lietzensee
Mitglied
-
Empfohlener Beitrag
- #1
Unterm Regenschirm
Unter einem grün gepunkteten Regenschirm drängten Martha und Regine sich zusammen und warteten auf den Bus. Die grünen Punkte des Schirms waren etwas peinlich. Doch Martha hatte ihren Schirm vergessen und Regine hatte eine schwarze Hülle gegriffen, in die ihr Enkel dieses grün gepunktete Modell gesteckt haben musste. Alle anderen Trauergäste standen unter schwarzen Schirmen. Muriel Schneider vom Ruder-Club sah missbilligend zu ihnen hinüber. "Da ist sie nun tot, unsere Biggi", sagte Martha, um überhaupt etwas zu sagen. Das Prasseln des Regens machte ihr Gespräch mühsam. Regine nickte und unter dem Schirm sahen sie sich an.
"Schön hat der Pfarrer gesprochen", sagte Regine. Für einen Moment überraschte sie gegenseitig der Spott in ihren Blicken. Der Pfarrer hatte Biggis Enkel und Ehrenämter aufgezählt, während durchs lecke Kirchendach der Regen auf den Sarg tropfte.
"Ja", Martha sprach vorsichtig, "aber über vieles hat er nicht geredet." Der Pfarrer hatte Biggi eine einzigartige Frau genannt. Dabei wussten alle, dass sie bei der Siegerehrung des Ruderclubs in ihren Pokal gekotzt hatte. Der Regen durchnässte die Schultern ihrer schwarzen Mäntel. Sie schoben sich enger aneinander, was ihr Gespräch anstrengender machte. Martha war kleiner als Regine und Regine war etwas schwerhörig.
"Weißt du, wie sie dich genannt hatte?", fragte Martha und klang dabei so, als hätte sie es eigentlich nicht sagen wollen. Sie presste ihre Lippen zusammen. Beide spürten, wie die Feuchtigkeit in ihr Make-up sickerte. Schließlich stieß Regine Martha von oben an, bis diese verriet: "Sie hat dich die taube Nuss genannt und darüber gelacht. Aber natürlich nur, wenn sie, na du weißt schon ..."
"Du warst bei ihr immer die kleine Dicke." Pfützen stauten sich auf dem Pflaster.
"Ich bin nicht dick."
"Was meinst du?"
"Ich bin nicht dick!" Der Regen prasselte. "Und du bist nicht taub."
"Was?"
Misstrauisch sah Martha zu Regine hinauf, um zu erraten, ob diese sich einen Spaß erlaubte. Sie waren zu dritt in einem Gartenverein gewesen und die Witze von Regine und Biggi waren dort auch oft auf Marthas Kosten gegangen. Dabei war sie die Einzige von den Dreien, die von Gartenbau wirklich Ahnung hatte. "Eure Geranien hatten immer Spinnmilben", presste Martha hervor. Dann schwiegen sie beide. Es war nicht zu erkennen, ob Regine nicht verstanden hatte, oder sie den Gedankensprung nicht nachvollziehen konnte. "Und ihren Mann hat sie mit Gilbert betrogen", flüsterte Martha schließlich so leise, dass Regine es eigentlich nicht hören durfte.
"Gilbert hatte ich durch sie dann auch kennengelernt."
"Ja, ich auch."
Der Wind presste sie unter dem gepunkteten Schirm nun eng zusammen. Sie rochen den Regen und ihre Körper. Beide dachten an die Feste des kleinen, längst aufgelösten Gartenvereins. Dort hatte Gilbert alle Obstbäume verschnitten und die Lauben aller weiblichen Vereinsmitglieder gekannt.
"Weißt du noch, als ..." Martha sprach nicht weiter, denn beide wussten noch. Als der Gartenverein aufgelöst werden musste, hatten sie sich zu einem letzten Fest getroffen. Biggi war jeden um den Hals gefallen. Auf der Terrasse hatte sie dann laut gerufen, dass sie aus allen Gärten Tomaten geklaut, aber nur die Besten davon mit grünem Faden an ihren eigenen Strauch befestigt hatte. Ihre prallrote Preistomate, im ersten und einzigen Tomatenwettbewerb, die hatte sie aus Marthas Garten. Danke, Martha, hatte sie gerufen und war dann in den Goldfischteich getorkelt. Ihr Mann und Gilbert hatten sie tropfend nachhause getragen. "Sie war wirklich eine einzigartige Frau", entschied Martha und beide lächelten.
Der Bus fuhr mit sprühenden Fontänen auf die Haltestelle zu. Martha sah sich kurz um. "Auf Biggi", flüsterte sie und zog einen Flachmann aus ihrem feuchten Mantel.
"Auf Biggi", sprach Regine. Den grün gepunkteten Schirm kippte sie in Richtung des Ruderclubs. Dann griff sie den Flachmann und legte geübt den Kopf in den Nacken.