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James Blond

Mitglied
Ich schritt des Weges für mich hin,
versunken in Gedanken,
ein Ömchen weckte meinen Sinn
und meine Lust zu zanken.

Das Mütterchen schien hochbetagt,
doch rege noch im Gange,
da habe ich es dreist gefragt,
ob's noch zum Laufen lange.

Es blickte kurz zu mir herauf
und sprach mit leisem Stöhnen,
so einfach sei ja wohl kein Lauf,
die Zeit nicht zum Verwöhnen.

Längst wär zu arg des Tages Last,
der Weg nur noch beschwerlich –
mir klang's als Wunsch nach einer Rast
und das schien auch erklärlich.

So habe ich ihm mitgeteilt:
„Solch Kummer lohnt mitnichten –
dein Weg ist sicher fast durcheilt,
das Ende schon zu sichten.“

Da blitzten hell zwei Äuglein auf:
„Halt bloß dein freches Mündchen,
sonst schlägt dir jemand eher drauf,
als mir mein letztes Stündchen!“
 

seefeldmaren

Mitglied
hey james blond,

ich hatte beim ersten und zweiten lesen bei kleineren dingen kleinere kämpfe.
mich also hinterfragt, was stört, warum es stört und ob es hilfreich ist.
jetzt komme ich aber zu dem entschluss: das gedicht ist ein genuss!

was ich mich unter anderem gefragt habe während des lesens: ob gedichte apostrophe brauchen
und ob diese schreibform unterschiede beim rezipieren verursacht?
jedes apostroph, das ich in gedichten lesen muss ist als würde ich mit dem nasenloch dran hängen bleiben, während der körper weiterfließen will.
kurz: ein störfaktor - geht nur mir so? oder habe ich da eine macke?

die letzte strophe ist schon, obwohl bewusst entschärft, sehr scharf - mag ich!
 

Aniella

Mitglied
Hi, hi – das gefällt mir! Das Ömchen ist nicht auf den Mund gefallen und dem LI ist die Lust zu zanken jetzt hoffentlich vergangen. ;-)
Danke für den Schmunzler am Morgen.
Marens Frage zur Nutzung von Apostroph in Gedichten würde mich auch interessieren, obwohl es mich persönlich nicht stört.

LG Aniella
 

Anders Tell

Mitglied
So witzige Verse liest man hier eher selten. Habe mich köstlich amüsiert. Mein lyrisches Vermögen ist schwach ausgeprägt. Aber beim Improtheater liefere ich Stegreifreime. Ohne Apostroph würde ich da untergehen. Man muss eben bisweilen eine Silbe schlucken, um im Takt zu bleiben. Natürlich erinnert dieser Silbenraub an umgangssprachliche Unterschleifungen. Bei humoresken Themen ist das aber zulässig.
 

James Blond

Mitglied
hey james blond,

ich hatte beim ersten und zweiten lesen bei kleineren dingen kleinere kämpfe.
mich also hinterfragt, was stört, warum es stört und ob es hilfreich ist.
jetzt komme ich aber zu dem entschluss: das gedicht ist ein genuss!

was ich mich unter anderem gefragt habe während des lesens: ob gedichte apostrophe brauchen
und ob diese schreibform unterschiede beim rezipieren verursacht?
jedes apostroph, das ich in gedichten lesen muss ist als würde ich mit dem nasenloch dran hängen bleiben, während der körper weiterfließen will.
kurz: ein störfaktor - geht nur mir so? oder habe ich da eine macke?

die letzte strophe ist schon, obwohl bewusst entschärft, sehr scharf - mag ich!
Hey @seefeldmaren,

danke für deine detaillierten Rückmeldungen, die mich neugierig machen:
  • Trotz deines "Entschlusses" interessieren mich auch die "kleineren Krämpfe". Was hat dich (zunächst) gestört?
Sofern es da bereits um die Apostrophen ging, muss ich zugeben, dass ich mir darüber eigentlich noch nie Gedanken gemacht habe. Sollte ich?

Hm, wenn ich auf Wörter wie z. B. "obs" oder "klangs" stoße, würde sich mein Lesehirn womöglich länger damit aufhalten, was hier gemeint ist: Ein Genitiv-"s" oder eine angehängte "es"-Ellision? Satzzeichen sollen uns das Entziffern erleichtern. Ob Gedichte so etwas brauchen, hängt von der Intention des Dichters ab: Manch einer will dem Leser gleich eine ganze Palette verschiedener Auffassungsmöglichkeiten bieten. Hier aber kam es mir auf das flüssige Lesen an, da sind Apostrophen eigentlich keine Hemmnisse.

  • Weshalb dir die letzte Strophe "bewusst entschärft" und dennoch "sehr scharf" erscheint, würde mich schon interessieren. :)
Liebe Grüße
JB
 

James Blond

Mitglied
Hi, hi – das gefällt mir! Das Ömchen ist nicht auf den Mund gefallen und dem LI ist die Lust zu zanken jetzt hoffentlich vergangen. ;-)
Danke für den Schmunzler am Morgen.
Hey Aniella,
es freut mich, dass die Pointe am Ende gezündet hat, ich war mir da nicht so sicher.
Danke für deine Rückmeldung!
JB
 

James Blond

Mitglied
Ohne Apostroph würde ich da untergehen. Man muss eben bisweilen eine Silbe schlucken, um im Takt zu bleiben. Natürlich erinnert dieser Silbenraub an umgangssprachliche Unterschleifungen. Bei humoresken Themen ist das aber zulässig.
Hey Anders,
du schreibst zum Silbenschluck genau das, was ich auch denke (siehe #5). Mich stören diese Schleifungen auch in der (ernsthafteren) Lyrik nicht, sofern sie nicht gekünstelt (, d. h. allein durch's Metrum erzwungen) wirken.

Wenn dir witzige Versen gefallen, bist du hier (- nicht nur bei mir -) in guten Händen! :)

Liebe Grüße
JB
 

James Blond

Mitglied
wunderbar, diese Stilfigur (in vergesse immer den Namen), wo das eine Verb in zwei Bedeutungen aufgespalten wird bzw. zwei disparate Bedeutungen in einem Verb formuliert werden.
Gewitzte Omi!
Jou, diese rhetorische Stilfigur mit der Doppelverwendung von Verben nennt man allgemein Zeugma,
auch die Variante mit den verschiedenen Bedeutungen, die eigentliche Syllepsis.

In "unterwegs" wimmelt es geradezu von Zeugmata (plural v. Zeugma), aber nur in der letzten Stophe kommt es zum satirischen Wortspiel. Ich habe hier einmal die doppelt genutzten Verben markiert:

ein Ömchen weckte meinen Sinn
und meine Lust zu zanken.

Das Mütterchen schien hochbetagt,
doch rege noch im Gange,

so einfach sei ja wohl kein Lauf,
die Zeit nicht zum Verwöhnen.

Längst wär zu arg des Tages Last,
der Weg nur noch beschwerlich –

dein Weg
ist sicher fast durcheilt,
das Ende schon zu sichten.

sonst schlägt dir jemand eher drauf,
als mir mein letztes Stündchen


Das Zeugma lässt einen Text oft geschliffener erscheinen, indem es umständliche Wortwiederholungen vermeidet. Es erhöht das Tempo. Im letzten Fall kommt noch ein kunstvolles Wortspiel hinzu. Ein bekanntes Beispiel lieferte Heinz Ehrhard: "Ich heiße Heinz und Sie herzlich willkommen!"

Gern geantwortet :)

Grüße
JB
 

seefeldmaren

Mitglied
so, etwas zeit!

die form ist ja wie geleckt, es ist gepflegtes handwerk. vielleicht etwas zu sehr gepflegt. hier und da eine kleine reibung fände ich interessant, weitererseits wäre eine andere vorbereitung auf die pointe auch interessant gewesen. der ömchenkonter ist wunderbar! wie es erzählt wird, wirkt auf mich initial etwas überlegen und gönnerhaft und hier gäbe es potenzial für selbstironie, um das zu entschärfen, fühlte sich in den letzten zeilen das lyrisch ertappt. nach dem motto "so lacht man zwar über die alte, aber nicht über sich selbst".

welche gedanken habe ich noch? noch etwas handwerkliches. ich finde, dass sich das gedicht grammatisch verlangsamt. für mich simuliert das gedicht
durch die grammatik den übergang vom gehen zum vergehen. es bewegt sich ähnlich wie sein protagonist vom äußeren schritt zum inneren stillstand.
erst hat man die verben "schritt", "weckte", fragte" und dann nomen "last", "weg", "rast", "stündchen". das gedicht wird wie ich finde zur substantivlandschaft, es vertrocknet quasi die verben. das ist eine interessante degression, eine grammatische erstarrung, die den semantischen verlauf spiegelt. sprich: es "geht" am anfang und "steht" am ende.

und in anbetracht des inhalts und des aufbaus der pointe ist das schon eine "stille" meisterleistung. also chapeau an der stelle.

was ich nicht sagen will ist, dass das gedicht dies und das braucht. was ich hier schreibe, sind meine gedanken und emotionen, die ich beim lesen hatte.

eine sache vielleicht noch zum metrum: es gibt ja solche gedichte und solche gedichte. es gibt gedichte, die sind jambisch perfekt im takt, aber man merkt "ahhh ja, wieder ein gedicht mit einem jambus" und es gibt solche, denen man den jambus nicht so scharf anmerkt, die sind mehr wie ein fließender satz.
bei solchen gedichte fällt mir dann nicht auf, ob die gereimt, oder nicht gereimt sind.

wie man aber gedichtart B schreibt... ich schätze es ist eine mischung aus gefühl und die korrekte verwendung von modalpartikeln, vielleicht sogar von umgangssprache (füllwörter).

so, aber nun hört es auf. schönes gedicht, ich werde es sicher noch das ein oder andere mal lesen.
 

James Blond

Mitglied
wie es erzählt wird, wirkt auf mich initial etwas überlegen und gönnerhaft und hier gäbe es potenzial für selbstironie, um das zu entschärfen, fühlte sich in den letzten zeilen das lyrisch ertappt. nach dem motto "so lacht man zwar über die alte, aber nicht über sich selbst".
Ich denke, das aufgeblasene LyrIch erhöht die Falltiefe und steigert so die Wirkung der Pointe.

was ich nicht sagen will ist, dass das gedicht dies und das braucht. was ich hier schreibe, sind meine gedanken und emotionen, die ich beim lesen hatte.
... und die sind wirklich ergiebig.
Meinen herzlichen Dank, liebe Maren!

Liebe Grüße
JB
 

sufnus

Mitglied
Hey James,

also da kann ich mich dem allgemeinen Lobgesang gerne anschließen - ich mag die ganz zarte Andeutung an den Goethe-Sang, den Du ja im Klapperthread zitiert hast. :) Hier wird also aus dem Blümchen ein Ömchen - schöner Einfall. :)
Ob der Geheimrat die Idee auch goutiert hätte, da bin ich mir nicht so sicher (ich glaub, der Alte konnte recht humorlos sein, wenn es ihn selbst betraf); aber ich mag das wirklich sehr.
Auch die gegenüber dem Goethegedicht nochmal um eine Überdrehung weiter betriebene, geradezu anakreontische Diminutivballung find ich sehr witzig.
Ein paar minimale Formulierungs-Bedenkungen könnten sich ggf. noch lohnen.

Erstmal eine kleine ausdrucksmäßige Stolperstelle, bei der ich aber kein Gegenmittel weiß und die ich daher eher als "komischen Effekt" verbuchen und stehen lassen würde (oder hat da noch vielleicht noch jemand eine zündende Idee?):

"ein Ömchen weckte meinen Sinn
und meine Lust zu zanken."


=> Diese beiden Zeilen kann man sich als zwei mit und beigeordnete "Sätze" vorstellen (beim zweiten "Satz" ist dann natürlich sowohl das Subjekt als auch das konjugierte Verb eingespart worden oder man kann sich das als ein Haupt-Neben-Satzgefüge vorstellen,

also entweder:

ein Ömchen weckte meinen Sinn
und [dieses Ömchen] [weckte auch] meine Lust zu zanken

oder:

ein Ömchen weckte meinen Sinn [zu zanken] und [auch] meine Lust zu zanken.

In beiden Lesarten ergeben sich gewisse Ausdrucks-Probleme:
Ein abgeschlossener Hauptsatz im Sinn von: "Ein Ömchen weckte meinen Sinn." (das ergäbe sich bei der ersten Lesart) ist zwar grammatisch irgendwie schon vollständig, endet aber inhaltlich etwas abortiv.
Hingegen ist der Ausdruck "Ein Ömchen weckte meinen Sinn zu zanken" (zweite Lesart) zumindest unkonventionell.

Aber wie gesagt, hab hier keine Lösung und es ist wahrscheinlich auch nicht so dringlich reparaturbedürftig. Oder?

Ansonsten:

"Das Mütterchen schien hochbetagt,
doch rege noch im Gange,
da habe ich es dreist gefragt,
ob's noch zum Laufen lange."


=> Hier kommt mir die Formulierung mit "da habe ich es dreist... " noch suboptimal vor. Erstens wiederholt sich das "da" als Zeileneinstieg später nochmal und etwa Abwechslung könnte nicht schaden und zweitens knüpft "da" eine (entweder kausal oder zeitlich) sehr eng an den vorausgehenden Satz an und von der Handlung her ist diese enge Verbindung, des regen Gangbildes mit der dreisten Frage nicht ganz "logisch". Was das Kausale angeht, besteht ja zwischen Gangbild und Frage eher eine Antikausalität ("trotzdem habe ich sie gefragt"). Und wenn man dem Problem aus dem Weg gehen wollte und sich
rein auf die zeitliche Abfolge bezieht, ergibt sich etwa wie: Erst schien das Gangbild rege und dann habe ich dreist gefragt. Aber das Gangbild dürfte auch im Anschluss an die Frage mutmaßlich noch genauso rege erschienen sein und insofern passt auch diese zeitliche Staffelung nicht so perfekt.

Vorschlag:

"doch rege noch im Gange
und neckend hab ich Schelm gefragt,"


Dann hier noch eine Kleinigkeit:

"Es blickte kurz zu mir herauf"

=> Zu jemandem "heraufblicken" ist m. E für ein mitmenschliches Wesen, selbst wenn ein gewisser Größenunterschied besteht, eher stilistisch etwas seltsam.
Er/sie/es blickt "herauf" - da stelle ich mir eher vor, dass besagte(r) Blicker*in am Fuße eines Berges o. ä. steht und der talseitig beigesellte Beobachter (also ich) registriert, wie der Blick mühsam die Baumgrenze überwindet.
Vorschlag:

"Es blickte kurz vom Pfade auf"

Und - gleich geschafft - letzter Punkt:

"So habe ich ihm mitgeteilt:
'Solch Kummer lohnt mitnichten –"


=> "ihm" ist hier natürlich das versächlichte Ömchen/Mütterchen, die (bzw. das) aber in ausgeschriebener Form relativ weit entfernt vom Pronomen steht und zwischen das Mütterchen und das "ihm" drängen sich diverse sächliche oder männliche Hauptwörter, auf die sich rein grammatisch betrachtet das "ihm" auch beziehen könnte. Ich sage damit nicht, dass hier der Sinn unklar oder gar missverständlich wäre, denn inhaltlich ist das Mütterchen das einzige Hauptwort, auf das sich das "ihm" sinnvollerweise beziehen kann. Ich empfinde aber Wendungen, die auch grammatisch keine Mehrdeutigkeiten zulassen (häufig) als etwas klarer und daher schnittiger (wenn in einem Text denn an Klarheit etwas gelegen ist).

Vorschlag:

"Ich hab der Alten mitgeteilt:"

oder (wenn die Alte zu barsch erscheint):

"Ich der Greisin mitgeteilt:"

Uff. Geschafft! Und neben diesen ganzen Kleinigkeiten hab ich absolut keine großen Beanstandungspunkte gefunden. Also: Freude, Freude, Freude! :)

LG!

S.

P.S.:
Sterne-mäßig würd ich dennoch ganz unbenommen von allem Obigen einen ganz subjektiven Kleinst-Abzug vornehmen, weil für meine persönlichen Lesebedürfnisse der Text bei gleichem "Gehalt" etwas kürzer hätte ausfallen dürfen; aber vier Sterne meint bei mir: Piffpaff - prima Schreibe!
 

James Blond

Mitglied
Lieber sufnus,

ich bewundere deine Ausgiebigkeit und Akribie, mit der du dich in mein Gedichtlein hineingekniet hast. Auch wenn ich mich zuweilen des Eindrucks von Spitzfindigkeiten nicht ganz erwehren kann, so bin ich doch angetan von der Ausführlichkeit, mit der du mich an deinen Überlegungen teilhaben lässt.

  • Goethe-Blümlein
Das beginnt schon bei der zarten Andeutung des Goethe-Blümleins, das ich kürzlich "gefunden" und zitiert hatte, um die sufnus-Klappertheorie zu überprüfen. Mein "Ömchen" hingegen entstand schon vor Jahren. Ich nutze den zeitlichen Abstand zu meinen Texten gerne, um sie aus der Distanz noch einmal zu überarbeiten - veröffentlicht war es hier aber schon einmal lange vor Goethes Klappern. Auch mag der Diminutiv "Ömchen" gegenüber dem "Blümlein" etwas ungebräuchlich sein, dem Duden gänzlich unbekannt ist er hingegen nicht. Mir erschien er hier als ausgesprochen liebevoll verspielte Bezeichnung, meinetwegen auch mit anakreontischen Anklängen, warum nicht. :)

  • "ein Ömchen weckte meinen Sinn
    und meine Lust zu zanken."
Erstmal eine kleine ausdrucksmäßige Stolperstelle, bei der ich aber kein Gegenmittel weiß und die ich daher eher als "komischen Effekt" verbuchen und stehen lassen würde (oder hat da noch vielleicht noch jemand eine zündende Idee?):
Deine erste Stolperstelle hat mich etwas irritiert. Da hast du zwei Verständnisvarianten expliziert, die sich allerdings semantisch kaum unterscheiden, denn worin besteht der Unterschied, ob etwas den Sinn weckt und die Lust zu zanken weckt - oder den Sinn zu zanken und die Lust zu zanken [weckt]?

Da ich Verse zumeist auch im semantischen Sinn als relativ geschlossene Einheiten verstehe, wo der Reim am Ende zugleich auch eine Verständniseinheit besiegelt, bin ich hier von der geläufigen Redewendung "jemandes Sinn wecken" ausgegangen, was soviel bedeutet, wie "sein Interesse wachrufen", während das womöglich unkonventionellere "Sinn und Lust zu zanken wecken" mich zumindest etwas seltsam dünkt.

Wirkt der Vers dadurch abortiv? Ich sehe das nicht so, denn er wird ja im Folgenden noch fortgeführt. So beschreibt die Eingangsstrophe die Ausgangssituation: Das LyrIch wird aus seinem Spaziergang durch die Begegnung mit einer Alten aus seinen Gedanken gerissen und bekommt Lust auf eine herausfordernde Unterhaltung.

  • "Das Mütterchen schien hochbetagt,
    doch rege noch im Gange,
    da habe ich es dreist gefragt,
    ob's noch zum Laufen lange."
=> Hier kommt mir die Formulierung mit "da habe ich es dreist... " noch suboptimal vor. Erstens wiederholt sich das "da" als Zeileneinstieg später nochmal und etwa Abwechslung könnte nicht schaden und zweitens knüpft "da" eine (entweder kausal oder zeitlich) sehr eng an den vorausgehenden Satz an und von der Handlung her ist diese enge Verbindung, des regen Gangbildes mit der dreisten Frage nicht ganz "logisch". Was das Kausale angeht, besteht ja zwischen Gangbild und Frage eher eine Antikausalität ("trotzdem habe ich sie gefragt"). Und wenn man dem Problem aus dem Weg gehen wollte und sich
rein auf die zeitliche Abfolge bezieht, ergibt sich etwa wie: Erst schien das Gangbild rege und dann habe ich dreist gefragt. Aber das Gangbild dürfte auch im Anschluss an die Frage mutmaßlich noch genauso rege erschienen sein und insofern passt auch diese zeitliche Staffelung nicht so perfekt.
Es ist richtig, dass sich das einleitende "da" in der letzten Strophe (also nach 14. Versen) wiederholt, was nach solchem Abstand selbst dann kein Nachteil sein sollte, wenn es sich lediglich um eine schnöde Wiederholung in einer Schilderung laufender Ereignisse handeln würde. Allerdings leiten hier beide "da" ein Handeln, bzw. Sprechen ein: Im ersten Fall ist es die Herausforderung des LyrIchs, im zweiten die "schlagfertige" Entgegnung des Ömchens. Da passt für mich die Gegenüberstellung durch das wiederholt einleitende "da" wie die Faust aufs Auge.
Dein Verbesserungsvorschlag
und neckend hab ich Schelm gefragt,"
ist (mal wieder) typisch "sufnuesk", weil er eine selbstreflektierende Distanz des Lyrichs erzeugt, die hier allerdings nicht passt, weil sie die Direktheit von Rede und Gegenrede stört. Trotzdem danke. :)
  • "Es blickte kurz zu mir herauf" "Es blickte kurz vom Pfade auf"
Zu jemandem "heraufblicken" ist m. E für ein mitmenschliches Wesen, selbst wenn ein gewisser Größenunterschied besteht, eher stilistisch etwas seltsam.
In der Tat blickt man üblicherweise zu größeren Dingen wie Bergen oder Himmeln hinauf. Zum LyrIch muss das kleine, gebeugte Ömchen allerdings herauf blicken. Das mag ungewöhnlich klingen, doch verdeutlicht es die Situation besser als das übliche "Aufblicken" und unterstreicht Omas Schlagfertigkeit gegenüber dem physisch fitteren LyrIch noch. Dennoch danke für den Vorschlag. :)
  • "So habe ich ihm mitgeteilt: "Ich hab der Alten mitgeteilt:", bzw. "Ich der Greisin mitgeteilt:"
    'Solch Kummer lohnt mitnichten –"
=> "ihm" ist hier natürlich das versächlichte Ömchen/Mütterchen, die (bzw. das) aber in ausgeschriebener Form relativ weit entfernt vom Pronomen steht und zwischen das Mütterchen und das "ihm" drängen sich diverse sächliche oder männliche Hauptwörter, auf die sich rein grammatisch betrachtet das "ihm" auch beziehen könnte.
Hmm, sämtliche Pronomen (der 1. u. 3. Pers. Sing.) beziehen sich auf die beiden handelnden Personen. Andere Bezüge kommen im Text nicht vor. Daher sehe ich auch nur wenig Notwendigkeit, die Pronominalbezüge erneut zu verdeutlichen. Was könnte noch gemeint sein? Deine Vorschläge gefallen mir schon deshalb nicht, weil sie zugleich größere Distanz zum netten Protagonisten erzeugen, die hier (vom Autor) nicht gewollt ist. Trotzdem danke. :)

Sterne-mäßig würd ich dennoch ganz unbenommen von allem Obigen einen ganz subjektiven Kleinst-Abzug vornehmen, weil für meine persönlichen Lesebedürfnisse der Text bei gleichem "Gehalt" etwas kürzer hätte ausfallen dürfen; aber vier Sterne meint bei mir: Piffpaff - prima Schreibe!
Das ist vollkommen ok! Dank auch dafür. :)
Man kann es ja nie allen recht machen und sollte es auch gar nicht erst versuchen. Bummbumm. ;)
Und danke für die Arbeit, die du dir hier gemacht hast.

Liebe Grüße
JB
 

mondnein

Mitglied
Dann hier noch eine Kleinigkeit:

"Es blickte kurz zu mir herauf"

=> Zu jemandem "heraufblicken" ist m. E für ein mitmenschliches Wesen, selbst wenn ein gewisser Größenunterschied besteht, eher stilistisch etwas seltsam.
Er/sie/es blickt "herauf" - da stelle ich mir eher vor, dass besagte(r) Blicker*in am Fuße eines Berges o. ä. steht und der talseitig beigesellte Beobachter (also ich) registriert, wie der Blick mühsam die Baumgrenze überwindet.
Vorschlag:

"Es blickte kurz vom Pfade auf"
aus der Perspektive des unverkleinerten Lyris muß das Omilein, das in seiner eigenen Perspektive zum Angeblickten hinaufblickt, zu ihm "herauf" blicken.
"aufblicken" dagegen bedeutet: sie schaut erst auf den Weg hinunter, reflektiert ihren Gang usw., und nun würdigt sie das Lyri eines Blickes.
Das ist ein anderes Gedicht.

aber vier Sterne meint bei mir: Piffpaff - prima Schreibe!
ja, und "drei Sterne" heißt: "prima Text",
und "zwei Sterne" heißt: "hervorragend!",
und "ein Stern" heißt: "unübertrefflich!".
kennen wir schon.

Das Zeugma lässt einen Text oft geschliffener erscheinen, indem es umständliche Wortwiederholungen vermeidet. Es erhöht das Tempo. Im letzten Fall kommt noch ein kunstvolles Wortspiel hinzu. Ein bekanntes Beispiel lieferte Heinz Ehrhard: "Ich heiße Heinz und Sie herzlich willkommen!"
Danke, dankeschön, James!

Ich erinnere mich, daß diese Stilfigur-Suche schon mal vor einigen Jahren einen Faden weitergesponnen hat; die "Heinz-Erhard-Figur" (die augenscheinlich jeder mit eben diesem Namen verbindet) wurde damals glaubich als "Zeugma" identifiziert,
aber Deine Antwort jetzt ist genauer und richtiger:
Bei den üblichen Zeugmata werden elliptische Prädikationen mit einem "und" verbunden, wie etwas verkürzte Satzreihungen,
oder das "und" fällt weg, Stilmittel "asyndeton",
das ist noch nicht so lustig wie die "Syllepsis", die die Pointe pontiert.
Dieser Ausdruck ist damals, wenn ich mich richtig erinnere, nicht ins Spiel gekommen, aber ich vergesse viel. Und vergesse, was ich alles vergessen habe.

Danke auch für Deinen Hinweis auf die Häufung der Zeugmata, die Du geradezu stilistisch eingesetzt hast, indem sie in jedem Vers vorzukommen scheinen.
Die sind nicht so verblüffend-disparat wie die Syllepsen, sie sind normaler Sprachgebrauch, mir fielen sie nicht auf,
um so mehr freut mich, daß Du sie aufgezeigt hast: so gehören sie zur stilistischen Form des Liedchens.

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
Ich erinnere mich, daß diese Stilfigur-Suche schon mal vor einigen Jahren einen Faden weitergesponnen hat; [...]
Ja, mondnein,
das Zeugma war bereits des öfteren ein Thema in den Kommentaren und eines der Lieblingsthemen von Bernd. Hier hat er ihm sogar ein eigenes Thema gewidmet, wobei Zeugma und Syllepse allerdings nicht richtig erklärt wurden. Das Standardbeispiel unseres Deutschlehrer für eine Syllepse: "Er schlug zunächst drei Fensterscheiben und später die höhere Beamtenlaufbahn ein." Ob diese Episode seiner eigenen Vita entsprungen war, hat er uns seinerzeit nicht verraten. Aber so etwas bleibt in den Erinnerungen zurück.

Übrigens:
Neben den Zeugmata tritt in "unterwegs" noch eine andere rhetorische Form gehäuft auf: Der Diminutiv. Das erklärt auch, weshalb ich mich gegen sufnus' Vorschläge, ersatzweise von "der Alten" oder "der Greisin" zu schreiben, so entschieden gewehrt habe.

Zunächst begegnen wir in der 1. Strophe einem "Ömchen",
das anschließend (in der 2. Strophe) "Mütterchen" genannt wird .

Danach ist dann erst einmal Schluss mit Diminutiven,
bis in der letzten Strophe mit "Äuglein", "Mündchen", "Stündchen"
der Diminutiv am Ende selbst etwas ironisierend auf die Schippe genommen wird.

Dennoch bleibt m. E. ein liebevoller, verspielter Eindruck erhalten.

Hätte ich z. B. stattdessen geschrieben ...

Da blitzten hell zwei Augen auf:
"Halt bloß dein blödes Maul!
Mein Gehstock schlägt sonst heftig drauf,
denn der ist auch nicht faul!"


wäre die Wirkung eine ganz andere gewesen. ;)

Grüße
JB
 



 
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