ("Später Abend. Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von KA"). Jedenfalls ist das meine persönliche Ansicht.
 

Wipfel

Mitglied
Vielen Dank Lukas Westphal für das Lesen und die Auseinandersetzung mit dem Text. Warum ist es problematisch den Text mit
Später Abend. Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von KA.
zu beginnen? Als Stilmittel? Der Leser erfasst sofort den Sinn, keine Schnörkel über die immer wieder untergehende Sonne und den aufkommenden Wind oder ähnliche Stimmungshülsen. Was daran ist problematisch? Mich interessiert das wirklich.

Grüße von wipfel
 

hein

Mitglied
Ich finde den schnörkellosen Einstieg gut. Man ist sofort in der Situation drin und muss weiterlesen.

LG
hein
 
Um die kleine Frage zu beantworten: Selbstverständlich kann man unvollständige Sätze als Stilmittel verwenden. Sie passen jedoch besser in die direkte Rede als in den Einstieg einer Geschichte, die schließlich sehr ernsthaft ist, nachdenklich endet und schon deshalb den hastigen, abgehackt wirkenden Einstieg gar nicht braucht. Schnörkellos bliebe der Text auch dann, wenn man die beiden Einstiegssätze vervollständigen würde. Schnörkellos muss es auch sein, sonst würde das Ziel aus den Augen verloren. Die in Ihrem Kurzkommentar erwähnten klischeehaften Schnörkelchen habe ich weder angesprochen noch gemeint. Ich bitte nicht zu vergessen, dass ich die Geschichte in Idee und Aufbau überzeugend finde. Big Smile.
 

Wipfel

Mitglied
@Lukas Westphal - danke für Ihre Antwort. Ich weiß das zu schätzen. Ihre Anregung werde ich bedenken.

Grüße von wipfel
 

fion

Mitglied
Hi Wipfel,

von wegen - kurz und knapp, ist top.
KA, war für mich - Kassel.
Und so gegen Ende des Textes fragte ich mich, wieso er, von Kassel aus, hören sollte, was in Ramstein und südlich davon passiert. In so einem Fall bricht die Glaubwürdigkeit zusammen. (Ja, auch wenn es ein fiktiver Text ist.)
Na bitte, da haste den Salat.
Man muss nicht alle Autokennzeichen kennen.
Und schmerzt es dich denn so sehr, einfach mal Kaiserslautern oder Karlsruhe zu schreiben. (Ich habe schon wieder vergessen, welche Stadt es war. Und kann es auch in deinem Text nicht lesen.)
So etwas ist doch doof für den Leser. (Gönne ihm doch nen Lerneffekt.)

[red]
[/red]
Schon mit den beiden ersten Worten, war das Bild in meinem Kopf undeutlich. Später Abend, heißt doch nicht unbedingt - stockdunkel, nicht wenn die beiden draußen sitzen. Aber, es ist für die Geschichte sehr wichtig, dass die beiden unter dunklem Himmel sitzen, sodass ich später im Text meine Vorstellung korrigieren musste.
Stell dir mal vor, du suchst dir in einem Geschäft ein Shirt aus, welches, laut des darüberhängenden Schilds, zwanzig Euro kostet. Aber der Kassierer verlangt dann dreißig von dir, und beteuert wahrscheinlich auch noch, dass es korrekt ist. Kaum bist du aus dem Laden raus, ist das Shirt auch nicht mehr blau - sondern rot. Ich möchte dich dann mal sehen. (Grins, sorry, aber, das musste sein.)

[red]
Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von KA
[/red]
Warum so abstrakt? Es ist doch aus der Perspektive des Jungen geschrieben, oder? Es böte sich eventuell an: Zu besuch bei meinem Großvater.
Aber nein, die Info kommt erst später. Und ich frage mich: Warum?
Es nimmt doch der Story nix weg. Sie blieb doch, wie sie ist. (Naja, so ein oder zwei Dingelchen will ich noch anmerken.)

[red]
Auf seinem Stock gestützt sitzt er aufrecht auf der Bank
[/red]
Für einen winzigen Moment war ich von der Akrobatik des Alten beeindruckt.
Die kleine Irritation wäre aber erst gar nicht aufgekommen, wenn du den Alten erst auf die Bank und ihn sich dabei/oder dann auf den Stock stützen ließest.

[red]
Ich versinke wieder in meinem Daddelding, da hebt der Alte plötzlich seinen Stock
[/red]
Wenn du doch versunken bist, kannst du das doch gar nicht sehen. Perspektive!

Wipfel, ich mag die Geschichte, sonst hätte ich ja nix dazu geschrieben.

LG
Fion
 

Wipfel

Mitglied
Hi fion, entschuldige die späte Antwort in diesen Sommertagen. Vielen Dank für die intensive Beschäftigung mit dem Text - das eine oder andere werde ich berücksichtigen. Nicht jeder weiß Autokennzeichen zu deuten, da haste recht.

Grüße von wipfel
 

Wipfel

Mitglied
Später Abend. Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von Karlsruhe. Auf seinem Stock gestützt sitzt er aufrecht auf der Bank in der Dunkelheit vor seinem Haus. Er schaut mich unentwegt an, beobachtet mich. Ich versuche dem Blick standzuhalten.
„Was?“, frage ich gedehnt.
„Haste jetzt auch so ein Daddelding?“
„Opa, alle haben heute ein Handy. Ohne dem geht es nicht.“
„Geht es nicht, so so.“
„Hat sich halt geändert, das Leben. Alle Nachrichten kannst du zeitgleich auf der ganzen Welt verfügbar machen.“
„Alle?“
„Ja klar. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, kannste live dabei zuschauen. Irgendeiner streamt das, garantiert.“
Ich versinke wieder in meinem Daddelding, da hebt der Alte plötzlich seinen Stock und zeigt zum Himmel und sagt zugleich:
„Dann halt dein Teil doch mal zum Himmel. Live.“
„Hä? Warum das denn? Himmel bei Nacht ist doch ohne Sinn. Nicht mal Sterne sind zu sehen.“
„Es wird Krieg geben. Und die ganze Welt kann es hören. Oder hörst du das nicht?“
Für einen Augenblick schaue ich tatsächlich hoch.
„Hörst du es?“
„Ein Flugzeug höre ich, mehr nicht. Was willst du?“
Wieder auf dem Stock gestützt sagt er: „Nicht ein Flugzeug. Eines nach dem anderen. Alle ohne Positionslichter. Sie fliegen von Ramstein nach Süden, die ganze Nacht. Jede Nacht. Seit Wochen schon.“
„Woher willst du das wissen?“
„Sie fliegen ihr Zeugs zum nächsten Stützpunkt. So nah wie möglich an die Grenzen des Irans. Von Ramstein aus, verstehst du? Und wir dachten immer, von deutschem Boden darf nie wieder so was ausgehen.“
„Das hast du dir ausgedacht, komm hör auf…“
„Das war beim ersten Irak-Krieg so, beim zweiten auch. Ich saß hier draußen und hörte den Krieg kommen.“

Still bin ich, höre das unaufhörliche Brummen. Denke, und wenn er recht hat?
 

Wipfel

Mitglied
Später Abend. Zu Gast bei einem alten Mann in der Nähe von Karlsruhe. Aufrecht sitzt er auf der Bank vor seinem Haus, gestützt auf seinem Stock. Er schaut mich unentwegt an, beobachtet mich im Laternenlicht. Ich versuche dem Blick standzuhalten.
„Was?“, frage ich gedehnt.
„Haste jetzt auch so ein Daddelding?“
„Opa, alle haben heute ein Handy. Ohne dem geht es nicht.“
„Geht es nicht, so so.“
„Hat sich halt geändert, das Leben. Alle Nachrichten kannst du zeitgleich auf der ganzen Welt verfügbar machen.“
„Alle?“
„Ja klar. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, kannste live dabei zuschauen. Irgendeiner streamt das, garantiert.“
Ich versinke wieder in meinem Daddelding, da hebt der Alte plötzlich seinen Stock und zeigt zum Himmel und sagt zugleich:
„Dann halt dein Teil doch mal zum Himmel. Live.“
„Hä? Warum das denn? Himmel bei Nacht ist doch ohne Sinn. Nicht mal Sterne sind zu sehen.“
„Es wird Krieg geben. Und die ganze Welt kann es hören. Oder hörst du das nicht?“
Für einen Augenblick schaue ich tatsächlich hoch.
„Hörst du es?“
„Ein Flugzeug höre ich, mehr nicht. Was willst du?“
Wieder auf dem Stock gestützt sagt er: „Nicht ein Flugzeug. Eines nach dem anderen. Alle ohne Positionslichter. Sie fliegen von Ramstein nach Süden, die ganze Nacht. Jede Nacht. Seit Wochen schon.“
„Woher willst du das wissen?“
„Sie fliegen ihr Zeugs zum nächsten Stützpunkt. So nah wie möglich an die Grenzen des Irans. Von Ramstein aus, verstehst du? Und wir dachten immer, von deutschem Boden darf nie wieder so was ausgehen.“
„Das hast du dir ausgedacht, komm hör auf…“
„Das war beim ersten Irak-Krieg so, beim zweiten auch. Ich saß hier draußen und hörte den Krieg kommen.“

Still bin ich, höre das unaufhörliche Brummen. Denke, und wenn er recht hat?
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Na Fion war aber mal streng mit deinem Text, Wipfel! Ich finde es gut, dass du wirklich nur das ein oder andere verändert hast, denn zum Beispiel das hier:
Ich versinke wieder in meinem Daddelding, da hebt der Alte plötzlich seinen Stock
ist wirklich nicht fehlerhaft. Es ist ja eine Abfolge von Geschehnissen und der Erzähler kann ja aufhorchen aus seinem Daddelding, sobald der Alte seinen Stock hebt.
Ich möchte aber nicht auf Fion eingehen sondern auf deinen Text, Wipfel -

Ich finde ihn sehr interessant. Mich interessieren politische Texte nicht wirklich aber wenn es dann um so etwas wie Krieg geht - das ist schon etwas anderes ... irgendwie ... ich weiß auch nicht.

Ich kenne mich leider überhaut nicht aus, was Weltpolitik angeht. Könnte nun auch nicht einmal unterscheiden, ob dieser Text faktual oder fiktiv ist ... aber das musst du, Wipfel, als Autor auch nicht klären, das gehört nicht hier auf die Leselupe, außer ich benehme mich gerade allzu dämlich.

Mich hat sie jedenfalls gepackt, die Geschichte, die ja berechtigt auch sehr szenisch ist, und ich möchte mehr lesen von dir!

LG, Etma
 



 
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