Unter Beobachtung
7. Teil
27
Schon kurz nachdem Andreas in seinem Hotelzimmer angekommen war, klopfte es an der Tür.7. Teil
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„Komm rein, Doc. Es ist offen“, rief er, während er die Balkontür öffnete.
„Bist du nicht etwas leichtsinnig, die Tür offenzulassen?“, fragte der Arzt, bevor er Andreas begrüßte.
„Nein, Doc. Warum? Ich habe hier nur ehrliche Menschen kennengelernt.“
„Das mag sein. Aber kennst du auch alle Hotelgäste so gut?“
„Die sind noch am Pool und danach haben sie nur das Essen und die Hotelbar im Kopf“, erklärte Andreas lachend und begrüßte den Arzt herzlich. Dann fragte er besorgt nach dem Gesundheitszustand des Marinetauchers.
„Er ist noch in der Dekompressionskammer, aber sein Zustand ist den Umständen entsprechen stabil. Nur Tauchen wird er nie wieder dürfen und es wohl auch nicht mehr können“, antwortete der Arzt und war beeindruckt davon, dass Andreas gleich als Erstes danach gefragt hatte. Er zog eine Flasche Rotwein aus seiner Tasche und reichte sie ihm. Dabei erklärte er, dass es ein Wein von den fruchtbaren Hängen des Nildeltas ist, der eine gute Medizin sei.
Nur unter der Bedingung, dass sie ihn gemeinsam genießen würden, nahm Andreas die Flasche dankend an. Doch dann stutzte er und fragte vorsichtig: „Aber darfst du das als Muslim denn überhaupt?“
„Nicht alle von uns sind streng gläubig, auch wenn sie sich fast alle von Schweinefleisch fernhalten. Wie ich übrigens auch. Aber jeder Mensch hat so seine Laster. Ich das Pfeife rauchen und den Rotwein“, meinte er beiläufig und lächelte schelmisch. „Außerdem ist es Medizin und gut fürs Blut“, erklärte er und wurde aber schnell wieder ernst. „Bevor wir uns jedoch den Sünden zuwenden, möchte ich mir deine Wunde ansehen. Sebi hat berichtet, dass sie nicht so gut aussehe.“
Andreas verzog das Gesicht, aber fügte sich dem Willen des Arztes und streifte sein Shirt ab.
Doktor Mechier entfernte mit geübten Handgriffen und einer Schere den Verband. Er war nicht zufrieden mit dem, was er da sah. „Weißt du, mein Freund, manche sehen etwas, aber tun so, als hätten sie es nicht wahrgenommen. Sie fühlen etwas, ignorieren es aber. Die einen tun es aus Dummheit, andere aus Furcht und dann gibt es da noch die Gruppe von Menschen, die es zum Wohle anderer tun, aber dabei selbst sehr viel riskieren. ... Und du riskierst hier gerade eine schwere Sepsis, wenn nicht gar einen septischen Schock sowie eine verdammt schlechte Wundheilung. Doch ja, ich weiß, dass es dir das wert ist. Trotzdem müssen wir dagegen etwas unternehmen. Und zwar hier, heute und jetzt“, sagte Doktor Mechier entschieden.
„Okay, Doc. Du kannst alles Mögliche mit mir anstellen, egal wie schmerzhaft es sein mag. Aber das alles nur unter der Bedingung, dass ich keine Sekunde betäubt werden muss und jederzeit voll einsatzbereit bin. Und was noch wichtiger ist, dass ich morgen und die nächsten Tage tauchen kann und bei Kräften bin. Schnipple an mir herum nach Herzenslust. Doch halte mich fit. Dabei sind mir irgendwelche kosmetischen Aspekte ziemlich schnuppe, wenn du verstehst, was ich meine. Ich habe schon so viele Narben, da kommt es auf eine mehr nicht an. Bitte, Abdul, das ist mir sehr wichtig. Und wenn du mich dabei auch von den zusätzlichen, störenden Schmerzen, die ich zugegeben nicht immer ganz unterdrücken kann, befreien könntest, wärst du mein persönlicher Held.“
„Was meinst du mit zusätzlichen Schmerzen?“, wollte der Arzt, hellhörig geworden, wissen.
„Die Zusätzlichen sind die der Schulter. Die anderen sind noch immer das Nervengift, das sich in meinem Körper austobt und mich immer wieder krampfen lässt. Ich weiß, dagegen kannst du nichts tun. Aber gegen die Schmerzen in der Schulter vielleicht doch“, antwortete Andreas ehrlich.
Doktor Abdul Mechier hatte verstanden, wenn er es von Standpunkt des Arztes und als Mensch mit Gefühl auch nicht tolerieren konnte, dass der Mann damit noch weiter tauchen und kämpfen wollte. So konnte er es als Militärangehöriger, mit dem Wissen um seinen Auftrag, verstehen. „Andy, ich werde dir den Schmerz nicht nehmen, aber vielleicht lindern können, indem ich dir aber jetzt neuen Schmerz zufügen muss“, sagte der Arzt ehrlich. „Nehmen kann ich ihn dir nur bei einer örtlichen Betäubung. Warum willst du das nicht?“
„Weil sie abhängig vom Grad der Schmerzen ist und vielleicht gerade dann versagt, wenn ich nicht darauf gefasst bin. Aber genau das kann der entscheidende Moment sein, der für meine Freunde tödlich sein könnte. Also lieber Schmerzen, die ich einschätzen und mich sozusagen daran gewöhnen kann“, erklärte Andreas.
„Aber jetzt besteht doch keine Gefahr für deine Freunde. Die örtliche Betäubung würde nur ein paar Stunden wirken.“
„Nein, Doc, das siehst du falsch. Ich muss zu jeder Zeit mit allem rechnen, denn der Richterspruch wird schon in den nächsten Tagen erwartet. Die Kerle haben nicht mehr viel Zeit. Das Risiko beabsichtige ich nicht einzugehen. Also lass die örtliche Betäubung weg, ein einfaches Schmerzmittel muss reichen.“
„Du bist ein verrückter Mensch.“
„Ach Doc, das hast du doch schon einmal festgestellt und ich dachte, es sei geklärt“, gab Andreas zurück und lächelte den Arzt an. „Aber können wir nun zur Sache kommen. Ich habe nämlich großen Appetit auf den Wein.“
Der ägyptische Militärarzt schüttelte mit dem Kopf, aber breitete dann ein bis dahin steril verpacktes grünes Laken auf dem Bett aus. Andreas schloss in der Zwischenzeit die Balkontür. Abdul Mechier schaltete alle Lampen im Raum an. Nachdem sein Patient sich hingelegt hatte, stellte er noch die Nachttischlampe direkt neben seine Schulter, sodass die Wunde gut ausgeleuchtet wurde. Er erklärte ihm die ganze Prozedur, dass er zuerst das tote Gewebe entfernen würde, um dann die stark entzündeten Wundränder zu behandeln und danach alles neu zu vernähen. Andreas bat den Arzt noch, ihm ein Verbandspäckchen zu geben. Doktor Mechier kam sich vor, wie in einem schnell errichteten Notlazarett in dem, im Ersten und Zweiten Weltkrieg, unter den unmöglichsten Bedingungen gearbeitet wurde. Eigentlich sträubten sich all seine Nackenhärchen dagegen. Aber er schob seine OP-Lupenbrille vor die Augen, spritzte ein Mittel um die Wundränder, dass sich die betroffenen Gefäße schlossen und beim Eingriff nicht einbluteten. Dann begann er damit, das abgestorbene Gewebe vorsichtig abzutragen. Bis zum letzten Nadelstich hörte er keinen Ton von seinem Patienten. Wobei er es die ganze Zeit vermieden hatte, ihm ins Gesicht zu sehen, sondern sich nur auf seine Arbeit konzentrierte. Doch jetzt, als er fertig war und die sterile Kompresse auf die Wunde legte, sah er in das verschwitzte Gesicht seines deutschen Freundes. Er sah die geröteten, feuchten Augen und dass er die Außenhülle des Verbandspäckchens zerbissen hatte.
Er war erstaunt über die sehr hohe Schmerzschwelle seines Patienten. Aber das zeigte er nicht, sondern sagte nur, dass er fertig sei und er nun auch Durst auf den Wein bekommen habe.
Noch etwas vorsichtig erhob sich Andreas und Abdul legte ihm einen frischen Druckverband an. Er verlangte, dass er, solange er hier oder sonst allein war, den Arm zur Entlastung in einer Schlinge tragen solle, und legte ihm dafür gleich ein Tuch um.
„Doc, ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass wir den Wein nur aus normalen Gläsern und nicht seiner Herkunft angemessen, aus schönen Weinkelchen trinken können?“
Der Arzt lachte befreiend auf. „Andy, das macht gar nichts. Mit dir trinke ich den Wein zur Not auch aus einem alten, versiegtem Wasserloch in der Wüste.“ Er nahm die Flasche und ging schon auf den Balkon. Andreas brachte die Gläser. Während er sich einen Pullover überzog, goss Abdul den Wein ein. Bevor Andreas zu ihm raus kam, holte er das Ortungsgerät aus seiner Tasche und nahm es mit auf den Balkon.
Er wollte noch einmal nachsehen, wo sich das feindliche Boot befand. Gemütlich setzte er sich neben Abdul, und die beiden Männer stießen miteinander an.
Es war ein fruchtiger, feinherber Wein, der ein leicht pelziges Gefühl auf der Zunge zurückließ. Dabei war er aber auch vollmundig und schien alle Geschmacksknospen anzusprechen. Sie genossen die ersten Schlucke. Dann entschuldigte sich Andreas bei seinem Gast, als er das Ortungsgerät auf den Tisch legte und anschaltete.
Das rote Pünktchen blinkte nicht weit entfernt von dem gelben, der >Amun Re<. Nur das grüne, von Anne, blinkte nicht dort, wo es hätte sein sollen, sondern um vieles an Kilometern weiter westlich, irgendwo in der Wüste. Das versetzte ihm sofort einen großen Schreck, was Doktor Mechier gleich bemerkte und ihn deshalb besorgt fragte: „Was ist, Andy? Etwas nicht in Ordnung?“
„Ganz und gar nicht, Doc. Dieser Punkt müsste jetzt eigentlich hier blinken“, erklärte Andreas und zeigte auf den kleinen Monitor. „Und nicht da draußen in der Wüste.“
„Ist der grüne Punkt vielleicht von einem Peilsender, den unsere Anne trägt?“, wollte der Arzt wissen.
„Ja, genau, Doc. Du hast es voll erfasst. Ich muss los und sie suchen. Da ist etwas schiefgelaufen. Wir glaubten, sichere Informationen zu haben, und dachten doch, die Kerle kommen nicht an Land, sondern würden sie sich beim Tauchen schnappen wollen. Du siehst also, es war gut, mich nicht zu betäuben. Ich muss los“, sagte Andreas und sprang auch schon auf. Er zog das Dreieckstuch, in dem der Arm lag, ab und wollte ins Zimmer laufen, um ein paar Sachen zusammenzupacken, als der Arzt ihn gerade noch am Arm zurückhalten konnte.
„Keine Panik, Andy. Setzt dich wieder, leg den Arm in die Schlinge zurück und trink deinen Wein. Er wird dir guttun und ich erzähle dir in der Zwischenzeit etwas über Anne und ihr derzeitiges Ziel.“
Im ersten Moment verstand Andreas nicht, wie der Doc so gelassen bleiben konnte und ihn auch noch anlächelte. Also setzte sich wieder neben ihn.
Doktor Mechier erzählte ihm ganz in Ruhe, dass Anne etwa alle zwei Wochen, wenn es ihr möglich war, zu einem sich immer zu der Zeit in der Nähe aufhaltenden Beduinenstamm in die Wüste fuhr. Sie brachte ihnen Medikamente, die der Stamm dringend benötigte, so wie Insulin für den Stammesführer, Hygieneartikel sowie Obst und kleine Leckereien für die Kinder, die sie selbst kaufte oder manchmal auch von den einheimischen Händlern zugesteckt bekam. Er berichtete, dass Anne bei einer vierzehntägigen Wüstensafari auf diesen Stamm gestoßen war und sich mit ihnen angefreundet hatte, nachdem sie ihr bei einer schweren Sonnenallergie mit ihrer selbst hergestellten Medizin geholfen hatten. Viele Einheimische wussten davon, aber sprachen nie darüber, weil es Anne auch nie tat. Für sie gehörte es schon zum normalen Alltag dazu. Die Leute wollten sie deshalb nicht mit Fragen in Verlegenheit bringen. Meist folgte ihr im sicheren Abstand eine kleine Patrouille, um ihre Sicherheit auf der Wüstenstraße zu gewährleisten, sollte ihr Roller doch mal versagen und sie damit liegen bleiben. Aber bisher hätte sie es immer allein heil hin und wieder zurückgeschafft.
„Anne ist eine selbstbewusste, gute und starke Frau. Sie ist dir wohl körperlich unterlegen, aber ebenbürtig durch ihre Art.“ Mit dieser Feststellung schloss Abdul Mechier seinen kurzen Bericht. Trotzdem sah Andreas noch immer sorgenvoll auf das grün blinkende Pünktchen.
„Ich glaube, hätte unsere Anne ebenso ein Gerät wie du, würde sie genau so besorgt auf deinen blinkenden Punkt schauen“, meinte Abdul leise und lächelte den Mann neben sich an. „Sie mag dich sehr, habe ich den Eindruck. Und du kannst nicht leugnen, dass du auch etwas für sie empfindest. Ich sehe das.“
Andreas sah den Generalstabsarzt an und lächelte. „Dir bleibt aber auch nichts verborgen, Doc. Trotzdem ist die Frau wahnsinnig. Mit einem kleinen Roller so weit in die Wüste zu fahren und das, wo es schon dunkel ist“, sagte er noch immer besorgt.
„Oh, ich kenne da einen, der ist so wahnsinnig, einen schnellen Giftentzug zu machen, obwohl er eine schlimme Verletzung hat und dann auch noch damit tauchen geht. Ich weiß nicht, was verrückter ist?“, gab der Arzt zurück und lachte herzlich auf. Sie stießen mit ihren Gläsern an und tranken einen weiteren, großen Schluck des Weins.
Nachdem Abdul nachgegossen hatte und beide, Abdul Pfeife rauchend und Andreas sich eine Zigarette anzündend, übers nahe gelegene Meer schauten, wo gerade der Mond aus dem Wasser stieg, wurde Andreas wieder ernst. Er berichtete Abdul, dass nun jeden Tag mit dem Zuschlagen der Bande zu rechnen sei, da der Prozess um den illegalen Waffenhandelsring in die heiße Phase ging. Er gestand ihm, dass er sein volles Vertrauen genieße und er sich keinen besseren Arzt vorstellen könne. Dann bat und fragte er ihn, ob er bei einem eventuellen Notfall sofort zur Verfügung stehen könnte, und erklärte ihm auch, was genau er vorhatte. Abdul hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Doch als Andreas endete, meinte Mechier nachdenklich: „Ein sehr kühner Plan. Ihr werdet es zu zweit gegen zehn bewaffnete Männer aufnehmen müssen, die Nervengifte schon nur mal so zum Spaß verwenden. Ist euch das bewusst?“
Andreas lächelte ihn an und erzählte dann noch von dem nächtlichen Einsatz, bei dem sie den größten Teil der Waffen blockiert und die Nervengiftkapseln, soweit sie die gefunden hatten, unschädlich gemacht hatten. Er berichtete von dem neuen, besonders schnell entwickelten Gegenmittel aus Deutschland. Er gab zu, sich das Mittel schon selbst gespritzt zu haben, weil das Gift weiterhin in seinem Körper wütete und er sich eine weitere Dosis setzen würde, sobald der Schmerz wieder schlimmer würde.
„Trotzdem bleiben es zehn skrupellose Männer mit einer unbekannten Gefahr gegen euch zwei“, fasste Doktor Mechier zusammen und sagte dann auch: „Ich werde da sein, wann immer einer von euch mich braucht. Ich werde den Befehl zur ständigen Einsatzbereitschaft für das Sanitätsschnellboot und das gesamte Team noch heute ausgeben und zusätzliche Ausrüstung für Notfälle, mit denen du und auch ich so rechne, an Bord bringen lassen. Und zur Sicherheit vorsichtshalber auch unsere mobile Dekokammer. Dann kann ich zeitgleich mit den anderen Booten unserer Marine bei euch sein. Andy, du kannst dich auf mich verlassen.“ Damit reichte Abdul Mechier ihm die Hand. Andreas schlug erleichtert ein und dankte ihm herzlichst dafür. Wieder tranken sie einen Schluck von dem köstlichen Wein.
„Doc, du bist mir eine wichtige Rückversicherung für Anne und Sebastian. Und in dem Zusammenhang möchte ich dich um noch etwas bitten“, begann Andreas. Der Arzt sah ihn an und hörte aufmerksam zu, als er weitersprach: „Ganz egal, wie es auch immer für dich aussehen mag oder es dein ärztlicher Standpunkt gebietet“, sagte Andreas leise, aber eindringlich, dabei sah er dem Mann neben sich fest in die Augen, bevor er weiter sprach. „Du behandelst zuerst meine Freunde. Dazu zähle ich natürlich Anne und Sebastian aber auch Ahmed und Rashid. Erst nachdem du sie sicher versorgt und dann noch Zeit hast, komme ich dran und nicht eine Sekunde eher. Keine andere Reihenfolge. Kann ich mich auch darauf verlassen?“
Mit seinen fast schwarzen Augen sah ihn der kleine Ägypter fragend an. „Ist dir dein eigenes Leben so wenig wert?“
„Nein, Doc, das nicht. Aber das meiner Freunde ist mir wichtiger und vor allem sehr wichtig für die Erfüllung meines Auftrags, den ich dabei sogar unterordnen würde“, gab Andreas, ohne eine Sekunde zu zögern, zur Antwort.
Der Arzt hatte verstanden und versprach es, wenn auch schweren Herzens. Dann schauten beide Männer wieder auf den kleinen Monitor und beobachteten besorgt die blinkenden Lichtpünktchen. Nur dass das Augenmerk von Andreas auf das Grüne von Anne gerichtet war, die sich noch immer in der Wüste vorwärts bewegte, aber das Augenpaar des Arztes auf das Rote, der unbekannten Gefahr, fixiert war.
Es war schon spät, als Doktor Mechier sich von Andreas verabschiedete. Er wies ihn erneut darauf hin, die Medikamente und die Injektionen nicht zu vergessen und dazu das wasserdichte Pflaster aufzulegen, wenn er wieder tauchen gehen müsse. Außerdem riet er, das Mittel gegen das Nervengift eher zu nehmen, bevor es ihn zerstören könnte.
Andreas wünschte noch einen guten Heimweg, dann schloss er die Tür hinter sich. Er räumte die beiden leeren Gläser vom Balkontisch und holte das Ortungsgerät ins Zimmer. Positionierte es auf seinem Nachttisch, um die Akkus an der dort befindlichen Steckdose laden zu können. Er sah auf seine Uhr und dann aber wieder besorgt auf den kleinen grünen Punkt, der sich nun nicht mehr von der Stelle bewegte. Dabei kam ihm die Erzählung vom Doc in den Sinn. Damit wusste er Anne dort, wo sie war, in Sicherheit. Die frisch operierte Wunde schmerzte, doch das Nervengift in seinem Körper um einiges mehr. Also nahm er zwei von den Kapseln, die ihm der Doc dagelassen hatte, obwohl er nicht so auf das Schlucken von Tabletten stand.
Er spritzte sich noch eine Dosis von dem Gegenserum, dieses Mal intravenös, um es rascher in den Blutkreislauf zu bringen, und ging zu Bett. Das Medikament wirkte überraschend schnell, und er schlief tief und fest ein. Dabei schöpfte jede Faser seines Körpers frische Kraft aus dem Schlaf.
28
Anne hatte die Nacht bei dem Beduinenstamm in der Wüste verbracht. Noch bevor es hell wurde, verabschiedete sie sich von den Frauen und Männern, stieg auf ihren Roller, um den weiten Weg zurück anzutreten.Als Schutz vor dem aufwirbelnden, feinen Wüstensand hatte sie sich ein Tuch vor Nase und Mund gebunden und das getönte Visier ihres Jet-Helms tief nach unten gezogen.
Die Sonne ging gerade auf, als sie kurz anhielt. Sie holte ihre Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie noch zusätzlich mit auf. Denn sie fuhr der Sonne direkt entgegen und wurde von ihrem grellen Licht unangenehm geblendet. So mit Brille und dem getönten Visier war es erträglich.
Sie nutzte die Pause gleich, um ihren Tank aus dem Kanister aufzufüllen, nahm das Tuch vom Gesicht und trank ein paar Schlucke Wasser. Nach der kurzen Pause zog sie das Tuch zurück über die Nase, setzte die Brille auf und startete die Maschine. Um pünktlich auf der Basis zu sein, gab sie Vollgas und holte alles aus dem Motor heraus.
Immer wieder brach der Roller leicht aus, was Anne mit der Bewegung ihres Körpers ausglich, ohne dabei Gas zurückzunehmen. Sie liebte es, so zu fahren.
Plötzlich scherte das Hinterrad zu weit aus. Sie bekam den Motorroller nicht wieder in die Gewalt, schlitterte mit samt der neunzig Kilo schweren Maschine seitlich weg und blieb in einer aufgewirbelten Sandwolke, die sich nur langsam legte, liegen. Der Motor tuckerte weiter im Leerlauf. Anne durchzuckte ein brennender Schmerz und zog laut fluchend das rechte Bein mit aller Kraft unter der Maschine hervor. Sie hatte sich am heißen Auspuff die Wadeninnenseite verbrannt. Ein großes Brandloch und ein fetter Ölfleck weiter oberhalb zierten nun ihre Hose.
Noch immer vor sich hin fluchend, stand sie langsam auf. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss und der Motor erstarb. Wütend auf sich selbst klopfte sie den Sand von ihren Sachen. Dabei entdeckte sie ein paar nicht so schlimme Schürfwunden an Ellenbogen und Knie. Sie bemerkte, dass ihr rechtes Handgelenk schmerzte, als sie sich bemühte, ihr Moped wieder aufzurichten, wofür sie all ihre Kraft aufwenden musste.
Endlich hatte sie es geschafft und konnte den Roller vorsichtig im weichen Sand aufbocken. Sie besah sich die Maschine von allen Seiten, bog den verzogenen Seitenspiegel zurecht und staubte mit der Hand die Sitzfläche ab. Dann setzte sie sich auf die Sitzbank. Während sie den Schlüssel drehte und den Roller starten wollte, hoffte sie, dass der Motor wieder ansprang. Es war jedoch immer nur kurz das Tuckern des Anlassers zu hören, solange sie ihn betätigte, dann erneut Stille.
Ganz in Ruhe und ohne jede Panik bockte sie den Roller abermals auf und setzte den Helm ab. Sie säuberte sacht die Kontaktstelle der Zündkerze und drehte sie wieder ein, richtete ein Stoßgebet gen Himmel und versuchte das Moped mit dem Kickstarter anzutreten. Dabei kam sie mächtig ins Schwitzen, denn die Sonne prasselte bereits mit voller Kraft auf sie nieder. Sie hatte Glück, schon nach dem fünften Versuch tuckerte der Motor wieder im regelmäßigen Takt. Sie schaute auf ihre Uhr und musste feststellen, dass sie eine halbe Stunde mit diesem kleinen Missgeschick, wie sie es nannte, verloren hatte. Sofort setzte sie den Helm auf, legte das Tuch vors Gesicht, nahm die Maschine vom Ständer, stieg auf und gab ordentlich Gas.
Sie ignorierte das Brennen am Bein. Im Gegenteil empfand sie den Fahrtwind sogar als angenehme Linderung. Es schmerzte nur unerträglich, wenn dabei der verbrannte zusammengeschmolzene Stoff vom Rand des Loches in ihrer Hose daran rieb. Also hielt sie noch einmal an und krempelte das Hosenbein hoch. Damit verschaffte sie sich, wie sie anfangs glaubte, Erleichterung und die Fahrt konnte weitergehen. Aber nun spürte sie die feinen Sandkörnchen wie Nadelstiche in der Brandwunde schmerzen, die durch den Fahrtwind hoch und gegen ihr Bein gewirbelt wurden. Doch sie wollte nicht schon wieder anhalten. Anne hatte auch so bereits zu viel Zeit verloren. Ihr Handgelenk schmerzte immer stärker, trotzdem zwang sie sich, die Hand am Lenker und weiter den Gasgriff im Anschlag zu halten, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.
Endlich erreichte sie die befestigte Straße und bog nach links Richtung Hurghada ab. Eine Dreiviertelstunde später kam sie an ihrem Ziel an und stellte den Roller auf dem kleinen Parkplatz neben der Tauchbasis ab. Erschöpft nahm sie ihren Helm ab, zog das Tuch, das ihr als Atemschutz gedient hatte nach unten und rollte das Hosenbein wieder herunter. Ihre Haare waren verklebt vom Schweiß, das Gesicht und ihre Kleidung waren verstaubt, aber sie hatte keine Zeit sich erst noch frisch zu machen.
Nur noch Andreas und Sebastian saßen auf der Terrasse der Tauchbasis. Alle anderen Tauchgäste waren bereits in den Hafen zu ihren Booten gebracht worden. Anne trat auf sie zu und begrüßte sie fröhlich, wobei sie aber vermied, ihnen die Hand zu geben, was ihre Freunde schon stutzig machte.
„Sorry, wenn es etwas spät geworden ist. Ich verspreche euch, die Zeit holen wir wieder raus. Ich bin gleich wieder bei euch, dann geht es sofort los.“ Nachlässig warf sie ihren Rucksack auf die Bank und lief, den Helm noch in der Hand, ins Büro, um sich zu melden. Sebastian bemerkte das große Loch mit der Brandspur an ihrem rechten Hosenbein und machte Andreas darauf aufmerksam.
Dann entdeckten sie die blutverkrusteten Schürfwunden an den Ellenbogen und Unterarm ihrer Freundin und einen größeren Blutfleck in Kniehöhe am anderen Hosenbein. Kurz sahen sich die Männer an, nickten sich zu und gingen zur Bürotür, wo sie sich links und rechts davon aufstellten. Als Anne wenig später aus der Tür trat, hakten Andreas und Sebastian sich einfach bei ihr unter und schleppten sie, ohne auch nur ein Wort zu sagen, Richtung Behandlungsraum. Erst nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, ließen sie Anne wieder los.
„Hast du noch eine Hose mit?“, fragte Sebastian barsch. Sie nickte nur. „Gut“, sagte er, schnappte sich die zierliche Frau, hob sie hoch und setzte sie auf die Behandlungsliege. Noch bevor sie etwas sagen und protestieren konnte, hatte er bereits die beiden Hosenbeine eingeschnitten und der längelang aufgerissen. Dabei grinste er sie breit an und sagte scherzhaft an Andreas gewandt: „Oh, Madame ist mit ihrer Jungfernrutsche etwas unsanft durch die Wüste geschlittert und hat sich gehörig dabei am Auspuff verbrannt.“ Dann wandte er sich wieder an Anne. „Und, liege ich da richtig?“
„Mein Roller ist keine Jungfernrutsche“, beschwerte sie sich aufbrausend. „Aber mit dem Rest hast du recht“, gab sie kleinlaut zu.
Die beiden Männer machten sich daran, die Wunden zu reinigen und mit Pflaster zu versorgen. Nur bei der Brandwunde war etwas mehr Arbeit nötig.
„Du hast dir da den ganzen feinen Wüstensand in der Wunde zusammengesammelt“, stellte Sebastian besorgt fest.
„Weiß die ägyptische Regierung eigentlich, dass du heimlich ihre ganzen Sandreserven klaust?“, fragte Andreas, um die Situation etwas aufzulockern und sie von den Schmerzen abzulenken, die sie gleich beim Reinigen der Brandwunde spüren würde.
Als Anne sich leise durch die Zähne zischend den Schmerz verbiss, sah Sebastian sie besorgt an. „Ist auch dumm von dir gewesen, nicht gleich was drauf zu machen und so den feinen Sand in die Wunde zu lassen. Hast doch Verbandszeug im Helmfach, soweit ich weiß. Tut mir leid, Kleine, aber da musst du nun durch. War deine eigene Dummheit.“
„Mein Gott, ist ja schon gut, du Schlaumeier“, beschwerte sie sich wegen der Vorwürfe. „Ich hatte kein Verbandszeug dabei. Das hatte ich aus dem Helmfach herausgenommen, weil ich den Platz für anderes Zeug benötigte. Nun quatsch nicht, sondern beeile dich etwas, damit wir endlich loskönnen“, sagte sie und biss wieder die Zähne zusammen.
„Ja, dann werde ich mich ab jetzt mit der Dame in die schönen wasserdichten Pflaster vom Doc rein teilen müssen“, stellte Andreas lächelnd fest. Er sah ihr forschend in die Augen und fragte streng: „Tut dir sonst noch was weh? Aber ehrlich.“
Anne holte ihre rechte, schon angeschwollene Hand hinter ihrem Rücken hervor und zeigte sie ihm.
Während sich Sebastian weiterhin um die Brandwunde kümmerte und dann eine Kompresse mit Brandsalbe auflegte, untersuchte Andreas besorgt und akribisch ihr Handgelenk. „Du hast Glück gehabt, es scheint eine saftige Stauchung und Prellung zu sein. Trotzdem fahren wir sofort ins Krankenhaus oder noch besser gleich zu Doktor Mechier ins Lazarett und lassen es röntgen“, entschied er.
Noch während Sebastian dabei war ihr Bein zu verbinden, sprang sie von der Liege. „Das kommt überhaupt nicht in die Tüte! Du gehst hier mit schwersten Verletzungen tauchen, spielst mit deinem Leben und bei mir machst du solch einen Zirkus wegen einer Verstauchung? Schau, ich kann alle Finger bewegen“, sagte sie empört. Dabei wackelte sie wild mit ihren Fingern vor seinem Gesicht herum. Allerdings hatte sie dabei sehr zu kämpfen, den Schmerz nicht zu zeigen. „Außerdem will ich nicht schuld daran sein, dass unsere speziellen Freunde da draußen umsonst auf uns warten. Wenn es wirklich schlimmer werden sollte, kann ich am Abend immer noch zum Arzt gehen.“
„Würden sich Mylady bitte wieder hinsetzen, damit ich zum Verbinden nicht auf dem Fußboden rumkriechen muss“, meldete sich Sebastian zu Wort und sagte dann zu seinem Freund: „Andy, Anne hat recht. Mach ihr Voltaren Schmerzgel drauf und einen Stützverband ums Handgelenk, den kann sie auch im Wasser tragen. Zur Not haben wir auf der >Amun Re< noch genug Zeit uns weiter darum zu kümmern. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, Mittel und Opfer. Dein eigener Spruch. Also wende ihn auch jetzt an. Denn der gilt nicht nur für dich.“
Andreas wusste, dass Sebastian recht hatte. Trotzdem sorgte er sich um Anne und wollte nicht, dass sie Schmerzen hat. Es tat ihm selbst in der Seele weh.
Fünfzehn Minuten später verließen sie den Behandlungsraum. Ali hatte bereits ihr Gepäck auf die Ladefläche des Toyotas gepackt und wartete auf die drei Freunde. Schnell bestiegen sie den Wagen, wobei sich Anne mit der zerrissenen Hose blöd vorkam. Am liebsten hätte sie sich vorher noch umgezogen. Aber Ali startete schon den Motor, trat aufs Gaspedal und stoppte wenig später vor der >Amun Re<. Um Anne besorgt, half Andreas ihr aus dem Auto und aufs Boot, während Sebastian ihren Rucksack mitbrachte.
Sofort sorgte Andreas dafür, dass sie sich bequem im Salon hinsetzte und das Bein hochlegen konnte. Er brühte ihr einen Tee, gab ihr eine Schmerztablette, noch bevor das Boot den Hafen verlassen hatte. „Sei nicht böse, aber ich muss erst mal zu Sebi hoch. Ich bin gleich wieder zurück“, sagte er entschuldigend, strich ihr über das noch verklebte, staubige Haar und war kurz darauf schon auf dem Weg zum Oberdeck. „Meinst du wirklich, dass wir ihr das jetzt noch zumuten können?“, fragte er seinen Freund, als er oben angekommen war.
„Klar, hast sie doch selbst gehört. Anne ist stark und fast so stur wie du“, beruhigte Sebastian ihn. „So besorgt kenne ich dich ja überhaupt nicht. Du musst diese Frau wirklich lieben. Denn ebenso geht es mir bei Kim.“ Dann wechselte er das Thema. „Ich habe hier schon etwas Ausschau gehalten. Die meisten Boote fahren heute, da die See rauer geworden ist, nach Süden. Also würde ich für uns den nahen Norden vorschlagen. Sind dir Tauchtiefen mit durchschnittlich fünfzehn Metern genehm? Denn da hätten wir gleich mehrere Plätze in unmittelbarer Nähe, sodass wir uns je nach Besucherandrang umentscheiden könnten.“
„Klingt gut. Erklärst du Rashid noch, dass er ordentlich auf seine Hupe drücken soll, wenn er eine Leuchtrakete von uns sieht? Ich gehe jetzt lieber wieder runter.“
„Klar, mach ich. Aber übertreib es nicht gleich bei Anne. Weder die Brandverletzung noch die Abschürfungen sind so schlimm, dass du sie in Watte packen musst. Ich warne dich da schon mal vor. Die kann es nämlich nicht ab, umhätschelt zu werden.“ Andreas aber winkte nur ab und ging wieder nach unten.
Doch Anne war nicht mehr im Salon. Die Toilettentür stand weit offen, also war sie da auch nicht. Auf dem Weg in den Salon hatte er sie auf dem Deck nicht gesehen. Gerade als er nachschauen wollte, ob sie vielleicht zum Bug gegangen war, kam sie eingehüllt in ein großes Badetuch mit noch nassen Haaren die Stufen vom Unterdeck nach oben in den Salon. Sie hatte sich den Verband vom Bein ebenso entfernt wie die Pflaster. Nur den Stützverband um Hand und Handgelenk, der nun total durchnässt war, trug sie noch.
Andreas schaute sie entgeistert an.
„Nur keine Aufregung. Ich war bloß duschen. Ahmed hat es mir erlaubt. Ich musste den Sand loswerden. Der hat sogar zwischen den Zähnen geknirscht“, sagte sie und sah an sich herunter, um zu sehen, wohin Andreas die ganze Zeit so fassungslos blickte. „Ach, du meinst den Verband, den ich wieder abgemacht habe? Sorry, aber der hätte beim Duschen gestört. Wobei ich zugeben muss, das heiße Wasser hat darauf ganz schön wehgetan. Also habe ich das Bein dann noch einmal unter dem kalten Wasserstrahl gehalten, nun geht es wieder. Frische Luft tut auch gut“, erklärte sie und tat es mit einem Lächeln ab.
„Unvernunft lässt grüßen“, murmelte er vor sich hin und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Dann zeigte er unnachgiebig auf die Bank, dass Anne sich dort sofort hinsetzen solle, und holte schon ein Verbandspäckchen aus seinem Gepäck.
„Oh, da kenne ich jemanden hier im Raum, der dabei wesentlich schlimmer ist“, meinte Anne und sah ihn herausfordernd an, aber setzte sich artig auf die Bank und streckte ihm ihr Bein entgegen. Andreas sah sich die Brandwunde genauer an, dabei betastete er sanft das Gewebe am Wundrand. Er drückte die Brandsalbe aus der Tube auf eine Kompresse und verband Annes Bein erneut. Wobei er ihr immer wieder von unten herauf in ihre Augen blickte, um festzustellen, dass er den Verband auch nicht zu fest machte und ihr damit weh tat. Doch Anne verzog keine Miene, sondern lächelte ihn an und versank dabei in seinen blauen Augen. Nachdem er das Bein verbunden hatte, setzte er sich neben sie und erneuerte den Verband an ihrem Handgelenk und verpasste ihr frische Pflaster.
Sie tastete nach ihrem Badeanzug und verzog sich damit auf die Toilette. Wieder im Salon zog sie ein T-Shirt und eine neue Hose über. Sie ließ ihr Haar noch offen und beide stiegen aufs Oberdeck. Nach anderthalb Stunden langsamer Fahrt erreichten sie ihren ersten Tauchplatz.
Sie hatten Glück. Kein anderes Taucherboot war ihn bisher angelaufen und sie standen allein dort. Von dem anderen Boot war noch nichts zu sehen. Nur auf dem Ortungsschirm konnten sie es ausmachen und erkennen, dass es sich nur langsam ihrer Position näherte. Anne flocht ihr Haar zu einem dicken Seitenzopf, wobei die verbundene Hand dabei hinderlich war. Sie sah sich kurz um, um festzustellen, wo sie sich befanden. Sie wollte nach unten gehen, um die Briefingtafel zu holen.
„Brauchst nicht runter. Ich habe sie schon hier und den Tauchplatz bereits aufgezeichnet“, sagte Sebastian schnell. Anne bedankte sich dafür und beschrieb Andreas kurz den Tauchspot von Sha´ab Iris mit seinen Tauchtiefen und von welchen Meeresbewohnern das Korallenriff hauptsächlich besucht oder bewohnt wurde. Sie erklärte, dass sie rechte Schulter zum Riff hin und linke Schulter zurücktauchen würden. Gemeinsam legten sie eine Tauchzeit von fünfundsechzig Minuten fest, dann gingen sie nach unten in den Salon, wo Sebastian Andreas versorgte und sich dabei genau die wieder frisch operierte Wunde betrachtete. Anerkennend nickte er. „Sieht gut aus.“
Anne kümmerte sich allein um ihr Bein und legte sich eines der wasserdichten Pflaster auf. Gemeinsam gingen sie nach draußen, um sich ihre Tauchanzüge anzuziehen. Sie hatte Schmerzen, als sie den engen Anzug über ihr rechtes Bein zog. Rashid half ihr dann den Anzug über die Schultern zu bekommen und den Reißverschluss zu schließen, während Ahmed Andreas dabei behilflich war. Alfred, der Chef der Tauchbasis, hatte dafür gesorgt, dass sie neben den Zwölfliterflaschen auch drei volle Fünfzehnliter-Pressluftflaschen aus Stahl an Bord hatten. Andreas entschied, dass Anne heute nur achtzehn Kilo Blei auflegen sollte.
Er half ihr gemeinsam mit Ahmed, den Schulter-Hüftbleigurt anzulegen. Dann steckte er ihr die zwei zusätzlichen Bleigewichte, die nicht mehr in den Gurt passten, in die integrierten Bleitaschen ihres Jacketts und schickte sie sofort ins Wasser, damit sie das Gewicht nicht zu lange tragen musste. Die beiden Männer stopften schnell noch einiges mehr als sonst in ihre Jackett- und Gurttaschen und waren nur wenige Minuten später bei ihr im Wasser.
Gerade als sie abtauchen wollte, nahm Andreas das ihnen bekannte Boot aus dem Augenwinkel wahr und sah, wie es sich näherte, bevor er unter der Wasseroberfläche verschwand. Noch während sie in die Tiefe sanken, gab er Sebastian deshalb ein Zeichen.
Voll konzentriert, ihre Umgebung genau beobachtend und auf alles gefasst, folgten sie Anne in einigem Abstand. Als sie sich auf dem Rückweg befanden, kamen ihnen fünf Taucher entgegen und winkten ihnen freundlich zu. Andreas und Sebastian spannten ihre Körper und warteten auf den Angriff. Doch nichts passierte. Sie machten sogar einen angemessenen großen Bogen um die drei Taucher. Immer wieder versicherte sich Andreas unmerklich nach hinten, doch die fünf zogen eng als Gruppe weiter und verschwanden aus seinem Sichtfeld. Was war das jetzt, dachte er. Während sie in fünf Metern Tiefe ihren Sicherheitsstopp durchführten, entdeckten sie an der Wasseroberfläche einen zweiten Bootsrumpf neben ihrer >Amun Re< in den Wellen schaukelnden.
Langsam tauchten sie seitlich, geschützt vom Heck ihres Bootes, auf und erkannten sofort den markant weiß-gelben Anstrich des anderen Schiffes. Sie ließen wieder Anne als Erste aus dem Wasser steigen, dann folgte ihr Sebastian und tat dabei absichtlich tollpatschig, um sowohl von seinem Freund, der nach ihm aufs Deck stieg, als auch von Anne mit ihren schweren Bleigewichten abzulenken. Dann stellten sich die beiden Männer so zu ihr, dass sie durch ihre Körper verdeckt wurde. Sie halfen ihr dabei das Jackett gleich mit samt dem Schultergurt abzulegen. Nachdem Andreas seinen Anzug aus hatte, verschwand er sofort im Salon, während Sebastian eine theaterreife Vorstellung hinlegte und dabei, sooft es nur ging, seine Unterschenkelprothese zeigte und so tat, als könne er sich kaum richtig darauf halten.
Schnell reagierte auch Ahmed und kam herbei, um ihn zu stützen. Anne versteckte, eher instinktiv, ihr großes Pflaster am Bein, in dem sie ihr Badetuch um die Hüften schlang und ihre rechte, verbundene Hand mit unter dem Tuch verbarg, als würde sie es auf diese Weise zusammenhalten.
Sie grüßte höflich zum anderen Boot hinüber und fragte, warum denn nur ein paar von ihnen tauchen würden. Der Pockennarbige trat an die Reling seines Bootes und stand somit Anne zum Greifen nahe gegenüber. Andreas musste sich unheimlich beherrschen, diesem Kerl nicht sofort an die Kehle zu springen.
Der Mann lächelte Anne an und meinte, dass nicht alle auf dem Boot Taucher wären. Sie wären zum Schnorcheln mit rausgefahren. Aber bei den Wellen sei es nicht so angenehm, und er selbst fühle sich heute nicht so gut. Da solle man ja nicht tauchen gehen. Anne gab ihm recht. Dann fragte der Mann leise, was sie denn für Flaschen an der Backe hätte.
Sie tat so, als schaute sie sich verlegen zum Salon um. „Es sind Anfänger und, wie du gesehen hast, ist der eine noch nicht einmal in der Lage sicher zu laufen. Tragisch. Aber auch solche Menschen möchten sich die Schönheiten unter Wasser ansehen. Nur zugegeben, so richtig tauchen werden die beiden nie können. Sie stellen sich dafür zu dumm an und haben mehr Schiss als Vaterlandliebe. Die werden immer bleierner Enten bleiben“, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand und lächelte dazu. „Doch es sind Kunden und sie haben mich für ihren Urlaub angefordert. Ist halt mein Job, auch mit solchen Typen tauchen zu gehen. Aber sorry, ich muss wieder zu meinen Tauchgästen. Es gibt gleich Essen bei uns. Dann wünsche ich euch noch einen schönen Tag.“ Sie winkte kurz und ging in den Salon. Der Kerl lachte auch weiterhin, obwohl sie sich schon abgewandt hatte.
„Na dann wünsche ich dir noch viel Spaß“, rief er ihr nach.
Als sie im sicheren Sichtschutz des Salons angekommen war, atmete sie erleichtert aus und bekam gleich erst einmal von beiden Männern einen Kuss auf die Wange gedrückt.
„So, so, wir sind also hier die bleiernen Enten, Warmduscher, Weicheier und Angsthasen für dich. ... Die werden niemals richtig tauchen können“, äffte Sebastian sie nach. „Das merk ich mir“, tat er beleidigt und alle drei lachten nur leise, damit es auf dem Nachbarboot nicht zu hören war.
Das erste Mal, seit sie auf diesem Boot waren, schlossen sie die Salontür. Andreas und Sebastian unterhielten sich laut über den Tauchgang und wie super und herrlich doch alles war. Sie stellten Anne Fragen nach Fischen, die sie gesehen hatten, und beschrieben sie dabei ziemlich umständlich, dass so manches Mal auch Anne nicht wusste, welchen Fisch sie eigentlich meinten.
Währenddessen versorgte Sebastian wieder die Wunde von Andreas und danach auch die von Anne. Wobei sie zugab, dass die kleineren Schürfwunden von dem Salzwasser ganz schön briezelten. Sofort tupfte er die Kratzer mit frischem Trinkwasser ab, bevor er sie erneut cremte. „Da packen wir vorm zweiten Tauchgang eben auch paar wasserdichte Pflaster drauf. Besser ists“, entschied er.
Andreas kämmte sich die Haare und versteckte sie unter seinem Basecap, setzte seine dunkle Sonnenbrille auf und hatte ein etwas dickeres Shirt mit längeren Ärmeln übergezogen. Seine muskulösen Beine verbarg er unter einer weiten Jogginghose. „Und, wie sehe ich aus?“, wollte er wissen.
„Sogar unser scharfsinniger Bussard würde an dir vorbeilaufen, weil er dich nicht erkennt“, gab Sebastian zur Antwort. „Nur deine ausgeprägte Brustmuskulatur und das breite Kreuz kannst du unter dem Shirt auch nicht verbergen.“
„Na dann bin ich eben ein Bodybuilding machender kleiner Feigling mit mehr Schein als Sein“, gab Andreas zurück.
„Klar fehlt dann nur noch der leichte Hauch einer Tunte und du bist perfekt“, überlegte Sebastian kichernd.
„Kein Problem. Das bekomme ich auch noch hin. Aber ehrlich, mir wäre es lieber, die würden sich wieder verziehen. Und wenn nicht die, dann wir.“ Nach dem Essen atmete Andreas noch einmal tief durch und hoffte darauf, von den beiden Kerlen nicht erkannt zu werden, als er aus dem Salon trat. Er ging übers Deck hin zur Taucherplattform, spuckte ins Wasser und ging dann leicht mit dem Hintern wackelnd zurück, um zum Oberdeck hochzusteigen. Dort legte er sich in den Schatten, sodass er vom anderen Boot aus nicht mehr zu sehen war. Seine Freunde zerrissen sich vor Lachen und hielten sich aber dabei ihre Münder zu, als sie Andreas so übers Deck stolzieren sahen. Sie benötigten einen Moment, bis sie sich wieder gefasst hatten. Dann spielten auch sie ihre Rolle. Anne und Ahmed halfen dem Invaliden, weil das Boot ja – ach so sehr – schaukelte, aufs Oberdeck zu gelangen. Er setzte sich direkt neben Andreas und sie flüsterten leise miteinander. Anne legte sich in die Sonne, deckte aber ihre Beine zu, als wolle sie diese vor der Sonne schützen und versteckte ihre verbundene Hand hinter ihrem Kopf. Sebastian sagte Rashid, dass sie gleich ablegen und nach Sha´ab Shihab fahren wollen. Auf ein kurzes Zeichen hin löste Ahmed die Ankertaue.
„Und, wohin geht die Fahrt jetzt?“, rief der Pockennarbige von seinem Boot herüber.
Anne erhob sich leicht und auf ein unmerkliches Kopfnicken von Andreas gab sie bereitwillig und freundlich zur Auskunft, dass sie gestern am Sha´ab Helua waren und heute gleich das Sha´ab Shihab, welches unmittelbar daneben lag, besuchen wollen.
„Eine bessere Einladung hätten die Kerle nicht kriegen können. Ich fresse nen Besen, wenn die Vögel nicht Helua anlaufen“, flüsterte Sebastian seinem Freund zu. Der nickte verstehend, stand auf und ging nach unten, um sein Equipment zu ordnen und alles noch einmal zu überprüfen. Kurz darauf erschien Sebastian und kontrollierte auch seine Ausrüstung gründlich.
„Wenn die hier nicht zuschlagen, wären sie schön blöd“, stellte Andreas leise fest und Sebastian nickte ihm zustimmend zu. „Ich rufe gleich Jens an und bitte ihn um erhöhte Bereitschaft, damit sie dann nicht zu weit weg sind, sollten wir mit unserer Vermutung richtig liegen. Aber sage Anne nichts davon.“
„Ist schon klar, Andy“, antwortete Sebastian kurz.
Andreas ging in den Salon, in dem es noch etwas nach dem Frittierfett roch, in dem die meisten Speisen, die sie heute gegessen hatten, zubereitet worden waren. Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Nummer seines Vorgesetzten und Freundes.
Nach nur zwei Rufzeichen meldete sich Jens. „Wir haben schon gesehen“, sagte der, ohne dass sich Andreas erst melden konnte. „Wir sind bereits in erhöhte Alarmbereitschaft gegangen. Wohin fahrt ihr jetzt?“ Andreas nannte ihm ihr Ziel und die Annahme von Sebastian und ihm, wo die anderen festmachen würden. Er erklärte kurz, was sie vorhatten, wenn es wirklich zum Zugriff kommen sollte, und trennte gleich danach die Verbindung. Dann suchte er aus seinem Rucksack die wasserdichte Handytasche heraus. Sorgsam steckte er das Telefon hinein, verschloss die transparente Plastikhülle und hängte sich das Teil um den Hals, wobei er das Handy durch den Halsausschnitt unter sein T-Shirt rutschen ließ. Er schluckte zwei der blauen Kapseln vom Doc und hoffte, dass sie schnell und lange genug wirken würden. Gerade als er wieder aufs Deck gehen wollte, machte er kehrt. Er wühlte in seiner Tasche und zog das Notpack mit den weiß-grünen Spritzenballons daraus hervor. Er hatte sich entschieden, eine weitere Dosis des Gegenmittels zu nehmen, da der brennende Schmerz im Körper wieder zugenommen hatte und die ersten Muskelkrämpfe einsetzten. Dann ging er zurück an Deck und nickte seinem Freund nur flüchtig zu.
Gemeinsam stiegen sie nach oben. Sebastian setzte sich zum Kapitän und sagte ihm noch einmal, wie er sich verhalten solle, wenn er eine Leuchtrakete aus dem Wasser aufsteigen sehe.
Zur gleichen Zeit setzte sich Andreas zu Anne, reichte ihr eine Flasche Wasser, gab ihr eine seiner blauen Kapseln und erklärte ihr, dass es ein Schmerzmittel sei, welches das Tauchen nicht beeinflusst. Nachdem sie die Kapsel artig geschluckt hatte, fragte er sie besorgt: „Wie kommst du mit dem vielen Blei zurecht?“ Er erinnerte sie nochmals daran, die Gewichte auf keinen Fall abzuwerfen, ganz egal, was auch passiert, und er sie ihr nachher zum Tauchen gern selbst anlegen möchte. Was er ihr nicht verriet, war, dass er dabei mit wenigen Handgriffen dafür sorgen würde, dass auch kein anderer, der diese Technik nicht kannte, ihr den Gurt mit den Bleigewichten abreißen konnte.
Liebevoll strich er ihr über den Kopf und spielte mit ihren Haarsträhnen, als er sagte: „Du brauchst keine Angst zu haben. Sebi und ich, wir werden immer bei dir sein.“ Dann musste er sich von ihr abwenden, um sein sorgenvolles Gesicht vor ihr zu verbergen. Er wollte nicht, dass sie mit Sorgen oder gar Angst tauchen ging und dadurch ihr Luftverbrauch noch zusätzlich anstieg. Denn dann würde es gefährlich für sie werden. Also setzte er sich zu den Männern, denen Sebastian gerade einen Witz erzählte und sie alle herzlichst darüber lachten.
Sowohl Andreas als auch sein Freund achteten darauf, um einiges mehr als sonst, Flüssigkeit in Form von Wasser, angereichert mit Elektrolyten und Magnesium zu sich zu nehmen. Nach einer Weile verzogen sie sich nach unten in den Salon, um den Verband gegen das Pflaster auszutauschen. Als Sebastian die Wunde versorgt und Andreas die Spritzen gegeben hatte, klebte er sorgsam das Pflaster auf. Doch das war Andreas dieses Mal nicht genug. Er wollte sichergehen, holte den in der Sonne wieder getrockneten Schwamm vom Deck und bat darum, ihn mit einem festen Druckverband vor der Wunde zu fixieren. Als Sebastian damit fertig war, überprüfte er die Beweglichkeit des Armes und der Schulter akribisch. Sebastian musste mehrmals nachbessern, bis Andreas mit dem Ergebnis endlich zufrieden war. Beide wussten, wie wichtig es war, dass er bei diesem Job in keiner seiner Bewegungen eingeschränkt sein durfte.
Erst nachdem Andreas sein Tauchshirt übergezogen hatte, riefen sie Anne, um auch ihr die wasserdichten Pflaster anzulegen. Sie begründeten den Verband über der Brandwunde damit, dass ihr so bestimmt das Anziehen vom Anzug leichter fallen und nicht wieder so schmerzen, reiben und drücken würde. Dann stiegen sie nacheinander aufs Oberdeck und sahen dabei zu, wie Rashid das Boot an die Bojen manövrierte, damit Ahmed sie leicht erreichen und das Ankerseil darum legen konnte.
Als die >Amun Re< fest vertäut war, sah Andreas durch sein kleines, aber leistungsstarkes Fernglas nach dem weiß-gelben Boot, dessen Namen sie inzwischen auch kannten. Die >Blue Shark< löste gerade die Ankerseile und nahm Fahrt und den Kurs in ihre Richtung auf. Dann richtete er das Glas zum östlichen Horizont und entdeckte dort zwei Patrouillenschnellboote der ägyptischen Küstenwache und Marine. Er schätzte grob über den Daumen, dass sie nach dem vereinbarten Zeichen und voll aufgedrehten Maschinen vielleicht zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde bis zu ihrem Standort benötigen würden, um eingreifen oder wenigstens das Boot mit Anne abfangen zu können. Er setzte das Glas ab und reichte es Sebastian. Dann schob er seine Sonnenbrille, die er auf der Stirn trug auf die Nase zurück und blickte unauffällig zu Anne, die im Schatten saß und nichts ahnend in ihrem Buch las.
Die beiden Männer wussten genau, dass ab jetzt alles auf ein gutes Timing ankam. Das fing schon damit an, wann sie ins Wasser gehen würden, um noch genügend Luft für einen möglichen Unterwasserkampf zur Verfügung zu haben. Deshalb behielten sie das feindliche Boot unauffällig im Auge. Ihnen blieb dabei nicht verborgen, dass mehrere Ferngläser auf sie gerichtet waren. Sie standen also unter Beobachtung und durften sich nicht den geringsten Fehler leisten, um die Kerle nicht zu verunsichern, und sie deshalb vielleicht noch ihre Taktik änderten.
Aus sicherer Deckung konnte Sebastian sehen, wie sich bereits die Taucher fertig gemacht hatten und auf dem Deck saßen. Er zeigte Andreas seine Hand mit allen fünf gestreckten Fingern. Es waren also fünf Männer, die sich zurechtgemacht hatten.
Ja, wenn die Jungs schon fertig sind, können wir uns trotzdem noch etwas Zeit lassen, dachte Andreas und gab seinem Freund das entsprechende Handzeichen. Sebastian hatte verstanden und spreizte drei Finger ab. Das hieß, dass er einschätzte, dass sie noch dreißig Minuten hatten, damit sie beim Zusammentreffen noch so viel Luft wie möglich in ihren Pressluftflaschen hatten. Je näher die Zeit heranrückte, desto ruhiger schienen die beiden Männer zu werden. Sie gingen den Plan in ihren Köpfen noch einmal in jeder Einzelheit durch und bereiteten sich so auf ihren Einsatz vor.
Andreas rekelte sich genüsslich, das war das Zeichen für Sebastian, Anne zu sagen, dass sie nun Lust hätten, wieder tauchen zu gehen. Sie schlug ihr Buch zu und sie führten ihr Scheinbriefing durch. Dabei beschlossen sie, in der gleichen Formation wie schon am Vormittag mit einer Tauchzeit von fünfundsechzig Minuten zu tauchen. Sebastian erinnerte sie daran, ihre Handschuhe nicht zu vergessen. Nachdem sie Andreas in den Anzug geholfen hatten, schob er nur noch einmal sein Handy vor der Brust zurecht, setzte die Kopfhaube auf und schloss den Reißverschluss bis zum Hals.
Sebastian und Ahmed stellten sich vor Anne, während Andreas ihr mit sicherem Griff den Schulter-Hüftbleigurt anlegte. Nachdem sie ihr Jackett übergezogen hatte, zurrte er es fest und sicherte mit einem geübten Handgriff die Bleitaschen daran. Dabei schaute er zu seinem Freund. Der nickte ihm zu, da er schon bemerkt hatte, wie Andreas den Bleigurt zusätzlich befestigt hatte. Beide wussten aber, wie sie ihn im Notfall auch mit nur einem schnellen Griff lösen und das Blei ausklinken konnten.
Fertig aufgerödelt, hinkte Sebastian zusammen mit Anne zur Taucherplattform. Für Beobachter sah es so aus, als stütze sie ihn. Doch in Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Rechts und links von der Leiter sprangen sie ins Wasser und kurz darauf folgte Andreas, der noch einmal nach dem Boot Ausschau gehalten hatte und Sebastian ein Zeichen gab, dass er noch etwas Zeit schinden wolle. Beim Abtauchen täuschte er Probleme beim Druckausgleich vor und die drei tauchten wieder auf. An der Wasseroberfläche entwickelte sich eine lautstarke Diskussion zwischen den beiden Männern. Während Sebastian aber in Wirklichkeit die >Blue Shark< im Auge behielt und dann mit einem kurzen Augenzwinkern das Zeichen gab, dass es Zeit zum Abtauchen war. Also gab Andreas sein Okayzeichen, das alles wieder in Ordnung sei.
Anne zeigte mit dem Daumen nach unten und sie tauchten gemeinsam gegen die Strömung ab. Sebastian und Andreas schätzten ein, dass sie erst auf dem Rückweg angegriffen würden, also versuchten sie, so ruhig wie möglich zu atmen, und schwammen mit einer kraftsparenden Flossentechnik. Dabei war Sebastian mit seiner Prothese etwas im Nachteil. Denn er konnte das Bein nur hauptsächlich zum Steuern nutzen. Aber dafür war die Muskulatur seines gesunden Beines wesentlich besser ausgebildet und trainiert. Andreas bewunderte ihn, wie gut er mit seiner Prothese zurechtkam. Es hatte Sebastian sehr viel an Willenskraft und Geduld gekostet, so weit zu kommen, dass er sich damit so gut bewegen konnte und es die Leute, die es nicht wussten, auch nicht bemerkten.
Das Team hielt sich zwei Meter über dem Grund, als Anne ein Weißspitzenriffhaibaby entdeckte, welches versteckt unter einer Tischkoralle lag. Schnell wandte sie sich zu den beiden Männern um, führte ihre Hand senkrecht aufgerichtet an die Stirn, was das Taucherzeichen für Hai war. Dann zeigte sie die Gebärde, als hätte sie ein Baby im Arm und führte dann einen Daumen Richtung Mund, als wolle sie daran nuckeln. Andreas sah das Funkeln in ihren Augen, als sie auf den kleinen Kerl zeigte. Vorsichtig, um das Tier nicht aufzuschrecken, tauchten die Männer in einem kleinen Bogen zu ihr und sahen den winzigen Hai an. Durch den Vergrößerungseffekt des Wassers erschien er ihnen, als wäre er vielleicht siebzig Zentimeter groß. Dabei war er in Wirklichkeit kleiner.
Nachdem sie den Hai eine Weile beobachtet hatten, gab Andreas das Zeichen, dass er zurückwolle. Damit gab er auch ein Zeichen an Sebastian, sich bereitzuhalten, welches er durch die Maske grinsend zurückgab. Anne wunderte sich zwar, weil die Jungs schon nach fünfzehn Minuten zurückwollten, dachte aber, dass sie vielleicht noch ein Stück auf der anderen Seite in den Korallengarten wollten. Also machte sie kehrt und die beiden Männer reihten sich wieder hinter ihr ein.
Als sie Schiffsmotoren in der Nähe hörten, dessen Geräusche vom Wasser übertragen wurden, ohne aber einen Bootsrumpf über sich zu sehen, grinsten sich die beiden Männer an. Sie änderten ihren Tauchstil, richteten sich schräg auf und paddelten mit den Flossen, als würden sie schnorchelnd unterwegs sein. Kurz nachdem sie an ihrem eigenen Boot vorbei waren, dessen Rumpf als großer Schatten auf sie fiel, entdeckten die Männer, wie in der Ferne Luftblasen zur Wasseroberfläche tanzten.
Ein sicheres Zeichen, dass die anderen Taucher nicht mehr weit entfernt hinter den nächsten Riffblöcken waren und auf sie zukamen. Die beiden Männer strafften unmerklich ihre Muskeln und waren voll konzentriert. Schon tauchten die ersten vier Taucher auf. Sie passierten die kleine Gruppe und winkten ihnen auch noch frech grinsend zu. Andreas und Sebastian winkten etwas unbeholfen zurück und taten so, als hätten sie Probleme ihre Richtung zu halten, um zu ihrer Tauchlehrerin aufzuschließen. Dabei beobachteten sie aber das Quartett genau und musterten mit sicherem Blick ihre Bewaffnung.
It´s showtime, dachten die beiden Freunde gleichzeitig und schauten sich kurz an, um sich dann wieder voll auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Als der fünfte Mann vor ihnen auftauchte, kam Bewegung in die Gruppe, die sich schon einige Meter entfernt hatte. Die vier machten langsam wieder kehrt. In dem Augenblick, wie der einzelne Taucher Anne erreichte, griffen die anderen Männer Sebastian und Andreas von hinten an. Andreas wartete den Moment ab, bis der einzelne Taucher Anne am Arm packte und versuchte sie mit sich wegzuziehen.
Schnell befreite er sich aus der Umklammerung des Kerls, der nicht mit diesem Widerstand gerechnet hatte, schoss nach vorn auf Anne zu. Er hatte sehr mit sich zu kämpfen, ihr nicht sofort zu helfen. Stattdessen sah er ihr nur in die vor Schreck geweiteten Augen und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Dann zog er sein, bis dahin verborgenes, Tauchermesser aus der Jacketttasche, stach seitlich in ihre Tarierweste und schlitzte die darin befindliche Gummiblase der Länge lang auf, sodass die Luft, die sich als Tarierhilfe darin befand, schnell in großen Luftblasen entwich.
Sofort sank Anne durch ihr zusätzliches Gewicht zum Grund. Am liebsten wäre er bei ihr geblieben, doch er musste zurück, um Sebastian zu helfen.
Auf dem Rückweg beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie sehr sich der Kerl abmühen musste, um Anne mit sich wegzuschleppen, und damit Zeit verlor. Wertvolle Zeit, die ihnen zugutekommen würde, die sie unbedingt brauchten.
Andreas zog eine Art zwanzig Zentimeter lange Röhre aus seinem Jackett. Mit geübten Handgriffen zog er die beiden roten Kappen ab, hielt das graue Rohr senkrecht und zog kräftig an dem Ring des Signalstabs. Zischend, gefolgt von einer Luftblasenspur, schoss eine kleine Rakete daraus hervor, durchbrach die Wasseroberfläche und flog hoch in den Himmel, wo sie mit einem lauten Knall explodierte und grellrote Leuchtkugeln freisetzte, die breit gestreut zurück ins Meer fielen.
Doch das nahm Andreas bereits nicht mehr wahr. Er hatte bereits den Stab fallen lassen und sich zu Sebastian gesellt, um an seiner Seite gegen die vier Angreifer zu kämpfen. Er zog einem der Männer die Maske vom Gesicht, zog sein Tauchermesser und schnitt ihm den Druckluftschlauch durch. Damit hatte er einen Mann aus dem Kampfgeschehen nehmen können, da er schnell an die Wasseroberfläche musste, um wieder Luft zu bekommen. Im selben Moment bemerkte Andreas, dass sich seinem Freund einer der Kerle von hinten genähert hatte und ihm den Luftschlauch durchschnitt, ohne dass er es noch hätte verhindern können. Sebastian reagierte blitzschnell und richtig. Er spuckte sein Mundstück aus und nahm sich seinen Oktopus zwischen die Zähne, um wenigstens noch die Restluft seiner Flasche zu nutzen, während der größte Teil aber schon ins Wasser abzischte. Sebastian kämpfte verbissen weiter. Andreas warf sich sofort auf den Taucher, der seinen Freund von hinten angegriffen hatte, stach ihm sein Messer in die Luftblase seiner Tarierweste und versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe, dass der Kerl kampfunfähig Richtung Grund sank. Doch damit gab sich Andreas nicht zufrieden. Er holte sich den Mann zurück und drängte ihn in einen Riffspalt, um sich später um ihn kümmern zu können. Er kontrollierte noch einmal dessen Atmung und kehrte dann ins Kampfgeschehen zurück.
Sebastians Luft war aufgebraucht, also nahm er, ohne zu zögern, den Oktopus seines Feindes in den Mund und nutzte seine Luft mit, ob der andere wollte oder nicht. Er hatte sich regelrecht an ihn geklammert, sodass sich sein Angreifer nicht dagegen wehren konnte.
29
Während der Kampf unter Wasser andauerte, reagierte Rashid, nachdem er die Leuchtrakete gesehen hatte und betätigte das Signalhorn. Ahmed machte eiligst die Leinen los und Rashid nahm mit voller Kraft Kurs auf die >Blue Shark<, um ihnen den Fluchtweg ins offene Meer abschneiden zu können. Die beiden Patrouillenboote hatten die Leuchtrakete gesehen und hörten das Signal der >Amun Re<. Matrosen gingen auf ihre Gefechtsstationen, Taucher machten sich bereit, während die Boote sich, über die Wellenkämme springend, schnell dem Platz des Geschehens näherten. Die Männer auf der >Blue Shark< eröffneten das Feuer auf die nur langsam näher kommende >Amun Re<. Doch das Schiff war noch außerhalb der Schussweite. Die Kugeln klatschten vor dem Boot ins Wasser. Der alte Kapitän schrie Ahmed zu, dass er in Deckung gehen solle und steuerte mutig sein kleines Boot weiter dem größeren Taucherboot entgegen.Ahmed hatte gerade den hochgekommenen Taucher an Bord gezogen und mit ein paar Seilen gefesselt, ohne auf seine Symptome, die er durch das zu schnelle Auftauchen zeigte, einzugehen. Da schlugen auch schon die ersten Kugeln in den Schiffsrumpf ein, dass auch Rashid in Deckung ging. Trotzdem hielt er das Ruder seines Bootes weiter stur auf Kurs.
30
Andreas und Sebastian hatten mit den beiden übrig gebliebenen Tauchern ihre liebe Not, denn es schienen ausgebildete Kampfschwimmer, wie sie selbst, zu sein. Ein Pfeil löste sich aus der kleinen handlichen Harpune des Tauchers, mit dem es Andreas aufgenommen hatte. Der Harpunenpfeil zischte in Richtung seines Freundes davon. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie der Pfeil Sebastians Prothese traf und darin stecken blieb. Erleichtert atmete er kurz auf. Es brachte ihn in Rage, denn er wusste nun, dass er den Schützen vor sich hatte, der den Delfin und ihn selbst schwer verwundet hatte. Dann glaubte er, zu träumen, denn er sah einige Delfine um sich und seinen Freund, die sich in die Unterwasserkämpfe einzumischen begannen. Ihre Körper schoben sich zwischen die miteinander kämpfenden Taucher, bissen mit aller Kraft in Jackett, Arme oder Beine der Angreifer, je nachdem wo sie gerade gut herankamen und zogen sie mit sich fort. Dabei wurde aber Sebastian der Atemregler des Oktopus seines Widersachers entrissen. Schnell griff er in eine seiner Taschen am Gurt und zog eine Art Spraydose mit einem Mundstück daraus hervor, steckte es zwischen seine Zähne und atmete normal weiter. Sosehr die beiden Männer auch noch über den Einsatz der Delfine erstaunt waren, machten sie sich doch so schnell wie nur möglich auf den Weg zu dem feindlichen Boot.
Sie sahen gerade noch, wie der reglose Körper von Anne gewaltsam die Leiter hoch, aus dem Wasser, aufs Deck gezogen wurde. Dabei hatten die Kerle, wie schon während des ganzen langen Weges zum Boot, mächtig wegen ihrer Bleigewichte zu tun. Das hatte den Terroristen wertvolle Zeit gekostet, um abhauen zu können. Zeit mit der aber Andreas und Sebastian spekuliert hatten und diese nötig brauchten, um noch rechtzeitig auf das Boot zu gelangen.
Mit kräftigen Flossenschlägen erreichten sie gerade die letzte Sprosse der Leiter, als die Schraube des Bootes anlief. Die beiden Männer hatten schwer mit dem Sog, durch die immer schneller drehende Schiffsschraube, zu kämpfen. Gegenseitig halfen sie sich, ständig um Deckung bemüht, nach oben auf die Plattform. Mit einem schnellen und geübten Griff warfen sie ihr Jackett samt Stahlflasche ab, die laut polternd auf dem Deck des Bootes landeten.
Jetzt hatten sie sechs Männer gegen sich. Als Andreas Anne reglos am Boden liegen sah, wäre er am liebsten zu ihr gelaufen, um nach ihr zu sehen und ihr zu helfen. Er hatte große Angst um ihr Leben. Doch er erinnerte sich an seinen Job und trat den Angreifern, an der Seite von Sebastian, entgegen. Als sie hörten, wie ein MG vom Oberdeck aus, mit noch scharfer Munition auf die >Amun Re< feuerte, gab Sebastian Andreas ein kurzes Zeichen, dass er sich darum kümmern wolle. Andreas nickte ihm zu und sie kämpften sich den Weg zur Leiter, die zum Oberdeck führte, frei.
Wenig später schwieg die Waffe. Zwei Männer am Ruder duckten sich ängstlich weg. Sebastian erkannte, dass es zwei der Besatzungsmitglieder waren, die in der Nachtaktion gefesselt in der einen Kajüte gelegen hatten. Er bat sie auf Arabisch, das Boot zu stoppen und in Deckung zu gehen. Dann eilte er wieder nach unter zu Andreas, der von drei Kerlen Schläge einstecken musste, aber auch kräftig austeilte.
Sofort war Sebastian zur Stelle, mischte sich in den ungleichen Kampf ein. Sie registrierten, wie die Männer ihre Messer zogen, nachdem sie bemerkt hatten, dass ihre Schusswaffen nicht funktionierten. Gegenseitig hielten sich die beiden Freunde den Rücken frei und kämpften auf dem engen Raum des Decks gegen die drei immer wieder angreifenden Mistkerle. Sie steckten Schläge ein und teilten Prügel aus. Sie mussten Messerhieben ausweichen, was nicht immer gelang. Doch allmählich war es ihnen möglich, die Männer zu entwaffnen, kampfunfähig zu machen und sie mit Kabelbinder zu fesseln.
„Mir fehlen noch zwei, die mir besonders ans Herz gewachsen sind“, rief Andreas, schwer atmend, Sebastian zu.
Einander deckend, an die Wand gepresst, arbeiteten sie sich den kurzen Gang zum Salon des Bootes entlang. Andreas stieß mit aller Kraft die Tür auf und trat offen, ohne jegliche Deckung, in den Raum. Mitten im Salon stand auf einem Stativ eine Videokamera. Ohne auf die Schüsse zu achten, die sich aus den Pistolen der Männer lösten, trat er das Stativ um und wandte sich dann dem pockennarbigen, größeren Kerl zu. „Du kannst dir den Kleinen da drüben vornehmen, Sebi. Der ist eher deine Gewichtsklasse. Aber lasse noch etwas für mich übrig. Ich möchte ihm dann gern noch persönlich in den Arsch treten“, sagte Andreas mit vor Wut triefender Stimme.
„Geht klar, mein Großer“, erwiderte Sebastian wie beiläufig und ging langsam auf den kleinen, schlitzäugigen Kerl zu, der noch immer wie wild den Abzug seiner Pistole durchzog, ohne zu begreifen, warum der Mann vor ihm nicht umfiel. Sebastian setzte ein böses Grinsen auf, ging weiter auf ihn zu und packte ihn sich. Aus dem Augenwinkel aber beobachtete er, wie Andreas sich mit dem großen Pockennarbigen anlegte und gerade mit ihm über den Tisch rollte und polternd mit ihm zu Boden fiel. Andreas kämpfte absichtlich ohne sein Böker Applegate Fairbairn – Einsatzkampfmesser, er wollte diesen Kerl lebend. Doch sein Gegner war nicht so fair, im Gegenteil er lachte laut auf. Fuchtelte mit dem Kampfmesser vor ihm herum und wild durch die Luft. Der Pockennarbige freute sich über jeden noch so kleinen Treffer, den er landen konnte.
Er hatte Andreas sofort wiedererkannt, war aber nicht sonderlich beeindruckt davon. Im Gegenteil, er machte sich noch lustig darüber. „Na, du Bastard, hast du noch nicht genug? Willst dir wohl von Papa noch den Rest abholen? Du Würstchen.“ Dabei lachte er immer wieder auf. „Ich hätte dir schon vor einem halben Jahr die Haut vom Leib ziehen sollen. Und das schön langsam, damit du auch was davon hast. Aber das können wir heute nachholen.“
„Wenn du meinst. Dann versuchs doch“, zischte Andreas und grinste ihn herausfordernd an, während er wieder einem Hieb auswich. „Aber eigentlich bin ich hier, um mein Versprechen von vorletzter Nacht einzulösen, als ihr alle brav wie die Babys geschlafen habt.“
Kurz stutze sein Gegner, dann stach er noch wütender um sich. Doch davon ließ sich Andreas nicht beeindrucken. Er kämpfte mit aller Entschlossenheit gegen diese Bestie, die kein Mensch sein konnte. Ebenso erbittert kämpfte der Asiate. Sebastian musste all seine Kampferfahrung und restliche Kraftreserve abrufen, um gegen ihn zu bestehen.
Nach einem langen Zweikampf hatte Andreas dem Pockennarbigen endlich einen ordentlichen Knock-out verpassen können. Als er sicher war, dass der nicht so schnell davon wieder auf die Beine kommen würde, half er seinem Freund beim asiatischen Teufel, der ihn lange Zeit gepeinigt hatte.
Andreas holte aus und verpasste ihm einen gewaltigen Aufwärtshaken in die Lebergegend, der ihn unweigerlich auf die Bretter schickte. Die beiden Freunde sahen sich an und klatschten ab.
Sebastian zog seine Kabelbinder aus einer seiner Taschen vom Gurt und band den Kerlen damit fest die Daumen hinter den Rücken zusammen und fesselte sie zusätzlich an den Fußgelenken. Andreas lief in der Zwischenzeit hinaus aufs Deck, um nach Anne zu sehen, die noch immer reglos da lag. Er zog den Reißverschluss seines Anzuges ein Stück nach unten, zog das Handy daraus hervor, entfernte es in aller Eile von der Hülle und drückte auf die Kurzwahlfunktion.
„Ja, Doc, ich bin’s. Anne … Anne braucht Hilfe! “, schrie er verzweifelt in das Telefon. „Bitte, komme schnell. Wir sind am Sha´ab Shihab und brauchen dring …“ In dem Moment spürte er einen stechenden Schmerz im Rücken. Es wurde dunkel vor seinen Augen und er fiel neben Anne zu Boden. Sein Handy glitt ihm aus der Hand und rutschte noch aufgeklappt mit stehender Verbindung über die Blanken.
Wankend kam Sebastian vom Salon zurück aufs Deck. Als er Andreas neben Anne liegen sah, bemerkte er, dass die >Blue Shark< wieder Fahrt aufnahm und einen Kurs einschlug, um die >Amun Re< zu rammen und sich so den Fluchtweg freizumachen.
Wir müssen einen von den Kerlen übersehen haben, dachte Sebastian und zählt vor seinem geistigen Auge noch einmal alle durch. „Nein, es sind eindeutig zehn. Oder sind welche von denen aufs Boot zurückgekommen, die sich die Delfine geschnappt hatten?“, fragte sich Sebastian leise im Selbstgespräch und schüttelte mit dem Kopf. „Nein, nicht so wie die Tierchen drauf waren.“ Gerade als er zum Oberdeck hochsteigen wollte, um zu sehen, wer da am Ruder stand, pfiffen ihm auch schon die Kugeln aus einer schallgedämpften Waffe um die Ohren. Sofort ging er in Deckung und wartete geduldig, bis das Magazin des Kerls leergeschossen war. Dann endlich hörte er das typische Geräusch vom Ausklinken des Pistolenmagazins, welches kurz darauf laut zu Boden fiel. Sofort spurtete er los, kletterte all seine Kraft zusammennehmend, die er noch hatte, aufs Oberdeck. Er glaubte nicht recht zu sehen. Es war einer von der Besatzung des Bootes, den sie gefesselt in der Kabine entdeckt hatten. Der Kapitän und ein weiteres Besatzungsmitglied des Schiffes lagen blutig und bewusstlos zu Füßen des verräterischen Kerls.
„Du hast meinen Freund auf dem Gewissen, dafür zahlst du“, fauchte Sebastian wütend und zwang sich dann zur Ruhe, um keinen Fehler zu machen. „Was haben sie dir dafür geboten, dass du deine eigenen Landsleute so behandelst?“, fragte er auf Arabisch, während er vollkommen ruhig auf den kleinen Mann zuging, der nun zitternd vor Angst versuchte, das neue Magazin in die Öffnung des Pistolengriffes zu schieben, um so die Waffe nachzuladen. Sebastian konnte ein Grinsen nicht verbergen, als er sah, wie das volle Magazin dem Kerl au den Fingern glitt und auf den Boden fiel. Das war der Moment, in dem er angriff.
Sie kämpften erbittert, während das Boot führerlos weiter fuhr. Ein mächtiger Ruck ging durchs Schiff und ein hässliches Knirschen und Knarzen war zu hören. Dann kippte das Boot leicht nach Backbord. Diese Situation nutzte Sebastian, der schon von mehreren Verletzungen geschwächt war, für sich aus und konnte den Mann endlich mit einem harten linken Haken überwältigen.
Während er ihm die Kabelbinder anlegte, fragte er erneut, warum er das tat. Doch der grinste bitter und spuckte ihm ins Gesicht. Damit war klar, dass dieser Kerl mit zur Bande gehörte und bei der Bootsmannschaft nur eingeschleust worden war, um sie zu kontrollieren, sollten sie etwas für ihre Befreiung unternehmen wollen. Sebastian zog den Kabelbinder extrafest um Daumen und Fußgelenke des Kerls, dass der aufschrie, und ließ ihn einfach liegen. Er stellte den Schiffsmotor ab und schleppte sich zur Treppe.
Als er wieder aufs Deck kam, sah er das Handy liegen. Er hob das Telefon auf und sprach nur noch mit schwacher Stimme: „Kommen Sie schnell.“ Doch zu dieser Zeit war an der anderen Seite der Leitung schon längst keiner mehr dran. Nachdem er das bemerkt hatte, brach er, noch einmal besorgt nach seinen Freunden blickend, zusammen. Seine Kräfte waren erschöpft.
Das Sanitätsschnellboot mit Doktor Mechier an Bord traf kurz nach den beiden Patrouillenbooten ein. Die >Blue Shark< lag mit dem Bug gut bis zur Hälfte des Bootes aufs Riffdach aufgelaufen und leicht zur Seite gekippt da. Die >Amun Re< trieb, führerlos, mit durchlöchertem Aufbau und Rumpf in unmittelbarer Nähe. Es war gespenstig still. Kein Laut war zu hören.
Schnell näherten sich die drei Boote der Marine. Einer der Matrosen entdeckte, wie sich mühsam ein alter Mann auf dem Oberdeck der >Amun Re< bewegte und ihnen zuwinkte. Sofort reagierte der Matrose, hob sein Gewehr in Anschlag und machte laut Meldung an seinen Vorgesetzten. Dieser erkannte den alten Kapitän. Er schickte ein kleines Schlauchboot mit Außenbordmotor, zwei Sanitäter für die Verletzten und drei Matrosen als Schutz, zu dem Boot.
Ägyptische Marinetaucher sprangen ins Wasser, um dort das Umfeld zu sichern oder einzugreifen, sollten die Männer noch im Wasser sein. Alles, was sie aber fanden, war ein toter Taucher, der an einer Koralle hängen geblieben war und aufgrund seiner Panik sich nicht aus eigener Kraft wieder lösen konnte. Er war zwar verletzt, wie die Taucher feststellten. Doch es war ihnen auch klar, dass dieser Mann ertrunken war, denn sein Finimeter stand auf null bar. Sie befreiten ihn aus seiner misslichen Lage und bargen ihn, wobei sie noch nicht wussten, wer er war.
Als die Männer den toten Taucher an Deck ihres Küstenschutzbootes brachten, war Flottillenadmiral Jens Arend sofort zur Stelle. Er nahm dem Toten vorsichtig, geradezu besorgt und ängstlich die Tauchermaske ab.
Nachdem er ins Gesicht des Mannes gesehen hatte, atmete er erleichtert auf. „Es ist keiner meiner Jungs. Zum Glück“, sagte er zu dem neben ihm stehenden ägyptischen Kapitän des Küstenschutzbootes.
In der Zwischenzeit ging die Meldung ein, dass sie auf der >Amun Re< drei Verletzte gefunden hatten. Zwei davon seien von der Bootsbesatzung des Schiffes. Sie hätten leichte Schussverletzungen, die nicht gefährlich seien. Der dritte Mann sei ein gefesselter Taucher, der vorsichtshalber in die Druckkammer müsse, da er erste Anzeichen eines Dekompressionsunfalls aufwies.
Unter Bewachung wurde der Gefangene auf das Boot der Küstenwache gebracht und wurde von einem Militärarzt behandelt. Doktor Mechier war mit seiner Crew im Schutz des zweiten Patrouillenbootes zu dem anderen Schiff unterwegs. Immer wieder rief er die Namen von Andreas, Sebastian und Anne. Doch keiner von ihnen antwortete.
Nachdem sich ihr Boot dem Heck der >Blue Shark< genähert hatte, sprangen zuerst vier bewaffnete, ägyptische Matrosen aufs Deck, um das Boot zu sichern. Dann halfen zwei von ihnen dem Generalstabsarzt an Bord des aufgelaufenen Schiffes. Ihm folgte sein Rettungspersonal.
Kaum auf dem Deck angekommen, stand Abdul Mechier bereits in einer großen Blutlache, die schräg der Neigung des Bootes folgend zur Taucherplattform floss und von da aus ins Meer tropfte.
Sofort entdeckte er seine drei Freunde, denn es waren die Einzigen, die nicht mit Kabelbindern gefesselt mitten auf dem Deck lagen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er die zerfetzten Neoprenanzüge der beiden Männer sah, aus denen das Blut regelrecht hervor quoll. Nacheinander sah er sich die Drei genauer an. Andreas lag auf dem Bauch direkt bei Anne und hielt ihre Hand. Anne selbst schien nicht zu bluten, aber war nicht bei Bewusstsein.
Doktor Mechier musste sich zusammenreißen, unter diesen Umständen dem Wunsch seines Freundes zu folgen. Also gab er seinen Männern den Befehl, sich um Andreas und Sebastian zu kümmern, während er Anne eine Injektion gab, ihr sanft auf die Wangen schlug, bis sie zu sich kam, aber kurz darauf wieder wegtrat. Er überprüfte ihren Puls, schnitt mit einem scharfen Messer die Gurte ihrer Tarierweste und des Trägerbleigurtes durch und ließ sie dann vorsichtig auf sein Boot bringen, wo sie weiter behandelt werden konnte. Nun wandte er sich Sebastian zu.
Das Erste, was Doktor Mechier auffiel, war ein Pfeil in seinem Unterschenkel. Eilig schnitt er das Hosenbein des Anzuges auf, als er aber sah, dass es nur die Prothese und nicht auch den Beinstumpf erwischt hatte, war er erleichtert und ließ den Pfeil stecken, wo er war. Dann wandte er sich den diversen Stich- und Schnittwunden des Mannes zu. Er zog eine Injektion nach der anderen auf, während sein Assistent bereits damit begonnen hatte, vorrangig die tieferen und stärker blutenden Wunden mit Druckverbänden zu versorgen und abzubinden.
Doktor Mechier erinnerte sich daran, dass beide Männer die gleiche, seltene Blutgruppe besaßen und er nicht genug davon in seinem Lazarett in Reserve vorrätig hatte, es aber sicher für beide brauchen würde. Denn obwohl sie mit ihrer Blutgruppe Universalspender für alle anderen Blutgruppen waren, konnten sie selbst nur Blut ihrer eigenen Blutgruppe erhalten. Laut schrie er hinüber zu seinem Boot, dass sie eine Funkverbindung mit der Blutbank in Kairo herstellen und Konserven der Blutgruppe 0 negativ anfordern sollten.
Auch Jens hatte das gehört. Er wusste sofort, für wen der Arzt das Blut bestellte und wählte schnell eine Nummer. Er wollte für seine Jungs alles tun, was er konnte. Am liebsten wäre er jetzt mit auf der >Blue Shark<, um nahe bei ihnen zu sein und ihnen selbst helfen zu können. Doch er hatte vollstes Vertrauen zu dem Arzt und seinen Leuten. Er könnte selbst nicht mehr ausrichten und würde am Ende nur im Weg stehen. Also stand er am Bug des Patrouillenbootes, auf dem er sich befand und krampfte fest seine Finger, das Beste wünschend und hoffend, um das Stahlrohr der Reling und schaute auf das geschäftige Treiben der Männer auf dem anderen Boot.
Dann sah er, wie Matrosen unter strenger Bewachung sieben gefesselte Männer übers Deck führten und in ihr kleines Motorschlauchboot verfrachteten. Es folgten noch zwei ärmliche Gestalten, zitternd und nur mit Unterwäsche gekleidet. Die Matrosen hatten ihnen Decken umgelegt und behandelten sie zuvorkommend und höflich.
„Es gibt viel Arbeit für mich“, stellte Jens Arend fest und beobachtete, wie das kleine Schlauchboot vom Schiff ablegte und in seine Richtung startete. Ja, er freute sich darauf, diese Männer zwischen seine Finger zu bekommen. Besonders gespannt war er auf den Pockennarbigen und den asiatischen Teufel, dessen Beschreibung er von Andreas kannte und seitdem selbst nach ihnen gesucht und in alle Richtungen ermittelt hatte. Hoffentlich sind die beiden mit dabei, denn einer fehlt noch, dachte er. Was er in dem Moment nicht wusste, war, dass zwei dieser Kerle fehlten, mit denen sich die Delfine noch beschäftigten. Und dass einer der Männer, von dem sie annahmen, dass er mit zur Besatzung gehörte, die als Geisel gehalten und zu ihrer Arbeit gezwungen worden waren, in Wahrheit ein Mitglied der Gang war.
Jens wusste genau, dass seine Männer keinen Unschuldigen fesseln würden. Und er wusste, wie sie ihre Feinde fesselten. Sie taten das mit Kabelbindern. Sie banden stets die Daumen fest auf dem Rücken zusammen, nie die Handgelenke. Es war so immer ein sicheres Zeichen, um zu erkennen, ob einer log, wenn er schwor, einer von den Guten zu sein und nur von seinen Peinigern gefesselt worden zu sein. Also würde Jens auch hier rasch dahinterkommen, dass es sich nicht um zehn, sondern um elf Mann handelte, die für sie von großem Interesse waren. Die Marinetaucher suchten noch lange den Grund ab, aber konnten keinen weiteren Taucher finden; auch auf dem Boot, welches sie bis in die letzte Ecke durchsuchten, war keine Spur von den noch vermissten Männern.
31
Doktor Mechier gab sich alle Mühe und versuchte, dabei gründlich, aber auch zügig zu arbeiten, um sich endlich um seinen Freund, Korvettenkapitän Andreas Wildner, kümmern zu können. Um den es, so wie er aus den Wortfetzen der Ärzte seines Teams heraus hörte, die sich derzeit noch um ihn kümmerten und immer wieder nach dem Professor riefen, gar nicht gut stand. Endlich hatte er Sebastian für den Transport auf sein Schiff und dann in seine Klinik stabilisieren können und übergab ihn an die Sanitäter, die ihn vorsichtig und professionell für den Transport aufs Sanitätsschnellboot vorbereiteten. Dort würden sie sich weiter um ihn kümmern können. Er gab strikte Anweisungen, wie sie den Mann weiterhin zu behandeln hatten. Dann endlich konnte er sich, wie versprochen, seinem Freund als letzten Patienten zuwenden. Was er von seinen Kollegen zu hören und zu sehen bekam, stimmte ihn nicht gerade optimistisch. In dem Moment, als Abdul seinen Freund zu untersuchen begann, setzte der Herzschlag und die Atmung des schwer verletzten Mannes aus. Der Arzt schrie laut nach dem Defibrillator, der sich noch an Bord des Sanitätsschnellbootes befand. Sofort ließ er sich einen Tubus geben, überstreckte den Hals des Patienten, führte den Tubus vorsichtig in die Luftröhre ein und fixierte ihn, während sein Kollege den Beatmungsbeutel anschloss. Doktor Mechier übernahm selbst die Herzdruckmassage des Patienten, ohne aber dabei auf die diversen Verletzungen seines Freundes Rücksicht nehmen zu können.„Los Andy, mach schon!“, schrie er auf Arabisch und fügte dann auf Deutsch ebenso laut schreiend hinzu, „Los, kämpfe endlich um dein Leben. Wenn nicht für mich oder Sebi, dann doch für Anne! Los, lebe, du Kerl!“ Wieder und wieder unterbrach er die Herzdruckmassage, um ihm neue Injektionen zu geben. Dann entschied er sich, intrakardial das Herz direkter anzuregen. Er ließ sich eine Spritze mit Epinephrin, als Adrenalin bekannt, aufziehen und verlangte eine lange Kanüle. Voll konzentriert fühlte der Arzt mit den Fingern der linken Hand den Brustkorb seines Freundes ab, um ihm eine intrakardiale Injektion zu verabreichen. Dafür stach er die Nadel vorsichtig in die Lücke, zwischen zwei Rippen und trieb sie bis zur rechten Herzkammer vor, wo er dann den Kolben nur sehr behutsam ausdrückte, sodass die Flüssigkeit nur langsam in den Herzmuskel floss. Achtlos ließ er danach die leere Spritze auf den Boden fallen und begann wieder mit der Druckmassage. Er schwitzte stark und war froh, als er einen seiner Männer endlich mit dem Defibrillator kommen sah.
Schnell und kompetent schloss er das transportable Gerät an und fuhr es hoch, um dem Herzen von Andreas den ersten Schubser damit zu geben. „Alle weg“, rief er, dann drückte er auf den Knopf und Andreas’ Körper bäumte sich unter dem Stromstoß nur unmerklich auf. Besorgt sah der Arzt auf die Herzrhythmuskurve. „Noch immer Kammerflimmern“, stellte er fest und erhöhte die Joulezahl des Stromschocks auf dreihundert. „Und alle weg“, sagte er zu seinen Kollegen. Während er auf den Knopf am Gerät drückte, schrie er seinen Patienten wieder laut auf Deutsch an. „Wage es dir ja nicht, dich aus dem Staub zu machen! Los, tue das, was du am besten kannst! Kämpfe endlich!“ Wieder jagte der Strom durch den Brustkorb des Mannes. Dann zeigte das Gerät einen Herzschlag an. Wenn auch nur schwach, so doch regelmäßig. Abdul zog eine neue Injektion auf und spritzte sie seinem Freund über den gelegten Zugang auf seinem linken Handrücken, als wieder ein Herzflimmern einsetzte. Der Arzt kämpfte mit aller Verbissenheit um das Leben dieses Mannes. Er war nicht bereit, ihn aufzugeben. Er erinnerte sich an das Gespräch mit ihm, als er von seinen Schmerzen und Krämpfen durch das Nervengift erzählt hatte, die er noch immer verspürte, und er dachte an das Gegenserum, wovon er ihm berichtet hatte. Sofort forderte er einen seiner Kollegen auf, in dem Taschengurt des Mannes nach weißgrün gestreiften Ballonspritzen zu suchen und sie ihm zu reichen. Schnell spritzte er das Serum, nachdem es sein Kollege gefunden und ihm gegeben hatte, in den Zugang. Eine zweite Spritze davon setzte er direkt in die Schulterwunde.
Nach drei Stunden erbitterten Kampfes in der prallen Sonne auf dem Meer hatten sie Andreas endlich so stabil, um ihn auf das Sanitätsschnellboot, mit einem optimal ausgerüsteten Operationsraum, zu bringen. Doktor Mechier war froh, dass der Wellengang nachgelassen hatte. Er entschloss sich zu einer sofortigen Notoperation, während sich seine Kollegen intensiv um die Verletzten der >Amun Re<, sowie um Anne und Sebastian kümmerten und ihren Chef dabei auf seine Bitte hin ständig darüber auf dem Laufenden hielten.
Der Kapitän des Schnellbootes vollbrachte mit seiner Crew eine wahre Glanzleistung, das Schiff so an der Welle zu halten, dass es kaum merklich schwankte. Dabei näherte es sich nur langsam dem Hafen des Militärstützpunktes, wo bereits die Krankenwagen für den kurzen Weg bis zum Lazarett bereitstanden, welches sich auch auf dem Marinestützpunkt befand. Als nach vier Stunden langsamer, sehr langsamer Fahrt, das Schnellboot vor Anker ging, wurden Rashid, Ahmed, Anne und Sebastian mit den Wagen zum Lazarett gebracht, wo sie behandelt und mehrstündig operiert wurden. Es war bereits spät. Doch im Operationssaal des Sanitätsschnellbootes wurde noch immer voll konzentriert gearbeitet.
Flottillenadmiral Jens Arend lief wie ein Tiger im Käfig nervös an Bord des Schiffes auf und ab. Er hatte sich hier absetzen lassen, nachdem die Gefangenen ins Militärgefängnis überstellt waren. In der Zwischenzeit hatten die Besatzungen der Küstenschutzboote gewechselt und waren wieder raus aufs Meer gefahren. Jens wartete ungeduldig auf den Kurier, den er in Deutschland losgeschickt hatte. Sechs Stunden nach seinem Anruf hielt ein Wagen direkt vor der Gangway des Schnellbootes. Jens sah, wie ein Mann mit einer großen Kühlbox ausstieg.
„Na endlich“, sagte er. „Das wird auch Zeit.“ Er lief los und schrie laut dem Posten an der Gangway schon von Weitem auf Arabisch zu, dass er den Mann durchlassen solle. Er brächte Blutkonserven, die hier dringend benötigt würden. Eilig kam der Mann die Gangway hochgelaufen. Salutierte vor dem deutschen Marineoffizier und reichte ihm die Box. Sofort verschwand er wieder mit der Erklärung, dass er die zweite Box mit gleichem Inhalt im Lazarett abliefern würde und dann auch schon mit dem nächsten Flug zurückmüsse.
Jens bedankte sich und lief, so schnell er konnte, mit der großen, schweren Box durch die Gänge bis zum Operationsraum. Er klopfte an die Tür und zeigte die Box hoch, sodass Doktor Mechier sie durch die Glasscheibe sehen konnte. Er nickte dem hochrangigen deutschen Offizier zu und schickte einen seiner Kollegen los, um die Box zu holen. Dann konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit.
Er war froh, dass dieser Jens Arend so schnell gehandelt hatte, denn er benötigte die Blutkonserven dringend. Und die aus Kairo ließen noch auf sich warten. Immer wieder tupfte einer der Assistenten dem Arzt den Schweiß von der Stirn, der verbissen um das Leben seines Freundes, eines ganz besonderen Menschen, kämpfte.
Jens sah noch eine Weile besorgt und in Gedanken versunken durch die kleine Glasscheibe in der Tür zum OP, dann setzte er sich auf einen Stuhl, der neben der Tür stand und wartete. Ein ägyptischer Marinesoldat brachte ihm eine Tasse heißen Kaffees, wofür sich Jens bedankte.
Er hatte die Tasse noch gar nicht ganz geleert, als ein anderer Matrose zu ihm trat und ihn bat, mit ihm zur Brücke zu kommen, der Kapitän hätte wichtige Informationen für ihn. Im ersten Moment wusste Jens nicht, wohin mit seiner Tasse, also stellte er sie einfach auf dem Sitz des Stuhles ab und folgte dem Soldaten zum Kapitän auf die Brücke des Sanitätsschnellbootes. Dort angekommen, trat ein groß gewachsener Ägypter mit leicht grauen Schläfen auf ihn zu. Er trug viele Lachfältchen um seine Augenwinkel, sein Gesicht war freundlich und ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er Jens die Hand zum Gruß entgegenstreckte. Dabei bekam er eine weiß blinkende, ebenmäßige Zahnreihe zu sehen. Nachdem sich beiden Männer begrüßt hatten, dankte Jens ihm, dass er ihn an Bord gelassen hatte und sein Freund und Kamerad hier so gut versorgt wurde. „Was gibt es denn so Wichtiges, worüber sie mich informieren wollen?“, fragte er dann neugierig auf Arabisch.
„Wir haben gerade die Meldung eins unserer Patrouillenboote hereinbekommen“, sagte der Kapitän und sah dann Jens etwas ungläubig an, als er weiter sprach: „Sie berichten, dass sie einer Delfinschule begegnet wären, die mit zwei Tauchern spielten. Die Tiere hätten sie immer wieder unter Wasser gezogen und nach einer Weile wieder kurz an die Oberfläche gelassen, um sie dann wieder runterzuziehen. Als sich unsere Taucher den Delfinen näherten, um den vermeintlich Verunglückten aus ihrer prekären Lage zu helfen, hätten die Tiere die beiden Männer ihnen angeblich regelrecht in die Hände gespielt. Die Männer seien so dankbar gewesen, endlich vor den Tieren gerettet worden zu sein, dass sie freiwillig losplapperten und erzählten, dass sie vom Boot >Blue Shark< seien. Meine Kameraden setzten sie daraufhin sofort fest und bringen sie zur Wachablösung morgen früh mit rein. Sie informierten mich darüber, mit der Bitte, es ihnen so schnell wie möglich mitzuteilen.“ Damit endete der Kapitän seinen Bericht und sagte dann noch immer ungläubig, „Ich tue hier schon lange meinen Dienst. Doch so etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört.“
Jens aber lächelte zufrieden. „Damit haben wir Nummer zehn und elf. Die Jungs haben ganze Arbeit geleistet.“ Er bedankte sich bei dem Kapitän für die gute Nachricht. Dann entschuldigte er sich bei ihm, dass er doch wieder in der Nähe seines Kameraden sein wolle. Der Kapitän verstand den Mann sehr gut und wünschte den Männern und der Frau gute Besserung. Als Jens den Weg zurück von der Brücke über das Deck an der Reling entlanglief, hörte er seltsame Geräusche im Hafenbecken. Er lehnte sich über das Geländer und sah im Schein des Mondes graue, glänzende Körper kurz auf und wieder untertauchen. „Die Delfine“, flüsterte er. „Ob es die Familie des Delfins ist, dem Andy vor ein paar Tagen geholfen hatte? Ob sie hier sind, weil sie etwas spüren und ihm damit helfen wollen? Wäre schön, wenn Andy es sehen oder wenigstens hören und fühlen könnte. Er kann wirklich jede Unterstützung brauchen.“
Versonnen schaute er auf die Tümmler, die sich dicht am Rumpf des Schnellbootes aufhielten, in dessen Bauch Andreas noch immer auf dem Operationstisch lag und Professor Doktor Mechier mit seinen Kollegen noch immer um sein Leben kämpfte. Weit nach Mitternacht verließ der Arzt müde und erschöpft den OP-Raum.
„Und wie sieht es aus, Doktor?“, wollte Jens wissen, der vor der Tür gewartet hatte.
Mechier sah den Mann erstaunt an. „Was, Sie sind noch hier? Haben Sie so lange mit durchgehalten? Der Mann muss Ihnen wirklich sehr viel bedeuten.“
„Ja Doktor, es ist nicht nur ein Unterstellter für mich, auf den ich hier übrigens ebenso warten würde, sondern auch ein enger Freund, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ich verstehe. Andy hat schon einiges von Ihnen erzählt und wir sind uns bei dem Fall vor einem halben Jahr begegnet, wie wir bei dem gemeinsamen Essen festgestellt haben. Sie beide sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.“
„Stimmt, Doktor. Aber haben Sie noch etwas Zeit? Kann ich Ihnen etwas zeigen?“, fragte Jens und zog den Arzt auch schon mit sich hoch aufs Deck. Die frische Nachtluft tat dem müden Arzt gut, und er atmete tief durch. Dann führte ihn Jens Arend an die Reling und zeigte auf die Schule von Delfinen im Hafenbecken. Die Augen des Militärarztes wurden groß vor Staunen, als er die Tiere so dicht vor sich sah.
„Seit wann sind die Delfine hier?“, wollte er wissen.
„Seit etwa anderthalb Stunden. Warum fragen Sie?“
Doktor Abdul Mechier nickte lächelnd. „Jetzt verstehe ich. Etwa zu dieser Zeit hörten wir seltsame Geräusche im OP, taten sie aber als unwichtig ab. Doch kurz darauf stabilisierte sich Andys Zustand ganz wesentlich, sodass wir die Operation ohne weitere Unterbrechungen und Komplikationen fortführen konnten. Jetzt weiß ich, warum“, meinte der Arzt. Dann erklärte er weiter: „Diese Tiere haben etwas Unerklärliches an sich. Mit ihren Tönen im Ultraschallbereich können sie bei uns Menschen bestimmte, positive Stimmungen auslösen. Sicher haben Sie auch schon einmal was von den Delfintherapien gehört. Vielleicht haben diese Tümmler das nun auch bei Andy bewirkt. Denn zuvor hatte ich den Eindruck, dass er sich aufgegeben hat. Jetzt kämpft sein Körper wieder. Und mithilfe dieser Tiere wird er den Kampf hoffentlich gewinnen. Ich hatte eigentlich vor, ihn hoch in die Klinik verlegen zu lassen. Aber unter den Umständen behalte ich ihn lieber hier auf dem Schiff, solange die Tiere da sind. Ich werde veranlassen, dass hier im Hafen so lange keine Schiffsbewegungen stattfinden, um die Delfine nicht zu vertreiben.“
Jens war beeindruckt und fragte dann leise: „Was meinen Sie, ob es die Familie des Delfins ist, dem Andy geholfen hat?“
„Davon bin ich überzeugt. Schauen Sie da“, sagte der Arzt und zeigte auf einen der Tümmler, der gerade an die Wasseroberfläche kam. Er hatte, gut erkennbar, eine hässliche, nicht ganz verheilte Wunde kurz vor der Schwanzflosse. „Andy hat mir davon erzählt und so, wie ich es sehe, ist genau das dieser Delfin. Entschuldigen Sie mich, aber ich muss dafür sorgen, dass der Hafen sofort gesperrt wird. Unsere Patrouillenboote müssen den Ausweichhafen nutzen, bis ich den Befehl wieder aufhebe.“ Damit verabschiedete sich der Arzt von Jens und sagte aber noch: „Machen Sie sich keine Sorgen und gehen Sie schlafen. Andy steht unter ständiger Beobachtung und ich selbst sehe spätestens in zwei Stunden wieder nach ihm.“
Jens nickte dem Arzt dankbar zu. Dann lehnte er sich wieder über die Reling und sah den Delfinen weiter zu. Er dachte an seinen Freund, Kameraden und Kampfgefährten Steffen Körner, der sein Leben gelassen hatte. Und er dachte an Andreas, der nun um seines so schwer zu kämpfen hatte. Schon wieder. Und das alles, nur weil es skrupellose Individuen gab, die mit Waffen und Kriegen schmutziges Geschäft machten und andere unterdrückten, um sie wie Vieh zu behandeln. Manchmal verstand er die Menschen nicht. Er schaute noch immer zu den geheimnisvollen Tieren im Wasser und bewunderte sie. Er überlegte, ob es wohl die gleichen Tümmler waren, die den Männern auf dem Patrouillenboot die beiden Taucher zugespielt hatten. Dann lächelte er wissend. Ja, er war sich dessen sogar sicher. Das waren sie. Leise dankte er jedem Einzelnen von ihnen für ihren Einsatz und die Hilfe für seine Freunde, was er nie öffentlich zugeben würde. Doch in diesem Moment war ihm danach. Noch eine Weile stand er so an der Reling, ehe er sich müde in seine ihm zugewiesene Koje an Bord zurückzog.
Jens konnte nicht schlafen. Er hörte auf die Geräusche des Meeres und die der Delfine. Dann tauchte er gedanklich in der Zeit zurück. Er erinnerte sich wieder an einiges von dem, was er vor einem halben Jahr hier auf dem Meer erlebt hatte. Wie er gemeinsam mit seinen Kameraden der alten Kampfeinheit, seinem ehemaligen Kampfgefährten Ralf Richter in Eigeninitiative dabei half, seine Kollegen auf dem internationalen Forschungsschiff >Blue Sea< zu befreien. Er hatte dabei Romana Veit kennen und schätzen gelernt. Sie hatten eher unbewusst in ein Wespennest gestochen und damit auch Andreas zur Freiheit und zum Leben verholfen, der schon seit Längerem vermisst worden war. Doch all das erfuhren sie damals erst im Nachhinein, als es sich wie eine Kettenreaktion fortsetzte. Seitdem hatte sich Jens darauf konzentriert, den gesamten Ring dieser Waffenhändler und Schmuggler zu zerschlagen und jeden einzelnen von ihnen vor Gericht zu bringen. Viele Menschen hatten bei diesem Kampf bereits ihr Leben gelassen. Jens hoffte, dass das durch eine rechtskräftige und gerechte Verurteilung der Schuldigen ein Ende finden würde.
Er erhoffte sich von den Aussagen der zehn gefassten Männer neue Informationen. Sebastian und Andreas hatten ihr Leben riskiert, um diese Kerle lebend zur Strecke zu bringen. Dass der eine in Panik nicht wusste, wie er sich aus dem Riff befreien konnte, war zwar dumm, aber nicht die Schuld der beiden. Im Gegenteil, er an ihrer Stelle, hätte bestimmt einige von den Kerlen für immer schlafen geschickt. Sebastian und Andreas hatten aber eigens darauf geachtet, diese fiesen Typen am Leben zu lassen, damit er seinen Job erledigen konnte, um auch noch den Rest der Bande zu erwischen.
Eigentlich hatte Jens insgeheim erwartet, dass er den Pockennarbigen und den asiatischen Teufel nur in Filetstückchen vorfinden würde, nachdem, was die Andreas angetan hatten. Doch ausgerechnet diese beiden Männer waren die Einzigen, die nahezu keine Verletzungen aufwiesen, wenn man von den blauen Flecken durch Boxhiebe nach den normalen Kampfhandlungen absah. Also war es für Andreas wichtig, dass er diese Kerle in seine Hände bekam. Jens nahm sich vor, sich dieser Männer besonders anzunehmen und alles aus ihnen herauszuquetschen, was er kriegen konnte. Andreas und Sebastian sollten nicht umsonst ihr Leben riskiert haben, stellte er am Ende seiner Überlegungen fest. Gegen fünf Uhr morgens schlief er endlich ein.
32
Anne schlug nur langsam die Augen auf. Doktor Mechier saß an ihrem Bett und lächelte sie müde an. „Hallo Anne, willkommen wieder zurück. Wie fühlen Sie sich?“, wollte er wissen.„Danke, Doktor. Etwas mau. Mein linker Arm und das Bein schmerzen. Dazu dröhnt mein Schädel. Was ist denn passiert?“, fragte sie irritiert. Dann erinnerte sie sich wieder. „Wie geht es Sebi und Andy?“
Doktor Mechier beruhigte sie und erklärte: „Anne, Sie haben drei Tage geschlafen. Sie standen unter Drogen und starken Betäubungsmitteln. Ihre linke Schulter war ausgekugelt, der linke Arm ist mehrfach gebrochen, sodass wir operieren mussten. Eine böse Stauchung des rechten Handgelenks und ein Schienbeinbruch links. Dabei haben wir die Brandwunde am rechten Bein entdeckt und behandelt. Wir haben alles wieder hinbekommen.“ Er klopfte auf ihren Gipsverband. „Nun braucht es nur Zeit, um zu heilen.“
„Danke, Herr Doktor. Aber die Stauchung hatte ich schon, ebenso wie die Brandverletzung. Ich war mit dem Moped gestürzt. Nur der Rest ist neu“, sagte Anne und lächelte dabei den Arzt verlegen an. Dann fragte sie erneut besorgt nach ihren beiden Freunden.
„Sebastian ist auf dem besten Weg. Andy wird gerade noch von den Delfinen behandelt, bevor ich weitermachen kann.“
Anne legte die Stirn in Falten und blickte den Arzt verwirrt an. „Wie meinen Sie das, Doktor Mechier?“, fragte sie nicht verstehend.
Er schaute der jungen Frau abwägend in die Augen und wusste nicht recht, ob sie das, was er zu sagen hatte, schon vertragen würde. Er entschied sich dafür. „Anne, mein Kind, Sie müssen jetzt stark sein. Andy hat schwere Verletzungen davongetragen. Er hatte sich aufgegeben. Doch die Stimmen der Delfine haben ihn uns zurückgeholt. Deshalb ist er jetzt auch noch auf unserem Sanitätsschiff, das unten im Hafen vor Anker liegt. Trotz all unserer Bemühungen kann es passieren, dass er querschnittsgelähmt sein wird. Aber für diese Prognose ist es noch zu früh“, räumte er schnell ein. „Wir müssen abwarten. Er liegt im künstlichen Koma und wir können ihn erst weiteren Operationen unterziehen, wenn er wieder wach und sein Körper wieder etwas bei Kräften ist.“
Anne glaubte nicht, was sie da hörte. „Nein, Doktor, das kann nicht sein. Warum?“
„Er war schon schwer verletzt und zusätzlich durch das Nervengift geschwächt. Danach wurde Andy bei den Kämpfen erst unter Wasser und dann auf dem Boot sehr schwer verwundet. Unter anderem hat er eine komplizierte Schussverletzung. Das Projektil hat sein Rückgrat geschädigt und einige Organe gestreift. Wir haben die Kugel in einer Notoperation entfernen können. Nun hoffen wir, dass die Schwellung an der Wirbelsäule, die auf das Rückenmark drückt, sich ohne Komplikationen mit der Zeit wieder zurückbildet. Er hat sehr viel Blut verloren.“ Doktor Mechier berichtete ihr in aller Ruhe, dass die Delfine ins Hafenbecken der Militärbasis gekommen waren und anscheinend allein durch ihre Anwesenheit den Allgemeinzustand des Patienten verbessert hätten.
„Und Andy ist auch jetzt noch auf dem Schiff?“, wollte sie wissen.
„Ja, Anne.“
„Können Sie mich bitte zu ihm bringen, Doktor Mechier?“, fragte sie mit fester Stimme. Der Arzt nickte ihr zu und veranlasste, dass sie mit einem Wagen runter zum Hafen und dann zu dem Patienten aufs Schiff gebracht wurde.
Als ein Soldat sie im Rollstuhl übers Deck schob, um sie zum Fahrstuhl nach unten aufs Zwischendeck zu bringen, stoppte Anne und schaute über die Reling. Sie sah ins Hafenbecken und erblickte eine Schule Tümmler von gut fünfzehn Tieren. Darunter auch einen mit einer sehr markanten frischen Verletzung, nahe der Schwanzflosse, auch Fluke genannt, auf beiden Seiten.
Am liebsten wäre sie ins Wasser gesprungen und hätte jedes einzelne der Tiere umarmt, nach dem, was sie von Doktor Mechier erfahren hatte. Doch dann trieb sie die Sorge um Andreas weiter.
Sie war dankbar dafür, dass der ägyptische Marinesoldat sie zum Zimmer ihres Freundes schob. Davor atmete sie noch einmal tief, auf alles gefasst, durch. Dann nickte sie dem jungen Mann zu, dass sie bereit wäre. Der Soldat schob sie in den karg eingerichteten Raum, in dem Andreas lag. Eine Krankenschwester, die für die Überwachung des Allgemeinzustandes des Patienten verantwortlich war, machte ihr schnell Platz. Sie gab ihr einen Klingelknopf in die Hand und erklärte ihr, dass sie nur darauf drücken müsse, wenn sie Hilfe braucht. Sie beruhigte sie, als sie sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Anne nicht weinen, sei stark für ihn. Es geht ihm schon viel besser. Er schläft ruhig. Doktor Mechier hat ihn in ein künstliches Koma versetzt, um seine Heilungschancen zu erhöhen.“
Erst jetzt erkannte Anne die Krankenschwester. Es war Hatifa aus der Siedlung, wo sie letztens erst die Geburt des kleinen Jamal gefeiert hatten. Sie wusste gar nicht, dass sie hier arbeitete. Sie nickte Hatifa dankbar zu, als diese leise den Raum verließ und die Tür dann hinter sich schloss. Anne hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit dem, was sie sah. Ihr Freund lag da, verbunden wie eine Mumie und viele verschiedene Schläuche und Drähte führten von ihm zu unterschiedlichen Apparaten, die ständig piepten, seine Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und noch einiges mehr aufzeichneten, von denen Anne aber nichts verstand. Einer der Schläuche führte in seinen Mund und versorgte ihn über einen anderen Apparat mit Luft, da Andreas nicht selbstständig atmete. Drähte, die von seiner Stirn wegführten, waren dafür da, seine Hirnströme zu messen und aufzuzeichnen. Von seinen Armen führten dünne Schläuche auf der einen Seite einer zu einem Blutkonservenbeutel und auf der anderen zu einer Tropfflasche. In einer Halterung an der linken Bettkante hing ein halb voller Urin-Katheterbeutel. Sein Gesicht war kreidebleich und von kleineren Schrammen sowie einem blauen, zugeschwollenen Auge gezeichnet.
Fortsetzung folgt
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