Ungewissheit

Obwohl ich mich sehr anstrenge, kann ich mich nicht entsinnen, in dem Raum, in dem ich soeben zu mir gekommen bin, schon einmal gewesen zu sein. Auch fehlt mir jedwede Erklärung für die Umstände, unter denen ich hierher geriet.
Es hat den Anschein, dass außer dem bemerkenswert unbequemen und sehr niedrigen Sessel, in dem ich mich sitzend wiederfand, kein weiteres Mobiliar vorhanden ist. Aus Korbgeflecht ist er gefertigt, und obendrein noch reichlich altersschwach; aufsässig knisternd bei jedem einzelnen Atemzug. Ebenfalls unerklärlich ist: Mein rechtes Bein liegt über das linke geschlagen, der Fuß befindet sich in ununterbrochener, langsam kreisender Bewegung. Leider bin ich nicht in der Lage, das zu unterbinden. Der am unteren Ende des Schenkels aufliegende Knöchel ist sehr spitz und drückt sich schmerzhaft ins empfindliche Fleisch. Gewiss, als ich noch jung war und beweglich, war dies meine bevorzugte Sitzhaltung, doch das ist sehr lange her. Heutzutage mag ich das nicht mehr.
Es ist schon ein sonderbares Gefühl, sich an einem unbekannten Ort zu befinden, und nicht zu wissen, aus welchem Grunde es einen dorthin verschlagen hat. Auch wie der mir unbemerkt gebliebene Transport bewerkstelligt wurde, ist eine durchaus unterhaltsame Frage. Und selbstverständlich auch, wer hinter diesem albernen Streich, den man mir hier spielt, stecken mag. Nun ja, wer anders als er? Kein anderer verfügt über die Gelegenheit, mich, wie ich mir denke, beispielsweise unter der Zuhilfenahme pharmazeutischer Produkte, heimlich ruhig zu stellen, um mich hierher zu bringen und in diesen Sessel zu setzen. Doch welche Absicht sollte er damit verfolgen wollen? Ist das alles nur eine harmlose Kinderei, oder will er erreichen, dass ich mich an etwas ganz Bestimmtes erinnere? An etwas, das sich lange vor der Zeit, in der wir uns kennen lernten, zugetragen haben muss?
Lauter Fragen; viel zu viele Fragen; und nicht auf eine weiß ich eine einigermaßen gescheite Antwort.
Im Verlauf meines unergiebigen Grübelns betrachte ich mit zunehmender Sorge meine Hände, die, obwohl sie so blutleer aussehen und mir beinahe wie tot vorkommen, unentwegt an den bereits ein wenig ausgefransten, viel zu weit aus den Ärmeln des Mantels herausragenden Manschetten meines Hemdes zupfen. Diese zittrigen, kraftlosen Hände sind mir fremd; ich mag sie genauso wenig, wie ich ihnen vertraue. Aus welchem Grund sollte ich auch Vertrauen fassen zu Körperteilen, die gar nicht die meinen sein können? Meine Hände waren ein Leben lang voller Kraft und Geschicklichkeit gewesen, aus Abertausenden winziger Teile hatten sie hochkomplizierte, prächtige Uhren hergestellt, um die sich die Reichen und Mächtigen nachgerade gerissen haben. Strafend sehe ich hinunter zu dem jämmerlichen Ersatz, den man mir während des Schlafs untergeschoben haben muss, und schuldbewusst verkriechen sich beide in den Falten der Mohair-Decke, die man mir der vermutlich bald heraufziehenden Kälte wegen über den Schoß gelegt hat.
Auch meinem Gesäß ist unbehaglich zumute, weil es sich dem beständigen Druck des Stuhlgeflechts nicht erwehren kann. Ich werde ihn, sobald er kommt, gehörig ausschelten müssen, denn eine der mit ihm abgesprochenen Aufgaben besteht darin, stets daran zu denken, mir das Kissen, das ich seit einiger Zeit eigens zu diesem Zweck mit mir führe, unter zu legen.
Die Langeweile bedrückt und irritiert mich. Ich sollte mich in irgendeiner Weise von mir ablenken, auf anderes achten als auf mich selbst. Es tut nicht gut, rückt man sich selbst in den Mittelpunkt der Betrachtungen; es verzerrt das Bild. Außerdem verzagt man auch leicht. Nur auf was soll man achten, wenn der Raum, in dem man sich befindet, bis auf einen selbst und den Sessel, in dem man sitzt, nichts enthält?
Unter heftigen Schmerzen drehe ich den Kopf zur linken Seite hin, wo ich nichts weiter sehe, als eine verschlossene Tür. Nun gut, ich hatte es mir gedacht! Was soll also die Enttäuschung? Was, bitte sehr, hatte ich erwartet? Einen Domestiken womöglich, der geduldig wartend hinter mir steht, bereit, frisch aufgebrühten Tee zu servieren? Noch einmal nehme ich die Schmerzen in Kauf, und drehe den Kopf nach rechts herum. Da, schräg hinter mir, da ist doch etwas. Tatsächlich, vor einem offensichtlich früher mit Fliesen versehenen Teil der Wand, an dem vermutlich einmal ein Spül- oder Waschbecken befestigt gewesen war, steht auf einem abgetretenen Fetzen Linoleum aufrecht mein Koffer. Auf ihm liegt mein Hut; der schwarze mit der breiten Krempe. Der, den ich immer zu den Beerdigungen getragen habe. Damals, als man noch beerdigt hat.
Von wo hat er auf einmal den Hut hergebracht? Und warum? Weiß er nicht mehr, dass mir Kopfbedeckungen ein Gräuel sind?
Die bislang mit Mühe bewahrte Gelassenheit droht mir verloren zu gehen. Mein Herzschlag gerät allmählich außer Takt, und auch die Atmung beginnt mir Probleme zu bereiten. Das liegt daran, dass ich nun langsam wirklich verärgert bin. Sehr verärgert sogar. Es bereitet wahrlich keine Freude, auf andere angewiesen zu sein. Immerzu ist man gezwungen, in Demut die größten Dreistigkeiten hinzunehmen.
Wenn ich wenigstens wüsste, warum er mich in diesem beunruhigenden, allem Anschein nach zum Abriss bestimmten Gebäude ausgesetzt hat. Und auch, wann er kommen wird, um mich von hier weg zu holen.
Allerdings weiß ich nicht einmal, ob ich mir sicher sein darf, dass er mich überhaupt wieder abholt.
Ähnlich Verliebten, die sich zu diesem Zweck gewöhnlich einer Blüte bedienen, beginne ich, an den Dielenbrettern meine Chancen abzuzählen:
Er kommt.
Er kommt nicht.
Er kommt.
Er kommt nicht.
Doch sehr bald gebe ich dieses Unterfangen wieder auf; es ist zu ungenau. Denn in Ermangelung meiner Brille sehe ich zu den Wänden hin alles ein wenig verschwommen, wodurch ich die unregelmäßig angeordneten Fugen zwischen den Bohlen nicht mehr deutlich genug zu erkennen vermag, und daher Gefahr laufe, eine zu übersehen. Unter solchen Voraussetzungen kann man doch zu keinem zuverlässigen Ergebnis gelangen.
Nun, es wird sich ohnedies bald zeigen, ob er kommt, denn es scheint, dass der Tag sich dem Ende zuneigt. Und die Nacht über wird er mich doch nicht hier lassen? Obwohl, zuzutrauen wäre es ihm. Bei dem Charakter.
Mich schaudert, denke ich daran, was man über ihn spricht. Natürlich stets hinter vorgehaltener Hand, damit ich es nicht mitbekomme und ihn einmal mehr lautstark gegen alle verteidige, wie es leider meine Art ist. Trotz der angeblich nur zu meinem Wohle betriebenen Heimlichtuerei um mich herum, ist mir jedoch nicht das Geringste von dem entgangen, was getuschelt wird.
Dabei hatte ich doch so sehr gehofft, man hätte ihn in den vielen Jahren, in denen er auf meine Kosten das religionswissenschaftliche Seminar besuchte, die rechten Werte gelehrt. Dem Vernehmen nach ist dem jedoch ganz und gar nicht so. Im Gegenteil, scheint es doch eher so zu sein, als habe man ihn dort in seiner Bosheit noch bestärkt, ihm sozusagen den letzten Schliff beigebracht.
Doch was ereifere ich mich? Alle hatten mich vor ihm gewarnt; und wenn er mich ausplündert und erniedrigt, als gäbe es kein morgen mehr, habe ich es mir selber zuzuschreiben. In Abhängigkeit zu Menschen wie ihm zu geraten, ist offenbar der Preis, den man dafür zu entrichten hat, bringt man Überlegenheit mit Überheblichkeit durcheinander. Mir scheint, ich sollte mich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, dass dies die wohl unausrottbarste meiner Schwächen ist; die, derer ich womöglich geradeso bedarf wie der Luft zum Atmen. Denn selbstverständlich hätte ich, als ich ihn allen Widerständen trotzend in mein Haus aufnahm, bereits wissen müssen, auf was er es abgesehen hatte. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass ich eine solche Fehlentscheidung traf. Beileibe nicht!
Nun ja, Torheit ist auch eine Möglichkeit, sich treu zu bleiben: wieder und wieder die selben Possen veranstalten und anschließend die selben Qualen auskosten, und zielstrebig allem aus dem Wege gehen, wodurch man veranlasst sein könnte, womöglich etwas dazu zu lernen.
Doch anders herum gefragt: Welcher Schmerz mag größer sein? Der, der sich einstellt, macht man einmal mehr die Erfahrung, dass es ein ohnehin vergebliches Bemühen ist, die Umstände verändern zu wollen? Oder der, unterwirft man sich, ohne je Widerstand geleistet zu haben, den Gegebenheiten, die sich, seien sie auch noch so kläglich, der Mär nach durch Unumstößlichkeit auszeichnen?
Ach was, Unfug! Nichts als sinnfreies Gewäsch! Doch hilfreich immerhin, um nicht in Selbstmitleid zu verfallen; denn das schürt nur den Hass, und auch den Ekel vor sich selbst. In einer Lage wie der meinen sollte man sich besser darum bemühen, den Blick auf das Tatsächliche zu richten, auf das Zweckmäßige, auf das, was einen Ausweg weist! Eine Lektion zumindest habe ich gelernt, und daher bin mir dessen bewusst, dass es zwar Tausende von Türen gibt, durch die man schreiten kann, sucht man seinen Weg. Doch ganz gleich, durch welche zu gehen man sich auch entscheidet, der Raum, in den man gelangt, hat man die Schwelle übertreten, ist stets der selbe, den zu verlassen man eigentlich beabsichtigt hatte. Warum also nicht weiter tun, was man kennt, und führt es auch dahin, sich unglücklich zu fühlen? Immerhin ist auch in dieser Art des Handelns ein zwar kleines, dafür aber sicheres Teil vom Glück enthalten: nämlich genau zu wissen, wohin die Bestrebungen führen. Auch das schafft Festigkeit.
Allmählich fröstelt es mich. Wo er nur bleibt? Ein wenig Hunger habe ich auch. Und Lust darauf, ein Glas Wein zu trinken. Und darauf, wieder unterwegs zu sein. Bewegung zu spüren, auch wenn es nicht die eigene ist. Er muss doch wissen, dass mich hungert und friert.
Bisher hat er das noch nie gemacht; mich einfach irgendwo absetzen und nicht wissen zu lassen, wann er mich wieder abholt. Ich werde ihn deshalb gründlich auszanken müssen, wenn er kommt.
Sofern er kommt.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten