Der Wind frischte auf. Andreas zog sich seine Fleecejacke über, band sein schulterlanges Haar zu einem Zopf, setzte seine Sonnenbrille auf und stieg hoch zum Oberdeck. Herzlich wurde er von Rashid, dem Kapitän, eingeladen, neben ihm am Steuer Platz zu nehmen. Unauffällig schaute sich Andreas nach anderen Schiffen um, bevor er sich zu dem älteren Ägypter setzte, der ihm sofort anbot, das Ruder zu übernehmen. Gern nahm er an, rutschte näher ans Steuerrad heran und lenkte das Boot gekonnt zur Welle. Was ihm ein lobendes Schulterklopfen des Kapitäns einbrachte.
„Anne, der Mann versteht was vom Steuern eines Bootes“, rief Rashid laut, den Wind übertönend, der Tauchlehrerin auf Arabisch zu, als sie gerade aufs Oberdeck kam.
„Was kann der eigentlich nicht?“, fragte sie sich leise, sodass es keiner hören konnte. Dieser Mann gab ihr ein Rätsel nach dem anderen auf. Und je geheimnisvoller er wurde, desto anziehender wurde er für sie. Wer und was war dieser Mann? Außer seinen Namen und der wenigen Einträge im Logbuch wusste sie nichts von ihm. Solche Fragen hatte sie sich nie zuvor bei einem der Tauchtouristen gestellt und sie hatte schon viele als Guide und Tauchlehrerin begleitet. Aber es war auch nie so von Interesse für sie, wie bei diesem Mann. Immer wieder musterte sie ihn heimlich durch ihre dunkle Sonnenbrille und fühlte sich von ihm angezogen. Dabei störten sie die Narben nicht.
Was sie nicht wusste, auch er beobachtete sie aus seinem Augenwinkel, wie sie schräg vor ihm, im Windschatten der Aufbauten, zu schlummern schien, während er die >Amun Re< steuerte.
Als er wieder übers Meer zum Horizont schaute, entdeckt er in der Ferne ein Schiff. Dieses hatte aber nicht den weißen Anstrich der hier üblichen Taucherboote. Unter dem Vorwand, auf Toilette zu müssen, übergab er Rashid wieder das Ruder und bedankte sich dafür, dass er das Boot steuern durfte. Doch er wollte nicht wirklich zur Toilette, sondern lief in den Salon, holte ein leistungsstarkes Fernglas aus seinem Rucksack, ging damit auf die Steuerbordseite, um von da aus nach dem fremden Schiff Ausschau zu halten.
Zufrieden lächelnd nahm er das Glas schon nach kurzer Zeit wieder von den Augen.
Vor Schreck zuckte er innerlich zusammen, als unerwartet Anne neben ihm stand. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
„Gibt es da etwas Interessantes zu sehen?“, wollte sie wissen.
„Ach nein, nichts“, wich er ihrer Frage aus. „Ich dachte nur, ich hätte da hinten Delfine gesehen. Aber da war nichts.“
„Komm, wir müssen uns langsam fertig machen, Rashid steuert das Boot an eine geschützte Stelle, damit wir uns in Ruhe umziehen können“, sagte sie.
Komplett aufgerödelt standen sie auf der Taucherplattform, als Anne das Zeichen an den Kapitän gab. Die >Amun Re< nahm wieder Fahrt auf, um den Absprungpunkt für die beiden Taucher zu erreichen. Sie hielten sich an der hochgezogenen Sprossenleiter fest, um bei dem starken Wellengang nicht über Bord zu gehen, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Nach zehn Minuten wildem Ritt auf den Wellen, drehte der Kapitän bei und gab wenig später ein Hupsignal, woraufhin beide Taucher von der Plattform sprangen und nach einem kurzen Okay-Zeichen schnell abtauchten.
Gemächlich ließen sie sich von der Strömung am Riff entlang treiben und entdeckten dabei immer wieder zwischen den Korallen wunderschöne Feuerstrahlenfische, Riesenmoränen und Schwärme von Sardinen, die von vier Makrelen gejagt wurden. Unerwartet für Anne stoppte Andreas und drehte sich gegen die Strömung. Er hatte einen seltsamen kleinen Fisch entdeckt. Er sah aus wie eine schwimmende Schießscheibe, ganz in den Farben blau, weiß und schwarz gehalten, wobei das Blau dominierte. Schnell holte er wieder seine Schreibtafel hervor und schrieb „Was ist das?“, und reichte sie an Anne weiter. Sie klatschte anerkennend in die Hände und schrieb zurück: „Du hast ein Baby vom Imperator-Kaiserfisch entdeckt. Gratuliere, sieht man nur selten.“ Lächelnd gab sie ihm die Tafel zurück. Noch eine Weile beobachteten sie den kleinen Fisch, dann ließen sie sich von der Strömung weitertreiben.
Dieses Mal war es Anne, die an der Flosse ihres Buddys zog und sich als erste gegen die Strömung legte. Schnell drehte sich Andreas um und sah sie fragend an. Sie wackelte mit ihrem gebeugten Zeigefinger, als Zeichen für einen Anglerfisch, dann zeigte sie in die Richtung, wo der Winzling saß. Doch er konnte ihn nicht entdecken. Langsam schwamm sie näher an den Fisch heran und legte vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken, ihre offene Handfläche hinter den Anglerfisch, sodass er damit keine Tarnung durch den Hintergrund mehr hatte. Nun sah auch Andreas das kleine, putzig wirkende Wesen und gab seiner Begleiterin das Okay-Zeichen, dass er den Anglerfisch sah. In diesem Moment löste sich das gerade einmal sechs Zentimeter große Tier von der schützenden Koralle und trieb mit der Strömung direkt auf Anne zu, wo es sich auf ihrem Jackett niederließ und festzukrallen versuchte. Beide lächelten sich an und beobachteten den Fisch, der keine Anstalten zu machen schien, seinen neuen und bequemen Platz wieder aufgeben zu wollen.
„Was nun?“, fragte Anne, indem sie ihre Schultern nach oben zog. Andreas empfand es als zusehends lustig, wie sich der unscheinbare Kobold an ihr Jackett klammerte.
Du hast recht, mein Freund, dachte er, würde ich auch gern tun. Du hast einen guten Geschmack. Dann zog er seine Schreibtafel hervor und schubste den kleinen, anhänglichen Kerl vorsichtig mit dem Stift auf die Tafel und setzte ihn zurück auf eine Koralle. Auf die er, wie es schien, nur sehr ungern kletterte.
Sie winkten dem Anglerfisch zum Abschied noch einmal zu und ließen sich von der Strömung weiter treiben. Immer wieder entdeckte der eine oder andere von ihnen etwas Interessantes, was sie sich in aller Ruhe betrachteten. Dann wandte sich Anne zu ihrem Buddy um und zeigte ihm die Faust. Es war das Zeichen dafür, dass sie nur noch fünfzig bar Luft in ihrer Flasche hatte. Andreas gab ihr das Okay-Zeichen und wies Richtung Osten ins Freiwasser, wo sie langsam bis auf fünf Meter, für ihren Sicherheitsstopp, aufstiegen. Anne holte ihre Boje aus der Jacketttasche, rollte sie aus, nahm ihren Oktopus aus der Halterung und füllte den ein Meter langen und fünfzehn Zentimeter breiten, signalroten Plastikschlauch mit Luft, indem sie die Munddusche des Mundstücks drückte. Langsam ließ sie die Boje nach oben steigen und hielt dabei die Schnur straff. Noch während sie ihren Sicherheitsstopp von drei Minuten machten, hörten sie das Geräusch eines näherkommenden Bootsmotors. Als sie langsam auftauchten, war die >Amun Re< etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt und kam näher. Ahmed, der Bootsjunge, warf ihnen gekonnt ein Seil zu, an dem sie sich festhielten, während er sie zum Boot zog. Schnell, immer eine Welle nutzend, stiegen beide, Andreas als Erster, nacheinander die Leiter zur Plattform hoch. Er beugte sich über Anne, packte die Pressluftflasche unterhalb der ersten Stufe und zog sie leicht nach oben, um ihr an Bord zu helfen. „Wow, das war ein superschöner und entspannter Tauchgang“, meinte er, während sie ihre leeren Nitroxflaschen gegen die Vollen austauschten und durchcheckten.
„Das kann ich nur bestätigen“, erwiderte sie noch etwas atemlos.
„Ich wusste gar nicht, dass du da unten so enge und anhängliche Freunde hast“, spielte Andreas auf den Anglerfisch an.
„Na was“, gab sie schlagfertig zurück, „deine kleinen Liebschaften mit dem Oktopus und der Schildkröte gestern waren ja auch nicht ohne.“
Woraufhin er Anne nur schelmisch angrinste.
Sie halfen sich gegenseitig aus ihren Anzügen. Als sie in den Salon kamen, um sich ihre Badetücher zu holen, war da schon der Tisch gedeckt und zwei Teller standen für sie bereit.
„Du, sag mal, warum essen die beiden nicht mit uns?“ , frage Andreas, dabei rubbelte er sich die Haare trocken.
„Die Bootsbesatzungen essen immer erst nach den Gästen“, erklärte Anne. „Ist hier so üblich und außerdem auch eine Anweisung von den Chefs.“
„Aber die sind nicht an Bord. Und von mir werden sie es nicht erfahren“, meinte er. „Ich möchte, dass die beiden mit uns gemeinsam essen. Wir sind doch hier eine Crew. Ich mag solche Unterschiede in der Behandlung nicht“, begründete er seine folgende Bitte. „Könntest du sie einfach fragen und mit zu uns zum Essen holen? Mir würde es gefallen und gleich noch einmal so gut schmecken.“
Diesem Wunsch kam Anne sehr gern nach. Ihr gefiel seine Einstellung. Nachdem sie sich umgezogen hatte, stieg sie aufs Oberdeck und rief die beiden Ägypter mit zum Essen. Erst sträubten sich die Männer noch etwas, doch dann freuten sie sich über diese Einladung und kamen gern mit nach unten.
Weil Andreas, wie sie glaubte, nichts von der Sprache verstand, übersetzte Anne im Gespräch immer grob das Wichtigste. Alle vier lachten viel. Die ganze Atmosphäre an Bord der >Amun Re< war entspannt und basierte auf gegenseitiger Achtung und Freundschaft. So mochte es Andreas Wildner am liebsten und fühlte sich sichtlich wohl. Nach diesem Essen wusste er, dass er sich auf diese kleine Crew verlassen konnte und sie da wären, wenn er sie vielleicht bräuchte. Schnell hatte er bemerkt, in welchem guten Verhältnis sie zu Anne standen, ebenso wie er es von Ali, dem Fahrer, schon gehört hatte, der ihn morgens vom Hotel abholte. Diese Männer mochten und achteten sie, sahen in ihr eine wirklich gute Freundin, die ihnen half, wo immer es nötig war, die sie mit Respekt behandelte und ihre Sitten und Bräuche achtete. Diese Frau schien für sie wie ein kostbares Gut zu sein, was viel zu bedeuten hatte bei ihrer Religion und Erziehung. Das spürte Andreas deutlich und er verstand diese Männer.
Bevor er diesen Auftrag angenommen hatte, studierte er ihre gesamte Biografie. Er wusste vieles über ihr Leben. Doch nun, wo er sie kennenlernen durfte, erschien alles in einem ganz anderen Licht. Er hatte begonnen, diese Frau zu bewundern und zu schätzen, was sie tat. Da war nichts davon zu merken, dass sie die Tochter eines hohen und angesehenen Richters war. Sie hätte, weiß Gott, ihr Geld nach ihrem Studium leichter und besser verdienen können. Stattdessen arbeitete sie unscheinbar auf einer kleinen, aber zugegeben gut gehenden Tauchbasis als Tauchlehrerin, was sicher kein Zuckerschlecken war. Sie half den Einheimischen, so gut sie konnte, mit ihren eigenen Mitteln. Er wusste, dass sie mit dem, was sie schwer verdiente, ägyptische Familien unterstützte und sogar Arztrechnungen für Angestellte beglich. Dabei war sie aber bodenständig geblieben, ohne Dank zu erwarten oder eine Gegenleistung zu verlangen. Diese Frau schien sich in diesem Land mit seinen Menschen wohlzufühlen und war stets gern bereit, ihren Freunden zu helfen.
Im nächsten Moment wurde Andreas aus seinen Gedanken gerissen, denn Anne sprach ihn direkt an. „Andy, was hältst Du von einem weiteren Drift-Pick-up?“, wollte sie wissen. „Rashid meint, da sich die See etwas beruhigt hat, könnten wir noch ein Stück weiter nach Norden zum Manta Point fahren.“
„Aber ist es nicht eher ungewöhnlich, beim zweiten Tauchgang noch weiter nach Norden zu fahren? Da ist der Rückweg zur Basis und zum Feierabend der beiden doch weiter entfernt“, entgegnete er.
„Stimmt schon“, gab Anne zu, „aber Rashid meint, da du seinem Bruder Farid heute früh so geholfen hast, tut er es sehr gern. Die Jungs scheinen dich zu mögen.“
„Und du, was hältst du selbst davon?“, wollte Andreas von ihr wissen.
„Ich war lange nicht mehr dort und würde schon gern nachsehen, wie es da unten aussieht“, gab Anne lächelnd zurück.
„Gut, wenn du selbst dafür bist, dann machen wir das so. Ansonsten würde ich mich auch mit einem Tauchspot nahe der Basis zufriedengeben“, antwortete er ehrlich. Wusste er doch, dass kein anderes Boot in der Nähe war und sich, wie er gesehen hatte, ein Schiff der ägyptischen Marine in Reichweite befand, um ein wachsames Auge, auf die >Amun Re< zu haben.
Nach dem Essen hatten sie noch Zeit und machten es sich in der Sonne auf dem Oberdeck gemütlich.
„Sag mal Anne“, begann Andreas, „warum bist du eigentlich Tauchlehrerin geworden?“
Sie drehte sich zu ihm herum, sah ihn durch ihre Sonnenbrille an und überlegte kurz.
„Eigentlich, weil ich das Tauchen und das Meer liebe. Als ich damit begonnen hatte, wusste ich aber offen gesagt nicht genau, was da auf mich zukam. Die meisten Urlaubstaucher, die hier mit mir auf den Booten sind, glauben, es wäre ein Traumjob, der wie ein ewiger Urlaub ist. Das dachte ich auch mal. Nur übersehen die Leute, dass sie wirklich nur im Urlaub hier tauchen, ich aber täglich bis zu drei Tauchgänge habe. Und durchaus auch mit Schnupfen und Erkältung ins Wasser muss. Dabei predigen wir selbst bei jedem Lehrgang, dass man da nicht tauchen gehen darf. Nur bei uns sieht die Realität anders aus, solange der Druckausgleich noch halbwegs machbar ist, müssen wir ran. Die Tauchbasis muss laufen. Die Urlauber interessiert es nicht, wie sich ein Tauchlehrer oder Guide fühlt, sie wollen tauchen und das mit Guide, weil die meisten es gar nicht anders dürfen oder selbst wollen und könnten. Manchmal habe ich über vier Wochen lang nicht einen einzigen Tag frei und die Stickstoffsättigung ist so hoch, dass man am Abend einfach nur ins Bett fällt, obwohl man doch noch einkaufen gehen oder Wäsche waschen müsste. Aber am nächsten Tag muss man wieder nett, höflich, freundlich, fröhlich und vor allem voll fit und konzentriert sein. Und glaube mir, da hat man schon manchmal ziemliche Ekelpakete in so einer Truppe. Nur das alles sehen die Meisten nicht. Sie sehen, dass ich an den schönsten Plätzen der Welt tauchen kann, mittags mit ihnen in der Sonne liege, auch wenn ich da ja immer für jeden ansprechbar sein muss. Sie sehen nicht, dass mein Tag um sechs Uhr beginnt und erst nach achtzehn Uhr endet, denn wir dürfen nicht eher gehen, bevor nicht der letzte Tauchgast die Basis verlassen hat. Na ja, und wenn Nachttauchen angesagt ist, dann wird es auch mal dreiundzwanzig Uhr.“ Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: „Aber ich liebe diesen Job trotzdem und mache ihn gern. Denn man trifft auch viele nette Menschen, … so wie dich“, fügte sie die letzten drei Worte etwas leiser hinzu.
Andreas hatte sie aber sehr gut verstanden. „Und ich dachte, nach meinem Auftritt im Flieger wäre ich Ekelpaket Nummer eins für dich“, meinte er verschmitzt lächelnd. Dann aber nickte er ihr ernst zu und sagte: „Ja, ich verstehe, was du meinst. Kein leichter Job, der aber für andere immer leicht aussehen sollte. Wie wäre es, wenn wir den Spieß einfach mal umdrehen?“
„Wie meinst du das?“, wollte Anne, hellhörig geworden, wissen. Andreas setzte sich auf und sah sie lächelnd an.
„Na ganz einfach, ich richte mich voll und ganz nach dem, was du willst. Sprich, wir tauchen nur nach deinen Wünschen und ich verspreche, nie mehr der letzte Gast zu sein, außer du würdest mich auch weiterhin mit deinem Flitzer bis zum Hotel mitnehmen. Und hast du mal keine Lust zum Tauchen, dann tauchen wir eben nicht.“ Dabei sah er sie wieder ernster an und fragte: „Na, was meinst du, wäre das nicht ein guter Deal?“
Jetzt setzte sich auch Anne auf ihrer Matte auf, nahm die Sonnenbrille ab und sah Andreas forschend in die Augen, als sie feststellte: „Du meinst das wirklich ernst.“
Er nickte ihr bestätigend zu. „Ich hätte es nicht vorgeschlagen, wenn ich es nicht ernst meinen würde“, untermauerte er zusätzlich sein Angebot und lächelte sie dabei wieder an.
Sie schaute Andreas noch immer forschend an. Sie konnte es kaum glauben, dass er einen solchen Vorschlag gemacht hatte und es tatsächlich ernst meinte. Dann überzog auch ihr Gesicht ein Lächeln.
„Leider wird das nicht ganz so funktionieren.“
„Warum nicht?“, wollte Andreas wissen und sah sie fragend an.
„Na ja, wenn es nach mir gehen würde“, meinte sie, „dann würde ich gern mit Kreislaufgeräten tauchen gehen.“
„Ja und? Wo liegt da das Problem?“, fragte er noch immer lächelnd und fügte dann hinzu: „Lass mich raten, eure Tauchbasis hat so was nicht.“
„Das wäre das geringste Problem, Sebastian von einer anderen Tauchbasis, mit dem ich befreundet bin, hat sieben Stück der neuen Rebreather CCR 100 Submatix und würde uns bestimmt gern zwei davon leihen. Das Problem aber ist, dass du keine Ausbildung dafür hast.“
Nachdem er ihren Ausführungen aufmerksam gelauscht hatte, grinste er übers ganze Gesicht, was Anne komisch vorkam.
„Wow, da hat der alte Haudegen also auch die Geräte mit dem geschlossenen Kreislaufsystem und nicht nur die SCR 100 ST mit dem halb geschlossenen System“, meinte Andreas wie nebenbei.
Als Anne das vernahm, blieb ihr der Mund vor Staunen offen stehen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er etwas mit diesen Begriffen anfangen konnte. Dann hörte sie, wie er weiter sprach: „Ja, ich denke, Sebi wird sie uns gern ausleihen. Wenn wir zurück sind, werde ich ihn gleich anrufen und fragen.“ Als er bemerkte, wie verdutzt sie ihn nun ansah, musste er laut lachen. „Und wer sagt, dass ich darauf nicht ausgebildet bin?“
Nur langsam fand sie ihre Sprache wieder.
„Aber in deinem Logbuch steht nichts davon. Es sind keine solchen Ausbildungstauchgänge drin vermerkt und du hast auch in der Anmeldung ein derartiges Brevet nicht mit angegeben.“
„Warum sollte ich? Wo ich doch aus dem Internet weiß, dass diese Tauchbasis eh keine Kreislaufgeräte hat.“ Dann fügte er leiser hinzu: „In diesem Logbuch steht vieles nicht drin, Anne. Aber ich zeige dir dann gern mein Brevet fürs Kreislauftauchen, habe es unten bei meinen Sachen. Also was ist nun mit unserem Deal?“, wollte er wissen und hielt ihr die Hand zum Einschlagen entgegen. Dabei sah er breit grinsend in ihr noch immer fassungsloses und erstauntes Gesicht.
„Okay, wir haben einen Deal“, sagte Anne dann und schlug mit einem festen Handschlag ein. „Aber trotzdem machen wir nachher noch den Tauchgang am Manta Point. Ich will sehen, ob die Haie da sind. Außer, du hast Angst vor ihnen“, sagte sie dann wieder lächelnd. Sie überlegte kurz und fragte etwas unsicher: „Habe ich das vorhin gerade richtig verstanden? Du kennst Sebastian Rothe, den Chef von der Tauchbasis >Red Water Dive Resort<?“
Wieder lächelte Andreas sie an und erklärte ihr nur kurz, dass sie gute alte Freunde seien, ohne es weiter auszuführen oder zu begründen. Sie bemerkte sofort, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also fragte sie auch nicht weiter nach. Trotzdem beschäftigten sie nun wieder viele Fragen. Warum war er nicht auf die Tauchbasis seines Freundes gegangen, sondern hatte sich das >Red Sea Dive Resort< ausgesucht? Warum war seine Rebreatherausbildung nicht mit den dafür vorgeschriebenen Tauchgängen im Logbuch verzeichnet? Was meinte er damit, dass vieles nicht in diesem Logbuch steht? Alles Fragen, worauf sie keine Antwort wusste, es sie aber sehr interessierte. Alles an diesem Mann war interessant für sie. Er erschien ihr wie das berühmte, geheimnisvolle Buch mit den sieben Siegeln.
Nach der Oberflächenpause half Andreas mit, die Leinen loszumachen, um den Ankerplatz zu verlassen, damit sie zum nächsten Tauchspot aufbrechen konnten. Als er in den Salon zurückkehrte, stand da Anne, brühte wieder für sich und ihn einen Tee auf, den sie ihm gleich reichte.
Er holte aus seinem Rucksack eine Mappe, suchte etwas darin herum und gab ihr eine Plastikkarte in der Größe einer Visitenkarte.
Anne hatte eine solche Art von Brevet noch nie zuvor gesehen, doch es bescheinigte eindeutig, dass Andreas Wildner in Besitz einer Rebreatherausbildung war, und das schon seit mehr als zehn Jahren. Sie selbst hatte diese Ausbildung und dass sie als Instruktor darauf ausbilden durfte, erst vor einem Jahr gemacht. Wenn er den Schein schon seit zehn Jahren besaß, wieso waren dann nur so wenige Tauchgänge in seinem Logbuch verzeichnet, die nicht älter als zwei Jahre waren? Außerdem war das Rebreathertauchen zu dieser Zeit für das Sporttauchen noch ein absolutes Fremdwort und steckte in der Hinsicht selbst jetzt noch in den Kinderschuhen.
„Dieser Mann versteht es, mich immer wieder zu überraschen“, murmelte sie vor sich hin und gab ihm das Brevet zurück. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm, was sie aber zusätzlich nur noch mehr reizte, wie sie sich eingestehen musste. Schweigend tranken sie ihren Tee.
Langsam wurde es Zeit und sie begannen, sich für ihren zweiten Tauchgang an diesem Tag fertig zu machen. Wie üblich überprüften sie noch einmal gegenseitig ihr Equipment. Stellten sich dann auf der Taucherplattform bereit, während der Kapitän sicher ihren Absprungpunkt an der nördlichen Spitze von >Manta Point< ansteuerte, um die Taucher, aber noch weiter draußen, als sonst üblich, im Blauwasser abzusetzen. Dann gab er das Zeichen, dass sich die Schiffsschraube im Leerlauf befand. Anne und Andreas sprangen in die Wellen. Während die >Amun Re< weiter nach Norden fuhr, um in einer großen Schleife nach Süden einzulenken, damit sie die Taucher nicht gefährden konnten, sollten sie aus irgendeinem Grund an die Wasseroberfläche zurückmüssen.
Schnell sanken sie, immer wieder ihren Druckausgleich durchführend, auf die vereinbarte Tiefe von dreißig Metern und bewegten sich mit der Strömung langsam zum höher gelegenen Riff. Dabei schauten sie immer wieder zurück ins Blauwasser, in der Hoffnung, vielleicht größere Rochen vorbeiziehen zu sehen. Leider hatten sie kein Glück. Doch als sie am Riff in dreizehn Metern Tiefe ankamen, zogen da vier neugierig gewordene Weißspitzenriffhaie in immer enger werdenden Kreisen um sie herum.
Anne war begeistert von diesen Tieren, ihren anmutigen, kraftsparenden Bewegungen und dem starren Blick, den sie auf sie und ihren Begleiter richteten. Sie mochte diese Tiere sehr. Nach einer Weile schienen die Haie genug gesehen zu haben, um zu wissen, dass von den beiden Neuankömmlingen an ihrem Riff keine Gefahr für sie ausging und zogen sich zurück. Noch ein Stück folgten ihnen Anne und Andreas, dann jedoch schlugen sie wieder ihren vereinbarten Kurs ein. Die Strömung hatte abgenommen, sodass sie mit leichten Flossenschlägen nachhelfen mussten, um vorwärtszukommen. Ein Schwarm Thunfische überholte sie und schloss sie quasi in ihre Gruppe mit ein. Andreas reichte Anne seine Hand, damit sie sich in dem Getümmel der großen Fische nicht verlieren konnten. Sie ergriff diese gern und beide ließen sich einer festhaltend mit dem Schwarm der bis zu einhundertfünfzig Zentimeter großen Tiere treiben. Als jedoch der Schwarm nach Osten einlenkte, ließen sie ihn allein weiterziehen und orientierten sich erneut an der Riffwand, der sie folgen wollten.
Andreas verliebte sich wohl gerade in einen ziemlich angriffslustigen Anemonenfisch, den er zu einem Zweikampf herausforderte, indem er ihm immer wieder etwas näher kam. Er bewunderte den Mut des kleinen Zwerges, der ihn tatsächlich mit seinen kleinen Angriffen zu verscheuchen versuchte.
In dem Moment tippte ihm Anne, die bis dahin dem Spiel zugesehen hatte, auf die Schulter und zeigte nach Osten ins Blauwasser, wo dunkle, große Schatten verhinderten, dass die Sonne ihre Strahlen auf das Riff fallen lassen konnte.
Andreas erkannte schnell, dass es drei ausgewachsene Mantas, auch Teufelsrochen genannt, mit einer Spannweite von mindestens vier Metern waren, die ungestört nach Süden zogen und dabei anmutig durchs Wasser zu fliegen schienen. Lange begleiteten sie die Blicke der beiden Taucher, bis sie kaum noch zu erkennen waren.
Wieder gab Anne als erste das Zeichen, dass sie nur noch fünfzig bar in ihrer Flasche hatte und wie schon beim vorhergehenden Tauchgang wurden sie kurze Zeit später von der >Amun Re< aufgenommen. Während sie sich umzogen, steuerte der Kapitän dem Heimathafen zu, der zwei Stunden entfernt im Südwesten lag.
Anne kämmte gerade ihr nasses Haar, als Andres aus dem Salon aufs Deck trat und ihr ein Glas heißen Tee reichte.
„Ich glaube, das waren bis jetzt meine vier schönsten Tauchgänge, die ich je hatte“, gab er zu und lächelte Anne dankbar an. „Du bist eine ausgezeichnete Taucherin.“
Dieses Komplement konnte sie nur zurückgeben. „Danke. Es macht auch Spaß, mit dir zu tauchen.“
Wieder waren sie das letzte Boot, welches in dem kleinen Hafen festmachte. Die Einheimischen, die schon auf sie warteten, nahmen ihnen die leeren Stahlflaschen ab und halfen ihnen, an Land zu klettern. Ihre Tauchsachen konnten sie an Bord der >Amun Re< lassen, denn sie wussten, dass sie auch morgen wieder dieses Boot zur Verfügung hatten und Ahmed auf dem Schiff schlafen und auf ihre Sachen achten würde. Als sie mit dem Pick-up die Basis erreichten, verabschiedeten sich bereits die ersten Tauchgäste und wurden zu ihren Hotels zurückgefahren.
Nachdem Andreas an der Bar zwei Flaschen Stella-Bier geordert hatte, zog er sein Handy aus dem Rucksack und wählte die Nummer seines ehemaligen Kampfgefährten Sebastian Rothe, der sich schon nach wenigen Rufzeichen meldete.
„Hallo, du alter Haudegen“, grüßte ihn Andreas fröhlich, „schön mal wieder deine Stimme zu hören. ... Mensch, ich bin es, Andy, die Schneeeule“, gab er sich zu erkennen, als sein Gesprächspartner nachfragte, wer am Apparat sei. „Nein, ich rufe nicht aus Deutschland an, sondern stehe quasi fast neben dir. … Nein, kein Scherz, Alter“, erwiderte er gerade, als Anne sich zu ihm setzte, „Ich sitze hier neben einer wunderschönen Frau namens Anne auf der Tauchbasis >Red Sea Dive Resort<. ... Oh, ich habe mir schon gedacht, dass du sie kennst“, sagte er und lächelte sie dabei an. „Ich wusste schon immer, dass dir die schönen Frauen nicht verborgen bleiben.“ Dann lachte er in den Apparat und sah die Frau neben sich mit strahlenden Augen an. „Stimmt, du hast ja recht, mir auch nicht. Aber weshalb ich eigentlich anrufe“, wechselte er das Thema, „sag mal, kannst du uns zwei deiner Rebreather leihen? … Was heißt wofür? Zum Essen kochen brauche ich die Dinger bestimmt nicht. ... Das finde ich klasse von dir, danke, Kumpel.“ Dann lauschte er wieder in den Apparat und meinte: „Darauf kann ich dir am Telefon nicht antworten. Sicher kannst du es dir denken. Oder? ... Gut, wie wäre es, wenn wir uns hier mal am Abend treffen. Na Logo, erst nachdem du deine Basis dicht gemacht hast? … Prima, meine Nummer hast du ja, klingle durch, wann immer es dir passt. Ich freue mich schon.“ Er unterbrach die Verbindung und steckte das Handy zurück in seine Tasche. An Anne gewandt sagte er: „Sebi bringt gleich morgen früh die Kreislaufgeräte vorbei und gibt uns sogar extra Kalkpatronen, Nitrox- und Sauerstoffflaschen zum Nachfüllen dazu. Wie findest du das?“
Anne sah Andreas nachdenklich an und meinte dann: „Ich hätte länger damit gebraucht, dass er zwei seiner Rebreather herausrückt. Du musst ein besonderer Freund sein.“ Nach einer kurzen Pause, in der sie mit ihm anstieß und einen Schluck von dem Bier trank, meinte sie noch: „Ähnlich den zehn Leuten, die vor etwa einem halben Jahr kurz vor Weihnachten bei ihm waren.“
Andreas hatte zwar den letzten Satz verstanden, doch er ging nicht darauf ein, sondern lenkte davon ab, indem er von den beiden Tauchgängen zu schwärmen begann.
Anne nahm ihn auch diesen Abend, so wie abgemacht, mit bis zum Hotel, wo sie sich schnell wieder verabschiedete. Gas gebend, winkte sie noch einmal, ordnete sich in den Verkehr der ständig hupenden Kleinbusse ein und verschwand.
Andreas ließ sich an der Rezeption den Zimmerschlüssel geben, verzichtete auf den Fahrstuhl und lief die Treppen schnell nach oben. Frisch geduscht, packte er seinen Rucksack aus, hängte die nasse Badehose und das Badetuch zum Trocknen auf den Balkon. Aus dem Schrank holte er eine Art Gürtel, der ringsum mit kleinen festen Taschen bestückt war. Eigentlich sah er wie ein Bleigurt aus, bei dem die Bleistücke in den Taschen gleichmäßig verteilt werden konnten. Nur waren die Fächer an diesem Gürtel etwas größer, aber eben so mit Klettverschlüssen und im unteren Teil mit fester Gaze ausgestattet, damit das Wasser schnell wieder auslaufen konnte. Er zog den Koffer aus dem Schrank und legte ihn auf das freie Bett, entnahm ihm verschiedene Sachen, bei denen er meinte, dass er sie vielleicht bald brauchen könnte, und füllte damit die Taschen des Gürtels. Er überlegte, ob er an alles gedacht hatte, dann legte er ihn zum Rucksack, den er morgen wieder nehmen würde. Zufrieden setzte er sich auf den Balkon, trank den letzten Schluck Wasser aus der großen Flasche, die er für den Tag mitgenommen hatte, und schaute gedankenversunken aufs Meer.
Sein Handy klingelte. Schnell ging er ins Zimmer zurück und meldete sich knapp. Wieder hörte er angespannt zu und sagte dann: „Sag mal, kannst du mit den ägyptischen Behörden sprechen. Mir wäre es lieb, wenn sie, von mir aus als Touristenpolizei, das Grundstück von unserer ›Zielperson‹ im Auge behalten könnten. Ich war gestern dort. Es ist ein Leichtes, da einzudringen. Mir wäre es einfach sicherer. … Danke. Außerdem möchte ich euch darüber informieren, dass ich Kontakt zu Sebastian Rothe, unserem ehemaligen Wanderfalken, aufgenommen habe. ... Nein, davon habe ich ihm noch nichts gesagt, aber ich denke, es wäre nicht verkehrt, ihn einzuweihen und in die Operation mit einzubeziehen. Was meinst du?“ Eine Weile war Ruhe am anderen Ende der Leitung.
„Okay, weihe ihn ein. Ich überlasse dir die Entscheidung, wie weit. Handle nach deinem eigenen Ermessen. Ich lasse dir freie Hand. Bussard Ende.“ Damit war die Verbindung wieder getrennt.
Andreas steckte sein Handy an die Ladestation und legte es auf seinen Nachtschrank. In Gedanken versunken trat er hinaus auf den Balkon, nahm eine Zigarette aus der auf dem Tisch liegenden Schachtel und zündete sie sich an. Nach nur drei Zügen drückte er sie im Aschenbecher aus. Wollte er doch endlich mit dem Rauchen aufhören. Trotzdem brachte er es bisher nicht fertig, die halb volle Schachtel wegzuwerfen. Er rechtfertigte es damit, dass er noch nicht so weit wäre und ohnehin schon weniger rauchte.
Beim Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es Zeit fürs Abendessen war. Schnell zog er sich etwas über und ging nach unten in den Speisesaal des Hotels.
Sogar noch freundlicher als schon am Vortag wurde er vom Personal empfangen und an seinen Platz geführt. Ohne dass er es bestellt hatte, brachte ein Kellner ihm drei große Flaschen Wasser an den Tisch und nahm seinen Wunsch, was er trinken wolle, auf. Als er nach dem Essen die Getränke auf die Zimmerrechnung schreiben lassen wollte, lehnte der Mann höflich ab und sagte im gebrochenen Deutsch, die Worte suchend: „Nein, das gehen auf Haus, Farid guter Freund. Du haben sehr geholfen ihn. Das zählt viel sehr hier.“
Erstaunt sah Andreas den freundlich lächelnden Ägypter an. „Hier scheint sich so etwas aber schnell rum zusprechen“, meinte er.
„Ja, Hurghada ist Dorf, hier Leute sprechen miteinander noch“, gab der Kellner zurück. „Bei uns machen schnell Runde, wenn Mensch sein gut. Du so ein gut Mensch“, antwortete der junge Mann und nickte ihm noch immer lächelnd zu.
Andreas bedankte sich höflich, nahm seine Wasserflaschen und ging damit zurück in sein Zimmer. Er war sichtlich beeindruckt. Hier gab es viele streng gläubige Muslime, wie er bereits auf der >Amun Re< bemerkt hatte. Aber sie verurteilten Menschen anderen Glaubens oder Ungläubige nicht wie manche fanatische Gruppen, die er schon kennenlernen musste. Dabei erkannte er aber auch, dass sie sehr wohl Unterschiede zwischen Touristen und ausländischen Freunden machten. Sie merkten schnell, wenn ein Mensch ihnen gut gesinnt war oder ihre Freundlichkeit nur ausnutzen wollte. Das gefiel ihm.
Jetzt konnte er Anne verstehen, weshalb sie gern in diesem Land lebte. Denn auch er begann diese Leute zu mögen. Hier existierte wahrlich noch das ehrliche Geben und Nehmen zwischen den Menschen der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schlieft er ein.
Schnell sprang er auf, ergriff seinen Rucksack und lief auf die andere Straßenseite, als er den Toyota mit dem Logo der Tauchbasis auf der Kühlerhaube entdeckte, der sich dem Hotel aus Norden näherte.
„Saba al chier, Ali“, begrüßt er fröhlich den Fahrer.
„Saba al full, Andy“, gab der Mann hinter dem Lenkrad freundlich zurück, als Andreas neben ihm Platz genommen hatte. Der kleine Ägypter sah zu seinem Fahrgast hinüber. „Andy, haben du heut Abend Zeit?“
„Warum?“
„Wir wollen feiern. Frau von Bruder haben Sohn geboren letzte Nacht. Du sein eingeladen herzlich.“
„Aber wie komme ich denn zu der Ehre? Deine Familie kennt mich doch überhaupt nicht?“, fragte Andreas erstaunt nach.
„Du gut Mensch, hast holfen Freund. Sie dich lernen kennen werden“, antwortete Ali und sah Andreas fragend an. „Und du kommen?“
Gern nahm er diese Einladung an und bedankte sich herzlichst dafür. Dabei überlegte er trotz der Antwort des Ägypters, wie er als unbekannter Tourist, der noch nicht einmal eine Woche hier war, zu dieser Ehre kam. Gerade als er fragen wollte, sah Ali ihn an und sagte lächelnd: „Anne auch wird sein da.“ Und nachdem er einen Kleinbus hupend überholt hatte, fügte er hinzu: „Sie in Nacht Fatima mit helfen bei Geburt. Fatima wolle nicht in Krankehaus.“
„Ja, ich komme sehr gern, Ali. Ich danke dir für die liebe Einladung“, gab Andreas zurück und lächelte dem Fahrer zu.
„Ich reden mit Anne, sie bringen dich mit zu Familie“, sagte der kleine Ägypter, als er bereits vor der Tauchbasis vorfuhr.
Andreas bedankte sich nochmals herzlich für die Fahrt und die Einladung. Er begrüßte die Tauchguides und Tauchlehrer, die schon da waren und sich am Ausgabetresen versammelt hatten. Dann ging er gemeinsam mit Anne und Farid, der noch leicht hinkte, in den Behandlungsraum hinter der Basis. Während sie sich die Verletzung an der Stirn des Ägypters ansah, schnitt Andreas vorsichtig den Verband am Bein auf und desinfizierte erneut die Wunde.
„Na bitte, Farid. Sieht doch gut aus“, meinte er zufrieden, „schon bald wirst du wieder tanzen können.“ Er holte eine Salbe aus dem Glasschrank und trug sie sacht rings um die Verletzung auf. „In ein paar Tagen können wir die Fäden ziehen und schon wirst du wieder herumspringen können.“
Anne übersetzte für Farid, was Andreas gesagt hatte, während er dessen Bein verband. Dabei musste er schmunzeln, als er hörte, dass sie es nicht wörtlich übersetzte, sondern noch einige Sätze hinzu mogelte.
Zu dritt verließen sie den Behandlungsraum.
Auf dem Weg nach vorn zur Terrasse wandte sich Andreas an Anne. „Ich habe gehört, du hast die letzte Nacht Hebamme gespielt. Wollen wir da heute das Tauchen lieber lassen, sondern nur rausfahren und die Sonne genießen? Du musst doch müde sein.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Woher weißt du das?“ Sie überlegte kurz. „Ja klar, Ali, das olle Plappermaul konnte seinen Stolz nicht verbergen, dass er das erste Mal Onkel geworden ist.“ Sie lachte herzlich auf, drehte sich Andreas zu und sah ihm in seine blauen Augen, als sie sagte: „Doch, ich möchte gern tauchen gehen, Andy. Sebastian hat bereits die Rebreather gebracht. Sie sind schon auf der >Amun Re<. Ich freue mich so darauf.“ Forschend, aber auch besorgt, wie es Anne erschien, schaute Andreas in ihr Gesicht, als könne er darin lesen. Schnell holte sie ihren Rucksack und den Sauerstoffkoffer und lud mit seiner Hilfe beides auf die Ladefläche des Pick-ups. Ali fuhr sie zum nahen Hafenbecken, wo die Crew der >Amun Re< schon auf sie wartete und ihnen beim Übersteigen half.
Der Neoprenanzug von Andreas war in der Nacht getrocknet, was er als angenehm empfand, denn er mochte es nicht sonderlich, in einen feuchten Anzug zu schlüpfen. Die beiden Kreislaufgeräte mit den bereits integrierten Westen waren sicher unter den Sitzbänken platziert.
Noch während die >Amun Re< ablegte, holte Andreas sein ganzes Zeug aus dem Jackett, was er darin hatte und verstaute es in den Taschen des Gürtels, welchen er aus dem Rucksack geholt hatte. Als Anne vom Oberdeck zurückkam, wo sie mit dem Kapitän den Kurs festgelegt hatte, legte er diesen gerade zu seinem Rebreather.
„Und wohin geht’s heute?“, wollte er wissen.
„Heute geht es nach Südosten“, gab Anne fröhlich zurück. „Ich möchte mir gern ein Riff ansehen, das weiter draußen liegt und noch nicht von uns betaucht wurde. Vielleicht könnte es ein neuer Tauchspot werden. Was meinst du?“
„Klar, warum nicht“, sagte er, „eventuell trägt das Riff ja dann schon bald deinen Namen.“
„Darum geht es mir nicht“, gab Anne ehrlich zu. „Ich möchte nur mal sehen, ob es sich lohnen würde, es anderen zu zeigen. Unsere Gäste sind verwöhnt. Wenn sie dreimal ein Erg oder Riff betaucht haben, denken die meisten von ihnen, schon alles gesehen zu haben. Dabei könnte ich täglich das gleiche Erg betauchen und würde immer wieder etwas Neues entdecken. Aber die Tauchtouristen sind nun mal so“, sagte sie, fast schon entschuldigend. „Sie glauben, ständig neue Plätze sehen zu müssen, um Neues entdecken zu können.“
Andreas wusste genau, was Anne meinte. Deshalb nickte er ihr zu und sagte: „Ich freue mich schon auf diesen Forschungstauchgang mit dir. Nur wenn du müde wirst, dann sage es bitte.“
„Das werde ich tun“, versprach sie und ging zurück aufs Oberdeck ans Steuer, um Rashid und Ahmed so ihr Gebet zu ermöglichen. Als Andreas zu ihr ans Ruder trat, erklärte sie ihm, dass die beiden Männer streng gläubige Muslime seien und sie gern ihren Glauben unterstützte. Er sah vom Oberdeck aus zum tiefer gelegenen Bug des Schiffes und sah den beiden bei ihrem Gebet zu.
Immer wieder verbeugten sie sich, sahen nach links und nach rechts, knieten nieder, legten die Stirn auf den Gebetsteppich am Boden, standen erneut auf, um sich abermals zu verbeugen und niederzuknien. Dabei murmelten sie leise ihr Gebet. An Anne gewandt sagte er: „Es ist gut, dass du so denkst und handelst. Ich bin der Meinung, Menschen brauchen etwas, an das sie glauben und an dem sie festhalten können.“ Dann sah er sie an, als er fragte: „Und, woran glaubst du selbst?“
Sie löste ihren Blick vom fernen Horizont und schaute ihm fest in die Augen. „Eigentlich an mich selbst und an meine Fähigkeiten.“ Nach einer kurzen Pause meinte sie noch: „Aber wenn es einen Gott da draußen geben sollte, dann urteilt er gleich über alle Geschöpfe, die er angeblich geschaffen hat, egal unter welchem Namen sie ihn auch anbeten mögen.“
Andreas fand diese Einstellung gut und konnte sich selbst damit identifizieren. Er konnte immer mehr Gemeinsamkeiten feststellen. Was ihm seine Mission nicht unbedingt leichter machte. Aber es bestärkte ihn darin, dass er das Richtige tat. Nämlich, diese Frau zu beschützen.
Als er den Auftrag angenommen hatte, war er sich zwar sicher, dass es notwendig war. Doch nun sah er wesentlich mehr darin. Er hatte eine Frau kennengelernt, die anders war als all seine Personenschutzaufträge je zuvor. In diesem Moment schwor er sich, wirklich alles für ihr Leben zu tun, auch wenn es sein eigenes kosten würde und das nicht nur, weil es sein Job war. Er nahm sich fest vor, Anne bei Gelegenheit reinen Wein einzuschenken und zu erklären, warum er da war. Auch, um sie dadurch vielleicht besser beschützen zu können.
Während er noch in Gedanken versunken war, kam der Kapitän aufs Oberdeck und übernahm wieder das Ruder. Andreas beobachtete, wie der Wind Annes Haar umspielte, als sie auf dem Weg nach unten war.
Er sah ihr noch immer nach, als Rashid sich auf Ägyptisch an ihn wandte. „Andy, ich weiß, dass du unsere Sprache verstehst und vielleicht auch sprichst. Ich verstehe nur nicht, warum du so tust, als sei das nicht der Fall. Ist auch nicht so wichtig. Aber sag mir, bist du wegen unserer Anne hier?“ Andreas war erstaunt darüber, dass der alte Kapitän bemerkt hatte, dass er die Sprache gut verstand. Schnell und ehrlich antwortete er mit, „eiyoua“, und fügte auf Arabisch leise hinzu, dass er zu ihrem Schutz hier sei, sie aber bitte noch nichts davon erfahren solle. Verständnisvoll nickte der Kapitän und fragte weiter, ob es etwas mit der Sache zu tun habe, wo vor einem halben Jahr hier im Roten Meer, in Ägypten Waffenschmuggler zur Strecke gebracht wurden. Wieder stimmte er zu und bewunderte die Kombinationsgabe des alten Mannes. Er bat ihn, auch darüber Stillschweigen zu bewahren. Gern stimmte Rashid zu und machte noch einmal klar, dass Anne eine sehr gute Freundin ist, für die sie durchs Feuer gehen würden. Dann bot er seine uneingeschränkte Hilfe an. Gern nahm Andreas dieses Angebot an und bat ihn, besonders auf fremde Boote zu achten. Nachdem der Kapitän ihm verstehend zugenickt hatte, klopfte er ihm dankend auf die Schulter und begab sich dann ein Deck tiefer in den Salon.
„Wie lange werden wir noch brauchen bis zu deinem geheimnisvollen Riff?“, wollte er wissen, als er Anne in eine Seekarte vertieft dort sitzen sah.
„Vielleicht noch eine halbe Stunde“, gab sie zurück, nachdem sie hinausgeschaut und sich kurz orientiert hatte. „Ich hoffe, du bist damit einverstanden, wenn es wieder ein Drift-Pick-up wird. Aber dort gibt es noch keine Ankerseile für das Boot. Laut der Karte ist es ein Erg, das wir leicht umrunden könnten. Seine tiefste Stelle liegt bei vierzig Meter. Aber mich interessiert hauptsächlich das Plateau hier im Osten“, erklärte sie. Dabei zeigte sie mit dem Finger auf die Karte. „Es liegt in einer Tiefe von circa zehn Metern und fällt weiter nach Osten auf zwanzig Meter ab.“
„Gut, dann nehmen wir uns mal das Erg ›Anne‹ vor“, meinte Andreas, nachdem er mit auf die Seekarte geschaut hatte. „Lassen wir uns einfach überraschen.“
Sie flocht ihr Haar wieder fest zu einem Seitenzopf zusammen und er trank noch ein paar Schlucke aus seiner Wasserflasche, um einer möglichen Dehydration des Körpers vorzubeugen. Für ihn wie auch für Anne war das selbstverständlich. Doch viele Urlaubstaucher vernachlässigten das permanent. Dabei sind sie sich nicht über die gefährlichen Folgen im Klaren. Aber das war kein Thema zwischen den beiden Tauchern, die dann gleich abtauchen wollten, um Neuland zu erforschen. Auch wenn sie wussten, dass sie mit dem eingestellten Gemisch in ihren Kreislaufgeräten tiefer tauchen könnten, machten sie sich eine maximale Tauchtiefe von zwanzig Metern aus. Sie wollten im Norden des Ergs beginnen, über das östlich gelegene Plateau tauchen und das Erg dann umrunden, um an der Nordspitze von der >Amun Re< wieder aufgenommen zu werden.
„Ich danke dir, Andy, dass du mir diesen Tauchtrip ermöglichst“, sagte Anne, während sie die Karte zusammenrollte. „Ich habe mir das schon so lange gewünscht. Das Erg habe ich bereits seit einiger Zeit ins Auge gefasst.“
Andreas nickte ihr nur zu. Er verstand die Frau. Schon oft hätte er sich Riffe und Ergs, an denen er entlang oder darüber hinweg getaucht war, gern näher besehen und erforschen wollen. Doch er hatte immer einen Auftrag und keine Zeit dafür. Nun gab ihm diese zierliche und überall so beliebte Frau, die er beschützen sollte, die Gelegenheit, das nachholen zu können.
Nachdem sie ihre Neoprenanzüge übergezogen hatten, legte er noch zusätzlich den bereitgelegten Gürtel um. Bevor ihm Ahmed in das Jackett mit dem Kreislaufgerät helfen konnte.
„Was ist das denn?“, wollte Anne wissen, als sie den Gurt bemerkte.
„Oh, nur dies und das, was man so braucht. Angefangen von der Zahnbürste bis zum Kamm und der Schreibtafel, wie einer Taucherboje. Eben alles, was Mutti gesagt hat, dass ich es dabeihaben soll, wenn ich in fremden Revieren stöbern gehe“, gab er witzelnd zur Antwort.
„Oh, ich hoffe, du hast da die Kondome nicht vergessen“, gab Anne wortgewandt zurück.
Auf diese Schlagfertigkeit von ihr war er absolut nicht gefasst und erwiderte es nur mit einem verlegenen Grinsen, worüber sie laut lachen musste.
Nacheinander gingen sie noch einmal gegenseitig den Check ihrer Ausrüstung durch und sprangen auf das Zeichen von Rashid hin ins Wasser. Nach kurzem Blickaustausch gaben sie Ahmed ihr Okayzeichen, ließen durch Ziehen an ihrem Schnellablass die Luft aus ihren Tarierwesten und tauchten langsam ab, wobei sie sich schon mithilfe des Kompasses orientierten.
Schnell fanden sie sich zur Nordspitze des Ergs, welches sie erkunden wollten. Die Strömung, so stellten sie fest, war fast null. Noch bevor sie das auf der Karte verzeichnete Plateau erreichten, trafen sie plötzlich und unerwartet auf eine Schule von Delfinen, die sich ihnen, da sie geschlossene Kreislaufgeräte benutzen, ohne jegliche Scheu neugierig näherten. Sie umkreisten die beiden Taucher, doch wie Andreas fand, schwammen sie immer wieder schnell in eine bestimmte Richtung davon und kehrten ebenso schnell zurück. Er zeigte Anne an, dass er gern dieser Richtung folgen möchte. Anne, die noch immer beeindruckt von dem nahen Kontakt mit den Delfinen Unterwasser war, gab ihr Okayzeichen und folgte wenige Flossenschläge hinter ihm. Sie sahen, wie die Tümmler ein einzelnes Tier der Gruppe umrundeten. Als sie noch etwas näher kamen, erkannten sie voller Entsetzten, dass dieser Delfin durch einen Gegenstand kurz vor seiner Schwanzflosse schwer verletzt zu sein schien. Beide sahen sich erschrocken an. Dann gab Andreas ihr das Zeichen zu warten und tauchte selbst auf die Tümmler zu. Wieder streckte er, wie schon tags zuvor bei der Schildkröte, die flache Hand aus. Einer der Delfine stupste nur leicht dagegen, danach ließ er den Taucher durch und er konnte zu dem verwundeten Tier schwimmen. Doch Anne drängten die anderen Meeressäuger mit ihren Körpern ab, als sie versuchte, zu Andreas zu gelangen. Sie konnte nur aus sicherer Entfernung, auf der sie die Delfine hielten, sehen wie er sich vorsichtig dem verletzten Tier näherte, dünne Gummihandschuhe überstreifte, die er aus einer seiner Taschen am Gurt gezogen hatte und dann das Tier sanft streichelte. Er geleitete den Delfin an die Wasseroberfläche, damit er Luft holen konnte, dann tauchte er mit ihm gemeinsam wieder ab. Sie beobachtete, wie er seinen Gürtel drehte, um an eine der hinteren Taschen zu gelangen. Er holte daraus eine Art Spritze hervor. Nur war hinter der Nadel nicht der übliche Spritzenkörper, sondern so etwas wie ein kleiner Ball. Andreas stach die feine Kanüle nahe der Wunde unter die Haut in die dicke Speckschicht des verletzten Tümmlers und drückte die Flüssigkeit aus dem Ballon langsam aus.
Anne folgte ihm, wie er wieder mit dem Delfin an die Wasseroberfläche zurückkehrte, damit sie auch nichts verpassen konnte. Er schwamm nun zu dem Kopf des Tieres und streichelte ihn liebevoll und beruhigend am Maul und zwischen den Augen bis hin zur Rückenflosse, Finne genannt. Ein anderer Tümmler kam heran, als wolle er seinem Gefährten Mut zusprechen. Andreas streichelte auch ihn kurz, mit den in Handschuhen steckenden Händen, die er trug, um die empfindliche Schutzhaut der Meeresbewohner nicht zu verletzen. Dann drückte er ihn sanft in Richtung Kopf des verletzten Tieres, wo der Tümmler auch blieb.
Sie beobachtete, wie sich Andreas nun dem Harpunenpfeil zuwandte, der den Delfin durchbohrt hatte. Wieder kramte er in einer seiner Taschen am Gürtel und holte eine Art kleiner Kneifzange hervor, womit er die Spitze des Pfeils abknapste. Dabei beruhigte er das Tier immer wieder, indem er es sanft streichelte. Er tauchte unter dem Delfin durch auf die andere Seite und tauchte mit ihm weiter ab. Sehr langsam und vorsichtig zog er den Rest des Pfeils aus dem Körper des Tiers. Das Wasser färbte sich augenblicklich rot vom Blut aus der Wunde. Wieder bewegte Andreas den Meeressäuger dazu, die Wasseroberfläche aufzusuchen. Anne konnte genau sehen, wie das Tier bereitwillig dieser Aufforderung nachkam und sich von dem Mann die Verletzungen behandeln, die Eintritts- und Austrittswunde nähen ließ.
Andreas gab dann dem verletzten Delfin noch eine weitere Injektion und sprühte etwas flüssiges Pflaster auf die beiden Wunden.
Anne sah das alles mit eigenen Augen, doch sie konnte es trotzdem nicht glauben. Wie Delfine in freier Wildbahn so reagieren konnten und vor allem aber, wie es Andreas verstand, mit ihnen umzugehen. Ja, sie glaubte sogar, dass er mit ihnen irgendwie kommunizierte.
Nachdem er die Behandlung abgeschlossen hatte und wieder mit dem kranken Delfin abtauchte, lösten sich zwei ausgewachsene Tümmler von der Gruppe und schwammen auf den Mann zu. Andreas umfasste vorsichtig ihre dargebotene Finne, und sie brachten ihn zurück zu seiner Partnerin außerhalb der kleinen Delfinschule. Dann schlossen sie sich ihrer Gruppe wieder an, die sich um den verletzten Delfin sammelten. Sie nahmen ihn schützend in ihre Mitte und schwammen, beide Taucher zurücklassend, davon.
Anne war so beeindruckt von dem, was sie gerade erlebt und gesehen hatte, dass es eine Weile dauerte, bis sie bemerkte, wie Andreas mit seiner Hand besorgt vor ihrem Gesicht hin und her wedelte. Sie wusste nicht, ob sie das nicht alles nur geträumt hatte. Vielleicht litt sie ja unter einem Tiefenrausch, dachte sie und schaute auf ihren Tauchcomputer, der aber nur fünf Meter Tiefe anzeigte. Dann sah sie den Rest des Harpunenpfeils in seiner Hand und sie wusste, dass es kein Traum gewesen sein konnte.
Sie konnte nicht anders, sie wollte den Tauchgang abbrechen und gab Andreas das Zeichen, dass sie auf gerader Strecke nach Norden zum Boot zurückkehren wollte. Er respektierte das sofort und sie kehrten gemeinsam um.
Doch auf halber Strecke kam ihnen eine Gruppe von Tauchern entgegen. Schnell reagierte Andreas und setzte sich so neben Anne, dass er sie damit versehentlich in die Riffwand drängte. Dabei blieb er immer auf Höhe der anderen Taucher und ließ sie nicht aus den Augen. Erst nachdem die Gruppe die beiden passiert hatte und ein Stück weg war, löste er sich wieder von Anne und blieb dann aber direkt neben ihr.
Sie bemerkte, wie er sich ab dem Moment immer wieder nach hinten drehte und die Gruppe weiter beobachtete.
Was war los mit diesem Mann, überlegte sie ärgerlich, weil sie sich bei seinem Drängen den linken Handrücken an einer Feuerkoralle verbrannt hatte. Er nähert sich jedem Tier ohne Scheu, aber scheint große Angst vor anderen Tauchern zu haben. Sie nahm sich vor, ihn deshalb zur Rede zu stellen, sobald sie wieder an Bord der >Amun Re< waren.
Bereits als sie an der zugeworfenen Leine hingen, rief Andreas Rashid auf Arabisch zu: „Was waren das für Taucher gerade? Wo kamen die her? Wo ist ihr Boot?“
Rashid antwortete ebenso schnell, während er mit Ahmed die beiden Taucher näher ans Boot heranzog, dass es wohl Taucher von einem Safariboot waren, welche die große Delfinschule entdeckt hatten und ihnen folgten.
„Na dann sollen sie es mal versuchen, da werden sie kein Glück haben“, gab Andreas, wieder auf Deutsch, zurück. Doch es war zu spät. Anne hatte sehr wohl gehört, dass dieser Mann nicht nur Arabisch verstand, sondern es auch perfekt sprach.
„Was läuft hier eigentlich?“, wollte sie, kaum wieder an Bord der >Amun Re<, wissen, noch bevor sie ihr Equipment abgelegt hatte. Andreas ließ den stählernen Rest des Harpunenpfeils aufs Deck fallen und fragte zornig. „Meinst du vielleicht das hier? Ich dachte, so etwas sei hier in der Gegend verboten. Es ist bestialisch.“
„Das wäre vielleicht meine dritte und vierte Frage gewesen!“, schrie sie ihn wütend an. Dabei hielt sie sich die von dem Nesselgift der Koralle verbrannte linke Hand vor ihrem Bauch und rieb sie unaufhörlich mit der anderen.
Kaum, dass er das bemerkte, machte er sofort einen Schritt auf sie zu und wollte sich die Hand ansehen. „Entschuldige bitte, das habe ich nicht gewollt“, sagte er. „Ich habe Salbe dafür. Ich hole sie gleich.“
Doch Anne zog die Hand trotzig weg. „Die habe ich selbst“, gab sie zur Antwort. „Ich will endlich wissen, was hier los ist. Du tust, als könntest du kein Wort Arabisch, dabei sprichst du es perfekter als ich. Du hast nur fünfzig verzeichnete Tauchgänge in deinem Logbuch, aber tauchst, als hättest du noch nie etwas anderes gemacht. Dein Kreislaufbrevet ist zehn Jahre alt und wenn andere Taucher auftauchen, entwickelst du eine regelrechte Psychose, Phobie oder noch besser gesagt Paranoia. Und zugegeben, was mich am meisten beeindruckt, du gehst mit den Tieren um und sie mit dir, als gehörtest du zu ihnen. Du trägst Narben, die ich zum ersten Mal vor einem halben Jahr und da auch nicht so viele auf einem Körper und in diesem Ausmaß gesehen habe. Ich sah so etwas zum ersten Mal, als ich zusammen mit Sebastian heimlich die Leute von der >Blue Sea< geholt und versorgt habe. Es sind doch Narben von Peitschenhieben? Da liege ich doch richtig? Nur warst du nicht mit auf der >Blue Sea<, daran würde ich mich erinnern. Und nun möchte ich von dir wissen, wie das alles zusammenpasst“, schrie sie den Mann wütend an.
Rashid und Ahmed verzogen sich vorsichtshalber still und leise aufs Oberdeck, als sie bemerkten, dass dicke Luft zwischen den beiden herrschte.
„Okay, okay.“ Andreas erhob, als Zeichen, dass er sich ergab, die Hände. „Ich schein wirklich nicht für verdeckte Einsätze geeignet zu sein. Da hat mein Boss wohl recht“, meinte er kleinlaut und grinste dann verlegen. „Aber könntest du dich erst einmal wieder beruhigen, dann schenke ich dir gern reinen Wein ein, auch wenn das eigentlich nicht so geplant war.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter. „Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal trocken legen und ich erzähle dir dann, bei einem Glas heißen Tee, was ich dir sagen kann und darf?“
Anne beruhigte sich nur langsam wieder.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, hob sie den stählernen Rest des Harpunenpfeils auf, den Andreas aus dem Körper des Tümmlers gezogen hatte, und dachte noch einmal über diese Aktion nach. Er konnte kein schlechter Mensch sein, wenn er so etwas tat und die Tiere ihm vertrauten. Anne hatte gelernt, auf den Instinkt von Tieren zu hören und ihnen zu vertrauen. Menschen, die ihr Kater nicht mochte, behandelte sie mit Vorsicht und sie war noch nie schlecht damit gefahren. Vielleicht sollte sie Andreas mal Miekosch vorstellen, dachte sie. Dabei wusste sie aber nicht, dass ihr Kater sich bereits mit diesem Mann angefreundet hatte, während sie den einen Abend ihre Bahnen im Pool geschwommen war.
Als sie in den Salon kam, saß da schon Andreas und stellte den fertig gebrühten Tee vor sie hin.
„Ich habe schon zwei Löffel Zucker reingetan. Genauso wie du es magst“, sagte er leise.
Auch darauf hat er geachtet, dachte sie, bedankte sich für den Tee und sah ihn ohne noch etwas zu sagen gespannt an.
„Okay“, meinte er und schlürfte von dem heißen Getränk, dann begann er zu erzählen: „Meine Narben rühren wirklich von Peitschenhieben her. Das hast du richtig erkannt. Ich war als verdeckter Ermittler im Einsatz, nur wusste keiner von uns, dass es Informanten in den eigenen Reihen gab. So flog ich schnell auf und sie haben mich geschnappt. Sie wollten aus mir weitere Informationen rausprügeln, die ich ihnen, weil ich nun mal auch trotzig und stur sein kann, nicht geben wollte. Ich wurde tagelang gefoltert, nicht nur mit einer normalen Peitsche, auch mit Glasfieberstäben, feinen Stahlpeitschen. Sie benutzten mich als Aschenbecher, um ihre Zigarettenkippen auszudrücken, verpassten mir Stromschläge und meinten es auch mit glühenden Eisenstangen gut mit mir. Eben alles, was den sauberen Herren in die Hände fiel, um ihre Fantasien auszuleben. Kurz bevor mich diese Kerle erschießen wollten, wo ich eh schon mehr tot als am Leben war, wurde ich befreit und ins Krankenhaus geflogen. Ich lebe also nur noch, dank der zehn mutigen Menschen, die du schon erwähnt hast. Mein Freund Steffen Körner fand bei dieser Aktion den Tod und der soll nicht umsonst gewesen sein, ebenso wenig wie der Tod der sieben Mitglieder des Forschungsschiffes >Blue Sea< und vieler anderer Menschen nicht. Steffen hat, zusammen mit den anderen der Gruppe, mit seinem selbstlosen Einsatz sehr viele Menschen gerettet. Ich wusste nicht, dass du auch an der Rettungsaktion für die Leute von der >Blue Sea< beteiligt warst. Damit hast also auch du mein Leben gerettet, danke. Denn dank ihnen wurden schnell die Waffenverstecke der Schmuggler ausgehoben und viele Festnahmen konnten erfolgen, wobei sie auch mich, angekettet, mehr tot als lebendig im Keller des Hauses eines hohen Beamten fanden.“ Er trank einen Schluck Tee, dann sprach er weiter: „Ich bin Mitglied einer Spezialeinheit von Kampfschwimmern mit Sonderaufträgen. Wir operieren weltweit. Ich besitze die höchste Ausbildungsstufe als Tauchlehrer und bilde auch selbst Kampfschwimmer aus. Meine dienstlichen Tauchgänge hatte ich in Klammer bei der Anmeldung mit hinter die fingierten Logbucheinträge gesetzt. Bei all diesen Tauchgängen hatte ich nie die Zeit dafür, mir die Schönheiten unter Wasser anzusehen. Gerade deshalb genieße ich die Tauchgänge mit dir ganz besonders“, gab er zu, dabei lächelte er Anne an.
Sie erinnerte sich schnell an die Zahl 6.736 und nickte ihm nun verstehend zu.
Dann sprach Andreas leise und ruhig weiter: „Wie du sicher weißt, wird dein Vater der oberste Richter bei der Verhandlung gegen die deutsche Gruppe der Waffenschieber sein, die gefasst werden konnten. Und du weißt auch, dass da ziemlich hohe Tiere mit weitreichendem Einfluss dabei sind. Darunter auch einer von denen, die meine Deckung haben auffliegen lassen und denen ich diese Narben verdanke.“ Aufmerksam sah er die Frau ihm gegenüber an, bevor er weitersprach: „Außerdem wird dein Vater auch für den Internationalen Gerichtshof auftreten. Aus sicherer Quelle wissen wir, dass abgesplitterte Gruppen eine Verurteilung dieser Kerle verhindern wollen, indem sie dich entführen und deinen Vater damit erpressen wollen. ... Damit das nicht passiert und wir auch diese bösen Jungs noch einsacken können, wurde ich losgeschickt. Und hier bin ich.“ Wieder machte er eine Pause, um etwas zu trinken, bevor er weitersprach: „Wir wissen, dass sie es auf dem Seeweg versuchen wollen und das nach Möglichkeit während eines Tauchgangs, damit es nicht so auffällt. Große Übergriffe können die sich nicht mehr leisten, das wäre für sie zu gefährlich, denn sie wollen ja nur dich haben. Die Kerle trauen sich nicht an Land, wahrscheinlich haben sie Angst vor dem ägyptischen Rechtssystem. Doch wenn sie ihr Ziel hier nicht erreichen, dann traue ich ihnen auch zu, dass sie es anders versuchen werden, deiner habhaft zu werden. Wir arbeiten hier mit den Behörden eng zusammen. Das ist eigentlich alles, was ich dir dazu sagen kann. Es tut mir sehr leid, wenn du meinetwegen in eine Feuerkoralle geraten bist. Es war ein Reflex, dich in sichere Deckung schieben zu wollen“, erklärte er noch entschuldigend zum Abschluss und sah Anne gespannt, ihre Reaktion abwartend, in die Augen.
Sie hatte Andreas nicht einmal unterbrochen. Auch jetzt, nachdem er seine Erklärung beendet hatte, war es lange still im Salon. Nur das Schlagen der Wellen gegen die Bordwand war zu hören.
„Nun ergibt vieles einen Sinn“, sagte Anne nach einiger Zeit noch immer nachdenklich. „Also wenn ich das Ganze jetzt richtig verstanden habe, so bist du so was wie mein Bodyguard und ich zugleich euer Lockvogel für den Rest der bösen Buben“, stellte sie trocken fest.
„Ja, so könnte man es auch sagen“, gab Andreas etwas unsicher zu.
„Und wie hast du das mit den Delfinen gemacht?“, wollte sie wissen.
„Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie gespürt, dass ich ihnen helfen kann. Diese Wesen sind für uns Menschen unergründlich. Keiner weiß, warum sie manchmal Leute vor dem sicheren Ertrinken retten oder so nahe an Schnorchler ran kommen und mit ihnen zu spielen scheinen. Sie verraten uns ihr Geheimnis nicht. Ich mag Delfine. Ich bin ihnen schon sehr oft bei meinen Unterwassereinsätzen begegnet. Einige haben mir sogar schon geholfen, einfach nur so. Nun hatte ich die Gelegenheit, diese Hilfe mal einem Tier dieser Art zurückzugeben“, antwortete er ehrlich.
„Woran meinst du, werden wir die Kerle erkennen?“, fragte Anne plötzlich.
„Welche Kerle meinst du?“, fragte Andreas, völlig aus den Gedanken gerissen, die noch bei dem Delfin waren. Als er sah, wie Anne mit den Augen rollte, sagte er: „Ach so, die meinst du. Ja, wenn ich das wüsste, wäre mir wohler in meiner Haut. Wir werden es wohl erst dann merken, wenn sie mich angreifen, um dich zu bekommen. Ich habe Rashid bereits gebeten, auf fremde Boote, die sich uns nähern, zu achten, die er selbst in der Gegend noch nicht gesehen hat. Das kann uns schon etwas weiterhelfen. Draußen auf See, wenn du genau hinsiehst“, sagte er und reichte ihr sein Fernglas, „kreuzt ein Schiff der ägyptischen Marine. Sie werfen immer ein Auge auf uns und sind sofort zur Stelle, wenn ich ihnen ein Zeichen gebe. Sie lösen sich mit dem ägyptischen Küstenschutz ab. Und um deiner nächsten Frage schon vorzugreifen, ja, ich spreche Arabisch. Es gehörte zu meiner Ausbildung, da ich viel in den arabischen Gebieten verdeckt eingesetzt wurde. Das ägyptische Arabisch gehörte zwar nicht mit zur Ausbildung, aber ich habe es für mich gelernt. Nun weißt du entschieden mehr, als du eigentlich wissen darfst“, gestand Andreas. Dann stand er auf, nahm Anne fest bei den Schultern, sah ihr direkt in die Augen und sagte: „Aber ich vertraue dir. Ich hoffe, du vertraust mir ebenso. Glaube mir, ich werde alles dafür tun, dich zu beschützen … und das nicht nur, weil es mein Job ist“, fügte er dann noch leise hinzu, dabei strich er ihr sacht über ihr noch feuchtes Haar.
Annes Gesicht war ernst und sie schien in Gedanken weit weg zu sein. „Weiß mein Vater von alledem?“, fragte sie dann leise.
Andreas schüttelte mit dem Kopf. „Nein, wir haben ihm nichts davon gesagt. Wir wollen ihn nicht verunsichern und damit ungewollt sein gutes Urteilsvermögen beeinflussen.“
„Gut“, sagte sie und nickte erleichtert. „Er darf hiervon auch nie etwas erfahren. Kannst du mir das versprechen?“
Wieder nickte Andreas. „Wir haben nicht vor, es ihm zu sagen. Und ich werde mein Bestes tun, dass es so bleibt. Das verspreche ich dir.“ Sie stellte ihr leeres Glas in die kleine Kombüse, ging aufs Deck und rief dem Kapitän auf Arabisch zu, dass er nach „Carlson´s Corner“ fahren solle, um dort festzumachen. Andreas kam ebenfalls aufs Deck und wollte von Anne wissen, was sie denn vorhabe. Schnell erklärte sie ihm, dass dieser ein etwas tieferer Tauchplatz ist und zumeist nur zum ersten Tauchgang von den Booten angefahren wird, dass sie auch langsam Hunger bekam und sie dort geschützter als hier an dem unbekannten Erg stehen würden.
„Damit das Essen wenigstens auf den Tellern bleibt und bei dem Wellengang nicht durch den Salon kullert, wie es hier der Fall sein würde. Außerdem brauchen die beiden Männer am Ruder auch mal eine Pause“, erklärte sie.
Er hatte ganz vergessen, dass sie nicht vor Anker gegangen waren, sondern Rashid das Boot immer noch versuchte auf einer Stelle zur Strömung zu halten.
Eine halbe Stunde später erreichten sie ihr Ziel und Andreas half mit an den Ankertauen, während sich Ahmed schon in der Kombüse zu schaffen machte. Nach dem Essen machten sie ihre Oberflächenpause, in der nun auch Anne öfter aufs Meer raus blickte und nach anderen Booten Ausschau hielt.
„Hast du nun Angst“, wollte Andreas wissen, als er es bemerkte.
Sie lächelte. „Sollte ich denn? Ich denke, du beschützt mich?“ Dann nach einer Weile sagte sie noch: „Nein, ich vertraue dir. Nur dachte ich, dass wir uns ablösen könnten. Ich kenne hier doch ein paar Boote mehr von den anderen Tauchbasen, als du.“
Nun musste auch er lächeln. „Ja, da hast du wohl recht. Und, was hast du nun vor? Fahren wir dann zurück?“, wollte er von ihr wissen. Forschend sah Anne den Mann an, der ihr sehr lieb geworden war. „Meinst du nicht auch, dass ich dann ein schlechter Lockvogel wäre? Ich dachte, ihr wollt die Kerle erwischen!? Ich auch. Nein, wir fahren zurück zu dem Erg. Ich will es mir nun endlich richtig ansehen. Was dagegen?“
„Nein, ganz und gar nicht“, gab Andreas zu. „Du bist eine sehr mutige Frau.“
Anne winkte nur ab und legte sich in die Sonne. Dabei war sie darauf bedacht, dass sie ihre linke Hand im Schatten behielt. Auf ihrem Handrücken hatten sich rote Flecken gebildet, die zu kleinen Erhebungen, wie die von großen Mückenstichen, heran wuchsen und in der Sonne schmerzlich wie Feuer brannten. Andreas tränkte ein Handtuch mit Essig, welchen er aus der Kombüse geholt hatte und legte das Tuch vorsichtig auf ihre Hand. Das brachte ihr Kühlung und erste Linderung gegen den brennenden Schmerz. Dann holte er die Salbe aus seinem Rucksack und verteilte diese ganz sacht auf dem betroffenen Handrücken.
Nach ihrer Pause fuhren sie zurück zu dem Erg und sie machten sich für ihren erneuten Tauchgang fertig.
„Hier, auch wenn es nicht üblich ist im Roten Meer“, sagte Andreas verzeihend lächelnd und reichte ihr ein Paar Neoprentaucherhandschuhe. „Aber ich glaube, es ist für dich sicherer, wenn du sie trägst, solange du mit mir Psychopathen tauchst.“
Anne musste laut lachen und entschuldigte sich für die Psychose, Paranoia und Phobie, die sie ihm in ihrer ersten Wut angedichtet hatte. Dankbar nahm sie die Handschuhe an und streifte sie sich über. Sie überprüften gegenseitig ihre Geräte und stellten sich, auf das Signal von Rashid wartend, für den Sprung bereit, auf die Taucherplattform.
Dieses Mal konnten sie das gesamte Erg ohne jeden Zwischenfall umrunden. Immer wieder staunten beide über die schönen Gorgonien, den Reichtum an Fischarten und Korallen. Sie hatten eine noch unberührte Unterwasserlandschaft vor sich und wurden nicht müde des Schauens und Staunens. Auf acht Metern Tiefe entdeckten sie eine niedrige Höhle. Anne leuchtete neugierig mit ihrer Unterwasserlampe hinein. In dieser Höhle tummelte sich ein großer Schwarm Glasfische. Kleine Putzergarnelen waren gerade damit beschäftigt einen Gelbflecken-Igelfisch von seinen Parasiten zu befreien und hatten dabei dem Anschein nach, ein wahres Festessen. Eine Gruppe Kurznasendoktorfische zogen an ihnen vorbei, als sie weiter tauchten. Verschiedene Arten von schön gezeichneten Papageifischen besiedelten das Erg. Große Gruppen von Rot Meer Wimpelfischen, Schwarzrücken Falterfischen, sowie Maskenfalterfischen mit den schönsten Korallen im Hintergrund gaben ein Bild ab, wonach sich jeder Unterwasserfotograf die Finger lecken würde. Anne und Andreas schien es so, als ob sie ein Paradies gefunden hätten. Gleich zweimal umrundeten sie das Erg in verschiedenen Tiefen und immer wieder entdeckten sie Neues und Schönes. Langsam tauchten sie in einer Tiefe von fünf Metern aus, sodass sie keinen extra Sicherheitsstopp machen mussten, als sie ins Freiwasser zurückkehrten, um von der >Amun Re< aufgenommen zu werden.
„Damit gibt es ein neues Highlight als Tauchspot im Roten Meer. Erg Anne. Ich gratuliere dir zu dieser Entdeckung“, sagte Andreas, kaum dass sie wieder an Bord waren. „Es ist ein wunderschönes Erg. Ich danke dir, dass ich es mit dir betauchen durfte.“
Anne bedankte sich für das Komplement, dann wurde sie nachdenklich und meinte: „Ich weiß nicht, ob es so gut wäre, das an die große Glocke zu hängen. Denn wenn es erst einmal regelmäßig betaucht wird und vielleicht auch Anfänger, die noch nicht richtig tarieren können, hierherkommen, wäre es schnell mit der Schönheit da unten vorbei. .... Ich denke, es wäre besser, ich lasse es als kleinen Geheimtipp für wirklich gute Taucher, die achtsam mit der Natur umgehen.“
Andreas gab ihr Recht. „Ja, man sollte sehr sorgsam mit einem solchen Schatz umgehen.“ Er lächelte sie an, während er ihr aus dem engen Neoprenanzug half. „Ich weiß, du wirst das Richtige tun.“
Ahmed hatte in der Zwischenzeit, als sie noch tauchen waren, einen Kuchen gebacken, den sie alle vier gemeinsam, mit einer Tasse Cappuccino dazu, den Anne aus Deutschland mitgebracht hatte, auf dem Oberdeck genießen konnten und dabei viel lachten. Sie sprachen nur noch ägyptisch miteinander, doch Andreas bat die beiden Männer, auf der Basis davon nichts zu erzählen, dass er ihre Sprache verstand und sprach. Gern versprachen sie es ihm und sicherten auch ihre Hilfe zu, bei dem, was er und Anne vorhatten.
„Ich bin sehr froh“, sagte er dann auf Deutsch an Anne gewandt, „dass du solche guten Freunde hast.“
„Es sind nicht nur meine Freunde“, gab sie lächelnd zurück, „sondern auch deine, Andy. Hast du das noch nicht bemerkt?“
Dann setzte sie sich ans Ruder und nahm Fahrt auf. Sicher steuerte sie das Boot an kleinen Ergs und Riffen vorbei, die nur schwach an der Wasseroberfläche zu erkennen waren. Andreas setzte sich neben sie und betrachtete sie von der Seite, während sich die beiden Ägypter am Heck des Schiffes, frisch gewaschen, ihrem Gebet widmeten.
„Du fährst die >Amun Re< sehr sicher“, stellte er nach einer Weile fest.
Anne erzählte ihm, dass sie vor zwei Jahren ihr Kapitänspatent für solche und etwas größere Boote gemacht hatte, die Chefs auf der Basis aber davon nichts wussten. Sie wollte es ihnen auch nicht sagen. Denn sie hatte den Schein eigentlich allein für sich gemacht. Nur Sebastian, von der Nachbarbasis, hatte sie davon erzählt, weil sie es jemandem erzählen musste, als sie den Schein endlich in ihrer Hand hielt. Deshalb hatte Sebastian sie auch um ihre Hilfe gebeten, als es darum ging, in der Nacht aufzubrechen, um die dreißig Menschen heimlich von der >Blue Sea< zu schaffen. Waffenschmuggler hatten sie als Tarnung für ihre schmutzigen Geschäfte benutzt und sie bestialisch behandelt. Ihm war damals ein Kapitän wegen Krankheit ausgefallen. Da er aber jedes Boot in dieser Nacht brauchte, rief er sie an, als sie gerade zu Bett gehen wollte. Sie berichtete ihm von der ganzen Aktion und den verletzten und verängstigten Menschen, die sie an Bord genommen hatte, um sie von dort wegzubringen. Und wie froh sie alle waren, endlich in Sicherheit zu sein, nachdem sie viele Wochen gequält und gedemütigt worden waren.
Gespannt lauschte er ihrer Erzählung über diese Nacht vor einem halben Jahr, wenige Tage vor Weihnachten. Er nickte ihr nur immer wieder verstehend zu und sah dabei das Funkeln in ihren Augen. Plötzlich drehte sie sich direkt Andreas zu und sah ihn ernst an.
„Andy, ich will den Rest der Kerle haben, die so etwas mit Menschen machen und ich werde alles tun, was du sagst, damit wir die kriegen“, sagte sie mit entschlossener Miene. Was Andreas in dem Moment sehr überraschte. Er hatte nicht damit gerechnet und konnte einfach nicht anders, als ihr Gesicht sanft in die Hände zu nehmen. Dann drückte er ihr, nahe dem Haaransatz, einen Kuss auf die Stirn.
„Das werden wir, Mädchen. Ich verspreche es dir.“ Dabei wischte er ihr sacht eine Träne weg, die ihr langsam die Wange herunterlief, weil der aufkommende Wind ihre Augen gereizt und gerötet hatte. Er schob ihr die Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif getragen hatte, vorsichtig als Schutz vor dem Wind, auf ihre Nase.
Andreas ging kurz unter Deck in den Salon. Er holte seine warme Fleecejacke aus dem Rucksack, ging damit wieder zu Anne und legte sie ihr um. Kurz darauf kam Rashid zurück und übernahm das Steuer wieder. Er lächelte dabei die beiden deutschen Freunde an und erkannte, noch bevor sie es selbst bemerkten, dass sich tiefe Gefühle zwischen den beiden entwickelten. Und er sah es gern. Er kannte Anne schon sehr lange und achtete auf sie, wie auf eine leibliche Tochter. Er versuchte sie von so manchen Männern fernzuhalten, die mit ihr als Tauchtouristen aufs Boot kamen und zudringlich wurden. Keiner war ihm recht. Doch diesen Andreas mochte er. Er hatte ihn vom ersten Moment an in sein Herz geschlossen. Der alte Kapitän hatte schon viel in seinem Leben gesehen und erlebt. Er konnte sich auf seine Menschenkenntnis verlassen.
Anne und Andreas gingen in den kleinen Salon, wo sie ihm die wärmende Jacke zurückgab und ihre eigene überzog. Sie packten schweigend ihre Sachen so weit zusammen und bedankten sich für den Cappuccino, den ihnen Ahmed gab, bevor er ein Glas hoch zum Kapitän brachte. Sie hatten noch gut eine Stunde Fahrt vor sich, als sie das Hupsignal vom Kapitän hörten. Schnell liefen sie zum Bug des Schiffes und sahen aufs Meer. Eine Schule Delfine tummelte sich in ihrer Bugwelle und begleitete das Boot.
„Wie mag es dem verletzten Tümmler gehen?“, fragte Anne, während sie dem Spiel der Delfine zusah.
Andreas trat neben sie. „Ich hoffe besser. Seine Familie wird sich um ihn kümmern. Mehr hätten wir für ihn nicht tun können“, antwortete er leise, rückte dabei näher an die Frau heran und legte seinen Arm um ihre Schulter. In dem Moment schossen zwei der Delfine aus dem Wasser, und platschten dann nach einem Salto kopfüber zurück. Lachend und Beifall klatschend honorierten Anne, Ahmed, Rashid und Andreas die Leistung der Meeressäuger, welche Spaß daran zu haben schienen, ihre Kunststücke zu zeigen. Ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die einzigartigen Wesen wieder im Meer, als wären sie nie da gewesen.
Anne und Andreas winkten Rashid dankend zu, dass er sie durch sein Signal über den Besuch der Delfine informiert hatte, dann gingen sie zurück in den Salon, um ihren Cappuccino auszutrinken.
Wieder war die >Amun Re< das letzte Boot der kleinen Flotte von der Basis, das im Hafenbecken festmachte. Sie verabschiedeten sich von Ahmed und Rashid und bestiegen den für sie bereitstehenden Pick-up, um zur Basis zu gelangen.
Anne ging nur kurz ins Office, um sich zurückzumelden, dann setzte sie sich zu Andreas in eine gemütliche Ecke, über der ein Ventilator rotierte und etwas kühlere Luft spendete. Denn die Sonne hatte die überdachte Terrasse der Basis über den Tag doch sehr aufgeheizt. Die beiden Taucher naschten Chips und Erdnüsse, tranken ihre Flasche Bier und beobachteten die anderen Leute auf der Basis. Immer wieder kamen befreundete Tauchlehrer auf sie zu. Sie unterhielten sich mit ihnen eine Weile, dann gesellten sie sich wieder zu ihrer Gruppe von Tauchern, die sie an diesem Tag begleitet hatten, auch wenn sie gern noch bei Anne und Andreas geblieben wären.
Allmählich leerte sich die Tauchbasis. Die Leute gingen zu ihren Hotels oder wurden dahin mit den basiseigenen Jeeps gebracht. Am Ende saßen alle Tauchlehrer und das Ehepaar, dem die Tauchbasis gehörte mit bei Andreas und Anne am Tisch. Beide erzählten von dem neuen Erg, welches sie betaucht hatten. Anne äußerte aber gleich ihre Bedenken, was dieses Erg anging und dass sie nicht wolle, dass es durch regelmäßigen Tauchtourismus zerstört werden sollte. All ihre Kollegen verstanden das und versprachen, >Erg Anne< nur selten und wirklich nur mit erfahrenen Tauchern anzufahren. Anne wusste, dass sie sich auf ihre Kollegen verlassen konnte. Sie alle liebten die Unterwasserwelt und würden nicht zulassen, dass sie sinnlos zerstört wurde. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sie sich voneinander. Die meisten stiegen in den bereitstehenden Kleinbus, der sie zu ihren Unterkünften, meist in WGs brachte, wo sie miteinander wohnten. Die Chefs nahmen in ihrem Jeep Rolf und Dirk ein Stück mit. Andreas stieg wieder zu Anne auf den Roller und hielt sich gut an ihr fest, als sie Gas gab und auf dem sandigen Weg hoch zur Straße beschleunigte.
Als sie Andreas vor seinem Hotel absetzte, sagte sie: „Also dann bis in einer Stunde, ich hole Dich dann hier wieder ab.“ Andreas schaute die Frau etwas verdattert an und fragte zurück.
„Wie meinst du das?“
„Na Ali hat dich doch auch für heute zur Feier, der Geburt des Sohnes seines Bruders, eingeladen? Oder willst du da etwa nicht mit hin?“
„Oh nein, ja doch. Ich hatte es ganz vergessen“, gab Andreas ehrlich zu und lächelte sie entschuldigend an. „Was trägt man eigentlich zu solch einem Fest und was soll ich mitbringen?“, fragte er unsicher. Anne besah sich den Mann von oben bis unten. „Komm so, wie du bist. Sie werden dich mögen. Also, in einer Stunde bin ich wieder da.“ Dann gab sie Gas, ließ ihn einfach stehen und reihte sich in den Verkehr ein, um schnell nach Hause zu kommen.
Andreas ließ sich an der Rezeption seinen Zimmerschlüssel geben und eilte nach oben, in die vierte Etage. Er duschte und rasierte sich, zog sich ein weißes Hemd und schwarze leichte, lange Hosen an, kämmte sein Haar und band es zu einem Zopf im Nacken zusammen. Kurz darauf hängte er seine nassen Sachen auf den Balkon zum Trocknen und wartete auf den verabredeten Anruf. Schon wenig später klingelte sein Handy. Er meldete sich und informierte seinen Gesprächspartner darüber, dass ihre Zielperson über alles Bescheid wusste und bereit war, sie zu unterstützen. Er wurde im Gegenzug davon unterrichtet, dass die Ägypter seinem Wunsch nachgekommen waren und einen Wachposten der Touristenpolizei in unmittelbarer Nähe des Hauses ihrer Zielperson postiert hatten.
„Ich habe keine Ahnung, ob es so gut ist, dass diese Frau alles weiß“, gab Jens Arend, sein Vorgesetzter, zu. „Aber es stimmt, eines der Boote von Sebi wurde von einer Frau gesteuert, auf die deine Beschreibung von ihr passt. Sie hatte sich um die Verletzten gekümmert. Ihr Auftreten war sicher und professionell, dadurch ist sie Pitt, Uwe und mir auch erst aufgefallen. Wenn du sagst, dass es Anne Kamp war, dann ist sie ja vielleicht so eine Art Romana Veit von unserer Gruppe von damals. Das wäre nicht schlecht. Passe bitte gut auf sie auf. Bussard Ende.“ Andreas trennte die Verbindung und erinnerte sich an diese Romana Veit, von der sein Chef gerade gesprochen hatte. Sie wurde ihm zwei Monate nach seiner Befreiung vorgestellt. Da war sie schon mit seinem alten Kameraden und Freund Ralf Richter verheiratet und sie hatten die Zwillinge seines gefallenen Freundes und ehemaligen Vorgesetzten Steffen Körner, adoptiert. Diese beiden, Ralf und Romana, hatten von sich aus die Aktion zur Befreiung der Besatzung der >Blue Sea< und der Meeresforschungsstation unter Einsatz ihres Lebens gestartet. Besonders ihnen hatte er sein Leben zu verdanken, auch wenn sie das zu Beginn ihrer privaten Rettungsaktion nicht wussten. Ja, er glaubte, dass Anne dieser Romana sehr ähnlich war. Denn Anne hätte sich auf dem Boot voller Angst verkriechen können, nachdem sie alles von ihm erfahren hatte. Doch sie hat es nicht getan, sondern ist wieder mit ihm tauchen gegangen und sie würde es auch morgen wieder tun. Als er auf seine Uhr sah, bemerkte er voller Schrecken, dass die Stunde schon fast um war. Schnell ging er noch einmal in sein kleines Bad, legte noch etwas Gesichtslotion nach und betrachtete sich abschließend im Spiegel. Er verschloss die Zimmertür hinter sich und eilte nach unten. Als er den Schlüssel an der Rezeption abgab, sah er, dass Anne bereits auf ihn wartete.
„Wow, und ich dachte immer, Männer müssten auf die Frauen warten“, begrüßte sie ihn etwas belustigt.
Schnell stieg er mit einem: „Sorry, ich hatte noch einen wichtigen Anruf“, zu ihr auf den Roller. Noch bevor Andreas richtig saß, gab Anne Gas und schwenkte in einer scharfen Kurve nach links weg, um in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Mit leichten Schlenkern umfuhr sie sicher jedes Schlagloch und die tiefer liegenden Schleusendeckel der Straße. Nach wenigen Minuten lenkte sie den Roller auf eine weniger befestigte Straße und sie kamen in ein Viertel, welches nichts mehr mit den hell beleuchteten und schmucken Hotelvierteln an der Hauptstraße zutun hatte. Hier gab es armselige, windschiefe Wellblechbaracken neben, wie es schien, im Rohbau befindlicher Betonklötzer.
„Hier leben viele der Ägypter, welche die Touristen täglich von früh bis spät und immer mit einem netten Lächeln bedienen“, sagte Anne laut erklärend, um die Geräusche des Motors ihres Rollers zu übertönen. Dann bogen sie auf einen hell erleuchteten Platz ab, wo Anne rechts neben einem niedrigen Gebäude anhielt und den Motor abstellte.
„Wir sind da“, sagte sie und wartete geduldig, bis ihr Sozius abgestiegen war. Sie bockte den Roller auf, nahm den Helm ab und ihr blondes, langes Haar viel offen über ihre Schultern und umschmeichelte ihren Körper. Anne legte ihren Helm auf die Sitzbank und steckte mit wenigen Handgriffen ihr Haar zu einer schönen Frisur hoch.
„Willst du nicht den Schlüssel abziehen?“, fragte Andreas etwas verwirrt, als er bemerkte, wie Anne einfach losgehen wollte, obwohl der Schlüssel noch im Zündschloss steckte.
„Wir sind hier nicht in Deutschland“, sagte sie ihn anlächelnd, „Hier beklaut man seine Nachbarn und Freunde nicht.“ Erst jetzt sah Andreas, dass die Frau ein wunderschönes und dennoch schlichtes, rotes Kleid mit feinen Stickereien darauf trug, welches bis zu den Knöcheln reichte und ihre Schultern und Arme spielerisch mit feiner Seide umhüllten.
„Du siehst zauberhaft aus“, gestand er bewundernd.
Anne reichte Andreas ihre Hand, die er gern ergriff und sie gingen gemeinsam auf den hell erleuchteten Festplatz zu. Wie es Andreas vorkam, hatten sich wohl die Ägypter von halb Hurghada versammelt und tanzten fröhlich. Er sah da viele bekannte Gesichter, von den Angestellten der Tauchbasis bis hin zu Angestellten aus dem Hotel, wo er untergebracht war. Auch Rashid und Ahmed von der >Amun Re< konnte er entdecken. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, kamen sie fröhlich auf sie zu und begrüßten sie herzlich. Schnell wurde Anne von den, teils auch verschleierten, Frauen in Beschlag genommen und Andreas wurde von den Männern umringt.
„Ja, mein Freund, so ist es hier“, hörte Andreas eine vertraute Stimme hinter sich sagen. Als er sich umdrehte, stand da sein alter Freund und ehemaliger Kampfgefährte Sebastian Rothe hinter ihm. Andreas betrachtete den Mann, den er gute drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, von oben bis unten, und wenig später lagen sich die beiden Freunde in den Armen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern.
„Ich sehe, du bist mit Anne gekommen“, stellte Sebastian fest. „Dann verbrenne dir mal nicht die Finger.“
„Ich glaube, die Warnung kommt zu spät, mein alter Freund“, gab Andreas zu, während beide auf die Frau in Rot schauten, die da in einer Gruppe von Frauen stand und mit ihnen lachte.
„Nicht dass ich unhöflich sein möchte oder dir einen Urlaub hier nicht gönne“, sagte Sebastian ernst und fragte, „Also, warum bist du hier? Hat es etwas mit ihr zu tun?“, dabei zeigte er leicht mit dem Kopf in Richtung der Frau. Andreas nahm seinen Freund beim Arm und zog ihn etwas aus dem Getümmel in eine ruhigere Ecke.
„Ja, es hat etwas mit ihr zu tun und ich bräuchte dabei deine Hilfe“, antwortete er und erzählte seinem Freund die ganze Geschichte.
„Und Bussard ist damit einverstanden, dass ich als Zivilist mitmische?“, wollte Sebastian zum Abschluss wissen.
„Ja, er hat mir freie Hand gelassen. Es ist meine Entscheidung“, antwortete Andreas ehrlich.
„Und Anne weiß Bescheid, was da gespielt wird?“ Auch das bejahte Andreas und sah wieder zu der schönen Frau, die sich zwischen den anderen Frauen gut zu amüsieren schien. Auch Anne sah immer wieder zu den beiden Männern herüber, die sich sehr ernst unterhielten.
„Gut, dann bin ich dabei“, teilte Sebastian seine Entscheidung mit. „Wir werden das Kind schon schaukeln. Wird Zeit, dass mal wieder Leben in die Bude kommt.“ Fest drückten sich die beiden Freunde die Hand, dann mischten sie sich wieder unter die feiernden Ägypter.
„Schau mal da drüben neben Anne die Frau in dem blauen Kleid.“ Dabei zeigte Sebastian in die Richtung der Gruppe von Frauen. „Das ist meine Kim. Wir haben vor zwei Monaten geheiratet.“
„Hey, gratuliere alter Kumpel“, sagte Andreas und schlug seinem Freund anerkennend auf die Schulter.
„Lass uns zu den beiden Frauen gehen, ich stelle Dich meiner Kim gern vor.“
Auf dem Weg dahin bemerkte Andreas, dass sein Freund überhaupt nicht mehr hinkte. Jemand, der nichts von seiner Unterschenkelamputation wusste, wäre es überhaupt nicht aufgefallen.
„Mensch Alter, du läufst ja in der Zwischenzeit richtig gut mit deiner Prothese, oder ist das Bein nachgewachsen?“, sagte er anerkennend zu Sebastian.
„Manchmal kommt es mir auch so vor. Da juckt der große Zeh, obwohl ich weiß, dass er doch gar nicht mehr da ist und ich erwische mich dabei, an der doofen Plastikwade zu kratzen“, antwortete Sebastian lachend.
Als Anne und Kim sahen, dass die beiden Männer auf sie zukamen, lösten sie sich aus der Gruppe der anderen Frauen und gingen ihnen ein Stück entgegen.
„Oh ja, deine Kim ist eine Zierde für jeden Garten“, sagte Andreas zu seinem Freund, der sie gerade miteinander bekannt gemacht hatte. Andreas deutete einen Handkuss an „Halten Sie ihn gut fest und die Zügel ruhig etwas straffer, das braucht der Kerl“, flüsterte er der schönen Frau zu, wofür er sich sofort eine saftige Kopfnuss von Sebastian einfing und alle vier lachten laut darüber.
In diesem Moment trat Ali mit seinem Bruder Kalif aus dem Haus. Fatima, die das Baby auf dem Arm trug, hatten sie in ihre Mitte genommen. Kalif dankte den Gästen, dass sie alle gekommen waren, um die Geburt seines ersten Sohnes Jamal zu feiern.
„Und jetzt kommt das Ritual, an das ich mich nie gewöhnen werde“, sagte Anne leise und Kim nickte ihr bestätigend zu.
Andreas sah seinen Freund fragend an.
„Ja mein Großer, hier wird zu Ehren des Kindes ein Lamm geschlachtet, ebenso wie bei Schiffstaufen, Hochzeiten und so weiter. Aber bei ebendiesem Brauch ist mir Kim vor einem Jahr quasi direkt in die Arme gefallen und wir haben uns noch am selben Abend verliebt“, erklärte Sebastian seinem Freund dieses Ritual und flüsterte er ihm leise zu: „Sei einfach bereit.“ Dabei richtete er seine Augen vielsagend in Richtung der beiden Frauen. Wieder sah Andreas seinen Freund fragend an. Dieser grinste nur und meinte: „Du wirst schon sehen.“
Drei Ägypter führten ein kleines, ängstlich blökendes Lämmchen auf den Platz. Sie wünschten dem neuen Erdenbürger lautstark ein langes und glückliches Leben, dann griff einer der Männer zu einem Dolch, schnitt dem Tier mit einer gekonnten Bewegung die Kehle und Halsschlagader durch und sie hängten es zum Ausbluten auf. Noch bevor der Ägypter das Messer ansetzte, wandten sich die beiden Frauen ab. Anne verbarg ihr Gesicht, sichtbar entsetzt an die Brust von Andreas, um das Schauspiel nicht sehen zu müssen. Anfangs war er überrascht, doch dann legte er noch immer etwas zögerlich seine Arme beschützend um die zierliche Frau. Auch Kim wurde von ihrem Mann schützend in die Arme genommen.
„Na, sagte ich es dir nicht, Kumpel“, meinte Sebastian leise, dabei grinste er seinen Freund an und zwinkerte ihm zu.
Die Einheimischen aber klatschten und wünschten lautstark dem Kind ein langes, glückliches Leben. Zu rhythmischen Trommelklängen tanzten sie um die jungen Eltern mit ihrem Baby. Während die drei Männer das Lamm fachgerecht häuteten, ausnahmen und über dem Feuer an einem Spieß anbrachten, würzten und langsam zu drehen begannen, reichten Frauen den Gästen Tee.
„Okay Schatz, kannst wieder gucken, es ist vorbei“, sagte Sebi zärtlich zu seiner Frau und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch Andreas löste seine Arme, die er um Anne geschlungen hatte. Dabei sah er wie ihm der alte Kapitän, der >Amun Re< freundlich lächelnd zuzwinkerte. Andreas nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und schaute tief in ihre Augen, aus denen eine Träne kullerte. Dabei lächelte sie ihn aber an.
„Wieder alles Okay, mit dir?“, fragte er leise. Sie nickte ihm dankbar zu. Ägypter kamen auf die vier Freunde zu und zogen sie fröhlich singend und tanzend mit in ihren Kreis. Sie gehörten einfach mit dazu und wurden als Familienmitglieder behandelt. Kalif kam mit seiner Frau Fatima und dem kleinen Jamal auf Anne zu. Sie verbeugten sich als Dank für ihre Hilfe vor ihr. Dann gaben sie ihr das Baby in den Arm. Anne küsste es zärtlich auf die Stirn und wünschte dem Kind auf Arabisch alles Glück auf Erden, dass er ein großer, stattlicher Mann werden möge, der seinen Eltern viel Freude beschert. Kalif und Fatima bedankten sich für die guten Wünsche. Sie baten Anne, die Patin für ihren Sohn zu werden. Das bedeutete in dieser Kultur sehr viel für einen nicht zur Familie gehörenden Fremden, der noch dazu aus einem anderen Land kam und nicht ihrer Religion angehörte. Anne nahm die große Ehre dankend an und verneigte sich vor den Eltern des Jungen. Wieder klatschten die ägyptischen Gäste begeistert und ließen Anne mit dem Baby in ihrem Arm hochleben. Die Frauen zogen sich danach gemeinsam mit ihr in das Haus zurück, um das Kind schlafen zu legen, welches nun lauthals zu schreien begonnen hatte.
„Damit ist Anne nun bereits das fünfte Mal Ehrentante geworden“, erklärte Sebastian seinem Freund. „Keine Sorge, mein Großer, sie wird schon in wenigen Minuten wieder bei uns sein. Nur Fatima und ihre Mutter werden bei dem kleinen Hosenscheißer bleiben“, fügte er dann noch erklärend hinzu, als er bemerkte, wie Andreas Anne nachsah.
Die Männer mischten sich mit unter die Gäste, lachten und tanzten mit ihnen. Dann wurde das Lamm angeschnitten und gerecht an alle verteilt. Andreas nahm einen zweiten Teller und brachte ihn zu Anne, die mit den Frauen etwas abseits stand. Sie setzten sich mit den anderen auf eine der Decken, die rund ums Feuer gelegt wurden, und ließen sich das zarte Fleisch schmecken. Immer wieder wurde gelacht, erzählt, musiziert und gesungen. Man rauchte Wasserpfeife, trank Kaffee, Tee oder Wasser und Musikanten spielten alte ägyptische Lieder, bei denen viele mit sangen. Kinder tollten umher und bezogen gern die Gäste in ihr Spiel mit ein. Anne ging kurz zu ihrem Roller, schloss das Sitzfach auf und brachte einen großen Stoffbeutel zum Vorschein. Damit kam sie wieder zu den anderen zurück. Neugierig geworden kamen die Kinder zu ihr gelaufen und umringten sie. Anne schüttete den Inhalt des Beutels auf eine der Decken und ging schnell ein Stück zur Seite. Viele bunt verpackte Bonbons, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte und kleine Schokoladenfiguren, die in Silberfolie eingepackt, Käfer und andere lustige Figuren darstellten, fielen zur Freude der Kinder durcheinander auf die Decke. Lachend liefen sie mit ihrer Beute zu ihren Eltern, um sie ihnen zu zeigen. Ein kleines Mädchen stellte sich vor Andreas und zupfte ihm am Hemd. Als er sich zu ihr herunterbeugte, zeigte sie ihm einen solch eingepackten Schokoladenkäfer.
„Das ist Amira“, erklärte ihm Anne, „sie möchte, dass du ihr beim Auspacken der Schokolade hilfst. Sie traut es sich nicht allein.“
Andreas setzte sich auf die Decke, hob das Mädchen sacht auf seinen Schoß und zeigte ihr, wie sie das Silberpapier aufbekam. Schnell schob Amira freudestrahlend die Leckerei in ihren Mund, gab ihm, zu seinem großen Erstaunen, einen Kuss auf die Wange und rannte mit dem glänzenden Papier zu ihrem Vater, der den Käfer wieder heil machen sollte. Dann steckte sie das leere, vom Vater zusammengefaltete bunte Silberpapier vorsichtig in die Tasche ihres Kleidchens.
Sie winkte Andreas noch einmal zu, bevor sie wieder zu den anderen Kindern lief.
„Wow, das ging aber schnell. Kaum hier im Land, da hat der Kerl schon eine heimliche Verehrerin“, witzelte Sebastian.
„Ja, die Mädchen haben eben Geschmack“, gab Andreas lachend zurück und winkte der kleinen Amira zu, als sie ihn wieder verschmitzt zulächelte.
„Ist schon komisch“, sagte dann auch Anne. „Amira ist sonst eigentlich eher schüchtern und sehr zurückhaltend gegenüber Fremden.“
Bis weit nach Mitternacht ging die Feier. Dann verabschiedeten sich die vier Freunde herzlichst von den Gastgebern und machten sich auf den Heimweg. Anne setzte Andreas vor seinem Hotel ab und wünschte ihm eine gute Nacht.
Als der Mann die Treppen zu seinem Zimmer hochstieg, war er noch immer in Gedanken bei den freundlichen Menschen, mit denen er einen so netten Abend und die halbe Nacht verbracht hatte. Er nahm sich eine Flasche Stella aus der Minibar des Kühlschrankes und setzte sich auf den Balkon, wo er die Beine auf den Tisch legte, in die Sterne schaute und dabei sein Bier trank. Dann stellte sich bei ihm die Müdigkeit ein und er entschied sich, ohne noch einmal zu duschen, ins Bett zu gehen.
„Anne, der Mann versteht was vom Steuern eines Bootes“, rief Rashid laut, den Wind übertönend, der Tauchlehrerin auf Arabisch zu, als sie gerade aufs Oberdeck kam.
„Was kann der eigentlich nicht?“, fragte sie sich leise, sodass es keiner hören konnte. Dieser Mann gab ihr ein Rätsel nach dem anderen auf. Und je geheimnisvoller er wurde, desto anziehender wurde er für sie. Wer und was war dieser Mann? Außer seinen Namen und der wenigen Einträge im Logbuch wusste sie nichts von ihm. Solche Fragen hatte sie sich nie zuvor bei einem der Tauchtouristen gestellt und sie hatte schon viele als Guide und Tauchlehrerin begleitet. Aber es war auch nie so von Interesse für sie, wie bei diesem Mann. Immer wieder musterte sie ihn heimlich durch ihre dunkle Sonnenbrille und fühlte sich von ihm angezogen. Dabei störten sie die Narben nicht.
Was sie nicht wusste, auch er beobachtete sie aus seinem Augenwinkel, wie sie schräg vor ihm, im Windschatten der Aufbauten, zu schlummern schien, während er die >Amun Re< steuerte.
Als er wieder übers Meer zum Horizont schaute, entdeckt er in der Ferne ein Schiff. Dieses hatte aber nicht den weißen Anstrich der hier üblichen Taucherboote. Unter dem Vorwand, auf Toilette zu müssen, übergab er Rashid wieder das Ruder und bedankte sich dafür, dass er das Boot steuern durfte. Doch er wollte nicht wirklich zur Toilette, sondern lief in den Salon, holte ein leistungsstarkes Fernglas aus seinem Rucksack, ging damit auf die Steuerbordseite, um von da aus nach dem fremden Schiff Ausschau zu halten.
Zufrieden lächelnd nahm er das Glas schon nach kurzer Zeit wieder von den Augen.
Vor Schreck zuckte er innerlich zusammen, als unerwartet Anne neben ihm stand. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
„Gibt es da etwas Interessantes zu sehen?“, wollte sie wissen.
„Ach nein, nichts“, wich er ihrer Frage aus. „Ich dachte nur, ich hätte da hinten Delfine gesehen. Aber da war nichts.“
„Komm, wir müssen uns langsam fertig machen, Rashid steuert das Boot an eine geschützte Stelle, damit wir uns in Ruhe umziehen können“, sagte sie.
Komplett aufgerödelt standen sie auf der Taucherplattform, als Anne das Zeichen an den Kapitän gab. Die >Amun Re< nahm wieder Fahrt auf, um den Absprungpunkt für die beiden Taucher zu erreichen. Sie hielten sich an der hochgezogenen Sprossenleiter fest, um bei dem starken Wellengang nicht über Bord zu gehen, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Nach zehn Minuten wildem Ritt auf den Wellen, drehte der Kapitän bei und gab wenig später ein Hupsignal, woraufhin beide Taucher von der Plattform sprangen und nach einem kurzen Okay-Zeichen schnell abtauchten.
Gemächlich ließen sie sich von der Strömung am Riff entlang treiben und entdeckten dabei immer wieder zwischen den Korallen wunderschöne Feuerstrahlenfische, Riesenmoränen und Schwärme von Sardinen, die von vier Makrelen gejagt wurden. Unerwartet für Anne stoppte Andreas und drehte sich gegen die Strömung. Er hatte einen seltsamen kleinen Fisch entdeckt. Er sah aus wie eine schwimmende Schießscheibe, ganz in den Farben blau, weiß und schwarz gehalten, wobei das Blau dominierte. Schnell holte er wieder seine Schreibtafel hervor und schrieb „Was ist das?“, und reichte sie an Anne weiter. Sie klatschte anerkennend in die Hände und schrieb zurück: „Du hast ein Baby vom Imperator-Kaiserfisch entdeckt. Gratuliere, sieht man nur selten.“ Lächelnd gab sie ihm die Tafel zurück. Noch eine Weile beobachteten sie den kleinen Fisch, dann ließen sie sich von der Strömung weitertreiben.
Dieses Mal war es Anne, die an der Flosse ihres Buddys zog und sich als erste gegen die Strömung legte. Schnell drehte sich Andreas um und sah sie fragend an. Sie wackelte mit ihrem gebeugten Zeigefinger, als Zeichen für einen Anglerfisch, dann zeigte sie in die Richtung, wo der Winzling saß. Doch er konnte ihn nicht entdecken. Langsam schwamm sie näher an den Fisch heran und legte vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken, ihre offene Handfläche hinter den Anglerfisch, sodass er damit keine Tarnung durch den Hintergrund mehr hatte. Nun sah auch Andreas das kleine, putzig wirkende Wesen und gab seiner Begleiterin das Okay-Zeichen, dass er den Anglerfisch sah. In diesem Moment löste sich das gerade einmal sechs Zentimeter große Tier von der schützenden Koralle und trieb mit der Strömung direkt auf Anne zu, wo es sich auf ihrem Jackett niederließ und festzukrallen versuchte. Beide lächelten sich an und beobachteten den Fisch, der keine Anstalten zu machen schien, seinen neuen und bequemen Platz wieder aufgeben zu wollen.
„Was nun?“, fragte Anne, indem sie ihre Schultern nach oben zog. Andreas empfand es als zusehends lustig, wie sich der unscheinbare Kobold an ihr Jackett klammerte.
Du hast recht, mein Freund, dachte er, würde ich auch gern tun. Du hast einen guten Geschmack. Dann zog er seine Schreibtafel hervor und schubste den kleinen, anhänglichen Kerl vorsichtig mit dem Stift auf die Tafel und setzte ihn zurück auf eine Koralle. Auf die er, wie es schien, nur sehr ungern kletterte.
Sie winkten dem Anglerfisch zum Abschied noch einmal zu und ließen sich von der Strömung weiter treiben. Immer wieder entdeckte der eine oder andere von ihnen etwas Interessantes, was sie sich in aller Ruhe betrachteten. Dann wandte sich Anne zu ihrem Buddy um und zeigte ihm die Faust. Es war das Zeichen dafür, dass sie nur noch fünfzig bar Luft in ihrer Flasche hatte. Andreas gab ihr das Okay-Zeichen und wies Richtung Osten ins Freiwasser, wo sie langsam bis auf fünf Meter, für ihren Sicherheitsstopp, aufstiegen. Anne holte ihre Boje aus der Jacketttasche, rollte sie aus, nahm ihren Oktopus aus der Halterung und füllte den ein Meter langen und fünfzehn Zentimeter breiten, signalroten Plastikschlauch mit Luft, indem sie die Munddusche des Mundstücks drückte. Langsam ließ sie die Boje nach oben steigen und hielt dabei die Schnur straff. Noch während sie ihren Sicherheitsstopp von drei Minuten machten, hörten sie das Geräusch eines näherkommenden Bootsmotors. Als sie langsam auftauchten, war die >Amun Re< etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt und kam näher. Ahmed, der Bootsjunge, warf ihnen gekonnt ein Seil zu, an dem sie sich festhielten, während er sie zum Boot zog. Schnell, immer eine Welle nutzend, stiegen beide, Andreas als Erster, nacheinander die Leiter zur Plattform hoch. Er beugte sich über Anne, packte die Pressluftflasche unterhalb der ersten Stufe und zog sie leicht nach oben, um ihr an Bord zu helfen. „Wow, das war ein superschöner und entspannter Tauchgang“, meinte er, während sie ihre leeren Nitroxflaschen gegen die Vollen austauschten und durchcheckten.
„Das kann ich nur bestätigen“, erwiderte sie noch etwas atemlos.
„Ich wusste gar nicht, dass du da unten so enge und anhängliche Freunde hast“, spielte Andreas auf den Anglerfisch an.
„Na was“, gab sie schlagfertig zurück, „deine kleinen Liebschaften mit dem Oktopus und der Schildkröte gestern waren ja auch nicht ohne.“
Woraufhin er Anne nur schelmisch angrinste.
Sie halfen sich gegenseitig aus ihren Anzügen. Als sie in den Salon kamen, um sich ihre Badetücher zu holen, war da schon der Tisch gedeckt und zwei Teller standen für sie bereit.
„Du, sag mal, warum essen die beiden nicht mit uns?“ , frage Andreas, dabei rubbelte er sich die Haare trocken.
„Die Bootsbesatzungen essen immer erst nach den Gästen“, erklärte Anne. „Ist hier so üblich und außerdem auch eine Anweisung von den Chefs.“
„Aber die sind nicht an Bord. Und von mir werden sie es nicht erfahren“, meinte er. „Ich möchte, dass die beiden mit uns gemeinsam essen. Wir sind doch hier eine Crew. Ich mag solche Unterschiede in der Behandlung nicht“, begründete er seine folgende Bitte. „Könntest du sie einfach fragen und mit zu uns zum Essen holen? Mir würde es gefallen und gleich noch einmal so gut schmecken.“
Diesem Wunsch kam Anne sehr gern nach. Ihr gefiel seine Einstellung. Nachdem sie sich umgezogen hatte, stieg sie aufs Oberdeck und rief die beiden Ägypter mit zum Essen. Erst sträubten sich die Männer noch etwas, doch dann freuten sie sich über diese Einladung und kamen gern mit nach unten.
Weil Andreas, wie sie glaubte, nichts von der Sprache verstand, übersetzte Anne im Gespräch immer grob das Wichtigste. Alle vier lachten viel. Die ganze Atmosphäre an Bord der >Amun Re< war entspannt und basierte auf gegenseitiger Achtung und Freundschaft. So mochte es Andreas Wildner am liebsten und fühlte sich sichtlich wohl. Nach diesem Essen wusste er, dass er sich auf diese kleine Crew verlassen konnte und sie da wären, wenn er sie vielleicht bräuchte. Schnell hatte er bemerkt, in welchem guten Verhältnis sie zu Anne standen, ebenso wie er es von Ali, dem Fahrer, schon gehört hatte, der ihn morgens vom Hotel abholte. Diese Männer mochten und achteten sie, sahen in ihr eine wirklich gute Freundin, die ihnen half, wo immer es nötig war, die sie mit Respekt behandelte und ihre Sitten und Bräuche achtete. Diese Frau schien für sie wie ein kostbares Gut zu sein, was viel zu bedeuten hatte bei ihrer Religion und Erziehung. Das spürte Andreas deutlich und er verstand diese Männer.
Bevor er diesen Auftrag angenommen hatte, studierte er ihre gesamte Biografie. Er wusste vieles über ihr Leben. Doch nun, wo er sie kennenlernen durfte, erschien alles in einem ganz anderen Licht. Er hatte begonnen, diese Frau zu bewundern und zu schätzen, was sie tat. Da war nichts davon zu merken, dass sie die Tochter eines hohen und angesehenen Richters war. Sie hätte, weiß Gott, ihr Geld nach ihrem Studium leichter und besser verdienen können. Stattdessen arbeitete sie unscheinbar auf einer kleinen, aber zugegeben gut gehenden Tauchbasis als Tauchlehrerin, was sicher kein Zuckerschlecken war. Sie half den Einheimischen, so gut sie konnte, mit ihren eigenen Mitteln. Er wusste, dass sie mit dem, was sie schwer verdiente, ägyptische Familien unterstützte und sogar Arztrechnungen für Angestellte beglich. Dabei war sie aber bodenständig geblieben, ohne Dank zu erwarten oder eine Gegenleistung zu verlangen. Diese Frau schien sich in diesem Land mit seinen Menschen wohlzufühlen und war stets gern bereit, ihren Freunden zu helfen.
Im nächsten Moment wurde Andreas aus seinen Gedanken gerissen, denn Anne sprach ihn direkt an. „Andy, was hältst Du von einem weiteren Drift-Pick-up?“, wollte sie wissen. „Rashid meint, da sich die See etwas beruhigt hat, könnten wir noch ein Stück weiter nach Norden zum Manta Point fahren.“
„Aber ist es nicht eher ungewöhnlich, beim zweiten Tauchgang noch weiter nach Norden zu fahren? Da ist der Rückweg zur Basis und zum Feierabend der beiden doch weiter entfernt“, entgegnete er.
„Stimmt schon“, gab Anne zu, „aber Rashid meint, da du seinem Bruder Farid heute früh so geholfen hast, tut er es sehr gern. Die Jungs scheinen dich zu mögen.“
„Und du, was hältst du selbst davon?“, wollte Andreas von ihr wissen.
„Ich war lange nicht mehr dort und würde schon gern nachsehen, wie es da unten aussieht“, gab Anne lächelnd zurück.
„Gut, wenn du selbst dafür bist, dann machen wir das so. Ansonsten würde ich mich auch mit einem Tauchspot nahe der Basis zufriedengeben“, antwortete er ehrlich. Wusste er doch, dass kein anderes Boot in der Nähe war und sich, wie er gesehen hatte, ein Schiff der ägyptischen Marine in Reichweite befand, um ein wachsames Auge, auf die >Amun Re< zu haben.
Nach dem Essen hatten sie noch Zeit und machten es sich in der Sonne auf dem Oberdeck gemütlich.
„Sag mal Anne“, begann Andreas, „warum bist du eigentlich Tauchlehrerin geworden?“
Sie drehte sich zu ihm herum, sah ihn durch ihre Sonnenbrille an und überlegte kurz.
„Eigentlich, weil ich das Tauchen und das Meer liebe. Als ich damit begonnen hatte, wusste ich aber offen gesagt nicht genau, was da auf mich zukam. Die meisten Urlaubstaucher, die hier mit mir auf den Booten sind, glauben, es wäre ein Traumjob, der wie ein ewiger Urlaub ist. Das dachte ich auch mal. Nur übersehen die Leute, dass sie wirklich nur im Urlaub hier tauchen, ich aber täglich bis zu drei Tauchgänge habe. Und durchaus auch mit Schnupfen und Erkältung ins Wasser muss. Dabei predigen wir selbst bei jedem Lehrgang, dass man da nicht tauchen gehen darf. Nur bei uns sieht die Realität anders aus, solange der Druckausgleich noch halbwegs machbar ist, müssen wir ran. Die Tauchbasis muss laufen. Die Urlauber interessiert es nicht, wie sich ein Tauchlehrer oder Guide fühlt, sie wollen tauchen und das mit Guide, weil die meisten es gar nicht anders dürfen oder selbst wollen und könnten. Manchmal habe ich über vier Wochen lang nicht einen einzigen Tag frei und die Stickstoffsättigung ist so hoch, dass man am Abend einfach nur ins Bett fällt, obwohl man doch noch einkaufen gehen oder Wäsche waschen müsste. Aber am nächsten Tag muss man wieder nett, höflich, freundlich, fröhlich und vor allem voll fit und konzentriert sein. Und glaube mir, da hat man schon manchmal ziemliche Ekelpakete in so einer Truppe. Nur das alles sehen die Meisten nicht. Sie sehen, dass ich an den schönsten Plätzen der Welt tauchen kann, mittags mit ihnen in der Sonne liege, auch wenn ich da ja immer für jeden ansprechbar sein muss. Sie sehen nicht, dass mein Tag um sechs Uhr beginnt und erst nach achtzehn Uhr endet, denn wir dürfen nicht eher gehen, bevor nicht der letzte Tauchgast die Basis verlassen hat. Na ja, und wenn Nachttauchen angesagt ist, dann wird es auch mal dreiundzwanzig Uhr.“ Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: „Aber ich liebe diesen Job trotzdem und mache ihn gern. Denn man trifft auch viele nette Menschen, … so wie dich“, fügte sie die letzten drei Worte etwas leiser hinzu.
Andreas hatte sie aber sehr gut verstanden. „Und ich dachte, nach meinem Auftritt im Flieger wäre ich Ekelpaket Nummer eins für dich“, meinte er verschmitzt lächelnd. Dann aber nickte er ihr ernst zu und sagte: „Ja, ich verstehe, was du meinst. Kein leichter Job, der aber für andere immer leicht aussehen sollte. Wie wäre es, wenn wir den Spieß einfach mal umdrehen?“
„Wie meinst du das?“, wollte Anne, hellhörig geworden, wissen. Andreas setzte sich auf und sah sie lächelnd an.
„Na ganz einfach, ich richte mich voll und ganz nach dem, was du willst. Sprich, wir tauchen nur nach deinen Wünschen und ich verspreche, nie mehr der letzte Gast zu sein, außer du würdest mich auch weiterhin mit deinem Flitzer bis zum Hotel mitnehmen. Und hast du mal keine Lust zum Tauchen, dann tauchen wir eben nicht.“ Dabei sah er sie wieder ernster an und fragte: „Na, was meinst du, wäre das nicht ein guter Deal?“
Jetzt setzte sich auch Anne auf ihrer Matte auf, nahm die Sonnenbrille ab und sah Andreas forschend in die Augen, als sie feststellte: „Du meinst das wirklich ernst.“
Er nickte ihr bestätigend zu. „Ich hätte es nicht vorgeschlagen, wenn ich es nicht ernst meinen würde“, untermauerte er zusätzlich sein Angebot und lächelte sie dabei wieder an.
Sie schaute Andreas noch immer forschend an. Sie konnte es kaum glauben, dass er einen solchen Vorschlag gemacht hatte und es tatsächlich ernst meinte. Dann überzog auch ihr Gesicht ein Lächeln.
„Leider wird das nicht ganz so funktionieren.“
„Warum nicht?“, wollte Andreas wissen und sah sie fragend an.
„Na ja, wenn es nach mir gehen würde“, meinte sie, „dann würde ich gern mit Kreislaufgeräten tauchen gehen.“
„Ja und? Wo liegt da das Problem?“, fragte er noch immer lächelnd und fügte dann hinzu: „Lass mich raten, eure Tauchbasis hat so was nicht.“
„Das wäre das geringste Problem, Sebastian von einer anderen Tauchbasis, mit dem ich befreundet bin, hat sieben Stück der neuen Rebreather CCR 100 Submatix und würde uns bestimmt gern zwei davon leihen. Das Problem aber ist, dass du keine Ausbildung dafür hast.“
Nachdem er ihren Ausführungen aufmerksam gelauscht hatte, grinste er übers ganze Gesicht, was Anne komisch vorkam.
„Wow, da hat der alte Haudegen also auch die Geräte mit dem geschlossenen Kreislaufsystem und nicht nur die SCR 100 ST mit dem halb geschlossenen System“, meinte Andreas wie nebenbei.
Als Anne das vernahm, blieb ihr der Mund vor Staunen offen stehen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er etwas mit diesen Begriffen anfangen konnte. Dann hörte sie, wie er weiter sprach: „Ja, ich denke, Sebi wird sie uns gern ausleihen. Wenn wir zurück sind, werde ich ihn gleich anrufen und fragen.“ Als er bemerkte, wie verdutzt sie ihn nun ansah, musste er laut lachen. „Und wer sagt, dass ich darauf nicht ausgebildet bin?“
Nur langsam fand sie ihre Sprache wieder.
„Aber in deinem Logbuch steht nichts davon. Es sind keine solchen Ausbildungstauchgänge drin vermerkt und du hast auch in der Anmeldung ein derartiges Brevet nicht mit angegeben.“
„Warum sollte ich? Wo ich doch aus dem Internet weiß, dass diese Tauchbasis eh keine Kreislaufgeräte hat.“ Dann fügte er leiser hinzu: „In diesem Logbuch steht vieles nicht drin, Anne. Aber ich zeige dir dann gern mein Brevet fürs Kreislauftauchen, habe es unten bei meinen Sachen. Also was ist nun mit unserem Deal?“, wollte er wissen und hielt ihr die Hand zum Einschlagen entgegen. Dabei sah er breit grinsend in ihr noch immer fassungsloses und erstauntes Gesicht.
„Okay, wir haben einen Deal“, sagte Anne dann und schlug mit einem festen Handschlag ein. „Aber trotzdem machen wir nachher noch den Tauchgang am Manta Point. Ich will sehen, ob die Haie da sind. Außer, du hast Angst vor ihnen“, sagte sie dann wieder lächelnd. Sie überlegte kurz und fragte etwas unsicher: „Habe ich das vorhin gerade richtig verstanden? Du kennst Sebastian Rothe, den Chef von der Tauchbasis >Red Water Dive Resort<?“
Wieder lächelte Andreas sie an und erklärte ihr nur kurz, dass sie gute alte Freunde seien, ohne es weiter auszuführen oder zu begründen. Sie bemerkte sofort, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also fragte sie auch nicht weiter nach. Trotzdem beschäftigten sie nun wieder viele Fragen. Warum war er nicht auf die Tauchbasis seines Freundes gegangen, sondern hatte sich das >Red Sea Dive Resort< ausgesucht? Warum war seine Rebreatherausbildung nicht mit den dafür vorgeschriebenen Tauchgängen im Logbuch verzeichnet? Was meinte er damit, dass vieles nicht in diesem Logbuch steht? Alles Fragen, worauf sie keine Antwort wusste, es sie aber sehr interessierte. Alles an diesem Mann war interessant für sie. Er erschien ihr wie das berühmte, geheimnisvolle Buch mit den sieben Siegeln.
Nach der Oberflächenpause half Andreas mit, die Leinen loszumachen, um den Ankerplatz zu verlassen, damit sie zum nächsten Tauchspot aufbrechen konnten. Als er in den Salon zurückkehrte, stand da Anne, brühte wieder für sich und ihn einen Tee auf, den sie ihm gleich reichte.
Er holte aus seinem Rucksack eine Mappe, suchte etwas darin herum und gab ihr eine Plastikkarte in der Größe einer Visitenkarte.
Anne hatte eine solche Art von Brevet noch nie zuvor gesehen, doch es bescheinigte eindeutig, dass Andreas Wildner in Besitz einer Rebreatherausbildung war, und das schon seit mehr als zehn Jahren. Sie selbst hatte diese Ausbildung und dass sie als Instruktor darauf ausbilden durfte, erst vor einem Jahr gemacht. Wenn er den Schein schon seit zehn Jahren besaß, wieso waren dann nur so wenige Tauchgänge in seinem Logbuch verzeichnet, die nicht älter als zwei Jahre waren? Außerdem war das Rebreathertauchen zu dieser Zeit für das Sporttauchen noch ein absolutes Fremdwort und steckte in der Hinsicht selbst jetzt noch in den Kinderschuhen.
„Dieser Mann versteht es, mich immer wieder zu überraschen“, murmelte sie vor sich hin und gab ihm das Brevet zurück. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm, was sie aber zusätzlich nur noch mehr reizte, wie sie sich eingestehen musste. Schweigend tranken sie ihren Tee.
Langsam wurde es Zeit und sie begannen, sich für ihren zweiten Tauchgang an diesem Tag fertig zu machen. Wie üblich überprüften sie noch einmal gegenseitig ihr Equipment. Stellten sich dann auf der Taucherplattform bereit, während der Kapitän sicher ihren Absprungpunkt an der nördlichen Spitze von >Manta Point< ansteuerte, um die Taucher, aber noch weiter draußen, als sonst üblich, im Blauwasser abzusetzen. Dann gab er das Zeichen, dass sich die Schiffsschraube im Leerlauf befand. Anne und Andreas sprangen in die Wellen. Während die >Amun Re< weiter nach Norden fuhr, um in einer großen Schleife nach Süden einzulenken, damit sie die Taucher nicht gefährden konnten, sollten sie aus irgendeinem Grund an die Wasseroberfläche zurückmüssen.
Schnell sanken sie, immer wieder ihren Druckausgleich durchführend, auf die vereinbarte Tiefe von dreißig Metern und bewegten sich mit der Strömung langsam zum höher gelegenen Riff. Dabei schauten sie immer wieder zurück ins Blauwasser, in der Hoffnung, vielleicht größere Rochen vorbeiziehen zu sehen. Leider hatten sie kein Glück. Doch als sie am Riff in dreizehn Metern Tiefe ankamen, zogen da vier neugierig gewordene Weißspitzenriffhaie in immer enger werdenden Kreisen um sie herum.
Anne war begeistert von diesen Tieren, ihren anmutigen, kraftsparenden Bewegungen und dem starren Blick, den sie auf sie und ihren Begleiter richteten. Sie mochte diese Tiere sehr. Nach einer Weile schienen die Haie genug gesehen zu haben, um zu wissen, dass von den beiden Neuankömmlingen an ihrem Riff keine Gefahr für sie ausging und zogen sich zurück. Noch ein Stück folgten ihnen Anne und Andreas, dann jedoch schlugen sie wieder ihren vereinbarten Kurs ein. Die Strömung hatte abgenommen, sodass sie mit leichten Flossenschlägen nachhelfen mussten, um vorwärtszukommen. Ein Schwarm Thunfische überholte sie und schloss sie quasi in ihre Gruppe mit ein. Andreas reichte Anne seine Hand, damit sie sich in dem Getümmel der großen Fische nicht verlieren konnten. Sie ergriff diese gern und beide ließen sich einer festhaltend mit dem Schwarm der bis zu einhundertfünfzig Zentimeter großen Tiere treiben. Als jedoch der Schwarm nach Osten einlenkte, ließen sie ihn allein weiterziehen und orientierten sich erneut an der Riffwand, der sie folgen wollten.
Andreas verliebte sich wohl gerade in einen ziemlich angriffslustigen Anemonenfisch, den er zu einem Zweikampf herausforderte, indem er ihm immer wieder etwas näher kam. Er bewunderte den Mut des kleinen Zwerges, der ihn tatsächlich mit seinen kleinen Angriffen zu verscheuchen versuchte.
In dem Moment tippte ihm Anne, die bis dahin dem Spiel zugesehen hatte, auf die Schulter und zeigte nach Osten ins Blauwasser, wo dunkle, große Schatten verhinderten, dass die Sonne ihre Strahlen auf das Riff fallen lassen konnte.
Andreas erkannte schnell, dass es drei ausgewachsene Mantas, auch Teufelsrochen genannt, mit einer Spannweite von mindestens vier Metern waren, die ungestört nach Süden zogen und dabei anmutig durchs Wasser zu fliegen schienen. Lange begleiteten sie die Blicke der beiden Taucher, bis sie kaum noch zu erkennen waren.
Wieder gab Anne als erste das Zeichen, dass sie nur noch fünfzig bar in ihrer Flasche hatte und wie schon beim vorhergehenden Tauchgang wurden sie kurze Zeit später von der >Amun Re< aufgenommen. Während sie sich umzogen, steuerte der Kapitän dem Heimathafen zu, der zwei Stunden entfernt im Südwesten lag.
Anne kämmte gerade ihr nasses Haar, als Andres aus dem Salon aufs Deck trat und ihr ein Glas heißen Tee reichte.
„Ich glaube, das waren bis jetzt meine vier schönsten Tauchgänge, die ich je hatte“, gab er zu und lächelte Anne dankbar an. „Du bist eine ausgezeichnete Taucherin.“
Dieses Komplement konnte sie nur zurückgeben. „Danke. Es macht auch Spaß, mit dir zu tauchen.“
Wieder waren sie das letzte Boot, welches in dem kleinen Hafen festmachte. Die Einheimischen, die schon auf sie warteten, nahmen ihnen die leeren Stahlflaschen ab und halfen ihnen, an Land zu klettern. Ihre Tauchsachen konnten sie an Bord der >Amun Re< lassen, denn sie wussten, dass sie auch morgen wieder dieses Boot zur Verfügung hatten und Ahmed auf dem Schiff schlafen und auf ihre Sachen achten würde. Als sie mit dem Pick-up die Basis erreichten, verabschiedeten sich bereits die ersten Tauchgäste und wurden zu ihren Hotels zurückgefahren.
Nachdem Andreas an der Bar zwei Flaschen Stella-Bier geordert hatte, zog er sein Handy aus dem Rucksack und wählte die Nummer seines ehemaligen Kampfgefährten Sebastian Rothe, der sich schon nach wenigen Rufzeichen meldete.
„Hallo, du alter Haudegen“, grüßte ihn Andreas fröhlich, „schön mal wieder deine Stimme zu hören. ... Mensch, ich bin es, Andy, die Schneeeule“, gab er sich zu erkennen, als sein Gesprächspartner nachfragte, wer am Apparat sei. „Nein, ich rufe nicht aus Deutschland an, sondern stehe quasi fast neben dir. … Nein, kein Scherz, Alter“, erwiderte er gerade, als Anne sich zu ihm setzte, „Ich sitze hier neben einer wunderschönen Frau namens Anne auf der Tauchbasis >Red Sea Dive Resort<. ... Oh, ich habe mir schon gedacht, dass du sie kennst“, sagte er und lächelte sie dabei an. „Ich wusste schon immer, dass dir die schönen Frauen nicht verborgen bleiben.“ Dann lachte er in den Apparat und sah die Frau neben sich mit strahlenden Augen an. „Stimmt, du hast ja recht, mir auch nicht. Aber weshalb ich eigentlich anrufe“, wechselte er das Thema, „sag mal, kannst du uns zwei deiner Rebreather leihen? … Was heißt wofür? Zum Essen kochen brauche ich die Dinger bestimmt nicht. ... Das finde ich klasse von dir, danke, Kumpel.“ Dann lauschte er wieder in den Apparat und meinte: „Darauf kann ich dir am Telefon nicht antworten. Sicher kannst du es dir denken. Oder? ... Gut, wie wäre es, wenn wir uns hier mal am Abend treffen. Na Logo, erst nachdem du deine Basis dicht gemacht hast? … Prima, meine Nummer hast du ja, klingle durch, wann immer es dir passt. Ich freue mich schon.“ Er unterbrach die Verbindung und steckte das Handy zurück in seine Tasche. An Anne gewandt sagte er: „Sebi bringt gleich morgen früh die Kreislaufgeräte vorbei und gibt uns sogar extra Kalkpatronen, Nitrox- und Sauerstoffflaschen zum Nachfüllen dazu. Wie findest du das?“
Anne sah Andreas nachdenklich an und meinte dann: „Ich hätte länger damit gebraucht, dass er zwei seiner Rebreather herausrückt. Du musst ein besonderer Freund sein.“ Nach einer kurzen Pause, in der sie mit ihm anstieß und einen Schluck von dem Bier trank, meinte sie noch: „Ähnlich den zehn Leuten, die vor etwa einem halben Jahr kurz vor Weihnachten bei ihm waren.“
Andreas hatte zwar den letzten Satz verstanden, doch er ging nicht darauf ein, sondern lenkte davon ab, indem er von den beiden Tauchgängen zu schwärmen begann.
Anne nahm ihn auch diesen Abend, so wie abgemacht, mit bis zum Hotel, wo sie sich schnell wieder verabschiedete. Gas gebend, winkte sie noch einmal, ordnete sich in den Verkehr der ständig hupenden Kleinbusse ein und verschwand.
Andreas ließ sich an der Rezeption den Zimmerschlüssel geben, verzichtete auf den Fahrstuhl und lief die Treppen schnell nach oben. Frisch geduscht, packte er seinen Rucksack aus, hängte die nasse Badehose und das Badetuch zum Trocknen auf den Balkon. Aus dem Schrank holte er eine Art Gürtel, der ringsum mit kleinen festen Taschen bestückt war. Eigentlich sah er wie ein Bleigurt aus, bei dem die Bleistücke in den Taschen gleichmäßig verteilt werden konnten. Nur waren die Fächer an diesem Gürtel etwas größer, aber eben so mit Klettverschlüssen und im unteren Teil mit fester Gaze ausgestattet, damit das Wasser schnell wieder auslaufen konnte. Er zog den Koffer aus dem Schrank und legte ihn auf das freie Bett, entnahm ihm verschiedene Sachen, bei denen er meinte, dass er sie vielleicht bald brauchen könnte, und füllte damit die Taschen des Gürtels. Er überlegte, ob er an alles gedacht hatte, dann legte er ihn zum Rucksack, den er morgen wieder nehmen würde. Zufrieden setzte er sich auf den Balkon, trank den letzten Schluck Wasser aus der großen Flasche, die er für den Tag mitgenommen hatte, und schaute gedankenversunken aufs Meer.
Sein Handy klingelte. Schnell ging er ins Zimmer zurück und meldete sich knapp. Wieder hörte er angespannt zu und sagte dann: „Sag mal, kannst du mit den ägyptischen Behörden sprechen. Mir wäre es lieb, wenn sie, von mir aus als Touristenpolizei, das Grundstück von unserer ›Zielperson‹ im Auge behalten könnten. Ich war gestern dort. Es ist ein Leichtes, da einzudringen. Mir wäre es einfach sicherer. … Danke. Außerdem möchte ich euch darüber informieren, dass ich Kontakt zu Sebastian Rothe, unserem ehemaligen Wanderfalken, aufgenommen habe. ... Nein, davon habe ich ihm noch nichts gesagt, aber ich denke, es wäre nicht verkehrt, ihn einzuweihen und in die Operation mit einzubeziehen. Was meinst du?“ Eine Weile war Ruhe am anderen Ende der Leitung.
„Okay, weihe ihn ein. Ich überlasse dir die Entscheidung, wie weit. Handle nach deinem eigenen Ermessen. Ich lasse dir freie Hand. Bussard Ende.“ Damit war die Verbindung wieder getrennt.
Andreas steckte sein Handy an die Ladestation und legte es auf seinen Nachtschrank. In Gedanken versunken trat er hinaus auf den Balkon, nahm eine Zigarette aus der auf dem Tisch liegenden Schachtel und zündete sie sich an. Nach nur drei Zügen drückte er sie im Aschenbecher aus. Wollte er doch endlich mit dem Rauchen aufhören. Trotzdem brachte er es bisher nicht fertig, die halb volle Schachtel wegzuwerfen. Er rechtfertigte es damit, dass er noch nicht so weit wäre und ohnehin schon weniger rauchte.
Beim Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es Zeit fürs Abendessen war. Schnell zog er sich etwas über und ging nach unten in den Speisesaal des Hotels.
Sogar noch freundlicher als schon am Vortag wurde er vom Personal empfangen und an seinen Platz geführt. Ohne dass er es bestellt hatte, brachte ein Kellner ihm drei große Flaschen Wasser an den Tisch und nahm seinen Wunsch, was er trinken wolle, auf. Als er nach dem Essen die Getränke auf die Zimmerrechnung schreiben lassen wollte, lehnte der Mann höflich ab und sagte im gebrochenen Deutsch, die Worte suchend: „Nein, das gehen auf Haus, Farid guter Freund. Du haben sehr geholfen ihn. Das zählt viel sehr hier.“
Erstaunt sah Andreas den freundlich lächelnden Ägypter an. „Hier scheint sich so etwas aber schnell rum zusprechen“, meinte er.
„Ja, Hurghada ist Dorf, hier Leute sprechen miteinander noch“, gab der Kellner zurück. „Bei uns machen schnell Runde, wenn Mensch sein gut. Du so ein gut Mensch“, antwortete der junge Mann und nickte ihm noch immer lächelnd zu.
Andreas bedankte sich höflich, nahm seine Wasserflaschen und ging damit zurück in sein Zimmer. Er war sichtlich beeindruckt. Hier gab es viele streng gläubige Muslime, wie er bereits auf der >Amun Re< bemerkt hatte. Aber sie verurteilten Menschen anderen Glaubens oder Ungläubige nicht wie manche fanatische Gruppen, die er schon kennenlernen musste. Dabei erkannte er aber auch, dass sie sehr wohl Unterschiede zwischen Touristen und ausländischen Freunden machten. Sie merkten schnell, wenn ein Mensch ihnen gut gesinnt war oder ihre Freundlichkeit nur ausnutzen wollte. Das gefiel ihm.
Jetzt konnte er Anne verstehen, weshalb sie gern in diesem Land lebte. Denn auch er begann diese Leute zu mögen. Hier existierte wahrlich noch das ehrliche Geben und Nehmen zwischen den Menschen der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schlieft er ein.
8
Etwas früher als die Tage zuvor setzte sich Andreas auf die Stufen vor dem Hotel, um auf seinen Pick-up zu warten. Er trug ein dunkelrotes T-Shirt, ein Basecap in der gleichen Farbe, Jeans und eine dunkle Sonnenbrille. Aufmerksam sah er den Autos hinterher, die hupend am Hotel vorbeifuhren. Seinen Rucksack hatte er vor sich zwischen die Beine gestellt. Schnell sprang er auf, ergriff seinen Rucksack und lief auf die andere Straßenseite, als er den Toyota mit dem Logo der Tauchbasis auf der Kühlerhaube entdeckte, der sich dem Hotel aus Norden näherte.
„Saba al chier, Ali“, begrüßt er fröhlich den Fahrer.
„Saba al full, Andy“, gab der Mann hinter dem Lenkrad freundlich zurück, als Andreas neben ihm Platz genommen hatte. Der kleine Ägypter sah zu seinem Fahrgast hinüber. „Andy, haben du heut Abend Zeit?“
„Warum?“
„Wir wollen feiern. Frau von Bruder haben Sohn geboren letzte Nacht. Du sein eingeladen herzlich.“
„Aber wie komme ich denn zu der Ehre? Deine Familie kennt mich doch überhaupt nicht?“, fragte Andreas erstaunt nach.
„Du gut Mensch, hast holfen Freund. Sie dich lernen kennen werden“, antwortete Ali und sah Andreas fragend an. „Und du kommen?“
Gern nahm er diese Einladung an und bedankte sich herzlichst dafür. Dabei überlegte er trotz der Antwort des Ägypters, wie er als unbekannter Tourist, der noch nicht einmal eine Woche hier war, zu dieser Ehre kam. Gerade als er fragen wollte, sah Ali ihn an und sagte lächelnd: „Anne auch wird sein da.“ Und nachdem er einen Kleinbus hupend überholt hatte, fügte er hinzu: „Sie in Nacht Fatima mit helfen bei Geburt. Fatima wolle nicht in Krankehaus.“
„Ja, ich komme sehr gern, Ali. Ich danke dir für die liebe Einladung“, gab Andreas zurück und lächelte dem Fahrer zu.
„Ich reden mit Anne, sie bringen dich mit zu Familie“, sagte der kleine Ägypter, als er bereits vor der Tauchbasis vorfuhr.
Andreas bedankte sich nochmals herzlich für die Fahrt und die Einladung. Er begrüßte die Tauchguides und Tauchlehrer, die schon da waren und sich am Ausgabetresen versammelt hatten. Dann ging er gemeinsam mit Anne und Farid, der noch leicht hinkte, in den Behandlungsraum hinter der Basis. Während sie sich die Verletzung an der Stirn des Ägypters ansah, schnitt Andreas vorsichtig den Verband am Bein auf und desinfizierte erneut die Wunde.
„Na bitte, Farid. Sieht doch gut aus“, meinte er zufrieden, „schon bald wirst du wieder tanzen können.“ Er holte eine Salbe aus dem Glasschrank und trug sie sacht rings um die Verletzung auf. „In ein paar Tagen können wir die Fäden ziehen und schon wirst du wieder herumspringen können.“
Anne übersetzte für Farid, was Andreas gesagt hatte, während er dessen Bein verband. Dabei musste er schmunzeln, als er hörte, dass sie es nicht wörtlich übersetzte, sondern noch einige Sätze hinzu mogelte.
Zu dritt verließen sie den Behandlungsraum.
Auf dem Weg nach vorn zur Terrasse wandte sich Andreas an Anne. „Ich habe gehört, du hast die letzte Nacht Hebamme gespielt. Wollen wir da heute das Tauchen lieber lassen, sondern nur rausfahren und die Sonne genießen? Du musst doch müde sein.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Woher weißt du das?“ Sie überlegte kurz. „Ja klar, Ali, das olle Plappermaul konnte seinen Stolz nicht verbergen, dass er das erste Mal Onkel geworden ist.“ Sie lachte herzlich auf, drehte sich Andreas zu und sah ihm in seine blauen Augen, als sie sagte: „Doch, ich möchte gern tauchen gehen, Andy. Sebastian hat bereits die Rebreather gebracht. Sie sind schon auf der >Amun Re<. Ich freue mich so darauf.“ Forschend, aber auch besorgt, wie es Anne erschien, schaute Andreas in ihr Gesicht, als könne er darin lesen. Schnell holte sie ihren Rucksack und den Sauerstoffkoffer und lud mit seiner Hilfe beides auf die Ladefläche des Pick-ups. Ali fuhr sie zum nahen Hafenbecken, wo die Crew der >Amun Re< schon auf sie wartete und ihnen beim Übersteigen half.
Der Neoprenanzug von Andreas war in der Nacht getrocknet, was er als angenehm empfand, denn er mochte es nicht sonderlich, in einen feuchten Anzug zu schlüpfen. Die beiden Kreislaufgeräte mit den bereits integrierten Westen waren sicher unter den Sitzbänken platziert.
Noch während die >Amun Re< ablegte, holte Andreas sein ganzes Zeug aus dem Jackett, was er darin hatte und verstaute es in den Taschen des Gürtels, welchen er aus dem Rucksack geholt hatte. Als Anne vom Oberdeck zurückkam, wo sie mit dem Kapitän den Kurs festgelegt hatte, legte er diesen gerade zu seinem Rebreather.
„Und wohin geht’s heute?“, wollte er wissen.
„Heute geht es nach Südosten“, gab Anne fröhlich zurück. „Ich möchte mir gern ein Riff ansehen, das weiter draußen liegt und noch nicht von uns betaucht wurde. Vielleicht könnte es ein neuer Tauchspot werden. Was meinst du?“
„Klar, warum nicht“, sagte er, „eventuell trägt das Riff ja dann schon bald deinen Namen.“
„Darum geht es mir nicht“, gab Anne ehrlich zu. „Ich möchte nur mal sehen, ob es sich lohnen würde, es anderen zu zeigen. Unsere Gäste sind verwöhnt. Wenn sie dreimal ein Erg oder Riff betaucht haben, denken die meisten von ihnen, schon alles gesehen zu haben. Dabei könnte ich täglich das gleiche Erg betauchen und würde immer wieder etwas Neues entdecken. Aber die Tauchtouristen sind nun mal so“, sagte sie, fast schon entschuldigend. „Sie glauben, ständig neue Plätze sehen zu müssen, um Neues entdecken zu können.“
Andreas wusste genau, was Anne meinte. Deshalb nickte er ihr zu und sagte: „Ich freue mich schon auf diesen Forschungstauchgang mit dir. Nur wenn du müde wirst, dann sage es bitte.“
„Das werde ich tun“, versprach sie und ging zurück aufs Oberdeck ans Steuer, um Rashid und Ahmed so ihr Gebet zu ermöglichen. Als Andreas zu ihr ans Ruder trat, erklärte sie ihm, dass die beiden Männer streng gläubige Muslime seien und sie gern ihren Glauben unterstützte. Er sah vom Oberdeck aus zum tiefer gelegenen Bug des Schiffes und sah den beiden bei ihrem Gebet zu.
Immer wieder verbeugten sie sich, sahen nach links und nach rechts, knieten nieder, legten die Stirn auf den Gebetsteppich am Boden, standen erneut auf, um sich abermals zu verbeugen und niederzuknien. Dabei murmelten sie leise ihr Gebet. An Anne gewandt sagte er: „Es ist gut, dass du so denkst und handelst. Ich bin der Meinung, Menschen brauchen etwas, an das sie glauben und an dem sie festhalten können.“ Dann sah er sie an, als er fragte: „Und, woran glaubst du selbst?“
Sie löste ihren Blick vom fernen Horizont und schaute ihm fest in die Augen. „Eigentlich an mich selbst und an meine Fähigkeiten.“ Nach einer kurzen Pause meinte sie noch: „Aber wenn es einen Gott da draußen geben sollte, dann urteilt er gleich über alle Geschöpfe, die er angeblich geschaffen hat, egal unter welchem Namen sie ihn auch anbeten mögen.“
Andreas fand diese Einstellung gut und konnte sich selbst damit identifizieren. Er konnte immer mehr Gemeinsamkeiten feststellen. Was ihm seine Mission nicht unbedingt leichter machte. Aber es bestärkte ihn darin, dass er das Richtige tat. Nämlich, diese Frau zu beschützen.
Als er den Auftrag angenommen hatte, war er sich zwar sicher, dass es notwendig war. Doch nun sah er wesentlich mehr darin. Er hatte eine Frau kennengelernt, die anders war als all seine Personenschutzaufträge je zuvor. In diesem Moment schwor er sich, wirklich alles für ihr Leben zu tun, auch wenn es sein eigenes kosten würde und das nicht nur, weil es sein Job war. Er nahm sich fest vor, Anne bei Gelegenheit reinen Wein einzuschenken und zu erklären, warum er da war. Auch, um sie dadurch vielleicht besser beschützen zu können.
Während er noch in Gedanken versunken war, kam der Kapitän aufs Oberdeck und übernahm wieder das Ruder. Andreas beobachtete, wie der Wind Annes Haar umspielte, als sie auf dem Weg nach unten war.
Er sah ihr noch immer nach, als Rashid sich auf Ägyptisch an ihn wandte. „Andy, ich weiß, dass du unsere Sprache verstehst und vielleicht auch sprichst. Ich verstehe nur nicht, warum du so tust, als sei das nicht der Fall. Ist auch nicht so wichtig. Aber sag mir, bist du wegen unserer Anne hier?“ Andreas war erstaunt darüber, dass der alte Kapitän bemerkt hatte, dass er die Sprache gut verstand. Schnell und ehrlich antwortete er mit, „eiyoua“, und fügte auf Arabisch leise hinzu, dass er zu ihrem Schutz hier sei, sie aber bitte noch nichts davon erfahren solle. Verständnisvoll nickte der Kapitän und fragte weiter, ob es etwas mit der Sache zu tun habe, wo vor einem halben Jahr hier im Roten Meer, in Ägypten Waffenschmuggler zur Strecke gebracht wurden. Wieder stimmte er zu und bewunderte die Kombinationsgabe des alten Mannes. Er bat ihn, auch darüber Stillschweigen zu bewahren. Gern stimmte Rashid zu und machte noch einmal klar, dass Anne eine sehr gute Freundin ist, für die sie durchs Feuer gehen würden. Dann bot er seine uneingeschränkte Hilfe an. Gern nahm Andreas dieses Angebot an und bat ihn, besonders auf fremde Boote zu achten. Nachdem der Kapitän ihm verstehend zugenickt hatte, klopfte er ihm dankend auf die Schulter und begab sich dann ein Deck tiefer in den Salon.
„Wie lange werden wir noch brauchen bis zu deinem geheimnisvollen Riff?“, wollte er wissen, als er Anne in eine Seekarte vertieft dort sitzen sah.
„Vielleicht noch eine halbe Stunde“, gab sie zurück, nachdem sie hinausgeschaut und sich kurz orientiert hatte. „Ich hoffe, du bist damit einverstanden, wenn es wieder ein Drift-Pick-up wird. Aber dort gibt es noch keine Ankerseile für das Boot. Laut der Karte ist es ein Erg, das wir leicht umrunden könnten. Seine tiefste Stelle liegt bei vierzig Meter. Aber mich interessiert hauptsächlich das Plateau hier im Osten“, erklärte sie. Dabei zeigte sie mit dem Finger auf die Karte. „Es liegt in einer Tiefe von circa zehn Metern und fällt weiter nach Osten auf zwanzig Meter ab.“
„Gut, dann nehmen wir uns mal das Erg ›Anne‹ vor“, meinte Andreas, nachdem er mit auf die Seekarte geschaut hatte. „Lassen wir uns einfach überraschen.“
Sie flocht ihr Haar wieder fest zu einem Seitenzopf zusammen und er trank noch ein paar Schlucke aus seiner Wasserflasche, um einer möglichen Dehydration des Körpers vorzubeugen. Für ihn wie auch für Anne war das selbstverständlich. Doch viele Urlaubstaucher vernachlässigten das permanent. Dabei sind sie sich nicht über die gefährlichen Folgen im Klaren. Aber das war kein Thema zwischen den beiden Tauchern, die dann gleich abtauchen wollten, um Neuland zu erforschen. Auch wenn sie wussten, dass sie mit dem eingestellten Gemisch in ihren Kreislaufgeräten tiefer tauchen könnten, machten sie sich eine maximale Tauchtiefe von zwanzig Metern aus. Sie wollten im Norden des Ergs beginnen, über das östlich gelegene Plateau tauchen und das Erg dann umrunden, um an der Nordspitze von der >Amun Re< wieder aufgenommen zu werden.
„Ich danke dir, Andy, dass du mir diesen Tauchtrip ermöglichst“, sagte Anne, während sie die Karte zusammenrollte. „Ich habe mir das schon so lange gewünscht. Das Erg habe ich bereits seit einiger Zeit ins Auge gefasst.“
Andreas nickte ihr nur zu. Er verstand die Frau. Schon oft hätte er sich Riffe und Ergs, an denen er entlang oder darüber hinweg getaucht war, gern näher besehen und erforschen wollen. Doch er hatte immer einen Auftrag und keine Zeit dafür. Nun gab ihm diese zierliche und überall so beliebte Frau, die er beschützen sollte, die Gelegenheit, das nachholen zu können.
Nachdem sie ihre Neoprenanzüge übergezogen hatten, legte er noch zusätzlich den bereitgelegten Gürtel um. Bevor ihm Ahmed in das Jackett mit dem Kreislaufgerät helfen konnte.
„Was ist das denn?“, wollte Anne wissen, als sie den Gurt bemerkte.
„Oh, nur dies und das, was man so braucht. Angefangen von der Zahnbürste bis zum Kamm und der Schreibtafel, wie einer Taucherboje. Eben alles, was Mutti gesagt hat, dass ich es dabeihaben soll, wenn ich in fremden Revieren stöbern gehe“, gab er witzelnd zur Antwort.
„Oh, ich hoffe, du hast da die Kondome nicht vergessen“, gab Anne wortgewandt zurück.
Auf diese Schlagfertigkeit von ihr war er absolut nicht gefasst und erwiderte es nur mit einem verlegenen Grinsen, worüber sie laut lachen musste.
Nacheinander gingen sie noch einmal gegenseitig den Check ihrer Ausrüstung durch und sprangen auf das Zeichen von Rashid hin ins Wasser. Nach kurzem Blickaustausch gaben sie Ahmed ihr Okayzeichen, ließen durch Ziehen an ihrem Schnellablass die Luft aus ihren Tarierwesten und tauchten langsam ab, wobei sie sich schon mithilfe des Kompasses orientierten.
Schnell fanden sie sich zur Nordspitze des Ergs, welches sie erkunden wollten. Die Strömung, so stellten sie fest, war fast null. Noch bevor sie das auf der Karte verzeichnete Plateau erreichten, trafen sie plötzlich und unerwartet auf eine Schule von Delfinen, die sich ihnen, da sie geschlossene Kreislaufgeräte benutzen, ohne jegliche Scheu neugierig näherten. Sie umkreisten die beiden Taucher, doch wie Andreas fand, schwammen sie immer wieder schnell in eine bestimmte Richtung davon und kehrten ebenso schnell zurück. Er zeigte Anne an, dass er gern dieser Richtung folgen möchte. Anne, die noch immer beeindruckt von dem nahen Kontakt mit den Delfinen Unterwasser war, gab ihr Okayzeichen und folgte wenige Flossenschläge hinter ihm. Sie sahen, wie die Tümmler ein einzelnes Tier der Gruppe umrundeten. Als sie noch etwas näher kamen, erkannten sie voller Entsetzten, dass dieser Delfin durch einen Gegenstand kurz vor seiner Schwanzflosse schwer verletzt zu sein schien. Beide sahen sich erschrocken an. Dann gab Andreas ihr das Zeichen zu warten und tauchte selbst auf die Tümmler zu. Wieder streckte er, wie schon tags zuvor bei der Schildkröte, die flache Hand aus. Einer der Delfine stupste nur leicht dagegen, danach ließ er den Taucher durch und er konnte zu dem verwundeten Tier schwimmen. Doch Anne drängten die anderen Meeressäuger mit ihren Körpern ab, als sie versuchte, zu Andreas zu gelangen. Sie konnte nur aus sicherer Entfernung, auf der sie die Delfine hielten, sehen wie er sich vorsichtig dem verletzten Tier näherte, dünne Gummihandschuhe überstreifte, die er aus einer seiner Taschen am Gurt gezogen hatte und dann das Tier sanft streichelte. Er geleitete den Delfin an die Wasseroberfläche, damit er Luft holen konnte, dann tauchte er mit ihm gemeinsam wieder ab. Sie beobachtete, wie er seinen Gürtel drehte, um an eine der hinteren Taschen zu gelangen. Er holte daraus eine Art Spritze hervor. Nur war hinter der Nadel nicht der übliche Spritzenkörper, sondern so etwas wie ein kleiner Ball. Andreas stach die feine Kanüle nahe der Wunde unter die Haut in die dicke Speckschicht des verletzten Tümmlers und drückte die Flüssigkeit aus dem Ballon langsam aus.
Anne folgte ihm, wie er wieder mit dem Delfin an die Wasseroberfläche zurückkehrte, damit sie auch nichts verpassen konnte. Er schwamm nun zu dem Kopf des Tieres und streichelte ihn liebevoll und beruhigend am Maul und zwischen den Augen bis hin zur Rückenflosse, Finne genannt. Ein anderer Tümmler kam heran, als wolle er seinem Gefährten Mut zusprechen. Andreas streichelte auch ihn kurz, mit den in Handschuhen steckenden Händen, die er trug, um die empfindliche Schutzhaut der Meeresbewohner nicht zu verletzen. Dann drückte er ihn sanft in Richtung Kopf des verletzten Tieres, wo der Tümmler auch blieb.
Sie beobachtete, wie sich Andreas nun dem Harpunenpfeil zuwandte, der den Delfin durchbohrt hatte. Wieder kramte er in einer seiner Taschen am Gürtel und holte eine Art kleiner Kneifzange hervor, womit er die Spitze des Pfeils abknapste. Dabei beruhigte er das Tier immer wieder, indem er es sanft streichelte. Er tauchte unter dem Delfin durch auf die andere Seite und tauchte mit ihm weiter ab. Sehr langsam und vorsichtig zog er den Rest des Pfeils aus dem Körper des Tiers. Das Wasser färbte sich augenblicklich rot vom Blut aus der Wunde. Wieder bewegte Andreas den Meeressäuger dazu, die Wasseroberfläche aufzusuchen. Anne konnte genau sehen, wie das Tier bereitwillig dieser Aufforderung nachkam und sich von dem Mann die Verletzungen behandeln, die Eintritts- und Austrittswunde nähen ließ.
Andreas gab dann dem verletzten Delfin noch eine weitere Injektion und sprühte etwas flüssiges Pflaster auf die beiden Wunden.
Anne sah das alles mit eigenen Augen, doch sie konnte es trotzdem nicht glauben. Wie Delfine in freier Wildbahn so reagieren konnten und vor allem aber, wie es Andreas verstand, mit ihnen umzugehen. Ja, sie glaubte sogar, dass er mit ihnen irgendwie kommunizierte.
Nachdem er die Behandlung abgeschlossen hatte und wieder mit dem kranken Delfin abtauchte, lösten sich zwei ausgewachsene Tümmler von der Gruppe und schwammen auf den Mann zu. Andreas umfasste vorsichtig ihre dargebotene Finne, und sie brachten ihn zurück zu seiner Partnerin außerhalb der kleinen Delfinschule. Dann schlossen sie sich ihrer Gruppe wieder an, die sich um den verletzten Delfin sammelten. Sie nahmen ihn schützend in ihre Mitte und schwammen, beide Taucher zurücklassend, davon.
Anne war so beeindruckt von dem, was sie gerade erlebt und gesehen hatte, dass es eine Weile dauerte, bis sie bemerkte, wie Andreas mit seiner Hand besorgt vor ihrem Gesicht hin und her wedelte. Sie wusste nicht, ob sie das nicht alles nur geträumt hatte. Vielleicht litt sie ja unter einem Tiefenrausch, dachte sie und schaute auf ihren Tauchcomputer, der aber nur fünf Meter Tiefe anzeigte. Dann sah sie den Rest des Harpunenpfeils in seiner Hand und sie wusste, dass es kein Traum gewesen sein konnte.
Sie konnte nicht anders, sie wollte den Tauchgang abbrechen und gab Andreas das Zeichen, dass sie auf gerader Strecke nach Norden zum Boot zurückkehren wollte. Er respektierte das sofort und sie kehrten gemeinsam um.
Doch auf halber Strecke kam ihnen eine Gruppe von Tauchern entgegen. Schnell reagierte Andreas und setzte sich so neben Anne, dass er sie damit versehentlich in die Riffwand drängte. Dabei blieb er immer auf Höhe der anderen Taucher und ließ sie nicht aus den Augen. Erst nachdem die Gruppe die beiden passiert hatte und ein Stück weg war, löste er sich wieder von Anne und blieb dann aber direkt neben ihr.
Sie bemerkte, wie er sich ab dem Moment immer wieder nach hinten drehte und die Gruppe weiter beobachtete.
Was war los mit diesem Mann, überlegte sie ärgerlich, weil sie sich bei seinem Drängen den linken Handrücken an einer Feuerkoralle verbrannt hatte. Er nähert sich jedem Tier ohne Scheu, aber scheint große Angst vor anderen Tauchern zu haben. Sie nahm sich vor, ihn deshalb zur Rede zu stellen, sobald sie wieder an Bord der >Amun Re< waren.
Bereits als sie an der zugeworfenen Leine hingen, rief Andreas Rashid auf Arabisch zu: „Was waren das für Taucher gerade? Wo kamen die her? Wo ist ihr Boot?“
Rashid antwortete ebenso schnell, während er mit Ahmed die beiden Taucher näher ans Boot heranzog, dass es wohl Taucher von einem Safariboot waren, welche die große Delfinschule entdeckt hatten und ihnen folgten.
„Na dann sollen sie es mal versuchen, da werden sie kein Glück haben“, gab Andreas, wieder auf Deutsch, zurück. Doch es war zu spät. Anne hatte sehr wohl gehört, dass dieser Mann nicht nur Arabisch verstand, sondern es auch perfekt sprach.
„Was läuft hier eigentlich?“, wollte sie, kaum wieder an Bord der >Amun Re<, wissen, noch bevor sie ihr Equipment abgelegt hatte. Andreas ließ den stählernen Rest des Harpunenpfeils aufs Deck fallen und fragte zornig. „Meinst du vielleicht das hier? Ich dachte, so etwas sei hier in der Gegend verboten. Es ist bestialisch.“
„Das wäre vielleicht meine dritte und vierte Frage gewesen!“, schrie sie ihn wütend an. Dabei hielt sie sich die von dem Nesselgift der Koralle verbrannte linke Hand vor ihrem Bauch und rieb sie unaufhörlich mit der anderen.
Kaum, dass er das bemerkte, machte er sofort einen Schritt auf sie zu und wollte sich die Hand ansehen. „Entschuldige bitte, das habe ich nicht gewollt“, sagte er. „Ich habe Salbe dafür. Ich hole sie gleich.“
Doch Anne zog die Hand trotzig weg. „Die habe ich selbst“, gab sie zur Antwort. „Ich will endlich wissen, was hier los ist. Du tust, als könntest du kein Wort Arabisch, dabei sprichst du es perfekter als ich. Du hast nur fünfzig verzeichnete Tauchgänge in deinem Logbuch, aber tauchst, als hättest du noch nie etwas anderes gemacht. Dein Kreislaufbrevet ist zehn Jahre alt und wenn andere Taucher auftauchen, entwickelst du eine regelrechte Psychose, Phobie oder noch besser gesagt Paranoia. Und zugegeben, was mich am meisten beeindruckt, du gehst mit den Tieren um und sie mit dir, als gehörtest du zu ihnen. Du trägst Narben, die ich zum ersten Mal vor einem halben Jahr und da auch nicht so viele auf einem Körper und in diesem Ausmaß gesehen habe. Ich sah so etwas zum ersten Mal, als ich zusammen mit Sebastian heimlich die Leute von der >Blue Sea< geholt und versorgt habe. Es sind doch Narben von Peitschenhieben? Da liege ich doch richtig? Nur warst du nicht mit auf der >Blue Sea<, daran würde ich mich erinnern. Und nun möchte ich von dir wissen, wie das alles zusammenpasst“, schrie sie den Mann wütend an.
Rashid und Ahmed verzogen sich vorsichtshalber still und leise aufs Oberdeck, als sie bemerkten, dass dicke Luft zwischen den beiden herrschte.
„Okay, okay.“ Andreas erhob, als Zeichen, dass er sich ergab, die Hände. „Ich schein wirklich nicht für verdeckte Einsätze geeignet zu sein. Da hat mein Boss wohl recht“, meinte er kleinlaut und grinste dann verlegen. „Aber könntest du dich erst einmal wieder beruhigen, dann schenke ich dir gern reinen Wein ein, auch wenn das eigentlich nicht so geplant war.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter. „Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal trocken legen und ich erzähle dir dann, bei einem Glas heißen Tee, was ich dir sagen kann und darf?“
Anne beruhigte sich nur langsam wieder.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, hob sie den stählernen Rest des Harpunenpfeils auf, den Andreas aus dem Körper des Tümmlers gezogen hatte, und dachte noch einmal über diese Aktion nach. Er konnte kein schlechter Mensch sein, wenn er so etwas tat und die Tiere ihm vertrauten. Anne hatte gelernt, auf den Instinkt von Tieren zu hören und ihnen zu vertrauen. Menschen, die ihr Kater nicht mochte, behandelte sie mit Vorsicht und sie war noch nie schlecht damit gefahren. Vielleicht sollte sie Andreas mal Miekosch vorstellen, dachte sie. Dabei wusste sie aber nicht, dass ihr Kater sich bereits mit diesem Mann angefreundet hatte, während sie den einen Abend ihre Bahnen im Pool geschwommen war.
Als sie in den Salon kam, saß da schon Andreas und stellte den fertig gebrühten Tee vor sie hin.
„Ich habe schon zwei Löffel Zucker reingetan. Genauso wie du es magst“, sagte er leise.
Auch darauf hat er geachtet, dachte sie, bedankte sich für den Tee und sah ihn ohne noch etwas zu sagen gespannt an.
„Okay“, meinte er und schlürfte von dem heißen Getränk, dann begann er zu erzählen: „Meine Narben rühren wirklich von Peitschenhieben her. Das hast du richtig erkannt. Ich war als verdeckter Ermittler im Einsatz, nur wusste keiner von uns, dass es Informanten in den eigenen Reihen gab. So flog ich schnell auf und sie haben mich geschnappt. Sie wollten aus mir weitere Informationen rausprügeln, die ich ihnen, weil ich nun mal auch trotzig und stur sein kann, nicht geben wollte. Ich wurde tagelang gefoltert, nicht nur mit einer normalen Peitsche, auch mit Glasfieberstäben, feinen Stahlpeitschen. Sie benutzten mich als Aschenbecher, um ihre Zigarettenkippen auszudrücken, verpassten mir Stromschläge und meinten es auch mit glühenden Eisenstangen gut mit mir. Eben alles, was den sauberen Herren in die Hände fiel, um ihre Fantasien auszuleben. Kurz bevor mich diese Kerle erschießen wollten, wo ich eh schon mehr tot als am Leben war, wurde ich befreit und ins Krankenhaus geflogen. Ich lebe also nur noch, dank der zehn mutigen Menschen, die du schon erwähnt hast. Mein Freund Steffen Körner fand bei dieser Aktion den Tod und der soll nicht umsonst gewesen sein, ebenso wenig wie der Tod der sieben Mitglieder des Forschungsschiffes >Blue Sea< und vieler anderer Menschen nicht. Steffen hat, zusammen mit den anderen der Gruppe, mit seinem selbstlosen Einsatz sehr viele Menschen gerettet. Ich wusste nicht, dass du auch an der Rettungsaktion für die Leute von der >Blue Sea< beteiligt warst. Damit hast also auch du mein Leben gerettet, danke. Denn dank ihnen wurden schnell die Waffenverstecke der Schmuggler ausgehoben und viele Festnahmen konnten erfolgen, wobei sie auch mich, angekettet, mehr tot als lebendig im Keller des Hauses eines hohen Beamten fanden.“ Er trank einen Schluck Tee, dann sprach er weiter: „Ich bin Mitglied einer Spezialeinheit von Kampfschwimmern mit Sonderaufträgen. Wir operieren weltweit. Ich besitze die höchste Ausbildungsstufe als Tauchlehrer und bilde auch selbst Kampfschwimmer aus. Meine dienstlichen Tauchgänge hatte ich in Klammer bei der Anmeldung mit hinter die fingierten Logbucheinträge gesetzt. Bei all diesen Tauchgängen hatte ich nie die Zeit dafür, mir die Schönheiten unter Wasser anzusehen. Gerade deshalb genieße ich die Tauchgänge mit dir ganz besonders“, gab er zu, dabei lächelte er Anne an.
Sie erinnerte sich schnell an die Zahl 6.736 und nickte ihm nun verstehend zu.
Dann sprach Andreas leise und ruhig weiter: „Wie du sicher weißt, wird dein Vater der oberste Richter bei der Verhandlung gegen die deutsche Gruppe der Waffenschieber sein, die gefasst werden konnten. Und du weißt auch, dass da ziemlich hohe Tiere mit weitreichendem Einfluss dabei sind. Darunter auch einer von denen, die meine Deckung haben auffliegen lassen und denen ich diese Narben verdanke.“ Aufmerksam sah er die Frau ihm gegenüber an, bevor er weitersprach: „Außerdem wird dein Vater auch für den Internationalen Gerichtshof auftreten. Aus sicherer Quelle wissen wir, dass abgesplitterte Gruppen eine Verurteilung dieser Kerle verhindern wollen, indem sie dich entführen und deinen Vater damit erpressen wollen. ... Damit das nicht passiert und wir auch diese bösen Jungs noch einsacken können, wurde ich losgeschickt. Und hier bin ich.“ Wieder machte er eine Pause, um etwas zu trinken, bevor er weitersprach: „Wir wissen, dass sie es auf dem Seeweg versuchen wollen und das nach Möglichkeit während eines Tauchgangs, damit es nicht so auffällt. Große Übergriffe können die sich nicht mehr leisten, das wäre für sie zu gefährlich, denn sie wollen ja nur dich haben. Die Kerle trauen sich nicht an Land, wahrscheinlich haben sie Angst vor dem ägyptischen Rechtssystem. Doch wenn sie ihr Ziel hier nicht erreichen, dann traue ich ihnen auch zu, dass sie es anders versuchen werden, deiner habhaft zu werden. Wir arbeiten hier mit den Behörden eng zusammen. Das ist eigentlich alles, was ich dir dazu sagen kann. Es tut mir sehr leid, wenn du meinetwegen in eine Feuerkoralle geraten bist. Es war ein Reflex, dich in sichere Deckung schieben zu wollen“, erklärte er noch entschuldigend zum Abschluss und sah Anne gespannt, ihre Reaktion abwartend, in die Augen.
Sie hatte Andreas nicht einmal unterbrochen. Auch jetzt, nachdem er seine Erklärung beendet hatte, war es lange still im Salon. Nur das Schlagen der Wellen gegen die Bordwand war zu hören.
„Nun ergibt vieles einen Sinn“, sagte Anne nach einiger Zeit noch immer nachdenklich. „Also wenn ich das Ganze jetzt richtig verstanden habe, so bist du so was wie mein Bodyguard und ich zugleich euer Lockvogel für den Rest der bösen Buben“, stellte sie trocken fest.
„Ja, so könnte man es auch sagen“, gab Andreas etwas unsicher zu.
„Und wie hast du das mit den Delfinen gemacht?“, wollte sie wissen.
„Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie gespürt, dass ich ihnen helfen kann. Diese Wesen sind für uns Menschen unergründlich. Keiner weiß, warum sie manchmal Leute vor dem sicheren Ertrinken retten oder so nahe an Schnorchler ran kommen und mit ihnen zu spielen scheinen. Sie verraten uns ihr Geheimnis nicht. Ich mag Delfine. Ich bin ihnen schon sehr oft bei meinen Unterwassereinsätzen begegnet. Einige haben mir sogar schon geholfen, einfach nur so. Nun hatte ich die Gelegenheit, diese Hilfe mal einem Tier dieser Art zurückzugeben“, antwortete er ehrlich.
„Woran meinst du, werden wir die Kerle erkennen?“, fragte Anne plötzlich.
„Welche Kerle meinst du?“, fragte Andreas, völlig aus den Gedanken gerissen, die noch bei dem Delfin waren. Als er sah, wie Anne mit den Augen rollte, sagte er: „Ach so, die meinst du. Ja, wenn ich das wüsste, wäre mir wohler in meiner Haut. Wir werden es wohl erst dann merken, wenn sie mich angreifen, um dich zu bekommen. Ich habe Rashid bereits gebeten, auf fremde Boote, die sich uns nähern, zu achten, die er selbst in der Gegend noch nicht gesehen hat. Das kann uns schon etwas weiterhelfen. Draußen auf See, wenn du genau hinsiehst“, sagte er und reichte ihr sein Fernglas, „kreuzt ein Schiff der ägyptischen Marine. Sie werfen immer ein Auge auf uns und sind sofort zur Stelle, wenn ich ihnen ein Zeichen gebe. Sie lösen sich mit dem ägyptischen Küstenschutz ab. Und um deiner nächsten Frage schon vorzugreifen, ja, ich spreche Arabisch. Es gehörte zu meiner Ausbildung, da ich viel in den arabischen Gebieten verdeckt eingesetzt wurde. Das ägyptische Arabisch gehörte zwar nicht mit zur Ausbildung, aber ich habe es für mich gelernt. Nun weißt du entschieden mehr, als du eigentlich wissen darfst“, gestand Andreas. Dann stand er auf, nahm Anne fest bei den Schultern, sah ihr direkt in die Augen und sagte: „Aber ich vertraue dir. Ich hoffe, du vertraust mir ebenso. Glaube mir, ich werde alles dafür tun, dich zu beschützen … und das nicht nur, weil es mein Job ist“, fügte er dann noch leise hinzu, dabei strich er ihr sacht über ihr noch feuchtes Haar.
Annes Gesicht war ernst und sie schien in Gedanken weit weg zu sein. „Weiß mein Vater von alledem?“, fragte sie dann leise.
Andreas schüttelte mit dem Kopf. „Nein, wir haben ihm nichts davon gesagt. Wir wollen ihn nicht verunsichern und damit ungewollt sein gutes Urteilsvermögen beeinflussen.“
„Gut“, sagte sie und nickte erleichtert. „Er darf hiervon auch nie etwas erfahren. Kannst du mir das versprechen?“
Wieder nickte Andreas. „Wir haben nicht vor, es ihm zu sagen. Und ich werde mein Bestes tun, dass es so bleibt. Das verspreche ich dir.“ Sie stellte ihr leeres Glas in die kleine Kombüse, ging aufs Deck und rief dem Kapitän auf Arabisch zu, dass er nach „Carlson´s Corner“ fahren solle, um dort festzumachen. Andreas kam ebenfalls aufs Deck und wollte von Anne wissen, was sie denn vorhabe. Schnell erklärte sie ihm, dass dieser ein etwas tieferer Tauchplatz ist und zumeist nur zum ersten Tauchgang von den Booten angefahren wird, dass sie auch langsam Hunger bekam und sie dort geschützter als hier an dem unbekannten Erg stehen würden.
„Damit das Essen wenigstens auf den Tellern bleibt und bei dem Wellengang nicht durch den Salon kullert, wie es hier der Fall sein würde. Außerdem brauchen die beiden Männer am Ruder auch mal eine Pause“, erklärte sie.
Er hatte ganz vergessen, dass sie nicht vor Anker gegangen waren, sondern Rashid das Boot immer noch versuchte auf einer Stelle zur Strömung zu halten.
Eine halbe Stunde später erreichten sie ihr Ziel und Andreas half mit an den Ankertauen, während sich Ahmed schon in der Kombüse zu schaffen machte. Nach dem Essen machten sie ihre Oberflächenpause, in der nun auch Anne öfter aufs Meer raus blickte und nach anderen Booten Ausschau hielt.
„Hast du nun Angst“, wollte Andreas wissen, als er es bemerkte.
Sie lächelte. „Sollte ich denn? Ich denke, du beschützt mich?“ Dann nach einer Weile sagte sie noch: „Nein, ich vertraue dir. Nur dachte ich, dass wir uns ablösen könnten. Ich kenne hier doch ein paar Boote mehr von den anderen Tauchbasen, als du.“
Nun musste auch er lächeln. „Ja, da hast du wohl recht. Und, was hast du nun vor? Fahren wir dann zurück?“, wollte er von ihr wissen. Forschend sah Anne den Mann an, der ihr sehr lieb geworden war. „Meinst du nicht auch, dass ich dann ein schlechter Lockvogel wäre? Ich dachte, ihr wollt die Kerle erwischen!? Ich auch. Nein, wir fahren zurück zu dem Erg. Ich will es mir nun endlich richtig ansehen. Was dagegen?“
„Nein, ganz und gar nicht“, gab Andreas zu. „Du bist eine sehr mutige Frau.“
Anne winkte nur ab und legte sich in die Sonne. Dabei war sie darauf bedacht, dass sie ihre linke Hand im Schatten behielt. Auf ihrem Handrücken hatten sich rote Flecken gebildet, die zu kleinen Erhebungen, wie die von großen Mückenstichen, heran wuchsen und in der Sonne schmerzlich wie Feuer brannten. Andreas tränkte ein Handtuch mit Essig, welchen er aus der Kombüse geholt hatte und legte das Tuch vorsichtig auf ihre Hand. Das brachte ihr Kühlung und erste Linderung gegen den brennenden Schmerz. Dann holte er die Salbe aus seinem Rucksack und verteilte diese ganz sacht auf dem betroffenen Handrücken.
Nach ihrer Pause fuhren sie zurück zu dem Erg und sie machten sich für ihren erneuten Tauchgang fertig.
„Hier, auch wenn es nicht üblich ist im Roten Meer“, sagte Andreas verzeihend lächelnd und reichte ihr ein Paar Neoprentaucherhandschuhe. „Aber ich glaube, es ist für dich sicherer, wenn du sie trägst, solange du mit mir Psychopathen tauchst.“
Anne musste laut lachen und entschuldigte sich für die Psychose, Paranoia und Phobie, die sie ihm in ihrer ersten Wut angedichtet hatte. Dankbar nahm sie die Handschuhe an und streifte sie sich über. Sie überprüften gegenseitig ihre Geräte und stellten sich, auf das Signal von Rashid wartend, für den Sprung bereit, auf die Taucherplattform.
Dieses Mal konnten sie das gesamte Erg ohne jeden Zwischenfall umrunden. Immer wieder staunten beide über die schönen Gorgonien, den Reichtum an Fischarten und Korallen. Sie hatten eine noch unberührte Unterwasserlandschaft vor sich und wurden nicht müde des Schauens und Staunens. Auf acht Metern Tiefe entdeckten sie eine niedrige Höhle. Anne leuchtete neugierig mit ihrer Unterwasserlampe hinein. In dieser Höhle tummelte sich ein großer Schwarm Glasfische. Kleine Putzergarnelen waren gerade damit beschäftigt einen Gelbflecken-Igelfisch von seinen Parasiten zu befreien und hatten dabei dem Anschein nach, ein wahres Festessen. Eine Gruppe Kurznasendoktorfische zogen an ihnen vorbei, als sie weiter tauchten. Verschiedene Arten von schön gezeichneten Papageifischen besiedelten das Erg. Große Gruppen von Rot Meer Wimpelfischen, Schwarzrücken Falterfischen, sowie Maskenfalterfischen mit den schönsten Korallen im Hintergrund gaben ein Bild ab, wonach sich jeder Unterwasserfotograf die Finger lecken würde. Anne und Andreas schien es so, als ob sie ein Paradies gefunden hätten. Gleich zweimal umrundeten sie das Erg in verschiedenen Tiefen und immer wieder entdeckten sie Neues und Schönes. Langsam tauchten sie in einer Tiefe von fünf Metern aus, sodass sie keinen extra Sicherheitsstopp machen mussten, als sie ins Freiwasser zurückkehrten, um von der >Amun Re< aufgenommen zu werden.
„Damit gibt es ein neues Highlight als Tauchspot im Roten Meer. Erg Anne. Ich gratuliere dir zu dieser Entdeckung“, sagte Andreas, kaum dass sie wieder an Bord waren. „Es ist ein wunderschönes Erg. Ich danke dir, dass ich es mit dir betauchen durfte.“
Anne bedankte sich für das Komplement, dann wurde sie nachdenklich und meinte: „Ich weiß nicht, ob es so gut wäre, das an die große Glocke zu hängen. Denn wenn es erst einmal regelmäßig betaucht wird und vielleicht auch Anfänger, die noch nicht richtig tarieren können, hierherkommen, wäre es schnell mit der Schönheit da unten vorbei. .... Ich denke, es wäre besser, ich lasse es als kleinen Geheimtipp für wirklich gute Taucher, die achtsam mit der Natur umgehen.“
Andreas gab ihr Recht. „Ja, man sollte sehr sorgsam mit einem solchen Schatz umgehen.“ Er lächelte sie an, während er ihr aus dem engen Neoprenanzug half. „Ich weiß, du wirst das Richtige tun.“
Ahmed hatte in der Zwischenzeit, als sie noch tauchen waren, einen Kuchen gebacken, den sie alle vier gemeinsam, mit einer Tasse Cappuccino dazu, den Anne aus Deutschland mitgebracht hatte, auf dem Oberdeck genießen konnten und dabei viel lachten. Sie sprachen nur noch ägyptisch miteinander, doch Andreas bat die beiden Männer, auf der Basis davon nichts zu erzählen, dass er ihre Sprache verstand und sprach. Gern versprachen sie es ihm und sicherten auch ihre Hilfe zu, bei dem, was er und Anne vorhatten.
„Ich bin sehr froh“, sagte er dann auf Deutsch an Anne gewandt, „dass du solche guten Freunde hast.“
„Es sind nicht nur meine Freunde“, gab sie lächelnd zurück, „sondern auch deine, Andy. Hast du das noch nicht bemerkt?“
Dann setzte sie sich ans Ruder und nahm Fahrt auf. Sicher steuerte sie das Boot an kleinen Ergs und Riffen vorbei, die nur schwach an der Wasseroberfläche zu erkennen waren. Andreas setzte sich neben sie und betrachtete sie von der Seite, während sich die beiden Ägypter am Heck des Schiffes, frisch gewaschen, ihrem Gebet widmeten.
„Du fährst die >Amun Re< sehr sicher“, stellte er nach einer Weile fest.
Anne erzählte ihm, dass sie vor zwei Jahren ihr Kapitänspatent für solche und etwas größere Boote gemacht hatte, die Chefs auf der Basis aber davon nichts wussten. Sie wollte es ihnen auch nicht sagen. Denn sie hatte den Schein eigentlich allein für sich gemacht. Nur Sebastian, von der Nachbarbasis, hatte sie davon erzählt, weil sie es jemandem erzählen musste, als sie den Schein endlich in ihrer Hand hielt. Deshalb hatte Sebastian sie auch um ihre Hilfe gebeten, als es darum ging, in der Nacht aufzubrechen, um die dreißig Menschen heimlich von der >Blue Sea< zu schaffen. Waffenschmuggler hatten sie als Tarnung für ihre schmutzigen Geschäfte benutzt und sie bestialisch behandelt. Ihm war damals ein Kapitän wegen Krankheit ausgefallen. Da er aber jedes Boot in dieser Nacht brauchte, rief er sie an, als sie gerade zu Bett gehen wollte. Sie berichtete ihm von der ganzen Aktion und den verletzten und verängstigten Menschen, die sie an Bord genommen hatte, um sie von dort wegzubringen. Und wie froh sie alle waren, endlich in Sicherheit zu sein, nachdem sie viele Wochen gequält und gedemütigt worden waren.
Gespannt lauschte er ihrer Erzählung über diese Nacht vor einem halben Jahr, wenige Tage vor Weihnachten. Er nickte ihr nur immer wieder verstehend zu und sah dabei das Funkeln in ihren Augen. Plötzlich drehte sie sich direkt Andreas zu und sah ihn ernst an.
„Andy, ich will den Rest der Kerle haben, die so etwas mit Menschen machen und ich werde alles tun, was du sagst, damit wir die kriegen“, sagte sie mit entschlossener Miene. Was Andreas in dem Moment sehr überraschte. Er hatte nicht damit gerechnet und konnte einfach nicht anders, als ihr Gesicht sanft in die Hände zu nehmen. Dann drückte er ihr, nahe dem Haaransatz, einen Kuss auf die Stirn.
„Das werden wir, Mädchen. Ich verspreche es dir.“ Dabei wischte er ihr sacht eine Träne weg, die ihr langsam die Wange herunterlief, weil der aufkommende Wind ihre Augen gereizt und gerötet hatte. Er schob ihr die Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif getragen hatte, vorsichtig als Schutz vor dem Wind, auf ihre Nase.
Andreas ging kurz unter Deck in den Salon. Er holte seine warme Fleecejacke aus dem Rucksack, ging damit wieder zu Anne und legte sie ihr um. Kurz darauf kam Rashid zurück und übernahm das Steuer wieder. Er lächelte dabei die beiden deutschen Freunde an und erkannte, noch bevor sie es selbst bemerkten, dass sich tiefe Gefühle zwischen den beiden entwickelten. Und er sah es gern. Er kannte Anne schon sehr lange und achtete auf sie, wie auf eine leibliche Tochter. Er versuchte sie von so manchen Männern fernzuhalten, die mit ihr als Tauchtouristen aufs Boot kamen und zudringlich wurden. Keiner war ihm recht. Doch diesen Andreas mochte er. Er hatte ihn vom ersten Moment an in sein Herz geschlossen. Der alte Kapitän hatte schon viel in seinem Leben gesehen und erlebt. Er konnte sich auf seine Menschenkenntnis verlassen.
Anne und Andreas gingen in den kleinen Salon, wo sie ihm die wärmende Jacke zurückgab und ihre eigene überzog. Sie packten schweigend ihre Sachen so weit zusammen und bedankten sich für den Cappuccino, den ihnen Ahmed gab, bevor er ein Glas hoch zum Kapitän brachte. Sie hatten noch gut eine Stunde Fahrt vor sich, als sie das Hupsignal vom Kapitän hörten. Schnell liefen sie zum Bug des Schiffes und sahen aufs Meer. Eine Schule Delfine tummelte sich in ihrer Bugwelle und begleitete das Boot.
„Wie mag es dem verletzten Tümmler gehen?“, fragte Anne, während sie dem Spiel der Delfine zusah.
Andreas trat neben sie. „Ich hoffe besser. Seine Familie wird sich um ihn kümmern. Mehr hätten wir für ihn nicht tun können“, antwortete er leise, rückte dabei näher an die Frau heran und legte seinen Arm um ihre Schulter. In dem Moment schossen zwei der Delfine aus dem Wasser, und platschten dann nach einem Salto kopfüber zurück. Lachend und Beifall klatschend honorierten Anne, Ahmed, Rashid und Andreas die Leistung der Meeressäuger, welche Spaß daran zu haben schienen, ihre Kunststücke zu zeigen. Ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die einzigartigen Wesen wieder im Meer, als wären sie nie da gewesen.
Anne und Andreas winkten Rashid dankend zu, dass er sie durch sein Signal über den Besuch der Delfine informiert hatte, dann gingen sie zurück in den Salon, um ihren Cappuccino auszutrinken.
Wieder war die >Amun Re< das letzte Boot der kleinen Flotte von der Basis, das im Hafenbecken festmachte. Sie verabschiedeten sich von Ahmed und Rashid und bestiegen den für sie bereitstehenden Pick-up, um zur Basis zu gelangen.
Anne ging nur kurz ins Office, um sich zurückzumelden, dann setzte sie sich zu Andreas in eine gemütliche Ecke, über der ein Ventilator rotierte und etwas kühlere Luft spendete. Denn die Sonne hatte die überdachte Terrasse der Basis über den Tag doch sehr aufgeheizt. Die beiden Taucher naschten Chips und Erdnüsse, tranken ihre Flasche Bier und beobachteten die anderen Leute auf der Basis. Immer wieder kamen befreundete Tauchlehrer auf sie zu. Sie unterhielten sich mit ihnen eine Weile, dann gesellten sie sich wieder zu ihrer Gruppe von Tauchern, die sie an diesem Tag begleitet hatten, auch wenn sie gern noch bei Anne und Andreas geblieben wären.
Allmählich leerte sich die Tauchbasis. Die Leute gingen zu ihren Hotels oder wurden dahin mit den basiseigenen Jeeps gebracht. Am Ende saßen alle Tauchlehrer und das Ehepaar, dem die Tauchbasis gehörte mit bei Andreas und Anne am Tisch. Beide erzählten von dem neuen Erg, welches sie betaucht hatten. Anne äußerte aber gleich ihre Bedenken, was dieses Erg anging und dass sie nicht wolle, dass es durch regelmäßigen Tauchtourismus zerstört werden sollte. All ihre Kollegen verstanden das und versprachen, >Erg Anne< nur selten und wirklich nur mit erfahrenen Tauchern anzufahren. Anne wusste, dass sie sich auf ihre Kollegen verlassen konnte. Sie alle liebten die Unterwasserwelt und würden nicht zulassen, dass sie sinnlos zerstört wurde. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sie sich voneinander. Die meisten stiegen in den bereitstehenden Kleinbus, der sie zu ihren Unterkünften, meist in WGs brachte, wo sie miteinander wohnten. Die Chefs nahmen in ihrem Jeep Rolf und Dirk ein Stück mit. Andreas stieg wieder zu Anne auf den Roller und hielt sich gut an ihr fest, als sie Gas gab und auf dem sandigen Weg hoch zur Straße beschleunigte.
Als sie Andreas vor seinem Hotel absetzte, sagte sie: „Also dann bis in einer Stunde, ich hole Dich dann hier wieder ab.“ Andreas schaute die Frau etwas verdattert an und fragte zurück.
„Wie meinst du das?“
„Na Ali hat dich doch auch für heute zur Feier, der Geburt des Sohnes seines Bruders, eingeladen? Oder willst du da etwa nicht mit hin?“
„Oh nein, ja doch. Ich hatte es ganz vergessen“, gab Andreas ehrlich zu und lächelte sie entschuldigend an. „Was trägt man eigentlich zu solch einem Fest und was soll ich mitbringen?“, fragte er unsicher. Anne besah sich den Mann von oben bis unten. „Komm so, wie du bist. Sie werden dich mögen. Also, in einer Stunde bin ich wieder da.“ Dann gab sie Gas, ließ ihn einfach stehen und reihte sich in den Verkehr ein, um schnell nach Hause zu kommen.
Andreas ließ sich an der Rezeption seinen Zimmerschlüssel geben und eilte nach oben, in die vierte Etage. Er duschte und rasierte sich, zog sich ein weißes Hemd und schwarze leichte, lange Hosen an, kämmte sein Haar und band es zu einem Zopf im Nacken zusammen. Kurz darauf hängte er seine nassen Sachen auf den Balkon zum Trocknen und wartete auf den verabredeten Anruf. Schon wenig später klingelte sein Handy. Er meldete sich und informierte seinen Gesprächspartner darüber, dass ihre Zielperson über alles Bescheid wusste und bereit war, sie zu unterstützen. Er wurde im Gegenzug davon unterrichtet, dass die Ägypter seinem Wunsch nachgekommen waren und einen Wachposten der Touristenpolizei in unmittelbarer Nähe des Hauses ihrer Zielperson postiert hatten.
„Ich habe keine Ahnung, ob es so gut ist, dass diese Frau alles weiß“, gab Jens Arend, sein Vorgesetzter, zu. „Aber es stimmt, eines der Boote von Sebi wurde von einer Frau gesteuert, auf die deine Beschreibung von ihr passt. Sie hatte sich um die Verletzten gekümmert. Ihr Auftreten war sicher und professionell, dadurch ist sie Pitt, Uwe und mir auch erst aufgefallen. Wenn du sagst, dass es Anne Kamp war, dann ist sie ja vielleicht so eine Art Romana Veit von unserer Gruppe von damals. Das wäre nicht schlecht. Passe bitte gut auf sie auf. Bussard Ende.“ Andreas trennte die Verbindung und erinnerte sich an diese Romana Veit, von der sein Chef gerade gesprochen hatte. Sie wurde ihm zwei Monate nach seiner Befreiung vorgestellt. Da war sie schon mit seinem alten Kameraden und Freund Ralf Richter verheiratet und sie hatten die Zwillinge seines gefallenen Freundes und ehemaligen Vorgesetzten Steffen Körner, adoptiert. Diese beiden, Ralf und Romana, hatten von sich aus die Aktion zur Befreiung der Besatzung der >Blue Sea< und der Meeresforschungsstation unter Einsatz ihres Lebens gestartet. Besonders ihnen hatte er sein Leben zu verdanken, auch wenn sie das zu Beginn ihrer privaten Rettungsaktion nicht wussten. Ja, er glaubte, dass Anne dieser Romana sehr ähnlich war. Denn Anne hätte sich auf dem Boot voller Angst verkriechen können, nachdem sie alles von ihm erfahren hatte. Doch sie hat es nicht getan, sondern ist wieder mit ihm tauchen gegangen und sie würde es auch morgen wieder tun. Als er auf seine Uhr sah, bemerkte er voller Schrecken, dass die Stunde schon fast um war. Schnell ging er noch einmal in sein kleines Bad, legte noch etwas Gesichtslotion nach und betrachtete sich abschließend im Spiegel. Er verschloss die Zimmertür hinter sich und eilte nach unten. Als er den Schlüssel an der Rezeption abgab, sah er, dass Anne bereits auf ihn wartete.
„Wow, und ich dachte immer, Männer müssten auf die Frauen warten“, begrüßte sie ihn etwas belustigt.
Schnell stieg er mit einem: „Sorry, ich hatte noch einen wichtigen Anruf“, zu ihr auf den Roller. Noch bevor Andreas richtig saß, gab Anne Gas und schwenkte in einer scharfen Kurve nach links weg, um in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Mit leichten Schlenkern umfuhr sie sicher jedes Schlagloch und die tiefer liegenden Schleusendeckel der Straße. Nach wenigen Minuten lenkte sie den Roller auf eine weniger befestigte Straße und sie kamen in ein Viertel, welches nichts mehr mit den hell beleuchteten und schmucken Hotelvierteln an der Hauptstraße zutun hatte. Hier gab es armselige, windschiefe Wellblechbaracken neben, wie es schien, im Rohbau befindlicher Betonklötzer.
„Hier leben viele der Ägypter, welche die Touristen täglich von früh bis spät und immer mit einem netten Lächeln bedienen“, sagte Anne laut erklärend, um die Geräusche des Motors ihres Rollers zu übertönen. Dann bogen sie auf einen hell erleuchteten Platz ab, wo Anne rechts neben einem niedrigen Gebäude anhielt und den Motor abstellte.
„Wir sind da“, sagte sie und wartete geduldig, bis ihr Sozius abgestiegen war. Sie bockte den Roller auf, nahm den Helm ab und ihr blondes, langes Haar viel offen über ihre Schultern und umschmeichelte ihren Körper. Anne legte ihren Helm auf die Sitzbank und steckte mit wenigen Handgriffen ihr Haar zu einer schönen Frisur hoch.
„Willst du nicht den Schlüssel abziehen?“, fragte Andreas etwas verwirrt, als er bemerkte, wie Anne einfach losgehen wollte, obwohl der Schlüssel noch im Zündschloss steckte.
„Wir sind hier nicht in Deutschland“, sagte sie ihn anlächelnd, „Hier beklaut man seine Nachbarn und Freunde nicht.“ Erst jetzt sah Andreas, dass die Frau ein wunderschönes und dennoch schlichtes, rotes Kleid mit feinen Stickereien darauf trug, welches bis zu den Knöcheln reichte und ihre Schultern und Arme spielerisch mit feiner Seide umhüllten.
„Du siehst zauberhaft aus“, gestand er bewundernd.
Anne reichte Andreas ihre Hand, die er gern ergriff und sie gingen gemeinsam auf den hell erleuchteten Festplatz zu. Wie es Andreas vorkam, hatten sich wohl die Ägypter von halb Hurghada versammelt und tanzten fröhlich. Er sah da viele bekannte Gesichter, von den Angestellten der Tauchbasis bis hin zu Angestellten aus dem Hotel, wo er untergebracht war. Auch Rashid und Ahmed von der >Amun Re< konnte er entdecken. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, kamen sie fröhlich auf sie zu und begrüßten sie herzlich. Schnell wurde Anne von den, teils auch verschleierten, Frauen in Beschlag genommen und Andreas wurde von den Männern umringt.
„Ja, mein Freund, so ist es hier“, hörte Andreas eine vertraute Stimme hinter sich sagen. Als er sich umdrehte, stand da sein alter Freund und ehemaliger Kampfgefährte Sebastian Rothe hinter ihm. Andreas betrachtete den Mann, den er gute drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, von oben bis unten, und wenig später lagen sich die beiden Freunde in den Armen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern.
„Ich sehe, du bist mit Anne gekommen“, stellte Sebastian fest. „Dann verbrenne dir mal nicht die Finger.“
„Ich glaube, die Warnung kommt zu spät, mein alter Freund“, gab Andreas zu, während beide auf die Frau in Rot schauten, die da in einer Gruppe von Frauen stand und mit ihnen lachte.
„Nicht dass ich unhöflich sein möchte oder dir einen Urlaub hier nicht gönne“, sagte Sebastian ernst und fragte, „Also, warum bist du hier? Hat es etwas mit ihr zu tun?“, dabei zeigte er leicht mit dem Kopf in Richtung der Frau. Andreas nahm seinen Freund beim Arm und zog ihn etwas aus dem Getümmel in eine ruhigere Ecke.
„Ja, es hat etwas mit ihr zu tun und ich bräuchte dabei deine Hilfe“, antwortete er und erzählte seinem Freund die ganze Geschichte.
„Und Bussard ist damit einverstanden, dass ich als Zivilist mitmische?“, wollte Sebastian zum Abschluss wissen.
„Ja, er hat mir freie Hand gelassen. Es ist meine Entscheidung“, antwortete Andreas ehrlich.
„Und Anne weiß Bescheid, was da gespielt wird?“ Auch das bejahte Andreas und sah wieder zu der schönen Frau, die sich zwischen den anderen Frauen gut zu amüsieren schien. Auch Anne sah immer wieder zu den beiden Männern herüber, die sich sehr ernst unterhielten.
„Gut, dann bin ich dabei“, teilte Sebastian seine Entscheidung mit. „Wir werden das Kind schon schaukeln. Wird Zeit, dass mal wieder Leben in die Bude kommt.“ Fest drückten sich die beiden Freunde die Hand, dann mischten sie sich wieder unter die feiernden Ägypter.
„Schau mal da drüben neben Anne die Frau in dem blauen Kleid.“ Dabei zeigte Sebastian in die Richtung der Gruppe von Frauen. „Das ist meine Kim. Wir haben vor zwei Monaten geheiratet.“
„Hey, gratuliere alter Kumpel“, sagte Andreas und schlug seinem Freund anerkennend auf die Schulter.
„Lass uns zu den beiden Frauen gehen, ich stelle Dich meiner Kim gern vor.“
Auf dem Weg dahin bemerkte Andreas, dass sein Freund überhaupt nicht mehr hinkte. Jemand, der nichts von seiner Unterschenkelamputation wusste, wäre es überhaupt nicht aufgefallen.
„Mensch Alter, du läufst ja in der Zwischenzeit richtig gut mit deiner Prothese, oder ist das Bein nachgewachsen?“, sagte er anerkennend zu Sebastian.
„Manchmal kommt es mir auch so vor. Da juckt der große Zeh, obwohl ich weiß, dass er doch gar nicht mehr da ist und ich erwische mich dabei, an der doofen Plastikwade zu kratzen“, antwortete Sebastian lachend.
Als Anne und Kim sahen, dass die beiden Männer auf sie zukamen, lösten sie sich aus der Gruppe der anderen Frauen und gingen ihnen ein Stück entgegen.
„Oh ja, deine Kim ist eine Zierde für jeden Garten“, sagte Andreas zu seinem Freund, der sie gerade miteinander bekannt gemacht hatte. Andreas deutete einen Handkuss an „Halten Sie ihn gut fest und die Zügel ruhig etwas straffer, das braucht der Kerl“, flüsterte er der schönen Frau zu, wofür er sich sofort eine saftige Kopfnuss von Sebastian einfing und alle vier lachten laut darüber.
In diesem Moment trat Ali mit seinem Bruder Kalif aus dem Haus. Fatima, die das Baby auf dem Arm trug, hatten sie in ihre Mitte genommen. Kalif dankte den Gästen, dass sie alle gekommen waren, um die Geburt seines ersten Sohnes Jamal zu feiern.
„Und jetzt kommt das Ritual, an das ich mich nie gewöhnen werde“, sagte Anne leise und Kim nickte ihr bestätigend zu.
Andreas sah seinen Freund fragend an.
„Ja mein Großer, hier wird zu Ehren des Kindes ein Lamm geschlachtet, ebenso wie bei Schiffstaufen, Hochzeiten und so weiter. Aber bei ebendiesem Brauch ist mir Kim vor einem Jahr quasi direkt in die Arme gefallen und wir haben uns noch am selben Abend verliebt“, erklärte Sebastian seinem Freund dieses Ritual und flüsterte er ihm leise zu: „Sei einfach bereit.“ Dabei richtete er seine Augen vielsagend in Richtung der beiden Frauen. Wieder sah Andreas seinen Freund fragend an. Dieser grinste nur und meinte: „Du wirst schon sehen.“
Drei Ägypter führten ein kleines, ängstlich blökendes Lämmchen auf den Platz. Sie wünschten dem neuen Erdenbürger lautstark ein langes und glückliches Leben, dann griff einer der Männer zu einem Dolch, schnitt dem Tier mit einer gekonnten Bewegung die Kehle und Halsschlagader durch und sie hängten es zum Ausbluten auf. Noch bevor der Ägypter das Messer ansetzte, wandten sich die beiden Frauen ab. Anne verbarg ihr Gesicht, sichtbar entsetzt an die Brust von Andreas, um das Schauspiel nicht sehen zu müssen. Anfangs war er überrascht, doch dann legte er noch immer etwas zögerlich seine Arme beschützend um die zierliche Frau. Auch Kim wurde von ihrem Mann schützend in die Arme genommen.
„Na, sagte ich es dir nicht, Kumpel“, meinte Sebastian leise, dabei grinste er seinen Freund an und zwinkerte ihm zu.
Die Einheimischen aber klatschten und wünschten lautstark dem Kind ein langes, glückliches Leben. Zu rhythmischen Trommelklängen tanzten sie um die jungen Eltern mit ihrem Baby. Während die drei Männer das Lamm fachgerecht häuteten, ausnahmen und über dem Feuer an einem Spieß anbrachten, würzten und langsam zu drehen begannen, reichten Frauen den Gästen Tee.
„Okay Schatz, kannst wieder gucken, es ist vorbei“, sagte Sebi zärtlich zu seiner Frau und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch Andreas löste seine Arme, die er um Anne geschlungen hatte. Dabei sah er wie ihm der alte Kapitän, der >Amun Re< freundlich lächelnd zuzwinkerte. Andreas nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und schaute tief in ihre Augen, aus denen eine Träne kullerte. Dabei lächelte sie ihn aber an.
„Wieder alles Okay, mit dir?“, fragte er leise. Sie nickte ihm dankbar zu. Ägypter kamen auf die vier Freunde zu und zogen sie fröhlich singend und tanzend mit in ihren Kreis. Sie gehörten einfach mit dazu und wurden als Familienmitglieder behandelt. Kalif kam mit seiner Frau Fatima und dem kleinen Jamal auf Anne zu. Sie verbeugten sich als Dank für ihre Hilfe vor ihr. Dann gaben sie ihr das Baby in den Arm. Anne küsste es zärtlich auf die Stirn und wünschte dem Kind auf Arabisch alles Glück auf Erden, dass er ein großer, stattlicher Mann werden möge, der seinen Eltern viel Freude beschert. Kalif und Fatima bedankten sich für die guten Wünsche. Sie baten Anne, die Patin für ihren Sohn zu werden. Das bedeutete in dieser Kultur sehr viel für einen nicht zur Familie gehörenden Fremden, der noch dazu aus einem anderen Land kam und nicht ihrer Religion angehörte. Anne nahm die große Ehre dankend an und verneigte sich vor den Eltern des Jungen. Wieder klatschten die ägyptischen Gäste begeistert und ließen Anne mit dem Baby in ihrem Arm hochleben. Die Frauen zogen sich danach gemeinsam mit ihr in das Haus zurück, um das Kind schlafen zu legen, welches nun lauthals zu schreien begonnen hatte.
„Damit ist Anne nun bereits das fünfte Mal Ehrentante geworden“, erklärte Sebastian seinem Freund. „Keine Sorge, mein Großer, sie wird schon in wenigen Minuten wieder bei uns sein. Nur Fatima und ihre Mutter werden bei dem kleinen Hosenscheißer bleiben“, fügte er dann noch erklärend hinzu, als er bemerkte, wie Andreas Anne nachsah.
Die Männer mischten sich mit unter die Gäste, lachten und tanzten mit ihnen. Dann wurde das Lamm angeschnitten und gerecht an alle verteilt. Andreas nahm einen zweiten Teller und brachte ihn zu Anne, die mit den Frauen etwas abseits stand. Sie setzten sich mit den anderen auf eine der Decken, die rund ums Feuer gelegt wurden, und ließen sich das zarte Fleisch schmecken. Immer wieder wurde gelacht, erzählt, musiziert und gesungen. Man rauchte Wasserpfeife, trank Kaffee, Tee oder Wasser und Musikanten spielten alte ägyptische Lieder, bei denen viele mit sangen. Kinder tollten umher und bezogen gern die Gäste in ihr Spiel mit ein. Anne ging kurz zu ihrem Roller, schloss das Sitzfach auf und brachte einen großen Stoffbeutel zum Vorschein. Damit kam sie wieder zu den anderen zurück. Neugierig geworden kamen die Kinder zu ihr gelaufen und umringten sie. Anne schüttete den Inhalt des Beutels auf eine der Decken und ging schnell ein Stück zur Seite. Viele bunt verpackte Bonbons, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte und kleine Schokoladenfiguren, die in Silberfolie eingepackt, Käfer und andere lustige Figuren darstellten, fielen zur Freude der Kinder durcheinander auf die Decke. Lachend liefen sie mit ihrer Beute zu ihren Eltern, um sie ihnen zu zeigen. Ein kleines Mädchen stellte sich vor Andreas und zupfte ihm am Hemd. Als er sich zu ihr herunterbeugte, zeigte sie ihm einen solch eingepackten Schokoladenkäfer.
„Das ist Amira“, erklärte ihm Anne, „sie möchte, dass du ihr beim Auspacken der Schokolade hilfst. Sie traut es sich nicht allein.“
Andreas setzte sich auf die Decke, hob das Mädchen sacht auf seinen Schoß und zeigte ihr, wie sie das Silberpapier aufbekam. Schnell schob Amira freudestrahlend die Leckerei in ihren Mund, gab ihm, zu seinem großen Erstaunen, einen Kuss auf die Wange und rannte mit dem glänzenden Papier zu ihrem Vater, der den Käfer wieder heil machen sollte. Dann steckte sie das leere, vom Vater zusammengefaltete bunte Silberpapier vorsichtig in die Tasche ihres Kleidchens.
Sie winkte Andreas noch einmal zu, bevor sie wieder zu den anderen Kindern lief.
„Wow, das ging aber schnell. Kaum hier im Land, da hat der Kerl schon eine heimliche Verehrerin“, witzelte Sebastian.
„Ja, die Mädchen haben eben Geschmack“, gab Andreas lachend zurück und winkte der kleinen Amira zu, als sie ihn wieder verschmitzt zulächelte.
„Ist schon komisch“, sagte dann auch Anne. „Amira ist sonst eigentlich eher schüchtern und sehr zurückhaltend gegenüber Fremden.“
Bis weit nach Mitternacht ging die Feier. Dann verabschiedeten sich die vier Freunde herzlichst von den Gastgebern und machten sich auf den Heimweg. Anne setzte Andreas vor seinem Hotel ab und wünschte ihm eine gute Nacht.
Als der Mann die Treppen zu seinem Zimmer hochstieg, war er noch immer in Gedanken bei den freundlichen Menschen, mit denen er einen so netten Abend und die halbe Nacht verbracht hatte. Er nahm sich eine Flasche Stella aus der Minibar des Kühlschrankes und setzte sich auf den Balkon, wo er die Beine auf den Tisch legte, in die Sterne schaute und dabei sein Bier trank. Dann stellte sich bei ihm die Müdigkeit ein und er entschied sich, ohne noch einmal zu duschen, ins Bett zu gehen.
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