Unter Beobachtung
15. Teil
75
Am nächsten Morgen verabschiedeten sich Andreas, Uwe und Thomas gleich nach dem Frühstück, um zum Flughafen zu fahren. Andreas warf Uwe die Autoschlüssel zu. „Du fährst“, sagte er kurz, dann wandte er sich an Anne. „Wir telefonieren. Aber ich denke, morgen oder spätestens übermorgen sind wir wieder zurück. Passe gut auf dich auf. Vielleicht ist es besser, wenn du mit oben bei deinen Eltern schläfst“, riet er. „Da bist du auch gut versorgt, wenn ich nicht da bin.“ Anne versprach es und sie gaben sich einen Kuss zum Abschied, dann stieg er zu seinen Freunden in den Wagen.15. Teil
75
Walter und Erika fuhren gegen Mittag mit ihrer Tochter, Pitt und Jens, ins Lazarett, wo Doktor Mechier sie schon erwartete.
Während die Eltern auf dem Flur warteten, wurden die drei in die verschiedenen Behandlungsräume gebracht. Nach einer Stunde kamen nacheinander Jens und Pitt, auf ihren eigenen Beinen stehend, ohne Rollstuhl wieder heraus. Sie bewegten sich beide noch etwas steif und vorsichtig, aber lächelten einander und Annes Eltern zu.
„Sind deine Verbände auch runter?“, fragte Jens.
„Ja, hab nur noch zwei große Pflaster drauf. Sieht gut aus“, antwortete Pitt, zog sein Shirt als Beweis hoch und zeigte voller Stolz auf das eine Pflaster an seiner linken Taille.
Jens winkte mit der nur noch dünn verbundenen Hand und wackelte mit all seinen Fingern. „Der Doc hat meine Hand auch wieder gut zusammengeflickt. Er meint, in drei Tagen können da die Fäden gezogen werden. Und die lästigen Binden am Oberkörper sind auch weg. Jetzt kann endlich die Sonne da wieder ran.“
Dieses Schauspiel hatten sie bewusst für Walter und Erika gegeben, damit sie besser damit umgehen konnten, wenn sie ihren zukünftigen Schwiegersohn das erste Mal nur in Badehose, ohne Shirt sehen würden. Dann setzten sich die beiden rechts und links zu den Eltern und warteten mit ihnen geduldig auf Anne.
Nach einer weiteren Stunde kam sie freudestrahlend, nur leicht gestützt von Doktor Mechier, vorsichtig auftretend aus dem Behandlungsraum zurück. Am Arm trug sie nur noch einen dünnen Verband. Sie blieb stehen, beugte sich vor und zog ihr Hosenbein hoch. „Seht mal, Leute“, sagte sie voller Stolz und zeigte ihren Unterschenkel mit der hautfarbenen Stützbandage und drehte das Bein nach allen Seiten. „Die Ärzte hier haben gezaubert. Ich habe wieder eine richtig gut geformte Wade. Bald wird man nicht mehr viel von dem doofen Haibiss sehen. Andy wird vielleicht Augen machen, wenn wir ihn vom Flughafen abholen.“
Die Männer freuten sich mit ihr und ihren Eltern.
„Könnt ihr bitte noch etwas warten?“, fragte sie dann. „Ich bin noch nicht ganz fertig.“ Dabei lächelte sie ihre Eltern und die beiden Freunde geheimnisvoll an. Langsam lief sie gestützt von Abdul den Gang entlang und verschwand mit ihm in einen anderen Raum, wo aber der Arzt schon nach wenigen Minuten allein wieder zurückkam und sich zu den vier anderen dazusetzte. Ein Soldat brachte ihnen ein Tablett mit Kaffee und Tee.
„Bitte bedient euch. Oder möchte einer von euch lieber Wasser? Dann lasse ich es sofort bringen“, sagte Abdul. Die Freunde nahmen sich dankbar die Becher vom Tablett.
Während sie tranken, bedankten sich Erika und Walter für die hervorragende Arbeit des Arztes und seine unermüdliche Hilfe. Sie wussten, dass Anne eigentlich nicht im Militärlazarett, sondern im hiesigen Krankenhaus hätte behandelt werden müssen, sie aber dort bei Weitem nicht so gute Bedingungen und so spezialisierte Ärzte hatten.
„Du hast sehr viel für unser Kind und ihre Freunde getan, Doktor. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet“, sagte Walter.
Doch Abdul winkte ab. „Das tue ich sehr gern für meine Freunde. Jeder Einzelne von ihnen ist es tausendfach wert. Eure Tochter und ihre Freunde genießen hier hohes Ansehen und den größten Respekt all meiner Landsleute. Ich glaube nicht, dass ihr das schon wisst. Aber eure Tochter hilft hier schon viele Jahre den Menschen, wo sie nur kann, ebenso wie Sebastian und Kim. Genauso wie Andreas mit seinen Freunden seit dem ersten Tag, an dem sie hier sind. Ihr habt allen Grund, stolz auf eure Tochter zu sein. Wir sind es.“
Walter und Erika trieb es die Tränen in die Augen, als sie so viel Gutes über ihr Kind hörten.
„Das haben wir wirklich nicht gewusst. Anne hat nie etwas davon erwähnt. Sie schrieb nur immer von ihrer Arbeit auf der Tauchbasis. Erst seit sie Andy kennt, hat sich der Inhalt etwas geändert. Wenn wir da waren, waren wir immer mit ihr draußen mit auf dem Meer und sind schwimmen gegangen, während sie mit den Gästen tauchte“, erzählte Erika.
„Das habe ich mir schon gedacht. Anne ist sehr bescheiden und macht kein Aufhebens davon“, stellte Abdul fest.
In dem Moment öffnete sich hinten im Gang die Tür. Anne trat, gestützt von einer Ärztin, auf den Flur. Sie nickte der Frau im weißen Kittel dankbar zu und lief dann die nächsten Schritte allein, bis ihre Eltern und Freunde bei ihr waren.
Ihre Augen funkelten vor Freude, als sie sagte: „Na Oma und Opa Kamp, wie geht es euch?“ Sofort umarmte Annes Mutter ihre Tochter und die Männer lächelten sich an, dann gratulierten sie ihr und ihren Eltern. „Jungs. Wie sieht es aus, stellt ihr euch als Patenonkel freiwillig zur Verfügung oder muss ich euch dazu verdonnern? Andy und mir wäre es eine große Ehre“, dabei sah sie Pitt und Jens fragend an. Die Freunde nahmen sie und ihre Eltern in ihre Mitte.
„Doc, ich möchte dich nicht beleidigen, denn ich weiß, du bist eigentlich nicht ganz so alt, dass du Andys Vater sein könntest. Aber du bist für ihn wirklich der Freund und Vater, den er nie hatte, sich aber schon immer wünschte. Ich weiß, dass ich hier nun auch für ihn spreche, wenn ich mir wünsche, dass du uns weiter ein so guter Freund, aber Andy auch ein Vater und dem noch ungeborenen Kind ein guter Opa wirst“, sagte Anne vorsichtig, ganz leise und verbeugte sich vor Abdul.
„Hey, Doc, was ist los?“, fragte Pitt nach einer Weile unsicher, als er den Arzt wie abwesend stehen sah und stieß ihm leicht an die Schulter.
Davon schreckte Doktor Mechier aus seinen Gedanken auf und lächelte Anne aus feuchten Augen an. „Du beleidigst mich nicht damit, Anne. Im Gegenteil bin ich sehr erfreut darüber. Ihr macht mich damit sehr glücklich. Ich verspreche dem Kind immer ein guter Großvater, euch allen ein guter Freund und Andy ein guter Vater zu sein, wenn er das auch selbst möchte. Ihr macht mich sehr stolz und glücklich.“ Dabei verneigte er sich vor Anne und sie sich ebenso vor Abdul. Dann lagen sich beide mit Tränen in den Augen in den Armen.
„Ich kann es gar nicht erwarten, es Andy zu erzählen. Aber ich werde es ihm nicht am Telefon sagen. Denn ich möchte sehen, wie er darauf reagiert“, sagte Anne fröhlich. „Doc, kommst du heute Abend zum Essen vorbei? Ich mag es nicht, wenn du allein bei dir drüben essen musst.“ Abdul bedankte sich und versprach, vorbeizukommen. In dem Moment wurde er aber von einem seiner Kollegen gerufen. Er zog entschuldigend die Schultern hoch und rannte schnell davon.
„Komm, Onkel Pitt“, sagte Jens, „dann bringen wir mal die Großeltern und die zukünftige Mama wieder heim. Ich habe Hunger.“
„Ja, Onkel Jens, dann wollen wir mal“, gab Pitt ernst zurück. Alle mussten lachen, als sie das verdutzte Gesicht von Jens sahen. „Ich glaube, an das Onkel sein, muss ich mich erst noch gewöhnen“, meinte er leise.
„Klar doch, hast doch noch ein paar Monate Zeit dafür, Onkelchen“, stichelte Anne und hakte sich, als Schutz vor einer Kopfnuss von ihm, lachend bei ihren Eltern unter und zog den Kopf schon schützend ein.
„Ihr seid wirklich ein verrücktes Volk. Da hat der Doktor vollkommen recht“, stellte Walter lachend fest.
Gemeinsam verließen sie das Lazarett.
Auf dem Weg zurück zum Palast hielten sie noch hier und da an, um ein paar Lebensmittel, Wasser und Obst einzukaufen. Überall, wo sie hinkamen, wurden sie höflich begrüßt und die Ägypter verneigten sich vor Annes Eltern, was die beiden immer wieder verlegen machte.
Nachdem sie im Palast zurück waren, ging Anne mit ihrer Mutter in die große Küche des Hauses und half den Angestellten bei der Zubereitung des Essens. Dabei staunte Erika über die vielen neuen Rezepte und wie schnell die leckeren Speisen zubereitet wurden.
Die Männer hatten es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht. Sie sogen genüsslich an ihren Shishas und bliesen den Rauch in die Luft. Dabei unterhielten sie sich über die Prozesse, die Walter in Deutschland geführt und mit den Behörden der anderen Länder zusammengearbeitet hatte. Jens informierte ihn, dass er bereits Rückmeldungen über weitere Verhaftungen erhalten hat, die alle auf der langen Liste standen, die sie im Hotel sichergestellt hatten, und dass die hier gefassten Deutschen in den nächsten Tagen an Deutschland ausgeliefert würden.
Als die Frauen mit dem Essen kamen, halfen schnell alle, den Tisch zu decken. Es wurde viel gelacht dabei. Allen schmeckte es vorzüglich und sie bedankten sich beim Koch und den Männern, die danach schnell das Geschirr wieder abräumten. Einer von ihnen brachte Anne das Telefon auf die Terrasse und sagte ihr auf Arabisch, dass Andreas am Apparat sei.
Sofort meldete sie sich fröhlich und hörte dann gespannt zu, was er zu erzählen hatte. Schon kurze Zeit später legte sie wieder auf. „Die Jungs kommen morgen Abend mit Ahmeds Eltern und seiner Schwester zurück. Sie helfen den Leuten gerade beim Packen ihrer Sachen. So wie Andy sagte, war es nicht schwer, die Eltern zu überzeugen. Wir sollen sie mit einem Pickup und dem Toyota abholen, damit sie das ganze Gepäck und die Leute wegbekommen. Ahmed wird Luftsprünge machen oder in Ohnmacht fallen, wenn wir ihn zu seinem Haus bringen und ihn da seine Familie schon erwartet“, sagte Anne fröhlich und musste kichern, als sie sich Ahmeds Gesicht dabei vorstellte. „Mom, wie hast du eigentlich Paps beigebracht, dass ich unterwegs war?“, wollte sie dann von ihrer Mutter wissen. Die Eltern lächelten sich an und erzählten ihr gemeinsam davon. „Ein guter Plan“, stellte Anne fest. „So werde ich es auch machen.“ Dann rief sie bei Sebastian auf der Tauchbasis an und fragte, ob sie sich für morgen Abend einen seiner Pickups ausleihen dürften, um die Familie mit ihrem Gepäck am Flughafen abholen zu können. Sebastian sagte sofort zu und bot sich selbst als Fahrer an.
Am nächsten Abend stand Anne mit ihrem Vater, der den Toyota gefahren hatte, weil sie sich mit dem Bein selbst noch nicht wieder traute, gemeinsam mit Sebastian in der Ankunftshalle des Flughafengebäudes.
Sie hielt zur Begrüßung für die Familie einen großen Blumenstrauß im Arm. Sie freute sich auf die Rückkehr von ihrem Andy und den beiden Freunden. Außerdem war sie schon sehr gespannt auf die Eltern und die kleine Schwester von Ahmed.
Einer der Beamten hatte ihr einen Stuhl gebracht, damit sie sich direkt neben die Zollabfertigung hinsetzen konnte, wo keine Bänke standen.
Walter und Sebastian hielten sich etwas zurück und nahmen weiter hinten in der Halle auf den Sitzen Platz.
Viele Reisende und Touristen kamen mit ihrem Gepäck vorbei und schauten neugierig und etwas verwirrt auf die Frau, die mit dem großen Blumenstrauß direkt neben der Zollabfertigung saß.
Einer der Zöllner informierte Anne, dass die Maschine aus Kairo eine halbe Stunde Verspätung hat und reichte ihr ein Glas Wasser. Anne gab es per Zeichensprache an Sebastian weiter, der ihr verstehend zunickte. Dann erklärte er Walter, dass sie diese Zeichen der Taubstummensprache neuerdings auf Anregung von Anne hin gelernt hatten und nun beim Tauchen anwendeten. Es sagte ihm, was seine Tochter gerade so signalisiert hatte.
Anne hatte absichtlich ein Kleid angezogen, welches, wie für dieses Land angemessen ist, über die Knie reichte und die Schultern sowie die Oberarme bedeckte. Sie wollte, dass Andreas sofort sehen konnte, dass sie den dicken Verband los war. Sie hatte die Beamten gebeten, nach Andreas, den sie schon kannten, Ausschau zu halten und ihr gleich zu sagen, wenn sie ihn in der Masse der Leute entdeckten.
Als es endlich so weit war, drängten Soldaten auf Befehl ihres Vorgesetzten durch die Menschenmasse und bildeten so für Anne ein Spalier, damit sie ungehindert und ohne weggedrängt zu werden, durchgehen konnte. Der Zollbeamte nickte ihr freundlich zu und machte eine einladende Geste. Vorsichtig stand Anne auf und nickte dem Mann dankbar zu. Langsam, noch etwas unsicher, schritt sie durch den von den Soldaten freigehaltenen Gang.
Dabei wurde sie von den Augen der vielen unbekannten Menschen begleitet, die sich darauf keinen rechten Reim machen konnten. Sie fragten sich, wer diese Frau wohl sei, die in der Lage war, den ganzen Betrieb an der Abfertigung aufzuhalten.
Anne bemühte sich nicht zu hinken. Immer wieder machten die Soldaten ihr den Weg weiter frei. Endlich entdeckte sie die Freunde. Sie hatten ihr noch den Rücken zugekehrt, da sie gerade das Gepäck der Familie vom Band holten.
Doch Andreas bemerkte, wie es plötzlich ungewöhnlich ruhig hinter ihm wurde. Vorsichtig auf alles gefasst drehte er sich um. Als er Anne in dem Kleid, mit dem großen Blumenstrauß, aber auch mit hochrotem Kopf stehen sah, ließ er verblüfft die Gepäckstücke und seine Krücke fallen und ging, nichts anderes mehr um sich herum wahrnehmend, auf sie zu. Er sah sie von oben bis unten an, dann hob er sie sacht auf seine Höhe und drehte sich mit ihr, während er sie küsste. Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, kniete er vor ihr nieder und beschaute sich genau ihr, nur noch mit einer Art Stützstrumpf verbundenes Bein. Dann schrie er vor Freude ganz laut „Ja!“ Was in der ganzen Halle zu hören war und von den Wänden widerhallte. Er küsste ihre Hand. Dabei war ihm egal, was all die Leute ringsum dachten. „Komm, ich stelle dich Ahmeds Familie vor“, sagte er dann glücklich und ging mit ihr gemeinsam zum Gepäckband, wo sie erst einmal freudig von Uwe und Thomas begrüßt wurde. Danach stellten sie ihr die Familie vor.
Anne verbeugte sich vor den Eltern und dem Mädchen. Sie reichte der Frau den Blumenstrauß und hieß sie alle drei auf Arabisch recht herzlich willkommen in ihrer neuen Heimatstadt.
Die Eltern waren sichtlich verlegen. Anne drängte sich einfach zwischen das Ehepaar und hakte sich bei ihnen unter.
Einige Soldaten übernahmen das Gepäck der Familie und die anderen sorgten dafür, dass ihnen der Weg zum Ausgang freigehalten wurde.
Mit so viel Aufmerksamkeit hatten Ahmeds Eltern nicht gerechnet. Nur unsicher folgten sie der jungen Frau, die sich bei ihnen untergehakt hatte, sie mit sich zog und eine kleine Unterhaltung mit ihnen begann. Andreas und Uwe nahmen das Mädchen bei der Hand und Thomas folgte direkt hinter ihnen. Die Soldaten verluden das Gepäck auf die Ladefläche des Pick-ups und salutierten dann vor den deutschen Männern. Anne bat die Frau und ihre Tochter, hinten im Toyota Platz zu nehmen, während die Männer den Vater zu sich in den Ford einsteigen ließen.
Der Konvoi von drei Fahrzeugen fuhr hupend durch Hurghada zum neuen Heim der kleinen Familie.
Vor dem Haus wartete schon Doktor Mechier, der es sich nicht nehmen lassen wollte, die Familie von Ahmed willkommen zu heißen.
Erst erschrak das Paar, als sie den Mann in Uniform mit dem hohen Dienstrang da stehen sahen.
Doch Anne nahm ihnen mit ihrem gewinnenden Lächeln die Furcht und erklärte ihnen, dass dieser Mann in Uniform ein sehr guter Freund auch von ihrem Sohn Ahmet und hier der Militärstabsarzt sei.
Gemeinsam betraten alle das Haus. Andreas zeigte dem Mädchen ihr eigenes Zimmer und Abdul führte das Ehepaar durch ihr neues Zuhause. Die Leute konnten ihr Glück noch immer nicht fassen. Sie mussten sich erst einmal setzen.
Andreas machte alle miteinander bekannt. Dann lud er sie auf die kleine Terrasse ein, wo Anne und Abdul schon für ein Willkommensessen gesorgt hatten. Andreas erinnerte die Eltern daran, dass sie Ahmed überraschen wollten und sie doch die Zeit bis dahin nutzen sollten, sich erst einmal etwas im neuen Heim einzurichten und es sich gemütlich zu machen. Abdul überreichte ihnen die Haustürschlüssel und erklärte ihnen, dass der Kühlschrank reichlich gefüllt sei und ihre Tochter nach den Ferien hier in die Schule gehen kann, die nur wenige Meter entfernt ist.
Nach dem Essen verabschiedeten sich die Freunde von der Familie. Die konnten ihr Glück noch immer nicht fassen, denn sie hatten mit einer kleinen Wohnung gerechnet, aber nicht mit solch einem großen Haus mit acht Zimmern auf zwei Etagen verteilt, dazu auch noch mit Terrasse und Pool.
„Morgen Abend kommen wir mit Ahmed und seinen Freunden vorbei. Ihr braucht euch um nichts zu kümmern. Wir werden alles für eine kleine Einzugsfeier mitbringen“, erklärte Andreas und verbeugte sich gemeinsam mit Anne, Sebastian und Abdul kurz vor den Leuten zum Abschied. Uwe, Thomas und Walter winkten ihnen noch einmal zu, dann verließen sie das Haus und ließen die drei in ihrem neuen Glück allein.
Andreas bedankte sich bei Sebastian, der gleich zurück zu Kim fahren wollte, dass er mit dem Pick-up gekommen war, um zu helfen.
Abdul stieg in seinen Wagen, er musste noch einmal ins Lazarett, aber würde die Freunde dann noch treffen.
Andreas stieg, etwas müde, hinten in den Toyota ein und Anne kletterte zu ihm auf die Rückbank, während Walter sich ans Steuer setzte. Uwe und Thomas übernahmen mit dem Ford die Führung, weil sich Annes Vater noch nicht so gut auskannte, um sicher den Weg zurück zum Palast zu finden. Im Rückspiegel sah er, wie sich Anne an Andreas lehnte, der sie fest im Arm hielt und immer wieder küsste. Zufrieden lächelnd startete er den Wagen und sie fuhren heim.
Walter wollte so schnell wie möglich seiner Frau erzählen, was er auf dem Flughafen erlebt und wie sehr sich Andreas gefreut hatte.
Als sie auf dem Parkplatz ankamen, standen da schon seine Frau und die beiden Männer, die sie in ihre Mitte genommen hatten. Kaum hatte er den Wagen abgestellt, begann er auch schon seiner Frau alles zu erzählen, während sie durch den Garten zum Haus gingen.
Andreas, Uwe und Thomas staunten nicht schlecht, als sie Pitt und Jens ohne ihre Rollstühle da stehen sahen. Sie nahmen Anne und Andreas in ihre Mitte und folgten Erika und Walter, der noch immer ganz euphorisch seiner Frau alles berichtete, was er erlebt und gesehen hatte.
Etwas erschöpft von der Reise und ihrer Arbeit, setzten sich Andreas, Uwe und Thomas in die bequemen Sessel auf der Terrasse und sogen die frische Meerluft genüsslich ein.
Anne setzte sich bei ihrem Verlobten auf die Sessellehne. Viel lieber hätte sie sich auf seinen Schoß gesetzt, doch sie befürchtete, dass ihn die Schussverletzung im Oberschenkel noch immer schmerzen könnte. Als Andreas das bemerkte, zog er sie einfach zu sich runter. „Keine Angst, Schatz, du tust mir nicht weh“, flüsterte er leise. „Dazu bin ich viel zu froh, dich endlich wieder nahe bei mir zu haben. Diese zwei Tage waren zwei Tage zu viel. Wie geht es deinem Bein und dem Arm? Du hast mich ganz schön damit überrascht. Ist der Doc sich auch wirklich sicher, dass du das Bein so belasten und schon allein ohne Stützen laufen darfst? Sollten wir damit nicht doch etwas vorsichtiger sein?“, fragte er besorgt und strich leicht über den dünnen Verband an ihrem Unterschenkel, wobei er sich darum mühte, ihr Bein noch etwas hoch und weich auf die Armlehne zu lagern.
Nach einer Stunde kam Doktor Mechier auf die Terrasse und wurde freudig von allen begrüßt. Schnell stand Anne auf und wies dem Freund einen Platz gleich neben Andreas zu. Dann verschwand sie ins Haus. Kurze Zeit darauf erschien sie wieder. Vor sich trug sie ein Tablett. Darauf stand eine brennende Kerze. Mehr konnten die Freunde noch nicht erkennen. Langsam umrundete sie den Tisch und stellte das Tablett vor Andreas ab, dabei lächelte sie ihn ganz aufgeregt an.
Andreas sah auf das vor ihm abgestellte Tablett. Darauf lagen eine Babyrassel, kleine Babyschuhe und ein Schnuller.
„Hallo Papa“, sagte Anne leise.
Obwohl es Andreas eigentlich schon vom Doc, wenn auch noch nicht zu einhundert Prozent sicher wusste, war er in dem Moment vollkommen sprachlos. Er starrte auf die winzig kleinen Schühchen, dann wieder zu Anne und zurück zum Tablett auf den Schnuller. Seine Augen wurden feucht. Er brauchte kurz, um es zu verarbeiten. Doch dann sprang er unverhofft auf, nahm Anne fest in seine Arme und hob sie mit Leichtigkeit, wie es schien, weit über sich in die Luft, dass es ihr schon Angst und Bange wurde. Dabei lachte er laut und sagte immer wieder: „Ich werde Vater. Habt ihr gehört, Jungs. Wir bekommen ein Baby. Leute, ich werde wirklich Vater. Danke, mein Schatz. Ich werde Vater. Anne schenkt mir ein Baby. Ich werde Vater.“
„Lass mich wieder runter, du verrückter Kerl!“, rief Anne lachend. „Ich bekomme doch Höhenangst. Mir wird ganz schlecht hier oben!“
„Oh, entschuldige bitte.“ Ganz sacht setzte er sie wieder ab und hielt sie aber weiter fest im Arm.
„Ich habe Jens und Pitt schon gefragt, ob sie Onkel für unser Baby sein wollen und nun frage ich auch Uwe und Thomas und bitte sie darum“, sagte sie fest und sah die beiden Freunde fragend an. Freudig nickten sie Anne und Andreas zu. „Und morgen werde ich Sebi und Kim auch darum bitten“, erklärte Anne.
„Und der Doc?“, fragte Andreas sie leise und etwas enttäuscht.
„Nein, Andy“, meinte Anne und täuschte blankes Entsetzen vor. „Das geht auf gar keinen Fall.“
„Aber warum willst du nicht auch ihn als Onkel für unser Kind?“, fragte er verwirrt. „Er ist doch auch ein sehr guter Freund von uns. Ich möchte ihn schon gern als Paten für unser Baby“, sagte er dann streng. Es sah schon fast so aus, als würde sich der erste Streit zwischen ihnen anbahnen. Dann sah er aber, wie Anne ihn liebevoll anlächelte.
„Das geht deshalb nicht, Schatz, weil ich ihn gebeten habe, der Großvater unseres Kindes zu werden und somit auch dein Vater. Und Abdul fand den Vorschlag, dich sozusagen zu adoptieren, sehr gut.“ Ungläubig wanderten nun die Augen von Andreas zwischen Abdul und Anne hin und her, die ihm beide lächelnd zunickten.
Plötzlich wurde Andreas kreidebleich. Abdul und Anne konnten ihm gerade noch einen Stuhl zuschieben, auf den er sich mit ihrer Hilfe setzte. Noch immer schaute er von einem zum anderen. „Das glaube ich jetzt nicht“, sagte er ganz leise. „Ich werde Vater und Sohn an einem einzigen Abend? Ich bekomme alles mit einem Mal, was ich mir schon immer gewünscht habe? Eine richtige, große Familie?“, fragte er noch immer ungläubig.
„Ja, Andy“, antwortete Abdul. „Und ich bekomme einen guten Sohn, eine tolle Schwiegertochter und ein Enkelkind. Aber nur, wenn du es auch willst.“
„Und ob ich will, Abdul. Muss ich da ab jetzt Paps zu dir sagen?“, fragte Andreas lachend, als er sich wieder in der Gewalt hatte und den kleinen Mann ganz fest an sich zog. „Danke, Anne. Danke Abdul, ihr habt mich voll erwischt. Ich bin so glücklich.“
„Das ist gut, mein Junge. Aber könntest du mich wieder loslassen, bevor du mich erdrückst?“, war die gequälte Stimme des Arztes zu hören. „Wäre nicht schlecht, wenn du oller Bulle deine Bärenkräfte langsam mal in den Griff bekommen würdest. Du kannst ja glattweg mit deiner Freude Menschen umbringen“, meinte er, als Andreas ihn wieder freigab.
Alle Anwesenden mussten laut darüber lachen.
Überglücklich und gerührt kam Andreas mit Abdul und Anne im Arm an den Tisch zurück.
Abdul ließ zur Feier des Tages ein paar Flaschen Sekt aus seinem Keller bringen.
Andreas benötigte noch einige Minuten, um sich wieder zu beruhigen. Er ließ Anne und Abdul die ganze Zeit nicht aus seinen Armen. So hatten ihn seine Kameraden noch nie gesehen. Sie gönnten ihrem Kampfgefährten, der schon so viel erlebt und durchgemacht hatte und dabei immer für sie, oft auch mit vollem Körpereinsatz und eigenem Leben da war, dieses Glück von Herzen.
Gleich morgen früh, das nahmen sie sich vor, würden sie Sebastian anrufen und ihm davon berichten. Noch eine ganze Weile saßen die Freunde und Annes Eltern zusammen. Sie genossen die laue Nachtluft und bewunderten den funkelnden Sternenhimmel. Kurz nach Mitternacht lösten sie die Runde auf und alle zogen sich müde in ihre Wohnbereiche zurück.
76
Anne und Andreas waren gerade eingeschlafen, als das Telefon auf Andys Nachtschrank klingelte. Leise meldete er sich, um Anne nicht zu wecken.„Hallo Onkel Andreas“, meldete sich Sebastian. „Wie wäre es, wenn du mit Tante Annemarie im Krankenhaus vorbeikommst?“
„Wie meinst du das? Was machst du im Krankenhaus? Ist was passiert?“, fragte Andreas noch etwas verschlafen und nicht richtig verstehend.
„Mann, Andy, stehst du auf der Leitung? Die Zwillinge sind da!“, schrie Sebastian laut in den Apparat, dass es Andreas schmerzte und er schnell den Hörer vom Ohr nehmen musste.
„Nein, das kann nicht wahr sein. Ich bin gerade erst Sohn geworden und werde bald Vater und nun zur gleichen Zeit auch noch Onkel!“, schrie Andreas dann zurück. „Wir kommen sofort rum.“ Und schon legte er den Hörer auf.
Anne brauchte er nicht mehr zu wecken. Sie sprang schon aus dem Bett, um sich anzuziehen. „Wer von uns soll fahren?“, fragte sie plötzlich. „Ich traue es mir noch nicht wieder ganz zu mit dem Bein und du kannst mit deinem Bein auch noch nicht so, wie du willst.“
In dem Moment klopfte es an ihre Schlafzimmertür.
„Ist irgendetwas bei euch passiert, Andy? Ich habe dich schreien hören“, vernahmen sie die besorgte Stimme von Uwe. Andreas und Anne sahen sich nur kurz an und sagten beide zur gleichen Zeit: „Ziehe dich schnell an. Wir brauchen dich als Fahrer zum Krankenhaus.“
Ohne etwas zu hinterfragen, lief Uwe zurück in sein Zimmer und streifte schnell seine Sachen über. Er glaubte, dass es einem von den beiden nicht gut ging.
Als er angezogen auf den Gang trat, warf Andreas ihm schon die Wagenschlüssel zu. „Los, mach hin. Lass den Wagen an, wir kommen dir etwas langsamer nach. Wir müssen schnell ins Krankenhaus“, sagte Andreas und stützte dabei seine Anne fürsorglich. Als sie auf dem Parkplatz ankamen, war Uwe bereits direkt vor die kleine Pforte gefahren, um die beiden schnell einsteigen zu lassen. Kaum waren sie im Wagen, fuhr Uwe auch schon los.
Als er den Weg zum Lazarett einschlagen wollte, rief ihm Andreas von der hinteren Sitzbank zu: „Nein, du Hirnie doch nicht zum Lazarett. Wir müssen ins Krankenhaus.“
„Fahre die Hauptstraße weiter geradeaus. Ich sag dir, wo du halten musst“, übernahm Anne.
Kaum hatte Uwe den Ford vor dem Krankenhaus gestoppt, stürzten seine Freunde auch schon aus dem Wagen und liefen so schnell sie konnten, sich gegenseitig stützend, zum Eingang.
„Hey, du kannst ruhig mitkommen“, rief Anne Uwe zu.
Eilig lief er den beiden Freunden, noch immer nicht wissend, was eigentlich los war, hinterher. Eine Krankenschwester geleitete die Drei dann den Gang entlang auf die Geburtsstation.
Leise klopfte Anne an eine der Türen, öffnete sie einen Spalt und steckte den Kopf hinein. „Ihr könnt ruhig reinkommen“, hörten sie Sebastian sagen. Danach öffnete Anne die Tür ganz und leise traten die drei Freunde in den kleinen Raum, wo Kim im Bett lag und ihre beiden Babys glücklich im Arm hielt.
Sofort erkundigten sich Anne und Andreas besorgt bei Kim, wie es ihr und den Kindern geht.
„Danke, sehr gut“, antwortete sie glücklich und nickte dann ihrem Mann zu.
„Wenn ich vorstellen darf, Onkel Andreas und Tante Annemarie, das hier sind Anne und Andy“, sagte Sebastian glücklich und wies auf die beiden Kinder. Anne und Andreas sahen sich stutzig an. „Hattet ihr keine besseren Namen für die beiden Wonneproppen?“, fragte Andreas unsicher.
„Klar doch. Wir hatten auch schon an Flipper und Flippine oder Flax und Krümel, gedacht“, konterte Sebastian trocken. „Nur kamen wir zu der Einsicht, dass es doch nicht so gut klingen würde. Also entschieden wir uns für die Kurzform der Namen unserer besten Freunde.“ Und damit gab er einfach die kleine Anne Annemarie in den Arm und den kleinen Andy seinem besten Freund Andreas.
„Aber erdrückt sie nicht gleich mit eurer Liebe“, warnte der junge Vater und setzte sich zu seiner Frau auf den Bettrand. Sie betrachteten gerührt die noch immer verdutzten Gesichter ihrer beiden Freunde. Dann beruhigte Sebastian die beiden, dass dies die Zweitnamen der Zwillinge seien und nannte dann auch noch die ausgewählten Rufnamen der Kinder, Franziska, kurz Franzi und Maximilian, kurz Max.
„Konntet ihr mir das nicht gleich sagen!“, protestierte Uwe. „Da hätte ich doch den Fotoapparat mitgebracht, um das für die Nachwelt festzuhalten. Gerade, wo doch nun Andy auch Vater wird und noch dazu einen Vater bekommen hat. Der Kerl ist ohnehin noch immer komplett durch den Wind und nun auch das noch.“ Dann gratulierte er Kim und Sebastian herzlich. In dem Moment leuchtete auch schon ein helles Blitzlicht auf. Sebastian hatte mit seiner Kamera schnell ein Bild von Anne und Andreas, mit den Babys auf dem Arm, geschossen, kaum, dass er das von Uwe gehört hatte.
„Kannst du das gerade Gesagte wiederholen?“, forderte Kim verwirrt. „Ich glaube, ich habe da etwas nicht ganz verstanden.“
„Na, ich gratuliere euch herzlich zu euren prächtigen Kindern“, wiederholte Uwe. Dabei wusste er genau, worauf Kim anspielte.
„Nein, nein, Uwe. Kim meinte das, was du davor von dir gegeben hast“, hakte Sebastian nach und sah dabei abwechselnd zu Anne und Andreas, die wie abwesend die Zwillinge im Arm hielten und sie betrachteten.
„Na ja. Noch mal langsam zum Mitschreiben“, meinte Uwe fröhlich lächelnd, „Andy. Also ich meine, da den Großen hier, hat erst am Abend von Anne. ... Also auch der großen Anne hier, erfahren, dass er Vater wird und zugleich aber auch, dass der große Andy hier von Abdul adoptiert wird“, versuchte Uwe zu erklären. Dann musste er lachen, als er sich bewusst wurde, was er da eigentlich zusammen gestammelt hatte. „Etwas verwirrend, mit den gleichen Namen, was? Auch wenn es, wie du sagst, die Zweitnamen der kleinen Scheißer sind“, sagte er zu seiner Entschuldigung, doch Kim und Sebastian hatten es trotzdem sofort verstanden. „Oh ja“, sagte er dann noch. „Da es den beiden nun die Sprache wohl vollends verschlagen hat, wie man sieht, übernehme ich das jetzt einfach mal. Also bitte ich euch an ihrer Stelle, denn ich weiß es schon von ihnen, dass sie euch danach fragen wollten, ob ihr für ihren Nachwuchs Tante und Onkel sein wollt. Wir alle sind auch schon dazu verdonnert worden“, sagte er und entschuldigte sich dafür, dass es alles etwas unbeholfen von ihm herübergekommen ist.
Anne und Andreas standen mit den Zwillingen in den Armen ganz dicht beieinander und konnten keinen Blick von den Babys lassen. Ganz vorsichtig hielten sie die kleinen, zarten Geschöpfe. Für Andreas war es das erste Neugeborene, das er in seinen Armen hielt. Er hatte große Angst, es zu fest zu drücken oder ihm gar wehzutun und traute sich deshalb kaum zu rühren. „Wird unser Baby auch solch ein Winzling sein?“, fragte er Anne ganz leise, damit es die anderen nicht hören konnten.
„Ich denke schon.“
„Weißt du was? Ich freue mich darauf und kann es kaum erwarten. Das ist ein kleines Wunder“, flüsterte er und Anne nickte ihm zu.
„Ja, das ist es.“
Ganz sacht und vorsichtig legten die beiden dann die Kinder in das Bettchen, das neben Kims Bett stand, und drückten ihnen einen zarten Kuss auf die Stirn. Danach umarmten sie Sebastian und gratulierten dem Paar nochmals.
„Ich glaube“, meinte Anne, „Kim und die Babys brauchen jetzt noch etwas Ruhe.“ Dabei zog sie Uwe und Andreas, die beide noch immer wie benommen wirkten, aus dem Zimmer und winkte Kim und Sebastian zum Abschied zu.
Als sie wieder heimkamen, brannte überall im Haus Licht.
Annes Eltern und die Männer hatten den überstürzten Aufbruch von Anne, Andreas und Uwe mitbekommen und sich große Sorgen gemacht. Auch Abdul saß in seinen Morgenrock gehüllt, mit den anderen in der großen Halle. Er hatte bereits im Lazarett angerufen und nachgefragt, ob sie dort hingefahren waren und hatte dann auch das Krankenhaus in El Gouna und Hurghada Stadt angeklingelt und angefragt, ob ein Notfall eingetroffen wäre. Doch überall hatte er eine negative Antwort bekommen. Damit konnte er zwar die Eltern und Freunde etwas beruhigen, aber auch nicht sagen, was wirklich los war.
„Oh, oh“, meinte Andreas, als er überall das Licht brennen sah, „ich glaube, wir haben da eine kleine Lawine ausgelöst, als wir Hals über Kopf weggefahren sind, ohne den anderen etwas zu sagen.“
„Sieht ganz so aus“, stellte auch Anne fest und griff nach seiner Hand. „Aber ich glaube, da müssen wir nun durch.“
Uwe folgte den beiden und musste grinsen, als er sagte: „Ihr seht gerade aus wie zwei kleine Kinder, die was ausgefressen haben und deshalb zum Direktor bestellt wurden, um sich ihre Standpauke abzuholen. Ja, da werdet ihr wohl nun eine Abreibung von euren Eltern bekommen. Aber keine Sorge, ich stehe ja hinter euch.“
„Ein schwacher Trost“, meinte Andreas. „Mir wäre es lieber, wenn du vorgehen würdest und der lauernden Meute schon mal den Wind aus den Segeln nimmst, bevor sie uns in der Luft zerreißen.“
„Das kannst du dir abschmatzen, mein Freund. So mutig und lebensmüde bin ich nun auch wieder nicht“, gab Uwe zurück.
„Komisch. Aber das dachte ich mir schon“, antwortete Andreas und lächelte ihm zu.
„Mit gegangen, mit gefangen“, meinte Anne und zog Uwe an ihre andere Seite. Gemeinsam betraten sie das Foyer, auf die schlimmsten Vorwürfe gefasst.
Doch die Freunde und Annes Eltern empfingen sie mit Beifall und lauten Hochrufen.
Sebastian hatte kurz vor ihrem Eintreffen angerufen und damit schon alles im Vorfeld aufgeklärt. Sofort lief Anne zu ihren Eltern. Andreas und Uwe wurden von den Männern umringt.
Alle drei berichteten begeistert von den Zwillingen und dass sie Franziska-Anne und Maximilian-Andy heißen. Anne und Andreas erzählten voller Stolz, wie sie die Kleinen schon im Arm halten durften und wie niedlich die Babys doch aussehen, dass sie Kims schwarze Haare hatten, wie süß ihre Stupsnäschen und wie klein und zierlich ihre Fingerchen sind.
Diese Nacht konnte Andreas nicht mehr schlafen. Er war zu aufgewühlt von all den Ereignissen der letzten Stunden.
77
Am Nachmittag, als die >Amun Re< im Hafen einlief, sahen Rashid und Ahmed sofort die beiden, ihnen fremden, Wagen neben Doktor Mechiers altem Mercedes am Kai stehen. Als sie anlegten, stiegen ihre Freunde aus den Autos und winkten ihnen zu. Auch Rashids Frau war zur Überraschung des Kapitäns der >Amun Re< dabei.Als alle Tauchtouristen endlich von Bord waren, gingen Anne und Andreas auf das Boot zu.
„Wie sieht es aus?“, rief Andreas auf Arabisch. „Habt ihr Lust, mit uns allen etwas zu essen?“
Rashid und Ahmed freuten sich sehr, dass Anne und Andreas wieder auf ihren eigenen Beinen standen und stimmten gern zu. Sie kletterten von Bord und begrüßten dann alle anderen Freunde. Nichts ahnend, stiegen sie mit in Andys neuen Wagen. Doch schon nach einer Weile bemerkten sie, dass die Fahrt nicht zu Abduls, Annes und Andreas Zuhause oder rein in die Altstadt ging, wo sie sonst gern einkehrten. Der vorausfahrende Mercedes von Doktor Mechier nahm einen ganz anderen Weg, in eine der neu entstandenen Wohnsiedlungen. Der Arzt begann vor einem der Häuser lange zu hupen und die anderen beiden Wagen stimmten in das Konzert mit ein, dann hielten sie an. Als die Freunde ausgestiegen waren, öffnete sich die Tür des Hauses. Ahmed glaubte nicht richtig zu sehen, als seine Eltern mit seiner kleinen Schwester vor die Tür traten. Amke, Ahmeds kleine Schwester, lief sofort laut seinen Namen schreiend auf ihren Bruder zu und zog ihn ganz aufgeregt mit sich zu den Eltern, die mit offenen Armen an der Haustür warteten. Unsicher sah sich Ahmed nach seinen Freunden um.
„Du siehst richtig. Na, nun lauf schon hin“, forderte ihn Andreas auf. Kurze Zeit später lag sich die kleine Familie in den Armen.
Andreas und Ralf legten Rashid die Hand auf die Schulter und gemeinsam gingen sie ins Haus, wo sie alle herzlich willkommen waren.
Voller Stolz zeigte Amke ihrem Bruder ihr erstes, eigenes Zimmer und zog ihn gleich weiter, um ihm seine Wohnräume und die der Eltern zu zeigen. Die Freunde und Annes Eltern erfreuten sich an Ahmeds überraschtem Gesicht.
„Ahmed, das ist ab jetzt dein Zuhause“, erklärte Anne auf Arabisch. „Wir wünschen dir viel Glück im neuen Heim.“
Abdul ergänzte noch, dass Amke bereits in der Schule angemeldet sei und sie keine Miete bezahlen brauchen, da das Haus ihnen gehört.
„Aber warum?“, wollte Ahmed ungläubig wissen und musste sich erst einmal setzen, weil ihm die Knie weich wurden.
„Weil du unser Freund bist und du uns mit Rashid unter Einsatz eures eigenen Lebens geholfen habt. Deshalb habe ich die >Amun Re< auch auf euch beide überschreiben lassen. Es ist euer Boot. Damit habt ihr immer ein sicheres Einkommen und könnt jederzeit auf Annes und meiner Tauchbasis oder bei Sebastian und Kim oder wo immer ihr sonst wollt anheuern. Der Gewinn daraus gehört allein nur euch“, erklärte Andreas. „Außerdem sehe ich es gern, wenn Familien zusammen und nicht so weit voneinander getrennt leben“, setzte er noch hinzu und schaute dabei auch Anne, ihre Eltern und Abdul an. „Wir alle hier wollen, dass es euch gut geht.“
Anne übersetzte leise für ihre Eltern alles, was Andreas auf Arabisch sagte.
„Aber wir haben doch nichts weiter getan“, wehrte Rashid bescheiden ab.
Andreas drehte sich dem alten Kapitän der >Amun Re< zu. „Doch Rashid“, sagte er dann, „Ihr habt beide genau gewusst, in welche Gefahr ihr euch begeben habt, als ihr beigedreht seid, um dem anderen Boot den Fluchtweg abzuschneiden und ihr wart auch sofort zur Stelle und habt richtig gehandelt als Sebastian und Hasan bei ihrem Unterwasserkampf zu weit in die Nullzeit gekommen waren und habt so unseren Freunden, durch euren Einsatz, ein weiteres Mal das Leben gerettet. Ich glaube nicht, dass das nichts ist. Ganz im Gegenteil. Hasan, Kasim, Anne, meine Freunde hier und ich, verdanken euch beiden unser Leben. Das ist es, was ihr getan habt. Und genau deshalb verdient ihr das auch alles. Wir sind euch sehr zu Dank verpflichtet. Leider können Sebastian und Kim jetzt nicht hier sein, denn sie sind ja erst letzte Nacht Eltern von zwei wunderschönen Babys geworden. Aber sie würden mir beipflichten.“
Unter dem Beifall der anderen übergab er Rashid und Ahmed die Eignerpapiere der >Amun Re<, auf denen ihre Namen standen. Die beiden Männer, Rashids Frau und Ahmeds Eltern, waren zutiefst gerührt.
Kasim und Hasan waren die ersten, die sie umarmten, ihnen dankten und beglückwünschten. Alle anderen folgten.
Später gingen sie gemeinsam auf die Terrasse, wo schon für ein kleines, für solchen Anlass übliches, Festmahl gesorgt war.
Anne, Andreas und Abdul übersetzten für Annes Eltern und auch umgekehrt, gern die Gespräche.
Am späten Abend zog sich Andreas Rashid und Ahmed unbemerkt für die anderen zur Seite und unterhielt sich eine Weile mit ihnen. Am Ende nickten sich die drei Männer zu und lächelten sich, wie eine Gruppe verschworener Freunde eines Geheimpaktes, an.
„Was ist los?“, wollte Anne wissen, als Andreas zu ihr zurückkehrte.
„Nichts, Schatz. Wir haben uns nur nett unterhalten“, antwortete Andreas mit unschuldiger Miene, aber konnte ein geheimnisvolles Lächeln nicht vor ihr verbergen. Um Annes weiterführenden Fragen zu entgehen, wendete er sich schnell Abdul zu. „Sag mal Paps … Doc“, sprach er ihn etwas verlegen an. „Allen hast du die Verbände abgenommen, nur ich renne noch damit herum. Muss das wirklich sein?“
„Eigentlich ja, mein Sohn“, antwortete der Arzt streng.
„Aber Jens war viel schlimmer verletzt als ich“, protestierte Andreas.
„Das stimmt“, gab Abdul zu. „Morgen werde ich mir auch deine Wundheilung anschauen. Danach sehen wir weiter.“
„Bist du nun so genau, weil ich zu deinem Sohn geworden bin?“, wollte Andreas wissen. Abdul sah ihn an und musste laut lachen.
„Ja, so kann man es auch sehen, mein Junge. Aber die Wahrheit ist doch, dass du zu der Zeit in Kairo warst und wir deshalb noch keine Zeit hatten, dass ich mir deine Wunden ansehen konnte.“
Da musste Andreas zustimmen.
„Was meinst du, Doc, wann können Anne und meine Freunde wieder ins Wasser?“, fragte er dann.
„Du meinst damit ins Meer.“
„Ja, genau“, gab Andreas zu.
„Na ja. Ich denke mal in zwei Tagen. Aber noch nicht für allzu lange. Und jetzt sage nicht, dass du für dich wasserdichte Pflaster haben willst, wenn ich dich dafür noch nicht freigebe“, sagte der Arzt.
„Die brauche ich nicht. Ich habe noch welche“, antwortete Andreas keck. „Aber bevor ich sie mir aufklebe, versorge ich lieber prophylaktisch Anne und meine Freunde damit.“
„Was hast du vor, Andy?“, fragte Abdul ernst, schon etwas ahnend.
„Ich möchte gern mit Anne, ihren Eltern und meinen Freunden rausfahren und wenn die Delfine kommen sollten, auch mit ihnen schwimmen können. Annes Eltern wissen noch nicht, wie ich unter dem T-Shirt aussehe, Doc. Sie waren schon erschrocken, als sie die Verletzungen und Narben meiner Freunde gesehen haben. Vielleicht können mir dabei wieder die Delfine helfen. Sie könnten etwas davon ablenken und so Sicherheit schaffen.“
Abdul verstand genau, was Andreas meinte.
„Du erwartest sehr viel von deinen Freunden im Meer. Aber vielleicht hast du auch recht damit. Einen Versuch ist es wert“, sagte Abdul nachdenklich. „Gut. Ich sehe mir morgen deine Wunden an und werde dich dabei unterstützen“, entschied er. „Aber nur unter einer Bedingung. Ich werde mit dabei sein.“
„Ja. Darum hätte ich dich als Nächstes gebeten. Das ist mir schon allein wegen Anne sehr wichtig. Außerdem freut sich die nasse Familie bestimmt auch darauf, dich wiederzusehen.“ Die beiden Männer gaben sich die Hand, als hätten sie gerade einen Deal ausgehandelt.
Zufrieden ging Andreas wieder zu Anne und Abdul stellte sich neben Rashid, um mit ihm zu sprechen.
78
Zwei Tage später standen alle schon früh für eine Fahrt ins Blaue, wie Andreas erklärt hatte, auf. Nach dem gemeinsamen Frühstück setzten sie sich in die beiden Wagen, die Abdul und Thomas steuerten. In den Rucksäcken hatten sie auf Anraten und Wunsch von Andreas ihre Badesachen und ausreichend Wasser verstaut. Zusätzlich hatte Doktor Abdul Mechier auch seine alte Arzttasche mit dabei. Sie fuhren an Sebastians Tauchbasis vorbei, direkt in den kleinen Bootshafen, wo Ahmed und Rashid auf der >Amun Re< schon auf sie warteten. Keiner von den Freunden ahnte etwas, auch Annes Eltern wussten nicht genau, was sie erwartete.Anne, Andreas und Abdul hatten nur von einer kleinen Bootsausfahrt gesprochen. Die Männer halfen Annes Eltern und ihr an Bord, dann legte die >Amun Re< ab und fuhr ohne ein bestimmtes Ziel hinaus aufs Meer. Anne stieg aufs Oberdeck und setzte sich neben Rashid.
„Die See ist ruhig“, stellte sie fest. „Fahre uns doch bitte zum Sha´ab Shihab. Vielleicht haben wir ja wieder Glück und treffen dort unsere Freunde.“ Der Kapitän nickte Anne zu und lenkte das Boot nach Norden. Alle Männer hatten nur ihre Badehosen an und die beiden Frauen trugen ihre Badeanzüge. Nur Andreas machte eine Ausnahme. Er hatte zusätzlich sein Shirt übergezogen. Während alle auf dem Oberdeck saßen und die Sonnenstrahlen genossen, stand er, sich an der hochgeklappten Leiter festhaltend am Heck.
Anne beobachtete ihn besorgt von oben aus und hoffte, dass sein Plan um seinetwillen aufgehen möge.
„Jungs, nun kommt doch endlich“, flüsterte er und pfiff dann eine Melodie vor sich hin, während er übers Meer sah. „Ich könnte eure Hilfe heute wirklich wieder sehr brauchen.“
Annes Mutter kam zu ihrer Tochter und schaute mit ihr hinunter zur Taucherplattform, wo Andreas noch immer wie angewurzelt stand. „Was macht er da?“, wollte sie wissen. „Warum kommt er nicht mit zu uns hoch?“
„Er versucht, seine Freunde zu rufen, Mom“, antwortete Anne ihrer Mutter.
„Aber die sitzen doch alle oben in der Sonne.“ Erika verstand nicht und schaute ihre Tochter fragend an.
„Na ja. Andreas hat viele Freunde und auch welche hier im Meer“, versuchte Anne zu erklären. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Siehst Du Mom, da sind sie schon“, sagte sie freudig und zeigte auf die kleine Delfinschule, die sich dem fahrenden Boot von Achtern zu nähern begann.
Schnell rief Erika ihren Mann. Dadurch wurden auch die anderen aufmerksam auf die Delfine, die in der Zwischenzeit schon das Boot begleiteten.
Abdul ging nach unten und verpasste Andreas die schon bewährten Gummistulpen über die Unterarme und ein wasserdichtes Pflaster auf die Schusswunde an seinem Oberschenkel. Danach ging er wieder nach oben und zog Anne einen Gummistrumpf über den Stützverband am Unterschenkel und klebte ebenfalls wasserdichtes Pflaster auf die bislang nicht vollständig verheilte Wunde an ihrem Arm. Danach versorgte er auch die noch frischen Verletzungen der anderen Männer.
„Was soll das?“, wollte Annes Vater von seiner Tochter wissen.
„Wir wollen mit den Tieren schwimmen gehen, Daddy. Du wirst sehen, das macht viel Spaß. Es sind auch gute Freunde von uns, die ihr noch nicht kennengelernt habt. Also wird es Zeit dafür. Sie gehören genau so zu unserem Leben wie alles andere. Abdul hat gerade dafür gesorgt, dass kein Salzwasser an unsere noch zu frischen Wunden kommen kann. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme“, erklärte sie fröhlich und zog ihren Vater auch schon mit sich nach unten.
Als die >Amun Re< an den Ankerleinen des Riffs festgemacht hatte, kamen auch Rashid und Ahmed aufs Achterdeck. Die Delfine hielten sich bereits nahe am Boot auf.
„Lassen wir erst Andy allein ins Wasser zu seiner Delfinfamilie“, erklärte Anne. „Er wird uns dann nachholen, wenn er merkt, dass sie nichts dagegen haben.“ Dabei verteilte sie und Abdul Gummihandschuhe und bat alle, sie anzuziehen.
Als Andreas sein T-Shirt abstreifte, entfuhr Erika ein lautes: „Oh mein Gott.“ Kurz darauf hielt sie sich vollkommen erschüttert und erschrocken ihre Hand vor den Mund.
Sofort zog sich Andreas das Shirt wieder über den Körper.
Als sie bemerkte, wie er darauf reagiert hatte und nicht zu wissen schien, wie er sich jetzt weiter verhalten sollte, ging sie auf ihn zu. „Nein, mein Junge, das brauchst du nicht zu tun. Entschuldige bitte, ich war nur kurz erschrocken, als ich die vielen Narben auf deinem Rücken gesehen habe. Es geht schon wieder. Ziehe das Shirt ruhig wieder aus“, sagte sie dann entschuldigend, aber noch immer um Fassung bemüht.
Andreas drehte nur den Kopf zu Annes Mutter herum.
„Willst du das wirklich?“, fragte er traurig, sich dabei schämend und sagte noch: „Du hast nur meinen Rücken gesehen.“
Erika atmete tief durch und sah kurz um Hilfe suchend zu ihrem Mann, der ihr zunickte. Anne trat neben ihre Mutter und hielt ihr fest die Hand.
„Ja, ich möchte das wirklich“, sagte Erika dann fest entschlossen. „Es ist nichts, wofür du dich schämen müsstest.“
Nur langsam zog Andreas das Shirt wieder aus. Er sah, wie Annes Mutter und ihr Vater bei dem Anblick der Narben zu kämpfen hatten und dann doch wegsehen mussten, als er sich ganz zu ihnen herumgedreht hatte.
Anne trat schnell neben ihn, strich ihm liebevoll über die Narben und gab ihm einen Kuss. „Los, geh endlich ins Wasser und gib uns Bescheid, wenn deine Freunde uns bei sich haben wollen“, sagte sie. Noch einmal küsste sie ihn liebevoll und schob ihn an den Rand der Plattform.
Andreas fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er war froh, als er kopfüber ins Wasser springen konnte. Tief tauchte er ab und wünschte sich, mit einem neuen, narbenfreien Oberkörper wieder auftauchen zu können. Er wollte Annes Eltern nicht erschrecken und noch weniger abschrecken. Während er immer tiefer tauchte, kämpfte er mit sich. Er war verzweifelt. Gerade als kaum noch genug Luft hatte, um wieder aufzutauchen, schoben sich die Delfine an seine Seite und brachten ihn zurück an die Wasseroberfläche. Gleich schwamm die Tümmlermutter mit ihrem Baby zu ihm und begann regelrecht mit ihm zu schmusen.
Die Tiere spürten deutlich, wie er sich fühlte und begannen, ihn mit sich von dem, was ihm seelische Schmerzen bereitete, wegzuziehen.
„Kommt rein“, rief er nach einer Weile. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Tut nur nichts, was die Tiere nicht selbst auch wollen.“
Anne musste ihre Eltern erst noch ermutigen, über die Leiter ins Wasser zu steigen, weil ihnen die Tümmler so groß und wild erschienen. Nacheinander stiegen auch die anderen vom Boot.
Anne stand als Letzte auf dem Deck und hoffte, dass die Delfine ihre Eltern zu Andreas führen würden, der schon ein ganzes Stück weit weg vom Boot war.
Und wirklich schwammen vier Tiere zu ihren Eltern, packten sie sanft und brachten sie direkt zu ihm, wo sie regelrecht dazu gezwungen wurden, sich an seinem Körper festzuhalten. Anfangs hatten sie Scheu davor, ihn zu berühren. Doch dann konnten sie nicht anders, weil sie Angst hatten, von den Tieren nach unten gezogen zu werden. Andreas reagierte sofort und half ihnen nach vorn zur Delfinmutter, die sich von ihnen sogar streicheln ließ.
Einer der Delfine spritzte Anne, die noch immer auf der Plattform stand, übermütig mit seiner Fluke nass und forderte sie damit auf, ebenfalls ins Wasser zu kommen.
Sie landete mit einem Kopfsprung mitten zwischen einer kleinen Gruppe von Tieren, die, wie es schien, direkt auf sie gewartet hatten. Sacht brachten sie Anne zu Andreas und ihren Eltern, während die anderen Tümmler mit den Freunden spielten, aber sie dabei immer fern von den vier anderen hielten, die immer weiter weg vom Boot gezogen wurden.
Andreas und Anne vertrauten den Delfinen. Doch Annes Eltern wurde es unheimlich, als sie sahen, dass sie immer weiter weg vom Boot geschoben wurden. Dann tauchten mit einem Mal vor ihnen Tiere mit großen Narben an den Flossen oder am Körper auf und schienen diese ganz bewusst zu präsentieren. Auch die junge Delfinmutter zeigte ihre Narben kurz vor der Schwanzflosse. Wieder schwamm sie ganz nah zu Andreas und schob ihm ihr Junges direkt in die Arme. Annes Eltern waren beeindruckt davon. All diese Tiere umringten ihn und hoben ihn dann sogar kurz ein Stück aus dem Wasser. Dabei glänzten seine Narben, ebenso wie die der Delfine zuvor, nass in der Sonne. Dann zogen sie ihn mit sich fort, während andere Tiere Anne und ihre Eltern umringten. Schnell schrien Erika und Walter ihm entsetzt nach und riefen ängstlich nach ihm.
Anne tat das im Herzen weh, ihre Eltern so verzweifelt rufen zu hören. Doch die Delfinmutter blieb bei ihr und ließ sich von Anne weiter streicheln. Das gab ihr die Gewissheit, dass die Tümmler genau wussten, was sie taten.
Nach ein paar Minuten brachten die Tiere Andreas wieder zurück. Ohne auf die Narben zu achten, umarmten Erika und Walter ihren zukünftigen Schwiegersohn erleichtert. Sie waren einfach nur froh, dass er wieder da war. Wie auf Kommando brachten die Delfine all ihre Freunde direkt zum Heck der >Amun Re< und verschwanden in den Tiefen.
Als sich die Männer umsahen, entdeckten sie andere Boote mit Tauchern, die auf ihren Tauchplatz zuhielten. Deshalb waren die Delfine verschwunden.
Nacheinander kletterten sie aus dem Wasser zurück aufs Boot. Andreas kam als Letzter aus dem Wasser.
Als er schnell sein Shirt wieder überstreifen wollte, hielt ihn Erika davon ab. „Nein, Andy, das brauchst du nicht mehr“, sagte sie leise. „Ich glaube, wir haben die Lektion der Delfine sehr gut verstanden. Es ist nicht so, dass ich mich davor ekele oder so. Nein, ich bin nur erschüttert und erschrocken darüber, wie brutal Menschen sein können, einem Anderen so etwas anzutun. Und was du schon alles durchmachen und welche Qualen du aushalten musstest.“ Dabei strich sie geradezu ehrfürchtig über die Narben auf seinem Rücken. Dann drehte sie ihn einfach zu sich um und ließ sich von ihm dankbar in die Arme nehmen und an seine Brust drücken.
Walter nickte ihm dabei achtungsvoll zu. „Du hast wirklich beeindruckende Freunde, mein Sohn“, sagte er. „Anne hat uns sehr viel von deinen Verwundungen und Narben erzählt. Doch die Vorstellung an all das, was du durchgemacht haben musst, ist uns erst bewusst geworden, als wir dich so sahen. Entschuldige bitte, wenn wir dich mit unserem Verhalten verletzt haben. Es war nicht unsere Absicht. Deine Freunde an Land und nun hier auch zu Wasser haben uns gezeigt, dass man auch locker damit umgehen kann, so wie sie und auch Anne es tun. Danke.“
Andreas nickte Walter und Erika nur verlegen zu, während sich Abdul bereits wieder um seine Arme und den Oberschenkel kümmerte. Alle anderen und dabei zuerst Anne hatte er schon versorgt.
„Danke, Doc“, flüsterte er ihm zu. „Ich habe übrigens meine nasse Familie gerade zur Hochzeit eingeladen. Ich hoffe, sie haben es verstanden und den Tag in ihrem Terminkalender noch frei, dass sie kommen können.“
„Darauf bin ich schon sehr gespannt“, erwiderte der Arzt ebenso leise. „Es war schön, heute mit ihnen wieder einmal zu schwimmen.“
„Und, machen wir einen neuen Deal?“, fragte Andreas dann und grinste Abdul dabei listig an.
Das ließ den Arzt schnell hellhörig und ganz vorsichtig werden. „Woran denkst du dabei?“, wollte er wissen und hatte seine Augen dabei zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.
„Ich gehe mindestens drei Tage nicht mehr ins Wasser und bin auch so ganz brav und artig“, schlug Andreas seinem Freund vor.
„Und die Gegenleistung dafür?“, fragte Doktor Mechier skeptisch. „Wo ist der Haken?“
„Du ziehst mir jetzt noch hier auf dem Boot die Fäden an den Armen und erlaubst mir, die paar am Oberschenkel selbst zu ziehen, damit du nicht zu viel Arbeit hast. Und was ganz wichtig ist, keine Binden und auch keine Pflaster mehr. An der Luft heilt ohnehin alles viel schneller.“ Forschend sah Andreas seinen Freund an. „Und was sagst du?“, fragte er dann, noch etwas unsicher, ob der Arzt diesem Deal zustimmen würde.
Nach einer kurzen Weile zog über Abdul ein verschmitztes Lächeln. „Ja mein Junge, das würde ich wohl gern tun. Nur habe ich dafür leider gar keine Instrumente dabei.“
„Also, du würdest es wirklich tun? Ich meine, wenn du sie dabeihättest?“, fragte Andreas noch einmal nach.
„Aber klar doch. Nur ich kann ja leider nicht“, meinte Abdul und grinste noch immer siegessicher, weil er glaubte, Andreas austricksen zu können.
Jetzt war es aber Andreas, der lächelte. „Doch, Doc, du kannst. Schau mal. Ich habe alles dafür hier drin.“ Noch während er sprach, zog er seinen Taschengurt aus seinem Rucksack und holte säuberlich steril eingeschweißte OP-Instrumente daraus hervor. Dabei zog sich sein Lächeln breit übers ganze Gesicht und seine hellblauen Augen schienen Funken zu sprühen.
„Du Teufel denkst aber auch an alles und ich hatte mich schon gefreut, eine gute Ausrede zu haben, dich noch einen Tag damit hinhalten zu können“, gab Abdul zu.
Darüber mussten beide Männer laut lachen.
„Leute, wir bleiben hier noch etwas vor Anker. Abdul und ich haben noch was zu erledigen“, rief Andreas laut und fröhlich zum Oberdeck hoch. Und schon verschwanden beide im Salon.
Sofort machte sich Anne Sorgen. „Ich möchte bloß wissen, was er nun wieder ausheckt“, sagte sie unsicher zu ihrer Mutter. „Den Mann kann man keine Minute allein lassen.“ Gerade als sie aufstehen und nach ihm sehen wollte, kamen beide die Treppe zum Oberdeck hoch. Erst war Abdul zu sehen, dann schob sich Andreas, vor Freude strahlend, hoch und betrat das Deck. Alle bemerkten sofort, dass er keine Bandagen mehr trug.
„Na Klasse! Jetzt hat der Kerl uns auch dabei eingeholt. Der kann sich seelenruhig sonnen, während wir dann wegen der blöden Pflaster und Binden braun, weiß gefleckt wie Kakaokühe rumlaufen müssen“, maulte Pitt und fragte gleich: „Sag schon, womit hast du den Doc bestochen?“
„Ich bin sein Sohn. Das kann nichts toppen“, antwortete Andreas voller Stolz und legte seinen Arm um Abduls Schultern.
„In Wirklichkeit hat er mich reingelegt“, gab der Arzt lachend zu.
„Ja, das passt schon eher zu ihm. Der Kerl war schon immer ein elendes Schlitzohr“, bestätigte Jens. „Du solltest da in Zukunft doch etwas vorsichtig sein. Ab dem Moment, wie dieser Kerl einen Deal machen will und dabei anfängt, blöd zu grinsen, ist höchste Vorsicht geboten. Aber er ist ja nun dein Sohn und du solltest ihn so langsam kennen und endlich in den Griff bekommen“, meinte er dann noch und alle an Deck mussten laut loslachen.
Neugierig geworden, wollten seine Freunde die Narben an seinen Unterarmen sehen und bestaunen, die ihm der Hai beim Kampf gerissen hatte. Als Erika und Walter sahen, wie locker die Männer damit umgingen und auch noch darüber scherzten, war es ihnen zwar noch immer nicht ganz wohl in ihrer Haut, aber sie versuchten damit zurechtzukommen.
„Ich glaube, an die Art von Humor müssen wir uns wohl erst noch gewöhnen müssen“, flüsterte Erika ihrer Tochter zu.
„Ach, Mom, das ist ganz leicht. Ich habe von den Jungs gelernt, dass Wunden, so schlimm und schmerzhaft sie auch gewesen sein mögen, vorbei und vergessen sein sollten, wenn es erst einmal Narben sind. Ich finde den Umgang, den diese Männer untereinander pflegen, in der Zwischenzeit sogar richtig gut und möchte ihn gar nicht mehr missen. Es gibt, egal wie angespannt sie auch sein mögen, bei ihnen immer etwas zu lachen. Und wenn du glaubst, die giften sich an, dann gib einfach nichts darauf, denn bei den Jungs ist irgendwie nichts so richtig normal. Aber eines kann ich dir versichern. Es sind die besten und dicksten Freunde, die man sich überhaupt vorstellen und wünschen kann. Keiner würde je den anderen in Stich lassen. Sie sind immer füreinander da. Ich fühle mich sehr wohl in ihrer Gesellschaft.“
„Ja, mein Kind, das sieht man. Du bist richtig aufgeblüht. So habe ich dich noch nie zuvor erlebt“, bestätigte ihre Mutter.
Nun wollte auch Anne die Narben sehen. Aber Andreas scheute sich noch etwas, weil sie direkt neben ihrer Mutter saß. Dabei war er sehr froh, dass alles so gut verheilt war. Er versteckte die Arme hinter seinem Rücken, als er auf Anne zukam. Er wollte Erika und Walter nicht noch mehr schockieren und in Verlegenheit bringen.
Annes Vater bemerkte das sofort. „Andy, die Kiefer mit den scharfen Zahnreihen des Biestes habe ich bereits gesehen. Aber dürfen wir bitte jetzt auch die Arme sehen, die verhindert haben, dass unsere Tochter zu Haifischfutter wurde?“ fragte er vorsichtig.
„Komm, setzt dich her, Junge“, forderte Erika ihn auf und das Paar rutschte auseinander, um für ihn Platz zu machen.
Unsicher sah Andreas zu Anne, als er sich zwischen Erika und Walter setzte.
„Na los, mach schon. Mein Bein sieht im Moment bestimmt noch etwas schlimmer aus“, stichelte Anne ihren Freund an.
„Das will ich nicht hoffen. Der Doc hat versprochen, dass davon nicht mehr viel zu sehen sein wird“, erwiderte er erschrocken.
„Na, dann lass die Arme endlich sehen und wir vergleichen sie dann mit meinem Bein“, schlug sie vor.
Abdul schüttelte nur mit dem Kopf, als er das hörte. „So groß und doch noch Kinder“, stellte er lachend fest. „Na los, dann wetteifert mal, wer die schönsten Narben hat. Ich helfe Anne dann auch wieder den Stützverband anzulegen.“
Langsam nahm Andreas seine Arme hinter dem Rücken hervor und streckte sie nach vorn. Anne nahm seine Hände und drehte so seine Arme, damit sie sie von allen Seiten betrachten konnte. Dann sah sie sich auch die Handfläche an, mit der er bei dem Überfall fest das Messer gehalten hatte, damit der Kerl ihr nicht doch noch die Kehle durchschneiden konnte.
„Daddy, Mom, wenn ihr gesehen hättet, wie schlimm das aussah, muss ich sagen, dass alles super verheilt ist. Was meint ihr?“, sagte sie wie selbstverständlich. Dabei strich sie sanft die frischen, noch heilenden Wunden entlang.
„Ja, der Doc hat wieder mal ganze Arbeit geleistet“, meinte Andreas stolz und nickte dabei dem Arzt zu.
Dann wurde Anne ernst. „Nun aber zu mir. Deal ist Deal.“
Sie streckte ihm ihr Bein entgegen. „Hier, mach du die Bandage ab“, dabei grinste sie ihn herausfordernd an. „Aber ich wette, du traust dich das nicht.“
„Anne!“, ermahnte ihre Mutter sie erschrocken. Doch Andreas kniete vor ihr nieder und sie stellte ihren Fuß auf seinen Oberschenkel. Verunsichert schaute er Hilfe suchend zu Abdul und dann zu seinen Freunden rüber. Doch die grinsten ihn nur schulterzuckend an.
„Na los, nun mach doch schon endlich. Deal ist Deal“, forderte Anne ihn erneut auf.
Andreas schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich kann nicht“, gestand er leise. „Ich habe Angst davor, dir weh zu tun.“
Anne nahm sanft seine Hände und führte sie zum oberen Teil der Bandage. Dabei lächelte sie ihn vertrauensvoll an. „Du hast mir nur einmal beim Korallenschubsen wehgetan und da war es auch nur ein Versehen. Ich weiß, du wirst mir nie absichtlich wehtun. Komm, wir machen es gemeinsam“, flüsterte sie einfühlsam. Ganz vorsichtig streiften sie den Gummistrumpf ab. Nur eine dünne Binde war darunter. Als sie diese entfernt hatten, klebten da von Salben gehalten nur noch die großen Kompressen am Schienbein und an der Wade. Andreas standen die Tränen in den Augen, als sie ihn unnachgiebig aufforderte, endlich die erste Kompresse abzuziehen. Er sah noch bildlich vor sich, wie ihr am Schienbein die Haut nur noch in Fetzen herunter hing und der Knochen zu sehen war. Und er sah vor seinem geistigen Auge ihre Wade, die gänzlich blutverschmiert war, weil der Hai sie da erwischt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er zitternd dagesessen hatte, unfähig, ihr in dem Moment wirklich helfen zu können.
Anne und die anderen konnten nicht wissen, was in diesem Augenblick in ihm vorging, sondern konnten es nur ahnen oder erfühlen. Sie mischten sich nicht ein, sondern beobachteten nur. Und sie ließ ihm die Zeit.
Annes Eltern hielten die Spannung nicht mehr aus. Walter kniete sich neben Andreas. Er sah ihm in die Augen und entdeckte die Tränen darin.
Beschämt wandte sich Andreas ab. „Ich habe das nicht gewollt“, sagte er leise. „Ich war nicht schnell genug bei ihr und dann habe ich die schlimmen Verletzungen noch nicht einmal bemerkt. Sie hat sich da nur um mich gekümmert. Ich bin schuld daran“, warf er sich vor, sodass es aber Walter, Erika und Anne hören konnten.
Erika zerriss es fast das Herz, den Mann so zu erleben. Sie legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter und hielt mit der anderen die Hand ihrer Tochter.
„Du hast dir gar nichts vorzuwerfen, mein Junge“, sagte Walter mit fester Stimme. „Komm, wir schauen gemeinsam nach, wie die Ärzte Annes Bein zusammengeflickt haben. Wichtig ist doch, dass sie lebt, keine Schmerzen hat und auch wieder laufen kann.“
Andreas fasste daraufhin ganz vorsichtig an den oberen Rand der Kompresse des Schienbeins, zog sie sacht ab und legte so die schon fast glatte rosa Haut frei. Nichts erinnerte mehr an die herunterhängenden Hautfetzen. Andreas atmete tief durch und zog ebenso vorsichtig auch die große Kompresse von ihrer Wade. Was er da zu sehen bekam, ließen ihm nun die Tränen über die Wangen laufen. Aber es waren Tränen der Freude. Anne hatte wieder eine wohlgeformte Wade, die ebenfalls von noch zarter, rosa Haut überspannt war. Ringsherum zeichneten sich noch die Narben, wo genäht wurde, ab. Die aber mit der Zeit verblassen würden. Mit zitternden Fingern strich er sanft über ihr Bein und setzte einen zärtlichen Kuss darauf. Dann sah er sie vor Freude strahlend an. „Doc, kommst du bitte und hilfst mir, das Bein wieder zu verbinden“, bat er nach einer Weile, ohne einen Blick von Annes Gesicht zu lassen.
Als Abdul dazu kam, sah er sich das Bein selbst noch einmal an. „Lassen wir ruhig erst noch etwas Luft ran. Das kann nicht schaden. Wir machen den Verband als Schutz wieder drum, wenn wir runter zum Essen gehen. Ihr müsst nur noch etwas aufpassen, dass sie jetzt nicht irgendwo anstößt. Die Haut ist noch sehr empfindlich“, entschied er.
„Deine Ärzte und du, ihr habt gezaubert, Doc“, stellte Andreas fest und bedankte sich noch einmal recht herzlich dafür. Als er sich dann aus der Hocke aufrichten wollte, um sich neben Anne zu setzen, stellte er fest, dass er nicht wieder hochkam. Er hatte nicht bemerkt, wie sein verletztes Bein eingeschlafen war und der Rücken an der Einschussstelle noch stärker weh tat, als es das sonst schon immer tat. Nun strahlte der Schmerz aber nach allen Seiten aus.
„Kann es sein, dass du ein Problem hast?“, flüsterte Abdul ihm zu, als er bemerkte, wie sich Andreas nicht rührte, aber leicht das Gesicht verzog.
„Sieht so aus, Doc. Ich komme nicht wieder hoch und der Rücken schmerzt sehr stark“, gab er zu und bemühte sich aber dabei zu lächeln, damit die anderen nichts davon mitbekamen. „Aber ich will hier keine Angst oder Sorgen verbreiten“, flüsterte er, dass es nur Abdul hören konnte.
Der Arzt tat dabei so, als würde er sich noch Annes Bein genauer anschauen. „Und was gedenkst du zu tun? Willst du hier so hocken bleiben bis du umkippst?“, fragte Mechier besorgt.
„Eigentlich nicht“, erwiderte Andreas. „Es wäre schön, wenn du mir unauffällig helfen könntest.“
„Und wie genau stellst du dir das vor?“, fragte der Doc leise.
„Ich habe unten in einer der Taschen an meinem Gurt, wo ich das OP-Besteck herausgeholt hatte auch noch so ein Notpack, wie du es schon bei meinen Freunden und mir gesehen hast“, antwortete Andreas ebenso leise und erklärte ihm, dass er die rote Ballonspritze daraus entnehmen und ihm bitte so unauffällig wie nur möglich platzieren und ausdrücken solle. Danach würde es schon wieder besser werden.
Doktor Mechier nickte und unter einem Vorwand stieg er schnell die Treppe zum Hauptdeck hinunter und verschwand im Salon. Wenig später kam er wieder nach oben und hockte sich hinter Andreas. Mit den Fingern tastete er die Wirbelsäule entlang nach unten und setzte dann die Injektion. Anne und den Freunden blieb das nicht verborgen. Besorgt und fragend sahen sie ihn an. Der zwinkerte ihnen nur zu und blickte dann zu Annes Eltern. Anne und die Männer verstanden sofort. Sie lenkte ihre Eltern ab, indem sie das Bein hochhob und es ihnen noch einmal voller Stolz zeigte.
Thomas und Uwe breiteten ein paar Schaumgummimatten auf dem Deck aus, als wollten sie sich sonnen. Schnell deckten sie Badetücher darüber und halfen Andreas, auf ein Zeichen von Abdul, ihn darauf langzulegen. Sie selbst legten sich daneben und der Arzt forderte Anne auf, sich mit dem Bein ruhig auch in die Sonne zu setzen. Vorsichtig führte er sie auf die Matte neben Andreas und verschwand dann wieder nach unten, um sich der Ballonspritze zu entledigen. Anne rutschte ganz dicht an Andreas heran, der sie sofort in den Arm nahm.
„Es ist nichts weiter, Schatz. Ich habe mir sicher nur etwas den Nerv eingeklemmt. Alles ist gleich wieder gut“, beruhigte er sie, als er bemerkte, wie sie am ganzen Leib zitterte. Und er bedankte sich, durch Blickkontakt, bei seinen Kameraden für die schnelle und unauffällige Hilfe.
Annes Eltern beobachteten gerade interessiert wie sich auf dem Nachbarboot Taucher fertigmachten und dann ins Wasser sprangen. Sie fanden das unheimlich spannend, da sie selbst nicht tauchen konnten, sie aber trotzdem sehr interessant fanden.
„Wie wäre es“, begann Walter, „wenn ihr zwei uns auf eurer Tauchbasis das Tauchen beibringen würdet? Mutter und ich hätten dazu schon Lust.“
Anne richtete sich erstaunt von der Matte auf. „Aber ihr wolltet doch früher nie, als ich es euch angeboten habe.“
„Stimmt. Aber jetzt ist es etwas anderes. Ihr seid zu zweit und damit werden Vater und ich wohl die besten Tauchlehrer haben, die wir bekommen können. Denn ich habe eigentlich unheimliche Angst davor. Doch Vater reizt es schon lange. Er hat nur immer meinetwegen verzichtet. Nun beginnt es mich auch zu reizen. Ich möchte gern sehen und erleben, was meine Tochter und meinen zukünftigen Schwiegersohn da immer wieder runterzieht“, sagte Erika.
„Tja, da werdet ihr nun aber paar Monate darauf warten müssen, denn eher werde ich Anne nicht mehr tauchen lassen. Es ist nicht gut für werdende Muttis“, erklärte Andreas. „Aber wenn ihr mit Sebastian und mir oder Kim als Tauchlehrer einverstanden wärt, dann könntet ihr Annes ersten Tauchgang nach der Babypause schon mit begleiten“, schlug er den beiden vor.
Gern nahmen Erika und Walter dieses Angebot an.
Vorsichtig versuchte Andreas, nach einer Weile, seine Beine zu bewegen. Anne beobachtete das sehr genau. Sie freute sich, als sie sah, wie er zuerst das Rechte anzog.
„Und das Zweite?“, fragte sie nach einer Weile besorgt.
„Das braucht wohl noch etwas, Spatz. Aber es wird schon noch“, gab Andreas ebenso leise zurück. Für Anne wurden Minuten zu unerträglichen Stunden. Dann sah sie endlich, wie er auch das linke Bein wieder anziehen konnte, und sie atmete erleichtert auf. „Ich möchte, dass du dich von Abdul noch einmal genau untersuchen lässt“, forderte sie streng.
„Muss das sein?“, fragte er, aber lächelte sie dabei an. „Ja, mein Schatz, das verspreche ich dir“, sagte er und gab ihr einen Kuss.
Als Ahmed zum Essen rief, ließen die Freunde Annes Eltern vorgehen und halfen Andreas dann aufzustehen, während Abdul Annes Bein wieder verband.
„Und du, mein Freund“, bestimmte der Arzt, „fährst, sobald wir wieder an Land sind, sofort mit mir ins Lazarett. Ich will wissen, was das gerade war. Das Beste, ich schicke dich in die Röhre.“ Eigentlich war Doktor Mechier schon auf den Protest seines Freundes gefasst. Aber Andreas nickte nur. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Alhamda lilhi“, stellte der Arzt daraufhin, mit einem dankbaren Blick gen Himmel, fest.
Die Männer halfen Anne die Leiter nach unten und waren erleichtert, als sie sahen, dass Andreas, wenn auch nur langsam und vorsichtig, aber doch allein zurechtkam.
Ahmed hatte sich in der kleinen Kombüse wieder selbst übertroffen.
Als Walter nach dem Essen seine leere Wasserflasche in den Müll werfen wollte, stutzte er kurz und warf die Flasche hinein. Er setzte sich mit nachdenklicher Miene wieder zurück an den Tisch und sah von einem zum anderen. „Okay“, begann er dann ernst, „reden wir Klartext, Jungs. Auch ich war mal beim Bund und dort kurze Zeit auch in einer Spezialeinheit. Ich kenne mich, wenn auch nicht so gut wie ihr, mit Notpacks und den darin enthaltenen Spritzensets aus. Also, wem von euch geht es dreckig und hat starke Schmerzen? Wer von euch hat die Ballonspritze mit dem Morphin gebraucht, die ausgedrückt im Mülleimer liegt, spielt uns hier aber eine heile Welt vor?“, fragte der Richter streng. Dabei sah er jedem in der Runde nacheinander eindringlich in die Augen. „Also raus mit der Sprache.“
„Danke, Doc, das hast du wirklich gut hingekriegt“, maulte daraufhin Andreas ärgerlich und vorwurfsvoll. „Noch nie was von unauffindbar verschwinden lassen, gehört? Das gehört zum Wort unauffällig dazu.“
„Sorry, Andy. Daran habe ich nicht gedacht“, entschuldigte sich Abdul schnell.
„Du also?“, stellte Walter trocken fest und sah Andreas streng an. „Und warum sagst du nichts?“
„Ich wollte euch nicht noch mehr schockieren oder beunruhigen. Es war so schon sehr schlimm für euch, mich so zu sehen“, erklärte Andreas bedrückt und zeigte auf seinen Körper.
„Sonst hast du aber keine Sorgen, was?“, fragte Annes Vater leicht verwirrt und vorwurfsvoll. Dann wandte er sich an den Arzt. „Was ist los mit unserem Sohn, Abdul?“
Abdul berichtete Annes Eltern, nach dem einverständigen Nicken von Andreas von der schlimmen Verletzung an seiner Wirbelsäule. Er erzählte auch von den Delfinen und dass er, als er vor Anne so lange hockte, plötzlich wieder sehr starke Schmerzen bekam und die Beine nicht mehr bewegen konnte.
„Wir fahren sofort zurück“, entschied Walter, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Dabei duldete er keinen Widerspruch. „Ich will wissen, was mit unserem Jungen los ist. Er braucht sofort deine Hilfe, Abdul und nicht erst in ein paar Stunden.“
„Ist dein Vater immer so verdammt streng?“, fragte Andreas Anne leise.
Doch Walter hatte das gehört und antwortete an ihrer Stelle. „Ja, das ist er, wenn es um Menschen geht, die ihm sehr wichtig sind und nahestehen. Was dagegnen?“
Walter bestand darauf, dass er sich sofort hinlegte, was Andreas etwas übertrieben fand. Aber er gehorchte und ertrug tapfer das Hänseln seiner Freunde.
Wie, dass es endlich mal einen gäbe, der es mit ihm aufnehmen könne und ähnliche Sprüche.
Andreas steckte ihnen zur Antwort nur die Zunge raus und zeigte den Stinkefinger. Was Annes Eltern zum Schmunzeln brachte.
Die >Amun Re< machte volle Fahrt, um schnell ihren Heimathafen zu erreichen.
Walter und Abdul halfen Andreas gemeinsam mit Rashid und Ahmed vom Boot, auch wenn er dabei protestierte, dass er doch auch alleine laufen kann, ließ Walter ihn bis zum Wagen nicht mehr los.
Alle entschieden sich dafür, mit zum Lazarett zu fahren.
Dort angekommen drückte Annes Vater Andreas in einen der Rollstühle und fuhr ihn, Doktor Mechier folgend, höchst persönlich bis vor den MRT-Raum, wo Abdul ihn dann übernahm. Einer der Sanitäter führte die Gruppe in den Aufenthaltsraum am Ende des Ganges und versorgte sie mit Getränken.
Nach einer dreiviertel Stunde kam Abdul ohne Andreas, aber finsterer Miene in den Warteraum. Noch bevor einer von den Freunden fragen konnte, sagte er: „Ich habe mich dazu entschlossen, Andy hierzubehalten. Er liegt schon auf dem OP-Tisch. Ich muss also gleich wieder zurück. Das MRT hat ergeben, dass sich eine Art Knorpelgewebe um die untere Vernarbung des Schusskanals gebildet hat, welches auf die Wirbelsäule und damit auch auf das Rückenmark drückt. Ich denke, das kommt von den vielen Einsätzen und Kämpfen, die er so kurz nach dieser schweren Verletzung hatte, obwohl die Wundheilung noch nicht abgeschlossen war. Er muss schon eine ganze Weile ziemlich starke Schmerzen haben. Heute, das lange gebeugte Hocken und dann vielleicht eine leichte Stauchung dazu, hat dem Knorpelgefäß die Chance gegeben und ist direkt zwischen zwei Wirbeln in den Kanal gerutscht, wo es nun auf die Nervenstränge und das Rückenmark drückt“, erklärte Doktor Mechier laiengerecht. „Meine Kollegen bereiten Andy gerade für die Operation vor. Wir werden versuchen, das Knorpelgewebe zu entfernen, so gut es geht. Wir hoffen dort gut heranzukommen, ohne sein Rückenmark zu schädigen.“ Dann ertönte sein Pieper. Abdul entschuldigte sich bei allen und lief schnell aus dem Raum.
Keiner der Freunde brachte danach ein Wort heraus. Nur das stetige Ticken einer Wanduhr über der Tür war überdimensional laut zu hören.
Nach einer Weile vermischte sich das Ticken der Uhr mit dem leisen Schluchzen von Anne. Die Männer reagierten noch bevor es Annes Eltern bemerkten. Sie setzten sich sofort an ihre Seite und redeten ihr gut zu.
Jens reichte ihr sein Taschentuch und Pitt trocknete ihr immer wieder geduldig die Tränen von den Wangen. Walter hatte seine Frau in den Arm genommen und sie beobachteten, wie rührend sich die vier Männer um ihre Tochter kümmerten.
Als Sebastian per Telefon von seinen Freunden davon erfuhr, kam er sofort ins Lazarett und ließ sich zu ihnen in den Aufenthaltsraum bringen. „Was ist passiert?“, fragte er kaum im Zimmer und noch bevor er die Freunde begrüßt hatte. Er sah, wie sie sich um Anne kümmerten und ihre Eltern traurig in der Ecke saßen. „Was ist mit Andy?“, rief er voller Schrecken. „Nun sagt schon.“
Uwe nahm ihn zur Seite und erklärte ihm leise, was sie von Doktor Mechier erfahren hatten.
„Wie lange liegt er jetzt schon auf dem Tisch?“, fragte Sebastian weiter.
Uwe sah auf die Uhr. „Seit über drei Stunden schon.“
Sebastian ging zur Ecke, in der das Telefon stand und wählte eine Nummer. Als sich Kim meldete, erklärte er ihr kurz alles und entschuldigte sich dafür, dass er heute nicht mehr zu ihr und den Zwillingen ins Krankenhaus kommen würde, sondern hier mit den anderen auf Andreas warten möchte.
Kim hatte volles Verständnis dafür und wünschte sich, von ihm auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sebastian versprach es und trennte die Verbindung wieder. Dann trat er hinter Anne und begann ihr sanft den Nacken zu massieren, den sie sich durchs ständige Weinen, weil sie dabei die Schultern verkrampft nach oben zog, schon total verspannt hatte und redete dabei leise auf sie ein.
Die Eltern von Anne waren sprachlos über die Fürsorge, welche die fünf Männer ihrer Tochter zukommen ließen. Auch sie beide wurden dabei nicht vergessen, sondern mit in diese Fürsorge einbezogen.
Immer wieder schauten sie besorgt auf die Uhr über der Tür.
Einer der Sanitäter kam ganz außer Atem ins Zimmer gerannt, schaute sich kurz um und ging dann direkt auf Sebastian zu.
Er bat ihn, auf Arabisch, schnell mit ihm zu kommen, da Doktor Mechier dringend sein Blut für den Patienten braucht. Alle, außer Annes Eltern, hatten das verstanden und schauten ganz erschrocken auf. Kommentarlos schnappte sich Sebastian eine Flasche Wasser vom Tisch und begann gleich daraus zu trinken, während er dabei ohne erst zu überlegen sofort aus dem Raum dem Sanitäter hinterherlief. Auch während sie den Gang entlangliefen, trank Sebastian weiter von dem Wasser, um sein Blut damit noch etwas zu verdünnen, damit es leichter durch die Kanülen fließen konnte.
Mit einem Mal richtete sich Anne gerade auf, atmete tief durch und ihre Tränen versiegten. Die Männer nahmen an, dass sie unter Schock stehen würde und wollten sie schon auf den Boden legen und einen Arzt rufen.
„Danke Jungs. Aber mir geht es gut“, sagte sie leise, weiter um Fassung bemüht.
„Bist du dir ganz sicher, Anne?“, fragte Jens genauso leise und besorgt. Sie nickte ihm zu und versuchte zu lächeln. Pitt goss Wasser in einen der Becher und reichte ihn der jungen Frau. Dankbar, mit zitternden Händen, nahm sie den Plastikbecher entgegen. Als Jens bemerkte, dass sie ihn kaum allein halten konnte, legte er seine linke, gesunde Hand um ihre Hände und unterstützte sie so, den Becher zum Mund zu führen.
Mit der Zeit wurde sie ruhiger und das Zittern ließ langsam nach.
Besorgt schauten die Freunde immer wieder unauffällig auf ihre Armbanduhren, sodass Anne es nicht bemerkte.
Schon fünf Stunden waren vergangen, seit Doktor Mechier bei ihnen war.
Eine halbe Stunde später kam der Arzt, noch in seiner OP-Kleidung, die völlig durchgeschwitzt und mit Blut verschmiert war, in den Aufenthaltsraum. Alle Blicke richteten sich fragend auf sein Gesicht. Erschöpft lächelnd nickte Abdul ihnen zu.
„Können wir zu ihm, Doc?“, fragte Jens als erster. Der Arzt schüttelte müde mit dem Kopf.
„Lassen wir ihn lieber noch etwas schlafen. Ich habe ihn gerade mit Sebi auf Intensiv verlegen lassen. Sebastian blutet langsam aus, wenn ich ihn nicht bald von Andy abnabele. Ich wollte euch nur Bescheid geben, dass er die Operation überstanden hat. Jetzt müssen wir abwarten. Geht nach Hause und ruht euch aus. Andy ist bestimmt der Letzte, der will, dass ihr euch hier Sorgen um ihn macht und euch dabei die Nacht um die Ohren schlagt. Hier könnt ihr nichts für ihn tun. Ich muss wieder zu ihm. Entschuldigt mich bitte.“
Als Doktor Mechier wieder gegangen war, rappelten sich die Freunde auf. Uwe und Thomas halfen Anne aufzustehen, die ganz weiche Knie hatte. Dann übernahmen ihre Eltern sie und stützten sie so gut sie konnten.
Langsam liefen sie über den Flur zum Ausgang. Draußen war es schon dunkel geworden.
Erika half ihrer Tochter beim Umziehen und brachte sie in ihr Bett. Sie blieb so lange bei ihr sitzen, bis sie endlich eingeschlafen war. Dann schlich sie sich leise, um sie nicht wieder zu wecken, aus dem Zimmer. Auf dem Gang begegnete sie Andys Freunden.
„Schläft Anne endlich?“, wollten sie besorgt wissen. Erika nickte zufrieden und sie wünschten einander eine gute Nacht.
Als Erika ins Schlafzimmer zu ihrem Mann kam, war er auch noch wach.
„Wie geht es unserer Kleinen?“, fragte er besorgt.
„Sie ist endlich eingeschlafen“, antwortete sie. „Aber warum schläfst du nicht schon?“
„Ich mache mir große Vorwürfe, Schatz. Ich glaube, ich bin schuld“, gestand Walter seiner Frau.
Erika sah ihn fragend an und wollte wissen, warum er so dachte.
„Da rettet dieser Junge das Leben unserer Tochter gleich mehrere Male hintereinander, ohne dabei auf sein eigenes Rücksicht zu nehmen und ist so fürsorglich zu unserem Kind, doch am Ende bin ich vielleicht schuld, wenn er nie wieder laufen kann. Ich habe mich doch beim Aufstehen auf dem Boot mit meinem ganzen Körpergewicht auf ihn gestützt, weil ich leicht mit dem Fuß abgerutscht war und nicht auf die Knie zurückfallen wollte. Und Doktor Mechier hat doch davon gesprochen, dass es durch eine Stauchung passiert ist, während Andreas noch da hockte. Aber der Junge hat meinem Gewicht standgehalten, ohne auch nur ein Stück zurückzuweichen oder zu zucken. Dabei hatte er doch schon die ganze Zeit Schmerzen. Und dann hat er es auch noch aus Rücksicht auf uns verbergen wollen. Erika, sag mir, warum tut er das? Warum sagt er nichts?“ Verzweiflung klang in der Stimme von Walter mit.
„Ich weiß es nicht, Liebling“, antwortete Erika leise und legte den Kopf auf die Schulter ihres Mannes, als sie sagte: „Dieser Mensch ist etwas ganz Besonderes, ebenso wie seine Freunde. Hast du gesehen, wie diese Delfine mit ihm umgegangen sind? Es sah so aus, als gehörte er zu ihrer Familie. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Als Anne uns davon geschrieben hatte, glaubte ich, ihre Fantasie wäre mit ihr durchgegangen. Aber als ich es selbst gesehen habe, wusste ich, dass er etwas ganz Besonderes ist. Und diese Tiere scheinen das zu wissen. Andy ist stark, er wird es schaffen.“
Fortsetzung folgt
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