Unter Beobachtung
8. Teil
33
Die Schwester schaute auf eins der Geräte und nickte ihr lächelnd zu. „Ja, Anne, er hat dich bestimmt gehört. Solche Reaktionen sind im Koma durchaus möglich.“
Anne fragte, ob sie auch weiterhin zu jeder Zeit wiederkommen dürfte.
„Gern. Ich glaube, Andy tut es gut, deine Nähe zu spüren. Ich werde mit Doktor Mechier darüber sprechen.“
Anne bedankte sich und bat dann einen Soldaten, sie zurück zum Lazarett und da aber nicht auf ihr Zimmer, sondern zu Sebastian Rothe zu bringen. Eine Viertelstunde später wurde sie schon ins Krankenzimmer ihres Freundes geschoben.
Kim war bereits da und sie begrüßten sich freudig.
Kim bedankte sich durch Kopfnicken bei dem Soldaten und übernahm es selbst, ihre Freundin zum Bett ihres Mannes zu schieben.
„Hey Kleene, wird Zeit, dass du dich hier mal blicken lässt“, begrüßte Sebastian sie leise. „Wie geht es dir? Ich sehe, du bist schön fest eingepackt wie in einem Panzer. So was solltest du immer tragen, wenn du mit deiner Jungfernrutsche in der Wüste rumdüst“, versuchte er schon wieder zu scherzen.
Anne stellte fest, dass er ebenso in Verbände gewickelt war wie Andreas. Auch neben seinem Bett stand ein Infusionsständer, an dem ein Bluttransfusionsbeutel und ein zweiter Tropf mit einer Infusionsflüssigkeit hingen und die Infusionsschläuche in entsprechenden Zugängen in Sebastians Armbeuge und Handrücken endeten.
„Danke, mir geht es relativ gut. Und dir? Du siehst jedenfalls wie eine Mumie aus. Mit dem Unterschied, du kannst sprechen, was nicht unbedingt vorteilhaft ist“, antwortete sie frech, nicht auf seine Stichelei eingehend, sondern teilte ihrerseits aus.
„Na ja, ich habe schon bessere Zeiten erlebt. Aber die Ärzte haben mich gut wieder zusammengeflickt und es wird schnell heilen.“ Dann sah er Anne genauer an und fragte besorgt: „Wie geht es Andy? Wo ist er? Warst du bei ihm? Die Ärzte sagen mir nichts. Meinen wohl, sie müssten mich schonen. Du hast geweint. Ich sehs doch. Also, was ist los?“
Und schon kullerten wieder Tränen über Annes Gesicht. Dankbar nahm sie von Kim ein Taschentuch entgegen. Sie zuckte mit den Schultern und legte den Kopf dabei leicht schräg, während sie sich die Tränen wegwischte und dann kräftig schnäuzte. „Wir müssen abwarten, sagt Doktor Mechier. Er hat mir berichtet, dass Andy sich aufgegeben hatte. Aber seitdem die Delfine da sind, wird es besser.“
Fragend sahen sich Kim und ihr Mann an, dann blickten sie wieder zu Anne.
„Kannst du das noch mal sagen?“, verlangte Sebastian von seiner Freundin. „Ich glaub, ich hab nicht richtig gehört. Der Kerl hat sich aufgegeben? Der spinnt wohl! Der hat noch nie gekniffen und jetzt will er damit anfangen.“
„Nein, Sebi, er ›hatte‹ sich aufgegeben. Die Betonung liegt auf ›hatte‹, nicht auf ›hat‹. Die Delfine haben ihn zurückgeholt. Jetzt scheint er wieder zu kämpfen“, korrigierte Anne. Da ihre Freunde sie noch immer verwirrt ansahen, erzählte sie von den Delfinen im Hafenbecken und von seiner Reaktion darauf. Sie berichtete, dass Doktor Mechier Andreas auch deshalb auf dem Sanitätsschnellboot gelassen und den Hafen gesperrt hatte, um die Tiere nicht zu stören oder gar zu vertreiben.
Wovon Anne ihm aber nichts erzählte, war die Befürchtung des Arztes, dass ihr Freund aufgrund der schweren Schussverletzung querschnittsgelähmt sein könnte, dass er noch immer nicht selbstständig atmete und seit nunmehr einer Woche im künstlichen Koma lag.
Nachdem Sebastian erschöpft eingeschlafen war, küsste Kim ihn liebevoll auf die Stirn, strich über sein kurzes Haar und verabschiedete sich leise von ihm.
Die beiden Frauen verließen den Raum. Kim brachte Anne noch in ihr Zimmer. Sie setzte sich zu ihr und strahlte sie an, als sie sagte: „Anne, du bist die Erste, die es erfährt. … Ich bin schwanger.“
Annes Augen weiteten sich. Sie lächelte Kim begeistert an. „Nein. Ist das wirklich wahr? Seit wann weißt du es denn?“, wollte sie noch immer völlig erstaunt wissen.
„Schon seit vier Wochen.“
„Schon seit vier Wochen? ... Aber warum hast du es Sebi dann nicht schon längst gesagt?“, fragte Anne, nicht verstehend.
„Weil ich nicht wollte, dass er sich meinetwegen Sorgen macht und deshalb Andy und dir hätte nicht so helfen können, wie er es aber nun getan hat. Außerdem hatte Sebi mal erzählt, dass Andy, wenn es um gefährliche Einsätze ging, nie Männer mit Kindern dafür ausgesucht hätte. Egal, wie gut sie auch genau für diesen Job gewesen wären. Deshalb hatte er wohl auch oft Probleme mit seinen Vorgesetzten bekommen, hätte aber am Ende immer seinen Willen durchgesetzt. Anders gesagt, hätte er bestimmt sofort auf Sebis Hilfe verzichtet, sobald er erfahren hätte, dass er Vater wird. Das wollte ich aber nicht. Verstehst du mich?“
„Das heißt, du hast schon die ganze Zeit gewusst, dass du ein Kind erwartest, und hast Sebi trotzdem darum gebeten Andy zu helfen? Und das, obwohl du wusstest, wie gefährlich es ist, nachdem Andy die schlimme Verletzung und Vergiftung hatte?“ Anne konnte es nicht fassen und sah Kim mit großen Augen an.
„Ja, Anne. Denn jetzt kann auch ich wieder ruhiger schlafen. Und dafür hat mein Mann mit gesorgt. Klar hatte ich jede Sekunde Angst um ihn. Aber ich wusste, dass er das einzig Richtige tat. Hätte ich ihn davon abgehalten, hätte ich mir ewig Vorwürfe gemacht. Ich bin sehr stolz auf ihn.“
Nun verstand Anne, was Kim meinte, und nickte ihr bewundernd zu. Aber sie hatte trotzdem noch eine Frage. „Und warum hast du es Sebi jetzt noch nicht gesagt?“
„Ich möchte nicht, dass er vor Freude gleich aus dem Bett springen will und sich dabei am Ende noch weh tut. Kennst die beiden Kerle doch. Die kann nichts und niemand aufhalten. Aber ich möchte, dass er sich ordentlich auskuriert und gesund wird. Für unser Baby und mich“, antwortete Kim, dabei lächelte sie wieder und strich sich über den Bauch. „Vielleicht werde ich es ihm doch schon morgen sagen, wenn er sich bis dahin etwas besser fühlt.“
„Bestimmt wird er da sogar noch schneller gesund“, meinte Anne, davon überzeugt. Sie überlegte kurz. „Kim, darf ich das schon Andy erzählen? Vielleicht hilft es ihm auch bei seiner Genesung.“
„Klar doch, gern. Ich möchte euch zwei ohnehin gern als Paten für unser Baby. Und ich glaube nicht, dass mein Sebi etwas dagegen hätte. Eher im Gegenteil. Ihr seid beide seine besten Freunde.“
Anne fühlte sich geehrt und war gerührt.
Kim nahm sie in die Arme, als sie bemerkte, dass sie wieder zu weinen begann. „Anne, du wirst sehen, es wird alles wieder gut“, flüsterte sie ihr, sie tröstend, zu. Unter lautem Schluchzen nickte Anne und bedankte sich bei ihr.
Kaum hatte sich ihre Freundin verabschiedet und war gegangen, klopfte es an Annes Zimmertür. Doktor Mechier steckte seinen Kopf herein. „Können wir stören?“, fragte er vorsichtig.
„Aber ja, Doktor. Sie doch immer.“
„Ich habe hier zwei Besucher für Sie, die es kaum noch erwarten können, Sie endlich besuchen zu dürfen“, sagte der Arzt, dabei öffnete er die Tür vollständig und trat ein. Auf eine Krücke gestützt hinkte Rashid gefolgt von Ahmed, der seinen Arm in einer Schlinge trug, nach ihm ins Zimmer.
„Ahmed, Rashid, was habt ihr denn angestellt?“, wollte Anne erschrocken wissen, während sich die drei Freunde zur Begrüßung umarmten.
„Die beiden haben mutig Schießscheiben gespielt und Streifschüsse abgefangen“, erklärte der Arzt auf Arabisch, damit die beiden Männer auch verstehen konnten, was er sagt.
„Ja, aber die ›Amun Re‹ sieht viel schlimmer aus“, rechtfertigte sich Rashid etwas traurig und meinte dann noch: „Der Boss wird toben, wenn er uns zwischen die Finger bekommt.“
„Nein, Rashid, das glaube ich nicht“, beruhigte Anne ihn lächelnd und ließ sich dann von den beiden erzählen, was sie erlebt hatten. Sie erfuhr so, dass sie doch eigentlich nur ein lautes Signal geben und am Ankerplatz bleiben sollten. Weil Andreas und Sebastian nicht wollten, dass sie sich in Gefahr begeben. Wie sie sich entschlossen hatten, trotzdem weiterhin zu helfen, und wie sie sich mutig mit der >Amun Re< vor das andere Boot gelegt hatten, damit sie nicht mit ihr, Anne, fliehen konnten, bevor die Marine da war.
Sie berichteten abwechselnd in ihrer Heimatsprache davon, wie Ahmed einen fremden Taucher aus dem Wasser gefischt und gefesselt hatte und wie sie dann beschossen und verletzt wurden. Sie erzählten von der schnellen Hilfe, die sie bekamen, und bestätigten beide, dass es ihnen gut geht.
„Doktor, geht es ihnen wirklich so gut, wie sie sagen?“, fragte sie nach.
„Ja, Anne, wir können sie in ein paar Tagen entlassen. Es wird noch etwas dauern, bis die Wunden verheilt sind, und sie müssen auch noch einmal zu mir zur Behandlung kommen. Aber ja, die Jungs hatten großes Glück.“
Mit dieser Aussage war Anne zufrieden und bedankte sich herzlichst für seine Hilfe.
Als Rashid und Ahmed sich verabschiedet hatten, blieb der Arzt bei ihr und kontrollierte ihren noch immer schwachen Puls. „Ich habe von Schwester Hatifa gehört, dass Andy auf Sie reagiert hat“, begann er. „Also habe ich mir etwas überlegt. Wenn Sie nichts dagegen hätten, würde ich Sie gern verlegen lassen.“ Als er bemerkte, wie die Frau ihn erschrocken ansah, nahm er ihre Hand und sagte: „Nur keine Sorge, Anne, nicht weit weg von hier. Sondern runter in den Hafen, mit auf das Sanitätsschnellboot. Wir werden gleich neben der Intensivstation, die wir für Andy eingerichtet haben, wo er auch noch immer liegt, eine Kabine für Sie zurechtmachen. Damit entfällt der lange Weg bis runter in den Hafen für Sie, denn ich weiß, dass Sie ohnehin ständig bei ihm sind. Auf diese Weise könnten Sie jederzeit, wann immer Ihnen danach ist und wann immer sie wollen, zu ihm.“
Anne wollte, und wie sie wollte. Sie drückte den Arzt vor Freude und ihr konnte es nicht schnell genug gehen, in die Nähe von Andreas zu kommen.
„Nicht so eilig. Die Kabine wird doch gerade erst hergerichtet“, bremste sie der Arzt. Dann schaute er sie wieder streng an, als er weiter sprach: „Andy ist ein ganz besonderer Mensch, auch für mich. Ich habe nie zuvor einen solchen Mann getroffen. Anne, da ist noch etwas, das Sie wissen sollten. An dem Abend, als ich bei ihm im Hotel war, um seine Schulterverletzung wieder zu behandeln, hatte er mich darum gebeten. ... Nein, mir es sogar als Versprechen abgenommen, dass egal, was passiert, ich mich zuerst um Sie und seinen Freund kümmern solle. Das, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie es ihm selbst gehen würde. Als er mich dann anrief, schrie er laut und verzweifelt Ihren Namen in den Hörer und bat mich, schnell zu kommen. Mitten im Satz brach er ab. Ich hörte erst einen Schuss und dann ihn zu Boden fallen. Vielleicht zehn Minuten später, als wir das Boot endlich erreicht hatten, lag er direkt neben Ihnen und hielt Ihre Hand fest in der seinen. Ich glaube, er hatte sich aufgegeben, weil er dachte, Sie seien tot. Er war wohl nicht mehr dazu gekommen, Ihren Puls zu ertasten. Er glaubte, versagt zu haben.“
„Und Sie haben sich an Ihr Versprechen gehalten?“, fragte sie von dem Gehörten entsetzt.
„Ja, Anne, so schwer es mir auch fiel. Aber ich habe es getan. Andy ist ein ungewöhnlicher Mensch, dem das Leben seiner Freunde, und Ihres im Besonderen, wichtiger ist als sein eigenes. Ich habe großen Respekt vor ihm. Deshalb habe ich mich an seinen Wunsch und mein Versprechen gehalten.“ Traurig und nachdenklich sprach er nach einer kurzen Pause weiter. „Ich hoffe nur, das war nicht die falsche Entscheidung.“
„Wenn es Andy so gewollt hat, dann haben Sie nichts Falsches getan, Doktor Mechier. Im Gegenteil, Andy hätte ihnen den Kopf gehörig gewaschen, wenn Sie diese Reihenfolge nicht so eingehalten hätten.“ Dabei lächelte sie den Mann aufmunternd an.
„Das glaube ich auch“, meinte der Arzt daraufhin etwas erleichtert, weil er sich das endlich von der Seele reden konnte. „Und wollen wir nun umziehen?“
Anne nickte ihm zu. Abdul Mechier schob sie im Rollstuhl aus dem Krankenzimmer, wo sie dann ein Matrose übernahm und sie runter zum Hafen auf das Schiff brachte.
Doktor Mechier begleitete sie und zeigte ihr selbst ihre Kabine, die sie für sie rollstuhlgerecht hergerichtet hatten.
Sie bat den Arzt, dass sie gern auf dem Laufenden gehalten werden wolle, was den Gesundheitszustand von Andreas, aber auch den von Sebastian anging. Sie bedankte sich bei ihm für die so schön und liebevoll zurechtgemachte Kajüte auf dem Marineschnellboot. Während sie sich noch umsah, hörte sie schon den Gesang der Delfine.
Doktor Mechier erklärte ihr, dass er mit Absicht diese Kabinen gewählt habe. Sie lag unter der Wasseroberfläche nahe der Rumpfwand des Schiffes, weshalb die Stimmen der Delfine besonders gut zu hören waren.
Dankbar für alles, was der Militärarzt für sie alle tat, aber nicht tun müsste, lächelte sie ihn an. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen dafür jemals danken kann, Doktor Mechier.“
„Da gibt es nichts zu danken. Andy ist mein Freund geworden. Sie und Sebastian kenne ich schon sehr lange und weiß, wie viel Gutes Sie den Menschen hier tun. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen auf diese Weise vielleicht ein kleines Stück davon zurückgeben zu können. Und wollen wir jetzt zu Andy gehen? Ich möchte ohnehin nach ihm sehen.“ Ohne erst ein Wort von der Frau abzuwarten, schob er sie auch schon Richtung Tür, öffnete sie weit und schob sie mit dem Rollstuhl über die mit Keilen speziell für ihren Rollstuhl begehbar gemachte Schwelle. „In ein paar Tagen sehe ich mir Ihr Bein noch einmal an. Mit etwas Glück können Sie dann einen Gehgips bekommen, der Ihnen vieles hier erleichtern wird. Bis dahin wird immer jemand für Sie, sozusagen als persönlicher Chauffeur, zur Verfügung stehen. Die Jungs haben sich alle freiwillig, außerhalb ihres normalen Dienstes, für diesen Job gemeldet. Sie sehen, Sie und Ihre beiden Freunde sind hier sehr beliebt und wohl auch ihre heimlichen Helden. Und das sage ich nicht nur so dahin. Es ist wirklich so.“
Damit machte er Anne verlegen, denn sie fühlte sich absolut nicht als Heldin. Die vier Männer, mit denen sie die letzten Tage auf der >Amun Re< verbracht hatte, waren in ihren Augen die wahren Helden. Ebenso wie Kim, die trotz der Angst, die sie um ihren Mann gehabt hatte, ihn bei seiner Entscheidung, den Einsatz mit Andreas durchzuziehen, von Anfang an unterstützt hatte. Genau das sagte sie dem ägyptischen Militärarzt auch.
Doktor Mechier schob Anne ganz nah an das Bett des noch immer im Koma gehaltenen Mannes.
Vorsichtig nahm sie die Hand von Andreas, während der Arzt nacheinander die Augen seines Patienten öffnete und mit einer kleinen Lampe kurz hineinleuchtete. Dann sah er sich die Werte auf den verschiedenen Geräten an, zwinkerte Anne zufrieden zu und legte ihr den Klingelknopf auf den Schoß. „Sie wissen, nur drücken und sofort ist einer der Jungs oder die Schwester für Sie da. Ich habe mich übrigens auch mit auf dem Schiff einquartiert, um schneller da sein zu können. Aber jetzt möchte ich gern noch einmal nach Sebastian Rothe sehen.“ Damit verabschiedete er sich und ließ sie mit Andreas allein.
Wieder hörte Anne, trotz des ganzen Gepiepse der Geräte, die Stimmen der Delfine. Sie sah Andreas zärtlich an und streichelte sanft seine Hand. „Schatz, ich bin wie versprochen wieder da. Ich soll dich lieb von Sebi und Kim grüßen. Stell dir vor, sie werden Eltern. Kim erwartet ein Baby und du sollst der Patenonkel werden. Also kämpfe. Streng dich an und werde schnell wieder gesund. Wir alle brauchen dich“, flüsterte sie ihm zu. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Als sie bemerkte, dass seine Finger kurz zuckten, legte sie ihre Hand unter die seine und sprach weiter.
Sie erzählte von Rashid und Ahmed und was sie geleistet hatten. Wieder sah sie in das blasse Gesicht des Mannes, als sie leise sagte: „Andy, ich liebe dich. Kämpfe für mich … bitte.“ Langsam schloss sich seine Hand um die ihre und drückte sie, wenn auch nur leicht.
Tränen der Freude füllten ihre Augen. Am liebsten hätte sie ihm einen Kuss gegeben, doch sie kam mit ihrem eingegipsten Bein und Arm nicht nahe genug an ihn heran.
Leise erzählte sie ihm von den Delfinen, die sich alle im Hafenbecken versammelt hatten und sich die ganze Zeit über beim Schiffsrumpf aufhielten. Sie berichtete, dass sie sogar den Tümmler wiedererkannt hatte, dem er geholfen hatte und es ihm gut ginge. Wieder drückte er leicht ihre Hand.
Eine Stunde war vergangen, als Doktor Mechier erneut das Krankenzimmer betrat.
„Doktor, wie kann es sein, dass Andy mich versteht und mit Handdrücken antwortet, wo er doch im Koma liegt?“, fragte sie leise.
„Nein, Anne, ein Zucken ist vielleicht möglich, ja. Aber, nicht, dass er Ihnen wirklich antwortete, indem er Ihre Hand drückt. Das bilden Sie sich sicher nur ein. Das kann Andy in seinem derzeitigen Zustand bestimmt nicht.“
„Doch kann er. Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen“, beharrte sie darauf. Nachdem der Arzt neben sie getreten war und genau auf die Hand des Komapatienten schaute, sagte Anne nur leise: „Andy, mein Schatz, ich liebe dich. Also kämpfe.“
Abdul Mechier glaubte nicht, was er da sah, doch Andreas schloss tatsächlich seine Hand um ihre und drückte sie. Er sah auf den großen Ausschlag des Zeigers am Gerät, das die Hirnströme des Patienten aufzeichnete, und schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Das ist unmöglich“, staunte er und leuchtete wieder mit der Lampe in die Augen des Patienten. „Dieser Mann setzt sich doch wirklich über alles hinweg, was die Medizin gebietet“, meinte er dann und erklärte: „Eine leichte Reaktion ist normal, aber solch eine heftige, obwohl er im künstlichen Koma liegt, ist fast nicht möglich.“
„Fast, Doktor, fast. Andy hat einen starken Lebenswillen. Merken Sie das nicht.“ Sie lächelte hoffnungsvoll.
Der Arzt nickte Anne zu. „Es ist reichlich spät geworden und Sie sind noch nicht wieder ganz auf dem Damm. Also würde ich vorschlagen, Sie gehen nach nebenan und schlafen etwas. Wenn sich Andys Werte weiter so stabilisieren, versuchen wir ihn morgen aus dem Koma zu holen. Und wir sehen dann, wie es bei ihm mit der Eigenatmung aussieht. Einverstanden?“
Damit war Anne mehr als nur einverstanden. Sie verabschiedete sich von ihrem Freund und versprach ihm leise, gleich früh wieder da zu sein. Doktor Mechier brachte sie noch zu ihrer Kabine. Einer der Sanitäter half ihr aus dem Rollstuhl ins Bett und deckte sie sogar zu. Dann wünschten ihr die beiden Männer eine gute Nacht, ließen aber ein kleines Notlicht an und legten ihr den Klingelknopf für den Notruf in Reichweite auf den Nachtschrank. Leise schlossen sie die Tür hinter sich.
Anne spürte schon wenige Minuten später ihre Erschöpfung und schlief ein.
34
Als Doktor Mechier am Morgen in Annes Zimmer kam, um ihr ihre Medikamente zu bringen, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Das Bett war leer, der Rollstuhl lag umgekippt mitten im Raum, doch von der Frau keine Spur. Er trat zurück auf den Gang und rief nach der diensthabenden Krankenschwester. Noch während Hatifa zu ihm gelaufen kam, fragte der Arzt bereits, ob sie wisse, wo Anne Kamp sei, und zeigte in die leere Kajüte mit dem umgekippten Rollstuhl. Die Schwester erschrak, als sie den Rolli liegen sah. Doch auch sie konnte sich nicht erklären, wo Anne sein könnte. Sie hatte ihren Dienst eben erst angetreten und die Monitore des Patienten im Schwesternzimmer kontrolliert.
„Und ist alles in Ordnung?“, fragte der Arzt leicht nervös.
„Ja, Professor, seine Werte schlagen aber immer wieder sehr stark aus.“
„Gut, dann glaube ich zu wissen, wo unsere Anne steckt. Kommen Sie mit.“
Gemeinsam gingen sie eine Tür weiter, zu der für Andreas eingerichteten Intensivstation. Leise trat Doktor Mechier gefolgt von Schwester Hatifa in den dezent beleuchteten Raum, in den kein Tageslicht drang. Der Arzt lächelte der Krankenschwester erleichtert zu, nachdem er zum Bett des Patienten geschaut hatte.
Da saß Anne mit zerzaustem Haar neben dem Krankenbett auf einem Stuhl. Sie hatte ihren Oberkörper in der Nähe von Andreas auf dem Bettrand liegen, hielt seine Hand und schlief.
„Ich denke mal, ihr wird nachher sicher der Rücken schmerzen“, flüsterte der Arzt Hatifa zu. „Bitte holen Sie ihr gleich etwas dagegen und bringen sie ihren Rollstuhl mit.“ Leise trat er zu Anne und legte sacht seine Hand auf ihre Schulter, um sie zu wecken.
Nur langsam kam sie zu sich und blinzelte den Mann, der neben ihr stand, an. „Oh Doktor. Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie schlaftrunken und richtete sich im Stuhl auf. Dabei verzog sie das Gesicht.
„Rückenschmerzen, stimmt’s?“, fragte Doktor Mechier und lächelte wissend.
Anne nickte gequält.
„Ja, das kommt davon, wenn man nicht wie vom Arzt empfohlen im Bett, sondern unbequem hier schläft. Wie kommen Sie überhaupt hier her? Wir haben das halbe Schiff nach ihnen abgesucht“, übertrieb der Arzt.
Anne lächelte verlegen. Dann erklärte sie ihm leise und verschämt, dass sie in der Nacht auf die Toilette musste, aber dafür nicht extra einen der Sanitäter oder Soldaten wecken wollte. Sie begründete es damit, dass es für die Männer sicher unangenehm, ja peinlich wäre, eine Frau dahin zu begleiten, denn viele der Marinesoldaten und Sanitäter seien schließlich strenggläubige Muslime. Also hätte sie es allein versucht.
„Na ja, und dabei ist mir der Rollstuhl weggerollt und umgekippt. Mir war sofort klar, dass ich das Teil mit nur einem Arm ohnehin nicht hätte bewegen können. Deshalb bin ich einfach auf einem Bein über den Gang gehüpft und wollte gleich mit nach Andy sehen“, erzählte sie und lächelte dabei verschmitzt, als sie weitersprach: „Und dann hat mich Andy nicht mehr losgelassen. So bin ich geblieben.“
Der Arzt hatte verstanden und nickte der zierlichen Frau zu. „Wissen Sie was, Anne? Sie sind ebenso verrückt wie Ihre beiden Freunde“, stellte Abdul Mechier lachend fest. „Und das Andere ist eine plumpe Ausrede. Jeder meiner Männer ist bereit, Ihnen jederzeit und in jeder Art zu helfen. Neben ihrem Glauben sind sie in erster Linie Ärzte, Arzthelfer und Sanitäter. Da ist ihnen nichts Menschliches fremd oder peinlich, auch nicht Sie auf die Toilette zu begleiten und notfalls da zu helfen“, erwiderte Professor Doktor Mechier mit streng aufgesetzter Miene.
Die Schwester kam mit dem Rollstuhl, einem kleinen Schälchen mit einer Tablette und einem Glas Wasser zurück.
Doktor Mechier legte die anderen Medikamente für Anne dazu und reichte ihr die Schale und das Wasserglas. „Hier, artig schlucken und auch die Rückenschmerzen sind in wenigen Minuten vergessen. Aber sagen Sie das nächste Mal Bescheid, wenn Sie wieder so etwas vorhaben. Sicher finden wir dafür eine bequemere Lösung für Sie.“ Er half Anne in den Rollstuhl und gab der Schwester ein Zeichen, sich um sie zu kümmern und ihr etwas den Nacken zu massieren. Dann untersuchte er seinen Sorgenpatienten und zeigte sich zufrieden über die Ergebnisse.
Hatifa hatte Anne ein Stück zurückgefahren, kämmte ihr das lange, blonde Haar, flocht es zu einem Zopf im Nacken zusammen und steckte den hoch. Abschließend strich sie ihr übers Haar. „Du hast schönes Haar, Anne. Es ist wie ein goldenes, seidig schimmerndes Tuch“, meinte sie leise auf Arabisch. Sie selbst trug ihre schwarze Haarpracht unter einem Tuch hochgesteckt, wie es ihre Religion verlangte.
„Danke, Hatifa. Dein Haar ist bestimmt auch wunderschön. Darf ich es dir, wenn ich es wieder kann, auch einmal frisieren?“, fragte Anne und wusste genau, dass dies ein Freundschaftsangebot unter den hiesigen Frauen sein konnte.
Gern stimmte die Ägypterin zu. Sie kannte Anne schon lange und mochte ihre fröhliche, aufgeschlossene Art. Hatifa trug zwar einen Hidschab als Kopfbedeckung, war aber nicht verschleiert. Sie hatte studiert und ging einer Arbeit nach, was für die Frauen hier einen großen Fortschritt bedeutete.
Doch sie könnte das alles nicht, wenn sie nicht einen guten Vormund gehabt hätte, der sie dabei bestärkt und unterstützt hatte, diesen Weg zu gehen.
Anne wusste um den Kampf der Frau und achtete sie deshalb. Hatifa hatte es anfangs nicht immer leicht und wurde schon auch mal von der Gemeinschaft beschimpft oder negiert. Aber sie hat sich durchsetzen können und wird nun sehr geachtet, weil sie ihren Mitmenschen mit dem, was sie gelernt hat, helfen kann. Hatifa selbst war nicht gläubig, trotzdem hielt sie sich an die Bräuche und Sitten, um den Menschen, denen sie helfen wollte, nicht vor den Kopf zu stoßen, sondern zu zeigen, dass sie sie achtete. Deshalb auch das Hidschab als Kopfbedeckung.
Zwei weitere Ärzte betraten den Raum und begrüßten Anne und die Schwester höflich, dann gingen sie zum Professor und unterhielten sich leise mit ihm.
Nach einer Weile wandte er sich an Anne. „Gut Anne, wir haben entschieden, Andy aus dem Koma zu holen. Wir hoffen, dass er dann auch wieder eigenständig atmen wird. Wie ist es, möchten Sie mit dabei sein? Aber ich warne Sie, ich kann nichts versprechen. Es kann passieren, dass uns Andy mit einem Mal wieder absackt. Vielleicht ist es besser, wenn Sie doch lieber auf ihrem Zimmer warten.“
„Nein, Doktor, ich bleibe. Ich war bei der Entgiftung dabei und ich werde auch hier dabei bleiben. Vielleicht kann ich schon allein mit meiner Anwesenheit helfen“, antwortete Anne fest und fragte: „Wo kann ich nahe bei Andy sein, ohne Sie bei Ihrer Arbeit zu stören oder im Weg zu sein?“
Der Arzt überlegte kurz. Dann schob er sie wieder an die Seite des Bettes, wo sie zuvor auf dem Stuhl gesessen hatte. „Aber nicht böse sein, wenn wir Sie vielleicht plötzlich wegschieben müssen, weil wir den Platz benötigen“, sagte Abdul Mechier und lächelte die Frau um Verständnis bittend an.
Sie nickte ihm verstehend zu, nahm wieder die Hand ihres Freundes in die ihre und verbarg dabei, wie ihr die Stauchung des Handgelenks noch schmerzte.
In den gelegten Zugang spritzte der eine der Ärzte ein Mittel, während der Professor den Tubus aus Andys Luftröhre entfernte und der Dritte überwachte akribisch alle Vitalfunktionen des Patienten an den Geräten und teilte jede Veränderung sofort mit.
Gespannt sah Anne von einem zum anderen, während Hatifa hinter ihr stand und ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter gelegt hatte.
„Los, atme endlich, Andy“, schrie Mechier Andreas mit einem Mal auf Deutsch an, als er den Tubus entfernt hatte, aber der Patient keine Anstalten machte selbstständig zu atmen.
Anne drückte fest die Hand ihres Freundes und schaute besorgt in sein Gesicht. Dann holte Andreas endlich tief Luft, als wäre er sehr lange mit angehaltenem Atem unter Wasser gewesen und eben erst wieder aufgetaucht. Fest presste er dabei Annes Hand.
Soweit es ihr möglich war, erwiderte sie diesen Druck, egal, wie stark das auch schmerzte.
Andreas kam nur sehr langsam zu sich. Doch dann riss er seine Augen, die gläsern erschienen, weit auf. Geblendet von dem grellen Licht schloss er sie wieder, kniff sie regelrecht fest zusammen.
Doktor Mechier schaltete sofort die helle Behandlungslampe aus, als er es bemerkte.
Allmählich beruhigte sich der Atem des Patienten, wurde gleichmäßiger und er öffnete vorsichtig die Augen. Er lockerte den festen Griff seiner Hand, den Anne mit zusammengebissenen Zähnen ertragen hatte, ohne wegzuziehen. Dann schloss er die Augen wieder und lag eine Weile reglos da.
Hilfe suchend und fragend schaute sie zu Doktor Mechier.
Der zwinkerte ihr aufmunternd zu und überprüfte den Puls seines Patienten. „Sprechen Sie mit ihm, Anne“, ermutigte er die verunsicherte Frau.
„Andy, ich bin es. Wie geht es dir?“, fragte sie nur leise.
„Weiter“, forderte Doktor Mechier sie auf, als er bemerkte, dass Andreas noch immer nicht reagierte.
Anne nickte ihm zu und sprach weiter: „Schatz, ich bin es. Bitte, werde endlich wach. Du hast lange genug geschlafen.“
Mit zitternden Lidern schlug Andreas die Augen erneut auf und sah in ihr Gesicht. Schwach und kaum hörbar fragte er: „Ist nun Zeit für Gefühle?“ Dabei versuchte er ein leichtes Lächeln hinzubekommen, was aber eher in einer Grimasse endete.
„Ja, jetzt ist dafür Zeit“, gab sie erleichtert zur Antwort.
„Wie geht es dir und Sebi?“, wollte er wissen. Dabei drehte er den Kopf leicht und sah an ihr herab. Als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, riss er seine Augen weit auf, hob den Kopf und schrie aus Leibeskräften: „Doc, wo sind sie? Was ist mit Anne passiert? Was ist mit ihr? Was hat sie? Hat sie Schmerzen? Sie sollten sich doch um sie kümmern!“ Dann sank sein Kopf erschöpft ins Kissen zurück.
„Schatz, das hat er getan. Genauso, wie du es wolltest. Es ist alles gut. Doktor Mechier hat Sebi und mir geholfen. Uns geht es gut“, versuchte Anne ihn zu beruhigen.
Er aber drückte immer noch fest ihre Hand, dass es sie schmerzte.
„Andy, du tust mir aber jetzt gerade weh. Du zerdrückst mir die Hand“, sagte sie leise und ruhig, bemüht, ihre Schmerzen trotzdem nicht zu zeigen.
Er ließ sofort seine Hand wieder locker.
Der Arzt drückte eine Injektion in den Venenzugang und kurze Zeit später schlief Andreas ein. Doktor Mechier setzte ihm behutsam eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase und atmete selbst erleichtert und zufrieden auf. Er bedankte sich bei seinen Kollegen, die daraufhin den Raum verließen. Dann wandte er sich Anne zu. „Ich glaube, wir haben die ersten Schritte in die richtige Richtung geschafft. Nun müssen wir abwarten. Hatifa bringt Sie gern auf ihr Zimmer zurück, denn Andy wird eine Weile schlafen.“
„Nein, Doktor. Ich möchte gern bei ihm bleiben, wenn das möglich ist.“
Abdul Mechier zuckte mit den Schultern. „Klar, das ist es. Aber denken Sie daran, dass Sie selbst noch nicht wieder auf dem Posten sind und Ruhe benötigen. Andy reißt mir den Kopf ab, wenn es Ihnen nicht gut geht. Das wissen Sie doch und haben es auch soeben wieder gehört“, meinte er und lächelte betrübt. „Ich werde dafür sorgen, dass es ihnen so bequem wie möglich gemacht wird“, entschied er dann und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er in spätestens zwei Stunden wieder nach dem Patienten sehen wird. Er winkte Schwester Hatifa zu sich und sie verließen gemeinsam den Raum. Auf dem Gang gab er ihr und zwei seiner Männer ein paar Anweisungen.
Wenig später brachten die Soldaten einen bequemen Lehnsessel in das Krankenzimmer und setzten Anne hinein. Nun konnte sie ihren Gipsarm auf eine Armlehne und ihr vergipstes Bein erhöht auf einer Fußstütze ablegen. Die Männer stellten ihr die Rückenlehne ein, deckten sie mit einer flauschigen Decke zu, weil die Klimaanlage in Betrieb war, und schoben sie nahe an das Bett ihres Freundes heran.
Anne bedankte sich freundlich lächelnd bei den jungen Soldaten auf Arabisch und deutete eine Verneigung an. „Schukran“, flüsterte sie.
„Afran“, erwiderten die Männer und nickten der deutschen Frau, eine Verbeugung andeutend, zu. Sie verließen den Raum und schlossen die schwere Stahltür, so leise wie möglich, hinter sich. Anne beugte sich weit nach vorn und strich ihrem Freund sacht und liebevoll übers Haar. Dann lehnte sie sich zurück, ergriff seine Hand und schlief im bequemen Sessel neben ihm ein. Die Stimmen der Delfine begleiteten sie in ihre Träume.
35
Auch am Folgetag besuchte Kim ihren Mann. Sein Allgemeinzustand hatte sich weiter verbessert, und einige der Verbände wurden durch leichtere Pflaster ersetzt. Sie wusste von Doktor Mechier, dass sich Sebastian auf dem Weg der Besserung befand und keine Komplikationen zu erwarten waren. Gefühlvoll küsste sie ihn zur Begrüßung und drückte ihm, geheimnisvoll lächelnd, ein Päckchen in die Hand, welches liebevoll verpackt, mit einer großen Schleife zusammengehalten wurde. „Hier mein Spatz, eine Überraschung für dich. Na los, mach es schon auf“, drängte sie.
Sebastian kam es so vor, als könnte es seine Frau selbst kaum erwarten, dass er das Päckchen öffnete. Es machte ihm immer wieder Spaß, sie etwas zappeln zu lassen. Also packte er das Geschenk absichtlich langsam aus. Dabei war er selbst voller Neugier. Doch er genoss es, sie so gespannt wie einen Flitzbogen zu sehen. Übertrieben bedächtig zog er die Schleife auf und beobachtete Kim dabei aus dem Augenwinkel. Er amüsierte sich darüber, wie sie zunehmend hibbeliger wurde und zog es zusätzlich in die Länge, indem er ewig beim Öffnen der Knoten benötigte. Auch das Geschenkpapier, welches um die kleine Schachtel gewickelt war, entfernte er eher umständlich und nur langsam. Er strich es sogar extra noch akribisch glatt, bevor er es säuberlich zusammenlegte und sich erst danach weiter um die Pappschachtel kümmerte.
Nachdem er den Karton dann endlich geöffnet hatte, schnappte er kurz nach Luft, woraufhin ihm sofort der Atem stockte. Er zog kleine Babyschühchen aus dem Päckchen hervor und brauchte eine Weile, diese Botschaft zu verdauen. Dabei hatte er ganz vergessen, weiterzuatmen. Er holte tief Luft und bemühte sich darum, sehr langsam auszuatmen. Nur allmählich zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Sebastian schaute seine Frau freudestrahlend und zugleich fragend an. Kim nickte ihm ebenso freudig zu.
„Wow“, sagte er erst nur ganz leise. Doch dann schrie er mit all seiner Kraft und fester Stimme: „Wow, ich werde Vater!“ Dabei umarmte er seine Frau und küsste sie immer und immer wieder. „Das muss Andy erfahren.“
„Ich glaube“, gestand Kim leise, „das weiß er schon.“
Fragend sah Sebastian sie an.
„Ich habe es gestern schon Anne erzählt. Sie fragte mich, ob sie es ihm sagen darf. Sie meinte, dass es ihm vielleicht dabei hilft, schneller wieder gesund zu werden. Ich habe mir für uns gewünscht und sie darum gebeten, dass sie beide Paten für unser Baby werden sollen. War das richtig?“
„Goldrichtig. Gut gemacht, Liebling“, lobte er. „Bessere Paten gibt es für unser Murkelchen nicht.“ Zärtlich streichelte er über ihren Bauch, dann küsste er sie innig. Dabei waren all seine Schmerzen und Qualen für den Augenblick vergessen.
36
Doktor Mechier öffnete die Tür. Noch bevor er in den Raum sehen konnte und eingetreten war, sagte er schon laut: „Anne, die Delfine. Die Delfine ziehen sich gerade aus dem Hafenbecken zurück. Sie haben …“ Dem Arzt blieb der Rest des Satzes regelrecht im Halse stecken. Nachdem er sich von dem Anblick halbwegs erholt hatte, brachte er den Satz leise zu Ende: „… wohl keine Geduld oder keine Lust mehr, hierzubleiben. … Nein, ich glaube eher, sie wissen, dass sie ihre Arbeit erledigt haben, und hier nicht mehr gebraucht werden“, fügte er feststellend hinzu. Er glaubte nicht, was er da sah. Anne schlief in dem bequemen Sessel. Andreas hatte die Lehne seines Bettes aufgerichtet und den Sessel, mit welcher Kraft auch immer, näher an sein Bett herangezogen. Er hatte die Sauerstoffmaske abgenommen, saß fast aufrecht im da und streichelte liebevoll und besorgt seine Freundin.
Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen, um dem Arzt zu signalisieren, dass er etwas leiser sein solle, um Anne nicht zu wecken, dabei lächelte er ihm zu. Was aber wegen seines noch immer geschwollenen Gesichts eher einer Grimasse glich.
Nachdem Abdul nahe genug an ihn herangekommen war, flüsterte Andreas ihm zu: „Hallo Doc, schön dich zu sehen.“ Dabei reichte er ihm vorsichtig die Hand. „Was ist mit Anne passiert? Hat sie große Schmerzen?“
„Andy“, wehrte der Arzt ab, „könntest du vielleicht zur Abwechslung auch mal an dich denken. Anne geht es gut.“
„Nein, Doc, geht es ihr nicht. Du siehst doch, wie sie aussieht. So blass und müde.“
„Ja, das ist nur deinetwegen, du unverbesserlicher Kerl. Sie war jeden Tag bei dir und hat kaum geschlafen, geschweige denn mal die Sonne für paar Stunden genossen. Letzte Nacht hat sie sich sogar aus ihrem Zimmer geschlichen und das mit dem Gipsbein. Früh fanden wir sie hier unbequem auf einem Stuhl an deinem Bett sitzend vor. Unverbesserlich, wie du auch, denn du müsstest liegen und nicht hier sitzen“, fügte der Arzt tadelnd hinzu und stellte das Kopfteil des Bettes wieder tiefer. Er schüttelte aber das Kissen auf und legte es so, dass sein Patient und Freund trotzdem etwas erhöht liegen konnte.
„Doc, was hat Anne? Was ist genau mit ihr passiert?“, wollte Andreas wissen, ohne einen Blick von ihr zu lassen.
Geduldig erklärte Doktor Mechier ihre Verletzungen.
Andreas drehte sich mit einem Ruck und weit aufgerissenen Augen zum Arzt herum und starrte ihn erschrocken an.
„Was ist, Andy?“, fragte Abdul besorgt.
„Ich bin schuld, Doc. Ich habe sie so gequält. Ich wollte doch, dass ihr nichts passiert. Ich habe versagt.“
„Wovon sprichst du, Andy?“, wollte Doktor Mechier wissen, der annahm, dass sein Freund verwirrt sei.
Andreas berichtete dem Arzt, dass er Anne extra mit wesentlich mehr Blei bepackt und ihr dann die Tarierweste aufgeschlitzt hatte, weil er wollte, dass der Kerl die Weste nicht wieder aufgeblasen bekam und es somit schwerer hatte, sie wegzuschleppen. Alles nur, damit Sebastian und er Zeit gewannen, um noch rechtzeitig auf das Boot zu gelangen, bevor sie mit ihr abhauen konnten.
„Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so wehren würde, um nicht an Bord gezogen zu werden und die zusätzlichen Gewichte ihr dabei halfen. Der Kerl hat ihr deshalb beim Herausziehen aus dem Wasser aufs Boot den Arm gebrochen. Und das gleich mehrmals.“ Tränen der Verzweiflung traten in seine Augen, die er schnell wegzublinzeln versuchte. „Welche Schmerzen musste sie nur meinetwegen erdulden.“
Jetzt verstand der Arzt. „Andy, mein Freund, hör mir mal gut zu“, begann Abdul Mechier, dabei legte er die Hand beruhigend auf seine Schulter. „Erstens hatte Anne gar keine Schmerzen, das kann ich dir versichern, denn dieser Kerl hat sie, wie wir herausgefunden haben, bereits unter Wasser mit Drogen und Betäubungsmitteln vollgepumpt. Sie konnte sich also gar nicht wehren, selbst wenn sie das gewollt hätte. Sie kann sich auch an absolut nichts erinnern. Zweitens wären es die gleichen Verletzungen gewesen, wenn sie nur ihr normales Gewicht dabeigehabt hätte. Der Kerl war so brutal, sie nur an diesem einen Arm, ihn als Hebel nutzend, schräg über die Kante aufs Boot zu zerren.“
„Und ihr Bein, Doc? Was ist damit passiert?“, wollte Andreas wissen.
„Laut der vorgelagerten Quetschung und dem Bruchbild, nehme ich an, dass sich ihr Bein zwischen zwei Leitersprossen verklemmt hatte und diese Kerle bestialische Gewalt angewandt haben müssen, sie da herauszuziehen, um sie aufs Boot zu hieven. Sie haben sie dabei behandelt wie ein Stück Vieh. Ohne Rücksicht auf Verluste.“
Wieder sah Andreas besorgt zu seiner Freundin und streichelte sie zärtlich, als er leise fragte: „Wird sie davon etwas zurückbehalten, Doc.“
„Nein, wenn die Brüche verheilt sind, noch etwas Physiotherapie und Krankengymnastik, danach wird alles wieder in bester Ordnung sein. Anne wird keine Einschränkungen davontragen, wenn du das meinst.“ Erleichtert atmete Andreas bei dieser Nachricht auf.
Mit keiner Silbe erwähnte er, dass er seine Beine nicht spürte. Dabei war der Arzt gerade auf diese Feststellung und Frage vorbereitet. Doch sie kam nicht.
Doktor Mechier nahm deshalb an, dass er es vielleicht noch nicht gemerkt hatte.
Andreas hatte es jedoch sehr wohl bemerkt, stellte es aber hinten an. Die Sorge um seine Freunde war größer und vorrangig für ihn. Außerdem wollte er Anne damit nicht beunruhigen. Nicht so lange es ihr noch nicht besser ging.
Er konnte nicht wissen, dass sie bereits über seine Verletzungen Bescheid wusste. Andreas erkundigte sich auch nach Sebastian, Rashid und Ahmed, worüber ihn Doktor Mechier gern Auskunft gab und ihn beruhigen konnte.
Stimmen drangen an Annes Ohr, wovon sie langsam munter wurde. Sie staunte nicht schlecht, als sie ihren Freund mit dem Arzt sprechen und lachen hörte.
Als Andreas bemerkte, dass sie wach wurde, sagte er mit sanfter Stimme: „Guten Morgen mein Dornröschen. Bitte entschuldige, wenn ich dich nicht mit einem Kuss wecken konnte, so wie es sich im Märchen gehört. Aber ich komme nicht ran. Der Doc hier lässt mich einfach nicht aufstehen.“ Dabei lächelte er sie an und drückte zärtlich ihre Hand.
Sie war sichtlich erleichtert, ihn so zu sehen. Dann aber blickte sie besorgt und fragend zum Arzt.
Der nickte ihr freundlich zu. „Ja Anne, seine Werte sind in Ordnung. Er ist auf dem Weg der Besserung. Der Meinung sind die Delfine übrigens auch, denn die sind vorhin aus dem Hafenbecken abgezogen.“
Andreas wusste noch immer nicht, was das ständige Gerede von den Delfinen im Hafen auf sich hatte. Doch Anne verstand den Arzt und wirkte sichtlich erleichtert. „Wenn die Herren mich mal entschuldigen würden“, sagte sie, dabei bemühte sie sich, aus dem bequemen Sessel aufzustehen. „Aber ich müsste mal für kleine Mädchen.“ Schnell war Doktor Mechier bei ihr und hatte auch schon den Klingelknopf betätigt. Er half ihr beim Aufstehen und setzte sie vorsichtig in den Rollstuhl.
Andreas sah dabei zu und verfluchte es, an dieses Bett gefesselt zu sein und ihr nicht selbst helfen zu können. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer und schob Anne nach draußen. Nachdem sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen hatte, richtete er sich wieder auf und sah den Arzt streng an, als er sagte: „Okay Doc, reden wir schnell Klartext, bevor Anne zurück ist.“
Verwundert sah Abdul ihn an. „Was willst du wissen?“
„Ich will von dir jetzt und hier deine ehrliche Diagnose. Bleibe ich gelähmt oder ist es reparabel? Und bitte ohne das ganze Drum und Dran, womit ihr sonst die Patienten einzulullen versucht. Also lass die Beruhigungsnummer wie: es wird bestimmt alles wieder gut, weg. Einfach nur ja oder nein.“
Der Arzt setzte sich zu ihm auf die Bettkante. „Andy, ich weiß es nicht. Wirklich. Wir müssen abwarten, bis die Schwellung, die auf dein Rückenmark drückt, zurückgegangen ist.“
„Wie lange dauert das?“
Doch der Arzt zuckte nur mit den Schultern. Gern hätte er ihm eine bessere Diagnose gestellt und eine genauere Prognose gegeben.
„Was kann ich tun, damit es schneller wieder wird?“, fragte Andreas weiter.
„Noch liegen bleiben und endlich mal auf mich hören. Ansonsten Geduld und so wie bisher durchbeißen, nicht aufgeben und kämpfen. Wahrscheinlich werden weitere Operationen nötig sein. Das müssen wir abwarten.“
„Gut, Doc, dann gehen wir es an. Ich will bald wieder auf den Beinen sein.“ Artig legte er sich aufs Kissen zurück.
Dass der Mann so reagierte, war Abdul fast unheimlich. Aber er war froh, dass Andreas endlich vernünftig war und es ernst nahm, ohne es übers Knie brechen zu wollen. Das hoffte Doktor Mechier zumindest.
Andreas und Anne wurden ins Lazarett verlegt und der Hafen wieder freigegeben. Da Anne auch mit dem Gehgips und dem eingegipsten Arm noch nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen, entschied Doktor Mechier, dass sie weiterhin in der Klinik bleibt. Sie bekam gleich das Zimmer neben dem ihres Freundes, bei dem sie sich ohnehin die meiste Zeit aufhielt. Die Wundheilung bei Andreas war ebenso enorm wie seine Willenskraft. Anne begleitete ihn zu jeder Physiotherapie und spornte ihn dabei immer wieder an, durchzuhalten, was eigentlich nicht nötig war.
Doktor Mechier war sehr zufrieden mit seinem Patienten, der auf einmal gar nicht mehr unbequem war.
Täglich besuchten ihre Freunde die beiden und sorgten so für Kurzweil und zusätzlich gute Stimmung.
„Heute kommt mein Gips ab, Andy“, sagte Anne fröhlich, nachdem sie vom Röntgen zurück in sein Zimmer gehinkt kam. „Endlich, die sechs Wochen sind um.“
Andreas saß im Rollstuhl und freute sich für sie. „Los, dann steig auf, ich fahre dich zum Doc.“ Dabei klopfte er mit der Hand auf seinen Oberschenkel. Vorsichtig setzte sie sich auf seinen Schoß und die wilde Fahrt mit dem Rollstuhl durch die Lazarettgänge begann.
Beide lachten und Anne rief immer wieder laut auf Arabisch: „Bahn frei!“ Das Personal, das sich in der Zwischenzeit an die zwei gut gelaunten, ausgelassenen Patienten gewöhnt hatte, die den Lazarettflur öfter zu ihrer Rennstrecke machten, traten zur Seite und winkten ihnen lachend nach. Sie mochten die beiden verrückten, aber immer freundlichen Leute.
Anne war inzwischen ebenfalls eine gute Freundin des Arztes geworden. Als er den Gips von ihrem Arm und Bein entfernt hatte und ihre Beweglichkeit kontrollierte, war er sehr zufrieden und nickte auch Andreas zu. „So, wie ich es versprochen habe. Nun musst du deine Muskeln wieder langsam trainieren und aufbauen“, erklärte er und reichte ihr eine Gehhilfe.
Ab da an begleitete Andreas auch sie zu ihrer Physiotherapie und feuerte sie beim Muskelaufbautraining an. Er war begeistert davon, mit welcher Zielstrebigkeit sie trainierte.
Zwei Wochen später war ihre Abschlussuntersuchung.
Andreas bestand darauf, dabei sein zu dürfen. Er war erleichtert, als er vom Arzt erfuhr, dass alles gut aussah und wie erstaunt er sei, dass sie bereits wieder in solch guter körperlicher Verfassung war.
„Abdul, stimmt’s, ich kann heute heim?“, fragte Anne, nachdem der Arzt sich so positiv geäußert hatte. Doktor Mechier nickte ihr zu. Doch er wusste genau, dass da noch etwas kommen würde, also wartete er geduldig darauf, wie wohl die nächste Frage lauten würde. Auch Andreas sah sie deshalb gespannt an. „Wie sieht es damit bei Andy aus? Kann ich ihn mitnehmen? Bitte Doc. Es geht ihm doch gut.“
Andreas glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Was willst du denn mit mir bei dir zu Hause?“, fragte er entsetzt. „Ich bin dir nur eine Last. Du musst doch selbst erst weiter zu Kräften kommen. Also vergiss das rasch wieder.“
„Doc, höre einfach nicht auf den Spinner da“, forderte Anne und lächelte dabei den Arzt verschmitzt an.
Doktor Mechier überlegte eine Weile. Wog alle Für und Wider ab, dann stimmte er einer Entlassung von Andreas zu. „Aber Andy kommt regelmäßig vorbei und ich werde auch nach euch beiden schauen.“
„Einverstanden, Doc. Du bist der Beste“, sagte sie, über seine Entscheidung glücklich und drückte den Arzt.
„Doc, das kannst du nicht machen“, protestierte Andreas sofort. „Lass mich hierbleiben“, bat er.
Doch Anne schnappte sich bereits den Rollstuhl und schob ihren Freund, all seinem Protest zum Trotz, leicht humpelnd, aus dem Raum. „Los, du musst deine Klamotten noch packen. Ich habe nicht ewig Zeit“, sagte sie zu ihm, als sie ihn schon den Gang entlang schob.
Doktor Mechier schüttelte nur den Kopf, während er den beiden nachsah.
„Aber ich steige bestimmt nicht auf deine Höllenmaschine“, maulte Andreas trotzig, als Anne ihn um die Ecke zum Fahrstuhl schob. „Och, wie schade. Ich hatte mich schon auf eine wilde Fahrt mit dir gefreut. Ich wollte den Rollstuhl als Hänger anbinden und dich so hinterherziehen. Das würde den Verkehr in Hurghada mal so richtig aufmischen. Aber wenn du nicht willst, lasse ich mir was anderes einfallen“, tat sie beleidigt, dann lachte sie. „Nein, nur keine Sorge. Sebi hat uns seinen Wagen zur Verfügung gestellt. Den beiden reicht zur Zeit der von Kim. Also gibt es für dich keine Ausreden mehr.“
Als sie in seinem Zimmer angekommen waren und Anne bereits begann, sein Zeug in eine Tasche zu stecken, rollte er auf sie zu und nahm sie bei der Hand. Er sah sie von unten her an und bat sie, sich auf den Stuhl zu setzen. Sie setzte sich, wie von ihm gewünscht. Andreas rollte in seinem Gefährt vor sie, um ihr direkt in die Augen sehen zu können. „Anne, das funktioniert nicht. Lass mich hier“, sagte er sehr leise, aber dennoch eindringlich. „Schau mich an. Ich bin nur ein halber Mann, ein Krüppel. Nichts spricht im Moment dafür, dass sich daran so schnell etwas ändern wird, wenn überhaupt. Ich wäre dir immer eine Last, ein Klotz am Bein. Das will ich nicht. Du hast etwas anderes, Besseres verdient.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch dann, gänzlich unerwartet für ihn, erhob sie ihre Hand, holte weit aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Wie kommst du darauf, nur ein halber Mann zu sein? Wer sagt so etwas?“, schrie sie ihn wütend an. Ihre zusammengekniffenen Augen funkelten angriffslustig und schienen ihn regelrecht zu scannen. „Ich stelle fest, dass an dir nichts fehlt, also wie kommst du auf den Blödsinn? Meinst du, nur weil du deine Beine nicht bewegen kannst, sehe ich dich mit anderen Augen oder tue das aus Mitleid? Denkst du wirklich so von mir? Hast du tatsächlich den Eindruck, ich wäre so oberflächlich? Geht das nicht in deinen Kopf, Andy. Ich liebe dich. Du bist für mich ein ganzer Mensch, damit das klar ist.“
„Aber doch kein ganzer Mann“, sagte Andreas leise und neigte traurig und beschämt seinen Kopf.
Sie starrte ihn verwirrt an, bis sie begriff, was er meinte und lachte laut los. „Wenn das dein einziges Problem ist. Ich habe damit keins. Wir haben die Kerle besiegt. Und nun ist, so wie versprochen, Zeit für Gefühle. Oder hast du es dir anders überlegt und magst mich nicht mehr?“, fragte sie, ihn dabei herausfordernd ansehend.
„Nein, ich liebe dich und das jeden Tag mehr. Aber genau deshalb kann ich dir das nicht antun“, sagte er immer noch leise, mit gesenktem Haupt.
Anne beugte sich zu ihm, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn leidenschaftlich, dann riss sie sich von ihm los und sagte fest entschlossen: „Überlass mir diese Entscheidung. Außerdem hat Abdul gesagt, dass gute Chancen bestehen, dass es mit der Zeit doch wieder wird. Also, warum diese Hoffnung aufgeben? Ich tue es nicht und das erwarte ich auch von dir. Oder hat der große Krieger etwa aufgegeben?“ Sie schob ihn rigoros zur Seite und nahm wieder seine Tasche zur Hand. „Und jetzt lass mich weiter packen. Ich will endlich hier raus und heim, ehe ich noch einen Krankenhauskoller bekomme. Und du kommst mit. Schließlich haben sich Sebi, Kim und die anderen nicht umsonst die Mühe gemacht, mein Haus auf den Kopf zu stellen und rollstuhlgerecht umzubauen.“
Andreas konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. „Habe ich hier auch noch ein Wort mitzureden?“
„Willst du darauf eine ehrliche Antwort? … Nein“, gab Anne trocken zurück. Sie gab ihm ohne Kommentar seine und ihre Tasche auf den Schoß und schob ihn aus dem Zimmer. Beide bedankten und verabschiedeten sich von den Schwestern und Sanitätern der Station.
Doktor Mechier stand schon am Wagen, um Andreas beim Einsteigen zu helfen.
„Doc, warum hast du mich vor dieser Frau nicht gewarnt. Sie ist ein Tyrann“, flüsterte er ihm zu. Doch Abdul lachte nur und wünschte gute Fahrt, dann schloss er die Tür des Wagens auf Andys Seite und winkte ihnen nach.
37
Vorm Haus angekommen holte Anne den Rollstuhl aus dem Kofferraum, klappte ihn auseinander und schob ihn neben die offene Beifahrertür des silbernen Kombi Ford Focus. „Nun steig schon endlich aus. Ich weiß, dass du es ganz alleine kannst. Du hast es vielleicht mit den Beinen, aber nicht mit den Armen“, fauchte sie Andreas an, weil er keine Anstalten machte auszusteigen. „Oh, der Herr will nicht“, stellte sie fest. „Ja dann geht es auch anders, ich hole einfach Hilfe aus der Nachbarschaft, dazu noch Kim und Sebastian die schon dort oben auf uns warten, dann bekommen wir den schwer kranken und bemitleidenswerten Kerl hier schon aus dem Auto raus“, zischte sie ihn zynisch an, genau wissend, ihn damit an der richtigen Stelle zu treffen.
„Nein, nicht nötig. Das kann ich alleine. Ich komm ja schon“, knurrte er lustlos wie ein bockiges Kind.
Eine breite Rampe führte seitlich der drei Stufen hoch zur Haustür, vor der Sebastian und Kim warteten, um sie zu begrüßen.
An der Tür angekommen, reichte Kim Anne den Haustürschlüssel. „Willkommen wieder zu Hause. Ich hoffe, wir haben mit unseren Freunden und den Handwerkern in der kurzen Zeit alles so hinbekommen, wie du es dir vorgestellt hast“, begrüßte sie Kim.
„Die Jungs haben rund um die Uhr gearbeitet. Sie wollten nichts dafür haben. Es sei ein Geschenk“, erklärte Sebastian nach der Begrüßung. Anne schloss die Tür auf und ging gefolgt von Andreas, Kim und Sebastian in die Wohnung.
Einige Möbel wurden so umgestellt, damit Andreas mit dem Rollstuhl überall ungehindert heran und durch kam. Die Türen zu Schlafzimmer, Bad und Küche waren breiter und im Bad wurde eine rollstuhlgerechte Toilette, so wie ein absenkbares Waschbecken und ein Wannenlift eingebaut. An der begehbaren Dusche wurde die Glaswand versetzt, um eine größere Tür einbauen zu können. Die kleine Schwelle zur Terrasse wurde mit Keilen leicht überfahrbar gemacht.
„Es wurde alles so installiert, dass es jederzeit wieder entfernt werden kann. So wie du es wolltest. Nur die Türen werden so breit bleiben“, erklärte Sebastian.
„Das absenkbare Waschbecken haben uns befreundete Urlauber aus Deutschland mitgebracht, die in der Branche arbeiten. Sie haben schnell auf unsere Mail reagiert und es traf sich zeitlich günstig, dass sie eine Woche später hier her in den Urlaub, zu uns zum Tauchen, kamen“, erzählte Kim voller Stolz.
Andreas war überwältigt. Er brachte keinen Ton heraus. Sebastian drückte ihm ein Dokument in die Hand. „Hier, mein Kleiner. Abdul hat über militärische Kanäle eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Ägypten für einen gewissen Andreas Wildner erwirkt. Ich weiß nicht, vielleicht kennst du den Typen ja und kannst es ihm geben.“ Dabei grinste er seinen Freund breit an.
Als der aber noch immer nicht reagierte, kauerte sich Sebastian vor ihn und schaute ihn besorgt an. „Andy, was ist los? Geht es dir nicht gut?“, wollte er wissen.
Blitzschnell und vollkommen überraschend für Sebastian, griff Andreas zu und zog ihn, fest am Kragen gepackt, zu sich heran. Erschrocken von dem plötzlichen Angriff schauten alle in die böse funkelnden Augen von Andreas.
Sebastian hatte keine Chance, er war nicht in der Lage, sich dagegen zur Wehr zu setzen, so fest hatte sein Freund zugepackt. Seine Hände waren wie Schraubzwingen. Es wurde ganz still im Raum. Knisternde Spannung breitete sich aus, die erst nach einer Weile von Andreas‘ lautem Lachen durchbrochen wurde. Fest drückte er seinen Freund an sich, umarmte ihn und schlug ihm dabei kameradschaftlich auf den Rücken. „So, nun kennt ihr das Gefühl, wenn man überfahren wird. So wie ihr es hier mit mir gemacht habt“, erklärte er.
Alle atmeten erleichtert auf und mussten mit ihm lachen. Andreas bedankte sich bei jedem Einzelnen. Dabei hatte er, was ihn selbst sehr erstaunte, mit ein paar Tränen zu kämpfen.
Er legte seine Hand sanft auf Kims Bauch. „Ich hoffe, ich habe damit jetzt den kleinen Murkel nicht erschreckt, dass er schon jetzt seinen Patenonkel nicht mehr leiden kann. Aber ihr habt diese Schrecksekunde verdient. Mir einfach nichts davon zu sagen. Ihr seid alle total verrückt. Danke.“ Dann wandte er sich Anne zu. „Danke für die Ohrfeige und dass du mir auf diese Weise den Kopf zurechtgerückt hast. Ich glaube, es war beides nötig. Das hatte ich wohl auch verdient. Nochmals Danke dafür“, sagte er leise. Dabei rieb er sich demonstrativ seine Wange, dann zog er sie auf seinen Schoß und drückte sie fest an sich.
Während Sebastian seinem Freund die Technik im Bad erklärte, half Kim ihrer Freundin, den Kaffeetisch auf der Terrasse zu decken. Kim hatte zur Feier des Tages einen Kuchen gebacken und schnitt ihn gerade an, als die beiden Männer zu ihnen rauskamen. Andreas rollte an den Tisch und sah noch immer vor Freude strahlend in die Gesichter seiner besten Freunde, als es an der Tür klingelte. Erst da bemerkte er, dass nicht nur für vier, sondern für sechs Personen eingedeckt war. Neugierig drehte er sich zur Terrassentür um, um zu sehen, für wen Sebastian die Haustür öffnete. Kurz darauf kam er mit Rashid und Ahmed zurück.
„Wir dachten uns, dass sie mit dazu gehören“, erklärte Kim und fügte hinzu: „Abdul wird nach seinem Dienst auch noch vorbeikommen.“
Andreas und Anne begrüßten ihre ägyptischen Freunde aufs Herzlichste und dankten ihnen für ihre große Hilfe, die sie ebenfalls hier im Haus geleistet hatten. Von diesem Moment an sprachen sie nur noch Arabisch miteinander.
Sie lachten viel, während sie aßen. Dabei wurde Andreas aber immer schweigsamer und nachdenklicher. Er blickte ständig zum Pool hinüber. Für alle unerwartet rollte er wenig später zum Poolrand, schaute kurz zu seinen Freunden zurück, dann stützte er sich auf die Armlehnen seines Rollstuhles und schob sich kraftvoll ab. Der Stuhl rollte nach hinten und Andreas landete mit einem lauten Platsch im Wasser.
„Andy!“, schrie Anne sofort erschrocken auf und wollte ihm schon zu Hilfe eilen.
Doch Sebastian hielt sie am Arm zurück. „Lass mal, ich denke, der weiß ziemlich genau, was er tut“, sagte er ruhig und die fünf beobachteten schweigend, wie ihr gemeinsamer Freund nur mit den Armen zu schwimmen begann und eine kurze Bahn nach der anderen zog. Nach der vierten so geschwommenen Bahn drückte er sich kraftvoll am Rand des Pools hoch und blieb mit nasser Hose und nassem Shirt, etwas außer Puste, da sitzen. Nach einer Weile drehte er sich um und strahlte sie an. „Das hat gut getan“, stellte er hörbar fest und zog dabei das nasse Shirt aus.
Zum ersten Mal sahen seine Freunde die frischen Narben auf seinem Körper.
Sebastian kam mit einem Badetuch auf ihn zu, das er ihm über die Schultern legte. Er wollte ihm gerade zurück in den Rollstuhl helfen, doch Andreas lehnte dankend ab. Er bat nur darum, dass er seinen Stuhl etwas festhalten solle, dann stemmte er sich selbstständig hoch, setzte sich in den Rollstuhl und zog seine Beine, mithilfe seiner Hände, nacheinander auf die Trittflächen.
Den Freunden tat dieser Anblick in der Seele weh, doch sie ließen es sich nicht anmerken.
Beide Männer kehrten an den Tisch zurück. Als ob nichts gewesen wäre, bat Andreas Anne um noch eine Tasse Kaffee. Nachdem er die geleert hatte, fragte er sie, ohne es zu begründen, ob er ihr Telefon mal benutzen dürfe.
„Klar doch. Das brauchst du nicht zu fragen. Du bist jetzt hier zu Hause“, gab Anne zurück.
Andreas bedankte sich und rollte zur Terrassentür, die er hinter sich schloss. Die Freunde sahen sich fragend an, doch keiner wagte es, ihm nachzugehen, denn seine Geste war eindeutig. Er wollte nicht gestört werden.
Nach einer halben Stunde kam er frisch gekleidet auf die Terrasse zurück und hielt aber etwas hilflos die nasse Hose in der Hand. Schnell nahm Anne sie ihm ab und hängte sie auf die Wäschespinne neben seinem Shirt auf.
Am Abend kam, wie angekündigt, Abdul Mechier zu Besuch. Er hatte zwei Flaschen Rotwein unter dem Arm und wurde herzlich von all seinen Freunden begrüßt.
Andreas bedankte sich für die Hilfe, eine Aufenthaltsgenehmigung für ihn zu erwirken. Doch Abdul tat das als Nebensächlichkeit mit einer laxen Handbewegung ab. Als er im Laufe des Abends dann erfuhr, dass Andreas einfach so in den Pool gesprungen und geschwommen sei, wurden seine Augen groß und er musterte ihn ausgiebig. „Kann es sein, dass du wirklich nicht totzukriegen bist?“, fragte er ganz trocken auf Arabisch.
„La, inschallah misch, Doc“, antwortete Andreas darauf lachend. Was so viel hieß wie: „Nein, so Gott will, überhaupt nicht, Doc.“
Und wieder mussten alle lachen. Während sich Kim, Rashid und Ahmed an den Tee hielten, tranken die anderen von dem köstlichen Rotwein. Abdul rauchte seine geliebte Pfeife, während für Rashid und Ahmed je eine Shisha bereitstand. Sie genossen den lauen Abend und unterhielten sich nur noch leise. Ahmed verkrümelte sich in die Küche und bereitete für alle ein leckeres Abendmahl von den unterschiedlichsten Lebensmitteln, die er mitgebracht hatte.
Anne entzündete Fackeln auf der Terrasse, deren Feuerschein eine angenehme Stimmung verbreitete.
Als dann alle wieder beisammen saßen, erhob Andreas sein Glas. „Entschuldigt bitte, wenn ich nicht aufstehe, sondern sitzen bleibe“, sagte er, „trotzdem möchte ich etwas sagen.“ Er räusperte sich leicht, dann sprach er weiter: „Als ich hier herkam, um meinen Auftrag zu erfüllen, ahnte ich nicht, dass ich hier so viele wahre und gute Freunde finden würde, die mir in der Zwischenzeit schon so oft geholfen haben und mir noch immer helfen. Ich danke euch allen dafür.“
Gern stießen die sieben Freunde miteinander darauf an.
Zur späten Stunde zogen sie sich ins Haus zurück, um den Mücken zu entgehen. Andreas setzte sich neben Sebastian auf die bequeme Couch und eröffnete ihm leise, dass er sich mit dem Gedanken trage, den Dienst zu quittieren. Er wisse aber nicht, wie er es Jens beibringen solle.
„Nach dem Einsatz und deiner Verletzung dürfte es Jens sich auch schon denken können und es sicher verstehen, wenn du kürzertreten willst“, antwortete Sebastian, sich aber dabei jedes Wort genau überlegend. „Warten wir doch einfach noch etwas und sehen, wie es mit deiner Genesung vorangeht. Dann kannst du dich immer noch entscheiden. Erst einmal musst du gesund werden.“
„Glaubst du daran? Ich meine, dass es mit meinen Beinen wieder wird?“, fragte Andreas unsicher.
Sebastian sah ihn fest an. „Ja, das glaube ich. Alles andere ist inakzeptabel.“
„Und wenn doch nicht?“
„So solltest du gar nicht erst denken“, meinte sein Freund. Doch als er bemerkte, wie Andreas ihn weiterhin verunsichert ansah, überlegte er kurz. „Dann wirst du dich damit arrangieren, so gut es dir möglich ist, genauso wie ich es mit meinem Bein getan habe. Ich werde dir dabei helfen und immer für dich da sein. Das weißt du.“
„Ja, ich weiß. Das wollte ich hören. Danke.“
Als sich die Freunde verabschiedet hatten und Andreas mit Anne das erste Mal gemeinsam in ihrem Bett lagen, kuschelte sie sich dicht an ihn heran und legte ihren Kopf auf seine Brust, während er seinen Arm liebevoll um sie schlang. „Anne … darf ich dich etwas fragen?“, sagte er leise in die Dunkelheit des Raums.
„Mmh.“
„Wo hattest du eigentlich den Peilsender hin versteckt? Ich meine ja nur, weil du ihn wirklich ständig bei dir hattest.“
Anne setzte sich sofort im Bett auf. „Oh mein Gott, der Peilsender! Den habe ich ja immer noch“, stellte sie erschrocken fest.
Andreas betätigte den Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe und schaute in ihr entsetztes Gesicht. „Wieso, wo hast du ihn denn?“
Sie hob ihr Shirt und zeigte auf ihren Bauchnabel. „Hier. Habe ihn einfach mit an mein Piercing gehängt.“ Dann stutzte sie und fragte leicht verlegen lächelnd, weil sie etwas ahnte: „Was hattest du denn gedacht, wo ich ihn habe?“
Sofort legte er sich zurück aufs Kissen und löschte schnell das Licht, damit sie nicht sehen konnte, wie er einen roten Kopf bekam. „Lass ihn einfach, wo er ist. Dann finde ich dich immer und überall“, sagte er stattdessen und zog sie an sich heran. Er genoss die körperliche Nähe zu ihr und nahm sie wieder in den Arm. Und erneut fragte er leise: „Anne?“
„Ja.“
„Was hatte es mit dem Ruf ins Cockpit auf sich?“
„Du meinst auf dem Flug hier her?“
„Ja, genau.“
„Der Pilot der Maschine war mal mein Tauchschüler. Er hat mir voller Stolz berichten wollen, wo er in der Zwischenzeit schon überall mit seiner Frau tauchen war. Außerdem hat er damit ein mir gegebenes Versprechen eingelöst. Nämlich, dass ich einmal ein Stück im Cockpit seiner Maschine mitfliegen darf, wenn es sich ergibt. Warum fragst du?“
„Ach nur so“, gab er zufrieden lächelnd zurück.
Sie legte ihre warme Hand auf seine Brust, was er als sehr angenehm empfand und genoss. Doch er traute es sich nicht, sie so zu berühren, wie er es gern getan hätte. Er scheute sich davor, sie zu enttäuschen. Ihr nicht das geben zu können, was er ihr liebend gern geben würde. Dabei würde er sie eigentlich zugern zärtlich streicheln, küssen, liebkosen und lieben.
Ich bin gelähmt, verdammt nochmal, fluchte er innerlich und quälte sich weiter mit diesem Gedanken herum.
Nach dem ereignisreichen Tag schlief Anne wenig später ein. Nur Andreas lag noch lange wach. Er musste über vieles nachdenken.
38
Drei Wochen später.Langsam hatte sich Andreas eingelebt, doch nicht eine Nacht durchschlafen können. Ihm spuckte ein Gedanke im Kopf herum, seit er das erste Mal nach der Rückenverletzung versucht hatte, im Pool zu schwimmen. Diese Idee war allmählich herangereift. Jetzt musste er sie nur noch Anne beibringen und dann seinen Freunden. Er hielt den Zeitpunkt für gekommen. Er würde seine Freundin an diesem Tag in seinen Plan einweihen.
Als Anne frühmorgens aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Noch etwas verschlafen trat sie auf die Terrasse. Da war der Frühstückstisch bereits gedeckt.
Andreas fand sie, wie jeden Morgen, seit sie wieder hier waren, im Pool. Kaum, dass er sie bemerkt hatte, kam er an den Rand geschwommen, drückte sich hoch, nahm das bereitgelegte Badetuch und trocknete sich ab. Er zog den Rollstuhl zu sich heran, stellte die Bremsen fest und schwang sich in den Stuhl, löste die Stopper wieder und rollte auf sie zu. „Guten Morgen, Schatz. Ich dachte, ich mache mich hier etwas nützlich“, sagte er zur Begrüßung, küsste sie liebevoll, dann fuhr er ins Haus, um den auf der Maschine bereitstehenden Kaffee zu holen.
Sie genossen ihr Frühstück.
„Anne, vor drei Wochen, als wir aus dem Lazarett gekommen sind und unsere Freunde da waren, um das mit uns zu feiern, da bin ich doch rein ins Haus gegangen, um zu telefonieren“, begann er vorsichtig.
Anne kannte ihn in der Zwischenzeit recht gut und hörte einfach nur weiter aufmerksam zu.
„Da habe ich von Alfred und Isolde die >Amun Re< abgekauft. Ich habe auch gleich ihre Besatzung mit übernommen, da Rashid und Ahmed sonst keine Beschäftigung mehr auf der Basis hätten, wenn ein Schiff weniger ist. Und gestern haben wir alles komplett gemacht. Mit Kaufvertrag und allem, was dazugehört.“ Als Anne ihn fragend ansah, aber nichts sagte, sprach er weiter: „Sie wollten das Boot abwracken lassen, weil eine Reparatur wohl den Wert der >Amun Re< überstiegen hätte. Du weißt schon, wegen der vielen Schäden. Ich mag aber das Schiff. Es hat für mich eine besondere Bedeutung. Rashid und Ahmed bringen es heute in die Werft, um es wieder flottmachen zu lassen.“
„Und was willst du mit dem Boot?“, hakte Anne unsicher werdend nach, denn sie merkte, dass da wesentlich mehr dahintersteckte.
„Du und Abdul, ihr habt mir erzählt, dass mir die Delfine geholfen hätten. Ich möchte mit der >Amun Re< rausfahren und tauchen gehen.“
„Du willst … was?“, fragte Anne ungläubig.
„Vielleicht auch erst mal nur schnorcheln, das wird sich zeigen. Aber eventuell können mir die Delfine ja noch einmal helfen“, erklärte er, dabei sah er sie forschend an.
„Deshalb am ersten Tag der für uns alle unverhoffte Sprung von dir in den Pool und dann das tägliche Schwimmtraining?“
„Ja, genau“, antwortete Andreas fest entschlossen.
Anne musste darüber nachdenken. Wie geistesabwesend nahm sie weiter ihr Frühstück zu sich. Dann entschied sie: „Okay. Aber nicht ohne Sebi und Abdul.“
Damit war er einverstanden. „Auch Rashid und Ahmed werden wir mitnehmen. Ihnen habe ich die >Amun Re< nämlich überschrieben. Nur wissen sie noch nichts davon. Ich möchte sie damit überraschen. Mit diesem Boot können sie auf jeder Tauchbasis anheuern und haben so immer ein festes Einkommen.“
Anne freute sich darüber, dass er so an die beiden Ägypter dachte, und nickte ihm begeistert zu. Wenig später verabschiedete sie sich von ihm, denn sie wollte ein paar Besorgungen machen.
Er erledigte in der Zwischenzeit den Abwasch und rief dann Sebastian auf der Tauchbasis an, um ihn zu fragen, ob er noch einen freien Liegeplatz für die >Amun Re< hätte, wenn sie aus dem Trockendock zurückkommt. Sofort stimmte sein Freund zu. Wenig später meldete sich Rashid von der Werft und erzählte ihm, was an dem Boot alles gemacht werden müsse, um es wieder seetüchtig zu bekommen, und wie viel es kosten würde. Andreas war damit einverstanden und bat Rashid darum, auch wirklich alles an der >Amun Re< machen zu lassen, was notwendig sei. Zudem wünschte er, dass der alte leistungsschwache gegen einen leistungsstärkeren Motor ausgetauscht wurde. Und fragte gleich mit, ob sie auf der Werft den alten Motor in Zahlung nehmen würden. Dann wollte er noch wissen, wie lange es dauern würde, bis das Boot wieder in See stechen könne. Zufrieden mit den Antworten legte er den Hörer zurück.
Er wollte für sich eine neue Schwimmtechnik testen. Dafür nahm er seine Flossen, zwei lange, breite Riemen, Maske und Schnorchel aus seinem Tauchgepäck. Damit rollte er zum Pool.
Anne kehrte von ihren Besorgungen zurück und schaute gleich nach Andreas. Der saß zufrieden lächelnd auf der Hollywoodschaukel und Miekosch ließ sich schnorrend von ihm kraulen. Sofort bemerkte sie die ABC-Ausrüstung am Beckenrand des Pools. Doch sie ging nicht darauf ein. Sie liebte und vertraute ihm und war glücklich darüber, dass er sich nicht aufgab.
Nach dem Mittagessen bat er Anne, ihn zu Mustafa, dem Juwelier, zu fahren. Er hätte einen wichtigen Auftrag für ihn. Denn am späten Nachmittag waren sie zu einer kleinen Feier in der Siedlung eingeladen, wo sie vor einiger Zeit Jamals Geburt gefeiert hatten. Anne wusste, was er vorhatte. Sie hatten vor ein paar Tagen darüber gesprochen, dass er die beiden Steinhälften bearbeiten lassen wolle. Gern fuhr sie mit ihm zu Mustafa.
Dort angekommen, konnte er den Rollstuhl nicht nutzen. Der Weg war zu uneben und hohe Stufen führten zu dem Geschäft. Doch Andreas wollte nicht im Wagen warten. Mühevoll stützte er sich auf seine Krücken und bewältigte so, wenn auch nur sehr langsam und unsicher, Stück für Stück des Weges.
Als Mustafa und seine Angestellten das sahen, kamen sie sofort aus dem Laden auf ihn zu gestürmt und halfen ihm nach oben. Sie hoben ihn einfach über die viel zu hohen Stufen und setzten ihn erst wieder vor einem bequemen Ledersofa ab, auf das er sich setzen konnte.
Während Anne mit der Frau von Mustafa schwatzte, gab Andreas dem Juwelier die Steinhälften und bat ihn darum, an geeigneter Stelle je ein Loch zu bohren, sodass beide als Kettenanhänger getragen werden könnten.
Heimlich gab er noch eine zweite Arbeit in Auftrag. Er sprach, Anne dabei genau beobachtend, leise hinter vorgehaltener Hand mit dem Chef des Juweliergeschäfts und zeigte auf ein Stück in der Ausstellungsvitrine. Mustafas Augen begannen zu leuchten, dann verschwand er schnell in seiner kleinen Werkstatt.
Ein Angestellter brachte Andreas einen Tee aus frisch getrockneten Malvenblüten und reichte auch Anne und der Frau des Chefs je ein Glas, die sich, immer wieder leise kichernd, unterhielten.
Nach kurzer Zeit betrat Mustafa den Verkaufsraum und gab Andreas heimlich ein kleines Kästchen und dann offen die beiden Steinhälften und zwei Lederbänder dazu. Als er bezahlen wollte, berechnete der Geschäftsmann aber nur zwei Drittel des wahren Preises und lehnte beleidigt ab, als Andreas trotzdem den vollen Betrag zahlen wollte. Er konnte jedoch nicht mit dem Juwelier diskutieren oder wie in dem Land üblich mit ihm feilschen, da es Anne sonst mitbekommen hätte. Also bedankte er sich bei Mustafa für das großzügige Geschenk und zeigte Anne voller Stolz, wie schön die beiden Steinhälften nun als Anhänger aussahen.
Sie verabschiedeten sich bis zum Abend von Mustafa, seiner Frau und den Angestellten. Wussten sie doch, dass sie sie zu der kleinen Feier in der Siedlung wiedersehen würden.
Die Männer halfen Andreas wieder bis zum Wagen und sahen den beiden nach.
Anne nutzte den Weg zurück, um hier und da noch ein paar Einkäufe zu tätigen, während er im Ford sitzen blieb. Immer wieder winkten ihm vorbeikommende Ägypter freundlich lächelnd zu, die er eigentlich nicht kannte.
„Können wir auch noch an meinem Hotel vorbeifahren?“, fragte er, nachdem sie wieder eingestiegen war.
„Ja, klar, können wir. Aber Sebi hat bereits für dich ausgecheckt“, sagte Anne.
Wenig später machte sie vor dem Hotel Halt und holte den Rollstuhl aus dem Kofferraum. Andreas rollte die kleine Rampe hoch und begrüßte die Hotelangestellten an der Rezeption, die alle von dem Zwischenfall auf dem Meer gehört hatten und wussten, was vorgefallen war. Sie freuten sich sehr, ihn zu sehen. Auch das Personal aus dem Speiseraum kam in die Lobby und umringte ihn. Jeder wollte ihm zum Gruß die Hand schütteln. Andreas bedankte sich bei allen recht herzlich für den angenehmen Aufenthalt und gab einen großzügigen Betrag an Bakschisch für die Angestellten in die allgemeine Kasse. Dann verabschiedete er sich mit dem Versprechen, dass er sie alle bestimmt oft sehen würde.
Ein junger Mann, fast noch ein Kind, kam angelaufen und drückte ihm eine große Melone in die Hand. „Hier, Mister Wildner“, sagte er lächelnd. „Ich weiß, wie sehr Sie Wassermelone mögen. Diese ist ganz reif und süß. Lassen Sie sich die Melone gut schmecken.“
Dankbar nahm Andreas das Geschenk an und drückte den jungen Mann zum Dank dafür herzlichst. Er legte die Melone auf seinen Schoß. Dann winkten Anne und er den Mitarbeitern des Hotels noch einmal zu und sie kehrten zum Wagen zurück.
Anne legte die Melone auf den Rücksitz. Nachdem Andreas umgestiegen war, verstaute sie mithilfe eines Angestellten den Rollstuhl wieder im Kofferraum.
„So, so, du liebst also reife, süße Wassermelone“, stellte sie fest, während sie den Ford startete.
„Ja, mein Schatz. Es ist meine heimliche Leidenschaft“, gab Andreas, sie anlächelnd, zu. „Mohamed hat mich früh und abends immer damit versorgt, auch wenn keine auf dem Büfett lag, hat er mir immer einen Teller voll davon gebracht.“ Dann lachte er kurz auf und fügte hinzu. „Sehr zum Ärger und Erstaunen manch anderer Gäste. Der Kleine hat sich daran erinnert, obwohl ich doch dreizehn Wochen nicht mehr hier war. Warum Anne? Ich habe doch nichts gemacht, sondern war einfach nur Gast?“
„Nein, Andy, das warst du nicht“, gab sie überzeugt zurück. „Du hast diese Menschen mit Respekt, wie deinesgleichen behandelt und nicht wie Lakaien. So etwas vergessen die Leute hier nicht.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Einige Touristen führen sich hier auf, als wären sie der Nabel der Welt und alles müsste sich nur um sie drehen. Sie beschweren sich und verlangen was für ihr Geld, wie sie gern sagen. Dabei verhalten sie sich komplett daneben. So würden sie sich zu Hause nie aufführen, doch hier glauben sie, den großen Boss heraushängen lassen zu können. Allerdings vergessen sie völlig, wo sie sich befinden und wie ärmlich die meisten Menschen hier noch leben, die sie von früh bis spät mit einem freundlichen Lächeln bedienen und sich ihre Unzulänglichkeiten gefallen lassen müssen. Diese Stadt befindet sich quasi noch im Aufbau. Erst einmal sind nur die Hotels aus dem Boden geschossen, doch an den Wohnraum für die vielen Angestellten, deren Zahl durch den Tourismusboom ständig weiter wächst, wurde nicht gedacht. Diese Infrastruktur ist gerade erst im Entstehen. Doch ich glaube, schon in wenigen Jahren wird es hier ganz anders aussehen. Nur eben jetzt noch nicht. Viele Touristen haben sich im Vorfeld auch nicht damit auseinandergesetzt und wissen es einfach nicht besser. Sie rümpfen nur leicht pikiert die Nase, wenn sie auf der Fahrt zum Hotel Männer in einem großen Pappkarton oder auf einer Baustelle im Freien schlafen sehen. Doch es sind auch solche Männer, die sie tagsüber freundlich bedienen, ihre Familien aber in Luxor, Kairo, Assuan oder irgendwo in einem abgelegenen Dorf oder der Wüste leben und froh sind, hier Arbeit gefunden zu haben, um sie zu ernähren. Mit viel Glück sehen sie ihre Familien dann zweimal im Jahr für je eine Woche, immer vorausgesetzt sie haben das Geld für die Reise. So geht es auch Ahmed.“
„Deshalb schläft er immer auf dem Boot?“, wollte Andreas wissen.
„Ja. Ahmed ist aus Kairo und hat hier keine feste Bleibe. Mit dem Boot hat er es besser getroffen als viele andere seiner Landsleute. Mit dem Geld, das er hier verdient, versorgt er seine Eltern und ermöglicht seiner kleinen Schwester den Schulbesuch.“
Als sie vor Annes Haus angekommen waren, saß Andreas noch immer wie geistesabwesend im Wagen, als sie ihm schon den Rollstuhl hingeschoben hatte. Mit einem Schlag wurde es ihm klar. Diese Menschen hatten so gut wie nichts und gaben ihm trotzdem davon noch reichlich ab. Er wusste, dass er allein nicht viel erreichen konnte. Aber er konnte es im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchen und vielleicht auch mit der „Steffen Körner Stiftung“, die zu Ehren seines hier in der Gegend gefallenen Freundes und Kameraden ins Leben gerufen wurde. Es wäre ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber doch besser als gar nicht zu helfen.
Bereits während er in den Rollstuhl stieg, stand sein Entschluss fest. Er würde seine Freunde in Deutschland kontaktieren und fragen, welche Möglichkeiten die Stiftung hat.
Im Haus angekommen, fühlte er sich müde und entschuldigte sich bei Anne, dass er sich für eine Stunde hinlegen möchte. Auch sie war etwas geschafft und legte sich neben ihm aufs Bett. Sie stellten den Wecker und schliefen nebeneinanderliegend ein.
39
Als Anne und Andreas am großen Platz der kleinen Siedlung auf dem Berg eintrafen, stand da schon der andere Wagen von Sebastian und Kim Rothe. Der Festplatz war hell erleuchtet und viele der Bewohner hatten sich bereits versammelt. „Anne, sag mal, was feiern wir heute hier eigentlich?“, wollte Andreas unsicher geworden wissen, als er all den Trubel sah.
„Die Vertreibung des Bösen aus dem Roten Meer“, gab Anne kurz zur Antwort und lachte verlegen auf. „Na ja, nicht ganz so. Eigentlich ist es ein Fest, das sie für uns geben. Hauptsächlich für dich und Sebi.“ Dann stieg sie aus und stellte den Rollstuhl neben der Beifahrertür auf, damit ihr Freund umsteigen konnte.
„Oh mein Gott. Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?“
„Du hast nicht gefragt und hättest dich garantiert geweigert, mitzukommen, wenn du es gewusst hättest. Einfach weil du bescheiden bis und etwas dagegen hast, im Mittelpunkt zu stehen“, antwortete sie wissend. „Aber nun sind wir einmal hier, also kannst du auch aussteigen. Los, komm schon, hilf etwas mit. Der Rollstuhl lässt sich im Schotter nur schwer schieben.“ Sie schob Andreas mit seiner Hilfe über den holprigen Untergrund bis zum Festplatz, wo sie gleich umringt und dann voneinander getrennt wurden.
Er wurde zu den Männern geschoben, während Anne von einer Gruppe kichernder Frauen weggerissen wurde. Er entdeckte viele bekannte Gesichter von der Tauchbasis, aus dem Hotel und aus dem Lazarett. Auch Abdul, Mustafa, Rashid und Ahmed waren da. Sie alle begrüßten ihn herzlichst.
Er war froh, als er Sebastian zwischen all den anderen entdeckte. Der rief ihm schon von weiten zu: „Da musst du durch, Alter. Ich habe es schon hinter mir.“
Andreas wurde gedrückt, ihm wurde auf die Schulter geklopft und dabei schoben die Männer ihn immer weiter in Richtung des großen Lagerfeuers.
Er haste es im Rollstuhl zu sitzen und keine Kontrolle darüber zu haben, wo sie ihn hinschoben. Er war sichtlich erleichtert, als sein Rollstuhl endlich neben Sebastian zum Stehen kam. Mit solch einer Begrüßung hatte er nicht gerechnet. Und er fühlte sich dabei nicht gerade sehr wohl, wie Sebastian feststellte. Der beugte sich zu ihm herunter. „Ja, mein Freund. Da musst du jetzt durch als Lurch, wenn du ein Frosch werden willst. Den Leuten bleibt nichts verborgen“, sagte er laut genug, damit er es, bei all dem Lärm von Stimmengewirr und Musik, verstehen konnte.
Noch ehe Andreas auf den abgedroschenen Spruch seines Freundes antworten konnte, packten ihn die Männer auch schon, hoben ihn aus seinem Rollstuhl und setzten ihn in einer gemütlich eingerichteten Sitzecke aus Kissen wieder ab. Er zog sich seine tauben Beine an den Körper und lehnte sich leicht in die Kissen zurück.
Ihm und seinen Freunden wurden Wasserpfeifen hingestellt und der flache Tisch vor ihnen reichhaltig mit Früchten und Speisen gedeckt.
Immer wieder hielt Andreas Ausschau nach Anne. Doch er konnte sie nirgends entdecken.
Sebastian legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter, als er es bemerkte. „Nur keine Sorge, mein Großer. Du wirst Anne bald wiedersehen, genauso wie ich meine Kim. Sie werden von den Frauen, dem Anlass entsprechend, herausgeputzt.“ Andreas sah seinen Freund fragend an. Doch der lächelte nur wissend. „Warte es ab und freue dich drauf.“
Dabei nickten Abdul, Rashid und Ahmed ihm aufmunternd zu.
Als die ersten Frauen aus dem nahen Haus traten, wurde es still auf dem Festplatz und alle Blicke richteten sich auf die schmale Eingangstür. Nacheinander kamen dunkel verschleierte Frauen heraus und bildeten ein Spalier. Als Letzte traten zwei Frauen, die eine in Rot und die andere in Blau gekleidet, traditionell geschmückt und verschleiert, über die Schwelle. Alle Männer erhoben und verneigten sich, sobald diese beiden Frauen an ihnen vorbeischritten. Ahmed und Abdul zogen Andreas hoch auf die Beine und stützten ihn, so gut sie konnten.
Andreas beobachtete neugierig, wie die beiden Frauen Hand in Hand das gebildete Spalier abschritten und immer näher auf Sebastian und ihn zukamen. Ihm trieb es die Tränen in die Augen, die er schnell weg blinzelte und er verfluchte es, nicht allein stehen zu können, als die Frau in Rot direkt auf ihn zuschritt und langsam ihren Schleier vor ihm hob.
Während Sebastian Kim in die Arme nehmen konnte und mit ihr gemeinsam den Kreis ums Lagerfeuer abschritt, um sich feiern zu lassen, und sich dann mit ihr wieder hinzusetzten, waren Andreas die Hände gebunden.
Sein Atem ging schwer und es machte sich Wut, auf sich selbst und seine Behinderung, in ihm breit. Doch seine Freunde, wie auch Anne, reagierten darauf, noch bevor diese Wut an die Oberfläche gelangen konnte. Sie hoben ihn hoch und setzten ihn einfach auf ihre Schultern. Anne reichte ihm die Hand und so schritten auch sie gemeinsam mit ihren Freunden, von den anderen bejubelt, den Kreis ums Lagerfeuer ab. Während sie Andreas langsam wieder in die Kissen zurücksinken ließen, hockte sich Anne zeitgleich neben ihn, sodass er sie endlich in die Arme nehmen konnte.
Nachdem die sieben Freunde nebeneinander Platz genommen hatten, jubelten ihnen die Einwohner der Siedlung zu und das Fest hatte damit erst richtig begonnen. Alle feierten ausgelassen.
Nach einer Weile bemerkte Andreas die kleine Amira und winkte ihr zu, dass sie doch zu ihm kommen möge. Schnell kam das Mädchen zu ihm gelaufen und sah ihn mit großen Augen neugierig an. Er setzte die Kleine auf seinen Schoß und wurde lieb von ihr umarmt und gedrückt.
„Ana asyf, Amira“, entschuldigte er sich traurig bei dem Kind und zeigte ihr den zerbrochenen Stein, den sie ihm geschenkt hatte. Dann sprach er auf Arabisch weiter: „Auch wenn er jetzt kaputt ist, hat er mir wirklich ganz viel Glück gebracht, meine kleine Prinzessin. Ich danke dir sehr dafür.“ Dann zog er zwei braune Lederschnüre aus seiner Tasche und fädelte sie durch die vorgefertigten Löscher beider Steinhälften und sagte, während er Amira eines davon um den Hals legte: „Ich möchte, dass wir uns ab jetzt in das große Glück teilen.“ Nachdem er auch seine Steinhälfte um den Hals gelegt hatte, hielt er noch einmal beide Hälften aneinander und lächelte das kleine Mädchen an. Als Amira sah, dass beide Steinstücke perfekt zusammenpassten, sah sie ihren großen Freund überglücklich an. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, sprang von seinem Schoß, rannte, vor Freude strahlend, zu den anderen Kindern und zeigte ihnen voller Stolz ihre neue, schöne Halskette.
Lächelnd sahen er und seine Freunde dem kleinen Mädchen nach, denn sie wussten, dass dieser Stein, sein Leben gerettet hatte und er so seinen Auftrag überhaupt erst hatte erfüllen können.
Zu fortgeschrittener Stunde bat Andreas Sebastian, ihm doch bitte den Rollstuhl zu holen.
„Wozu?“, wollte Sebastian wissen. „Musst du mal?“
„Ja, auch“, raunte Andreas leicht genervt. „Hinterher vielleicht. Aber es gibt noch Wichtigeres für mich.“
Jetzt sah Sebastian ihn, stutzig geworden, an. „Willste etwa türmen?“
„Nee. Nun mach schon endlich oder soll ich hinkriechen?“, fauchte Andreas dann geradezu aggressiv.
Sebastian holte den Rollstuhl und war der festen Überzeugung, seinen Freund zur Toilette schieben zu müssen.
Doch schon auf den ersten Metern dorthin griff Andreas kraftvoll in die Räder und stoppte so. „Falsche Richtung. Tue mir einen Gefallen und lass einfach los, Sebi“, verlangte er, drehte selbst den Rollstuhl auf dem schotterartigen Grund um und lächelte seinen Freund verschmitzt an. „Ich habe etwas Besseres vor. Danach kannst du mich für meinen Angstschiss vielleicht auf die Toilette begleiten. Aber jetzt will ich in die andere Richtung.“
Sofort ließ Sebastian die Griffe des Rollstuhls, mit sich ergebender Geste, los und setzte sich gespannt auf das, was sein Kumpel da vorhatte, wieder zu den anderen.
Mit kräftigen Armbewegungen rollte Andreas ins Zentrum des Festplatzes und machte kurz vor dem großen Lagerfeuer Halt. Er wendete seinen Rollstuhl und wartete geduldig darauf, dass die Ägypter es bemerkten und sich ihm zuwandten.
Als alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war und die Musikanten ihre Instrumente verstummen ließen, forderte er Anne auf Arabisch auf, zu ihm zu kommen.
Misstrauisch, nicht wissend, was sie erwartet, aber von den Freunden gedrängt und von allen Blicken neugierig begleitet, erhob sie sich. Nur langsam kam sie auf Andreas zu, der mit seinem Rollstuhl so nahe am Feuer stand, dass alles um ihn herum leuchtete.
Er besah sich die ganz in Rot gekleidete Frau, drehte sich zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen, dann sagte er zu ihr laut und deutlich für alle hörbar auf Arabisch: „Annemarie Kamp. Ich habe dich als Menschen und Frau erst achten und dann lieben gelernt. Du hast ein Herz aus Gold, bist stets bereit, anderen zu helfen. Du bist geduldig, aber auch unnachgiebig, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast. Du besitzt den Mut einer Kriegerin. Du bist das Beste, was mir je passiert ist. In deiner Gegenwart fühle ich mich wohl. Du inspirierst mich dazu, durchzuhalten und alles aus mir herauszuholen. Du bringst Sonne in mein dunkles Herz. Anne Kamp, ich liebe dich und frage dich hier vor all unseren Freunden, willst du meine Frau werden?“ Dabei sah er sie unsicher fragend an, denn er wusste nicht, wie sie darauf reagieren und vor allem, was sie antworten würde.
Anne schaute tief in seine blauen Augen. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einem solch öffentlichen Antrag. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Leicht schüttelte sie den Kopf, was er schon als Absage deutete, doch dann sagte sie überglücklich, laut und deutlich für alle: „Eiyoua – Ja.“
Die Einheimischen und Freunde jubelten, während Andreas Anne zu sich auf den Schoß zog und sie liebevoll küsste. Er holte die Schachtel aus seiner Hosentasche, zeigte ihr den Inhalt und steckte ihr sogleich den goldenen Ring mit einem eingravierten Delfin, der mit dem eingefassten Diamanten zu spielen schien, auf den Finger ihrer linken Hand.
Nachdem sich der Trubel um das neue Paar gelegt hatte, kam Amira auf Andreas und Anne zu. Sie zupfte dem Mann im Rollstuhl am Ärmel. Er hob sie wieder sacht auf seinen Schoß. „Ja, meine kleine Prinzessin, was ist denn?“, fragte er leise auf Arabisch.
Amira gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, während sie ihre neue Kette abnahm: „Ich möchte gern Tante Anne das Glück schenken. Ich finde bestimmt ein Neues.“ Sie hängte ihrer Patentante die Kette mit der zerbrochenen Steinhälfte um den Hals.
Annes und Andreas Augen füllten sich mit Tränen der Rührung, Sie umarmten das kleine Mädchen und küssten sie dankbar auf die Wange. Er nahm Amira liebevoll in seinen Arm und behielt sie so lange darin auf seinem Schoß, wie sie es selbst mochte.
Er fühlte sich angekommen, zu Hause in einer riesigen Familie, die er so nie zuvor hatte. Er freute sich darauf, für Kims und Sebastians Baby Patenonkel werden zu dürfen. Ganz fest hielt er den Rest des Abends seine Anne im Arm.
Als die Feierlichkeiten sich dem Ende neigten und sich die Ersten mit Glückwünschen für das junge Paar verabschiedeten, nahm Andreas noch einmal seine Freunde zur Seite und bat sie, sich für das Wochenende in einer Woche nichts vorzunehmen. Als sie ihn fragend ansahen, antwortete er vage, dass er ihre Hilfe bei einem Experiment bräuchte. Er könnte jedoch auch verstehen, wenn sie keine Zeit hätten. Doch keiner von ihnen lehnte ab, obwohl sie nicht wussten, worum es ging. Sie vertrauten ihm einfach.
Auf der Heimfahrt aber fragte Anne etwas besorgt: „Du gibst dir selbst nur noch eine Woche. Meinst du wirklich, dass du dann schon fit genug dafür bist?“
„Ja, mein Schatz, mit deiner Hilfe bestimmt“, antwortete er. Dabei küsste er sie auf die Wange. „Ich muss nur noch etwas mehr dafür trainieren.“
Sie hatte verstanden und dachte schon einen Schritt weiter, als sie ihm zunickte. „Okay, dann bekommst du das volle Programm von mir. Ich hole gleich morgen den Rebreather für dich. Dann kannst du im Pool üben, auch wenn er nur zwei Meter tief und nicht gerade sehr groß ist, so ist es doch besser als nichts. Aber bitte, Andy, nicht mehr allein wie immer morgens. Lass mich dabei sein und dir helfen.“
Andreas gab ihr noch einen Kuss. „Nein, mein Spatz, ich mache nichts mehr ohne dich. Versprochen.“
40
Dieses Mal war es Anne, die eher munter wurde. Leise schlich sie sich aus dem Haus und fuhr mit Sebastians Ford zu seiner Tauchbasis. Nach kurzen Erklärungen lud sie zwei geschlossene Kreislaufgeräte, mit zusätzlichen Kalkpatronen zum Nachfüllen sowie Trimix- und kleine Sauerstoffpatronen in den Kofferraum des Wagens. Sie schaute kurz auf der hiesigen Werft vorbei und informierte sich darüber, wie die Arbeiten an der >Amun Re< vorangingen. Dann fuhr sie heim.
„Guten Morgen, Schatz“, empfing sie Andreas fröhlich. „Ich hatte gerade ein Telefonat mit Jens, meinem Boss. Er hat gesagt, dass alle Angeklagten rechtskräftig verurteilt wurden und sehr lange die Sonne nicht mehr wiedersehen werden. Dein Vater hat ganze Arbeit geleistet.“
Anne gab ihm einen flüchtigen Kuss und erwiderte: „Das weiß ich schon. Meine Mutter hat es mir heute früh bereits per Mail mitgeteilt.“
„Ihr Kamps seid mir einfach zu schnell“, gab Andreas lächelnd zurück.
„Ja, stimmt. Deshalb habe ich auch von Sebi die Kreislaufgeräte geholt, damit ich mit dir hier im Pool üben kann. Außerdem habe ich meinen Eltern gemailt, dass du mir einen offiziellen Heiratsantrag gemacht hast. Du kommst da, egal wie der Versuch auch ausgehen mag, nicht mehr raus“, sagte sie, dabei lächelte sie ihn herausfordernd und siegessicher an. „Und wie sieht es bei deinen Eltern aus? Wissen die auch schon von uns?“
„Nein, das wissen sie nicht und werden es nie erfahren“, antwortete Andreas. Als sie ihn fragend ansah, erklärte er: „Sie sind tot, seit ich drei war. Ich habe sie eigentlich nie richtig kennengelernt. Sie wurden auf einer Antarktisreise als vermisst gemeldet und sind nie wieder aufgetaucht. Wenig später starb auch meine Großmutter, sodass ich mit fünf Jahren ins Heim gekommen und dort aufgewachsen bin. Ich hatte nie eine richtige Familie und ich habe auch keine Verwandten. Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es mit Sicherheit nie so allein lassen, wie meine Eltern mich für ihre Vergnügungsreisen immer in Stich gelassen haben und dann eines Tages von solch einer Reise nicht zurückgekommen sind.“
Anne war zutiefst betroffen. Sie konnte sich ein Leben ohne die Liebe ihrer Eltern, die sie groß gezogen hatten, gar nicht vorstellen. Sie setzte sich auf seinen Schoß und flüsterte leise. „Nein, das wirst du auch nie müssen. Unsere Kinder, denn ich will mindestens zwei, werden immer uns beide haben.“
Andreas wurde hellhörig. Er war, so wie es um ihn zurzeit stand, bislang nicht einmal in der Lage, aus eigener Kraft ein Kind zu zeugen, doch Anne sprach schon mit solcher Sicherheit davon. Klar wusste er, dass es da auch Verfahren für gab, eine Frau zu befruchten, wenn der Mann nicht selbst dazu imstande war. Doch so klang es bei ihr nicht. Sie schien fest davon überzeugt zu sein, dass bei ihm alles wieder in Ordnung kommen würde. Eigentlich war es auch das, was der Arzt sagte und Andreas sich wünschte. Er möchte diese Frau rundum glücklich machen können, auch im Bett. Sie auf Händen tragen und immer für sie da sein. Nur in seinem derzeitigen Zustand konnte er nichts davon.
Anne riss ihn aus seinen trüben Gedanken, als sie im Badeanzug vor ihm auftauchte und sagte: „Dann los, lass uns trainieren. Wir haben nur sechs Tage dafür Zeit. Wir fangen mit dem Schwimmen an, dann schnorcheln mit ABC-Ausrüstung und danach tauchen mit Rebreather. Dabei werden wir für dich die bestmöglichen Bewegungstechniken herausfinden und anwenden. Und ich werde sehen, wie Sebi und ich dir beim Tauchen dabei am besten unter die Arme greifen können.“
„Das ist dein Plan?“
„Ja, Andy, das ist mein Plan.“
„Da hast du dir aber viel vorgenommen.“
„Nein, mein Schatz, nicht ich. Sondern du. Es war deine Idee. Ich will nur dafür sorgen, dass du dich sicher im Wasser bewegst, damit du deine Idee umsetzen kannst.“ Sie gab ihm einen Kuss und schob ihn auch schon Richtung Poolrand. Dann stoppte sie und sah ihn streng an. „Doch das Ganze läuft nur unter einer Bedingung. Du sagst mir sofort, wenn dir der Rücken oder sonst was weh tut. Kannst du mir das versprechen?“
Er versprach es.
Und es begannen sechs wirklich harte Trainingstage für ihn. Aber am Ende zählte das Ergebnis, und das konnte sich sehen lassen.
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