„Drei Komma drei Liter Kerosin pro Passagier auf 100 Flugkilometer, Papa. So umweltfreundlich kommst du mit keinem Auto ans Ziel.“
Seit Moritz die Ausbildung zum Piloten bei der Lufthansa macht, hat er´s drauf. Ihm kann keiner mehr was erzählen. Die Firma schult ihre Leute gut, denke ich. Sage aber nichts. Er ist mein Sohn. Außerdem ist Fliegen sein Traum.
„Willst du ans Fenster?“, fragte er mich und lächelt. Ich nicke und rutsche durch die Sitzreihe bis hin zu dem runden Bullauge. Als ich zum ersten Mal mit Moritz geflogen bin, hatte mich der damals Dreijährige gefragt, ob er durch ein solches Fenster während des Fliegens wohl Gott sehen könnte. Jetzt breitet sich vor mir das weitläufige Rollfeld des Frankfurter Flughafens aus. Jets aller Kaliber haben an den Gateways angedockt, werden beladen und betankt. In der Ferne rast eine Maschine der Emirat Airlines von rechts nach links und hebt ab.
„Sag mal, gibt es die Startbahn West eigentlich noch?“, frage ich.
„Du stellst Fragen, Papa. Klar gibt es die 18 West noch.“
„Gegen die habe ich mal demonstriert, damals im Frühjahr 81.“
„Weiß ich doch. Hat Opa mir schon erzählt, als ich fünf war.“
Wieder lächelt er mich an. Ich weiß, dass er jetzt durchaus in der Lage wäre, seinem Vater einen faktengespickten Vortrag über die Notwendigkeit des Flughafenausbaus zu halten, aber er sagt nichts. Er ist mein Sohn. Innerfamiliärer Waffenstillstand.
„Ich verschwinde mal ins Cockpit“, sagt Moritz. Das darf er. Flugschüler sind sogar angehalten, so oft wie möglich als dritter Mann im Cockpit mitzufliegen. Und Moritz liebt es. Also macht er sich davon und lässt mich mit meinen Erinnerungen allein.
Die gebärden sich bruchstückhaft, wollen nicht geweckt werden und hängen sich doch immer wieder an einer einzigen Begegnung auf. Damals im Frühjahr ´81 am Bauzaun der Startbahn West. Ich stehe wieder vor den riesigen Betongittern, mit denen die Baugesellschaft das Gelände abgesperrt hat. Dahinter lauern mehrere Hundertschaften der Polizei im Halbdunkel des Waldes. Neben mir Julia, mit deren buntbemaltem VW Bully wir hierher gelangt sind und in die ich außerdem ein wenig verliebt bin. Direkt vor der Absperrung läuft eine Punkerin auf und ab und schlägt unablässig mit einem Löffel auf einen Blechtopf ein. Der penetrante Klang hallt durch die Bäume. Hinter mir vielleicht hundert Demonstranten.
Nicht das ich politisch wäre. Mich treibt die simple Abenteuerlust. Und die Neugier auf das Hüttendorf. Bernd, den ich seit meinem ersten Besuch hier kenne, gibt uns eine Führung, zeigt uns den niedrigen, mit Tierfellen ausgekleideten Versammlungsraum, die Küche, in der jeden Tag fünfzig Essen gekocht werden und die Behausungen einzelner Dauerbewohner in den Bäumen. Die Verschläge sind aus Brettern zusammengenagelt und mit bunten Batik-Tüchern verziert. Einige werden von selbst geschnitzten Figuren bewacht. Alles atmet den Geist der Improvisation und des Widerstands gegen die Staatsmacht. Mit Julia die nächste Nacht in einem der Baumhäuser, denke ich und umfasse ihre Hüfte.
„Kannst du nicht mal aufhören mit dem Geschepper?“ Ein Mann mit langen Haaren und roter Latzhose hält den Arm der Punkerin fest.
„Ich demonstriere, du Idiot“, schreit sie und läuft heulend in Richtung Hüttendorf.
Bernd befüllt drei Plastikbecher mit Kaffee.
„Kommt mit“, meint er zu mir und geht zu dem Bauzaun. Direkt dahinter stehen drei Polizisten.
„Wollen Sie was Warmes trinken“, fragt er durch einen Schlitz des Betonzauns. Gern nehmen die vermummten Beamten die Becher entgegen.
„Warten Sie mal“, meint einer der Polizisten. Aus einer Tasche zieht er eine Tüte mit Keksen und bietet uns welche an.
„Hey, sag mal, bist du das, Andi?“ Einer der Beamten zeigt auf mich. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Hinter Helm und Mundschutz kann ich das Gesicht des Mannes nicht erkennen.
„Und wer bist du?“, frage ich.
„Ralf.“
Ich zögere.
„Der aus dem Jugendzentrum“, fügt er hinzu.
Ich nicke und strecke lächelnd meine Hand durch das Gitter.
Auf einmal steht die Punkerin wieder neben mir.
„Was machst du da? Kennst du das Bullenschwein etwa?“ Dann dreht sie sich um und ruft laut in die Runde:
„Ey, wir haben einen Spion in unseren Reihen.“
Wie aus dem Nichts umstellen uns drei Typen in meinem Alter.
„Was ist los?“, fragt einer mit sich kräuselndem Vollbart und verfilzten Haaren.
„Der hat dem Bullen da die Hand geschüttelt.“
„Ja und? Wir machen hier Deeskalation. Noch nichts davon gehört, oder was?“ Der Bartträger nimmt die Punkerin am Ellenbogen und zieht sie weg.
„Ich hätte dich gern unter anderen Umständen wiedergetroffen“, sagt Ralf etwas theatralisch. „Wenigstens weiß ich jetzt vorher, dass ich dir nachher vielleicht eins auf die Fresse geben muss.“ In den Augen, die aus dem Helm hervor schauen, sehe ich ein Lächeln.
„Oder ich dir“, meine ich. Bei unserer allerersten Begegnung im Jugendzentrum in Hahnstätten hätten wir uns wirklich fast geprügelt. Waren siebzehn damals, Grünschnäbel eben. Und wie das dann halt so ist: man hat öfter mal zusammen im JuZe abgehangen, ist in die Disco der nächsten Kleinstadt getrampt und ein oder zweimal so richtig abgestürzt. Das Übliche eben. Aber wirklich gut kannten wir uns nicht.
„Pass auf dich auf“, sagt er zu mir, bevor er im Wald verschwindet. Der Satz entfacht ein komisches Kreiseln in meinem Bauch.
„Wollen wir uns dazu setzen?“ Julia hat ihre Hand in meine geschoben und zeigt auf die Reihen der Demonstranten.
„Mach du“, antworte ich. „Ich laufe noch einmal durchs Dorf.“
Aber ich laufe nicht durchs Dorf. Stattdessen gehe ich direkt zu Julias Bully und setze mich auf den Beifahrersitz. Der Kreisel brummt unter meinem Zwerchfell. Das war kein Scherz von Ralf vorhin. Ich habe keine Lust, von ihm und seinen Kollegen geschlagen und getreten zu werden. Nicht, dass ich Angst vor denen hätte. Aber von Ralf, von jemandem, den ich kenne, mit dem ich gesoffen habe, Prügel zu beziehen, nur weil es die Situation erfordert oder umgedreht, dass ich ihm in die Fresse hauen müsste, nur weil ich auf der anderen Seite stehe, nein, das bitte nicht; das geht irgendwie nicht, das will nicht in meinen Kopf.
Lange sitze ich im Bully, denke nach und höre eine Kassette mit Anti-Kriegsliedern. Es ist an der Zeit, singt Hannes Wader, keine Macht für Niemand, brüllen die Scherben. Deswegen sind wir doch hier, flüstert jemand in meinem Kopf. Oder etwa nicht?
Auf einmal klopft es ans Seitenfenster. Ich drehe den Kopf und sehe in das Gesicht von Julia. Sie hat ein geschwollenes Auge und ein Riss in der linken Wange. Als ich die Tür aufschiebe, schreit sie mich an:
„Wo warst du, du Idiot!“. Dann bricht sie in Tränen aus.
Hinter mir aus dem Autoradio dröhnt ein Friedenslied der „Gruppe Schneewittchen“: Unter dem Pflaster, ja da liegt der Strand. Komm, reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand.
„Hey Papa, Bremen, anschnallen. Wir landen.“ Plötzlich sitzt Moritz neben mir und scheucht mich aus meinen Gedanken.
Unter uns sehe ich ein Wohngebiet. Ich kann die Wäsche in den Gärten ausmachen und ein paar spielende Kinder erkennen, die erst mit ihren Fingern auf uns zeigen, um sich dann die Ohren zuzuhalten.
Seit Moritz die Ausbildung zum Piloten bei der Lufthansa macht, hat er´s drauf. Ihm kann keiner mehr was erzählen. Die Firma schult ihre Leute gut, denke ich. Sage aber nichts. Er ist mein Sohn. Außerdem ist Fliegen sein Traum.
„Willst du ans Fenster?“, fragte er mich und lächelt. Ich nicke und rutsche durch die Sitzreihe bis hin zu dem runden Bullauge. Als ich zum ersten Mal mit Moritz geflogen bin, hatte mich der damals Dreijährige gefragt, ob er durch ein solches Fenster während des Fliegens wohl Gott sehen könnte. Jetzt breitet sich vor mir das weitläufige Rollfeld des Frankfurter Flughafens aus. Jets aller Kaliber haben an den Gateways angedockt, werden beladen und betankt. In der Ferne rast eine Maschine der Emirat Airlines von rechts nach links und hebt ab.
„Sag mal, gibt es die Startbahn West eigentlich noch?“, frage ich.
„Du stellst Fragen, Papa. Klar gibt es die 18 West noch.“
„Gegen die habe ich mal demonstriert, damals im Frühjahr 81.“
„Weiß ich doch. Hat Opa mir schon erzählt, als ich fünf war.“
Wieder lächelt er mich an. Ich weiß, dass er jetzt durchaus in der Lage wäre, seinem Vater einen faktengespickten Vortrag über die Notwendigkeit des Flughafenausbaus zu halten, aber er sagt nichts. Er ist mein Sohn. Innerfamiliärer Waffenstillstand.
„Ich verschwinde mal ins Cockpit“, sagt Moritz. Das darf er. Flugschüler sind sogar angehalten, so oft wie möglich als dritter Mann im Cockpit mitzufliegen. Und Moritz liebt es. Also macht er sich davon und lässt mich mit meinen Erinnerungen allein.
Die gebärden sich bruchstückhaft, wollen nicht geweckt werden und hängen sich doch immer wieder an einer einzigen Begegnung auf. Damals im Frühjahr ´81 am Bauzaun der Startbahn West. Ich stehe wieder vor den riesigen Betongittern, mit denen die Baugesellschaft das Gelände abgesperrt hat. Dahinter lauern mehrere Hundertschaften der Polizei im Halbdunkel des Waldes. Neben mir Julia, mit deren buntbemaltem VW Bully wir hierher gelangt sind und in die ich außerdem ein wenig verliebt bin. Direkt vor der Absperrung läuft eine Punkerin auf und ab und schlägt unablässig mit einem Löffel auf einen Blechtopf ein. Der penetrante Klang hallt durch die Bäume. Hinter mir vielleicht hundert Demonstranten.
Nicht das ich politisch wäre. Mich treibt die simple Abenteuerlust. Und die Neugier auf das Hüttendorf. Bernd, den ich seit meinem ersten Besuch hier kenne, gibt uns eine Führung, zeigt uns den niedrigen, mit Tierfellen ausgekleideten Versammlungsraum, die Küche, in der jeden Tag fünfzig Essen gekocht werden und die Behausungen einzelner Dauerbewohner in den Bäumen. Die Verschläge sind aus Brettern zusammengenagelt und mit bunten Batik-Tüchern verziert. Einige werden von selbst geschnitzten Figuren bewacht. Alles atmet den Geist der Improvisation und des Widerstands gegen die Staatsmacht. Mit Julia die nächste Nacht in einem der Baumhäuser, denke ich und umfasse ihre Hüfte.
„Kannst du nicht mal aufhören mit dem Geschepper?“ Ein Mann mit langen Haaren und roter Latzhose hält den Arm der Punkerin fest.
„Ich demonstriere, du Idiot“, schreit sie und läuft heulend in Richtung Hüttendorf.
Bernd befüllt drei Plastikbecher mit Kaffee.
„Kommt mit“, meint er zu mir und geht zu dem Bauzaun. Direkt dahinter stehen drei Polizisten.
„Wollen Sie was Warmes trinken“, fragt er durch einen Schlitz des Betonzauns. Gern nehmen die vermummten Beamten die Becher entgegen.
„Warten Sie mal“, meint einer der Polizisten. Aus einer Tasche zieht er eine Tüte mit Keksen und bietet uns welche an.
„Hey, sag mal, bist du das, Andi?“ Einer der Beamten zeigt auf mich. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Hinter Helm und Mundschutz kann ich das Gesicht des Mannes nicht erkennen.
„Und wer bist du?“, frage ich.
„Ralf.“
Ich zögere.
„Der aus dem Jugendzentrum“, fügt er hinzu.
Ich nicke und strecke lächelnd meine Hand durch das Gitter.
Auf einmal steht die Punkerin wieder neben mir.
„Was machst du da? Kennst du das Bullenschwein etwa?“ Dann dreht sie sich um und ruft laut in die Runde:
„Ey, wir haben einen Spion in unseren Reihen.“
Wie aus dem Nichts umstellen uns drei Typen in meinem Alter.
„Was ist los?“, fragt einer mit sich kräuselndem Vollbart und verfilzten Haaren.
„Der hat dem Bullen da die Hand geschüttelt.“
„Ja und? Wir machen hier Deeskalation. Noch nichts davon gehört, oder was?“ Der Bartträger nimmt die Punkerin am Ellenbogen und zieht sie weg.
„Ich hätte dich gern unter anderen Umständen wiedergetroffen“, sagt Ralf etwas theatralisch. „Wenigstens weiß ich jetzt vorher, dass ich dir nachher vielleicht eins auf die Fresse geben muss.“ In den Augen, die aus dem Helm hervor schauen, sehe ich ein Lächeln.
„Oder ich dir“, meine ich. Bei unserer allerersten Begegnung im Jugendzentrum in Hahnstätten hätten wir uns wirklich fast geprügelt. Waren siebzehn damals, Grünschnäbel eben. Und wie das dann halt so ist: man hat öfter mal zusammen im JuZe abgehangen, ist in die Disco der nächsten Kleinstadt getrampt und ein oder zweimal so richtig abgestürzt. Das Übliche eben. Aber wirklich gut kannten wir uns nicht.
„Pass auf dich auf“, sagt er zu mir, bevor er im Wald verschwindet. Der Satz entfacht ein komisches Kreiseln in meinem Bauch.
„Wollen wir uns dazu setzen?“ Julia hat ihre Hand in meine geschoben und zeigt auf die Reihen der Demonstranten.
„Mach du“, antworte ich. „Ich laufe noch einmal durchs Dorf.“
Aber ich laufe nicht durchs Dorf. Stattdessen gehe ich direkt zu Julias Bully und setze mich auf den Beifahrersitz. Der Kreisel brummt unter meinem Zwerchfell. Das war kein Scherz von Ralf vorhin. Ich habe keine Lust, von ihm und seinen Kollegen geschlagen und getreten zu werden. Nicht, dass ich Angst vor denen hätte. Aber von Ralf, von jemandem, den ich kenne, mit dem ich gesoffen habe, Prügel zu beziehen, nur weil es die Situation erfordert oder umgedreht, dass ich ihm in die Fresse hauen müsste, nur weil ich auf der anderen Seite stehe, nein, das bitte nicht; das geht irgendwie nicht, das will nicht in meinen Kopf.
Lange sitze ich im Bully, denke nach und höre eine Kassette mit Anti-Kriegsliedern. Es ist an der Zeit, singt Hannes Wader, keine Macht für Niemand, brüllen die Scherben. Deswegen sind wir doch hier, flüstert jemand in meinem Kopf. Oder etwa nicht?
Auf einmal klopft es ans Seitenfenster. Ich drehe den Kopf und sehe in das Gesicht von Julia. Sie hat ein geschwollenes Auge und ein Riss in der linken Wange. Als ich die Tür aufschiebe, schreit sie mich an:
„Wo warst du, du Idiot!“. Dann bricht sie in Tränen aus.
Hinter mir aus dem Autoradio dröhnt ein Friedenslied der „Gruppe Schneewittchen“: Unter dem Pflaster, ja da liegt der Strand. Komm, reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand.
„Hey Papa, Bremen, anschnallen. Wir landen.“ Plötzlich sitzt Moritz neben mir und scheucht mich aus meinen Gedanken.
Unter uns sehe ich ein Wohngebiet. Ich kann die Wäsche in den Gärten ausmachen und ein paar spielende Kinder erkennen, die erst mit ihren Fingern auf uns zeigen, um sich dann die Ohren zuzuhalten.