Olaf Euler
Mitglied
Es war ein angenehmer Sommertag und die Sonnenstrahlen lockten mich auf einen Spaziergang ins Grüne. Meine heitere Stimmung wurde nur durch einen stechenden Kopfschmerz getrübt, der meine Stirn durchzog. Ich schlüpfte in meine alten Turnschuhe, massierte mit beiden Händen ein letztes Mal die Schläfen und zog mit schnellen Schritten los. Ich eilte durch die Straßen meines Wohnorts, versuchte das sorgenvolle Kopfweh hinter mir zu lassen und traf nach kurzer Zeit auf den vielbegangenen Spazierweg an einem Fluss entlang. In Gedanken versunken schlenderte ich an den Uferwiesen vorbei und blickte den Kajaks hinterher, die mit der Strömung des Gewässers an mir vorbeizogen.
Ein kurzer Blick auf den Boden ließ mich innehalten. Eine kleine Weinbergschnecke überquerte vor mir den Schotterpfad, sie steuerte nach zweidrittel des Weges direkt auf das angrenzende Gebüsch zu. Mit dem nächsten Schritt hätte mein rechter Fuß ihr kleines Häuschen zertreten. Sie konnte sich glücklich nennen, dachte ich mir, dass es nicht so weit gekommen war. Die Schnecke zog aber unbeirrt weiter voran und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie schien die Gefahr nicht wahrgenommen zu haben oder ließ sie sich zumindest nicht anmerken. Ich ging in die Knie, um sie auf ihrem Weg einen Augenblick lang zu beobachten. Ein älterer Mann schlenderte an mir vorbei und kurz danach kamen mir zwei Radfahrerinnen aus der anderen Richtung entgegen. „Ich meine, wenn sie sich weiter so viel Zeit lässt…“ griff ich von ihrem Gespräch auf und vervollständigte den Satz in meinen Gedanken: „Dann kommst Du mir hier vielleicht noch unter die Räder.“ Ich blieb also in der gebeugten Position und fühlte mich voller Stolz wie ein Verkehrspolizist, der die Schnecke sicher über die Straße begleitete. Auf Außenstehende musste ich sicherlich befremdlich wirken, wie ich da am Wegesrand hockte und auf den Boden starrte. „Was macht der Mann da?“ fragte etwas später ein Junge seinen Vater. „Das kann ich dir auch …“ konnte ich noch verstehen, bis sie auf ihren Rädern außer Hörweite waren. „Nicht sagen“ dachte ich und blickte auf die Schnecke. Sie schien von alledem und auch von mir nichts mitzubekommen. Oder war sie eine stille Zuhörerin des ganzen Geschehens? Ihr schleimiger Körper tastete sich weiter an die ersten Pflänzchen heran, alles außer dem Schneckenhaus war in gelassener Bewegung und ihre Stielaugen erkundeten den vor ihr liegenden Weg.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf ihren Gang, nur das Knirschen der Steinchen durch vorbeieilende Schritte oder Räder sowie die Satzstücke einzelner Gespräche ließen mich erahnen, wie die Zeit verstrich. „Ich hoffe, dass die Rechten nicht weiter erstarken. Ich sehe sonst die Gefahr…“ teilte eine Frau ihrem Gesprächspartner mit. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, das Konzert von Taylor war…“ erklang eine weitere Stimme aus einer vorbeieilenden Gruppe, die meine Schnecke und mich erreichte. „Also mir macht die Stationierung weiterer US-Raketen Angst! So ist ein Krieg…“ war eine weitere Äußerung, die ich aufgriff. Wieviel wohl die kleine Schnecke von alledem verstand? Sortierte sie die Aussagen danach, was sie mit ihr zu tun haben könnte? Eigentlich betraf sie das ja alles nicht, sie lebte in einer kleinen, heilen Welt inmitten der unsrigen.
Doch auch ihre Welt konnte erschüttert werden. Denn auf einmal schoss ein kleiner Border Terrier auf mich zu, schnüffelte erst an meinen Beinen und wendete sich dann der Schnecke zu. Während sie sich sofort in ihrem Häuschen verkroch, schrie ich: „Weg mit dir!“ Eine Joggerin rief den Hund zu sich, entschuldigte sich und lief mit ihm weiter. Die kleine Schnecke bemerkte nicht, dass sie der Gefahr entronnen war. Sie blieb noch einige Minuten in ihrem Schneckenhaus und erholte sich von ihrem Schreck über den Angriff der Riesenschnauze.
Ich wollte mich gerade erheben und weitergehen, die Schnecke hatte es ja fast bis zum Gebüsch geschafft, als sie sich doch wieder aus dem Häuschen reckte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, führte sie ihren Weg zum Gebüsch fort. Ihre Fühler zuckten dabei gleichmäßig und gaben in sanften Bewegungen die Zielrichtung an. Plötzlich stieß sie sich mit ihrem linken Stielauge an einem Grashalm. Sie erhob ihren Vorderkörper und überwand das Hindernis mit Leichtigkeit, indem sie das Gras sowie weitere Blätter mit ihrer Körpermasse zerdrückte. Erst da fiel mir auf, wie groß sie im Vergleich zu ihrer Umgebung war. Ich bemerkte, wie einige Ameisen ihre Laufrichtung abrupt änderten, als sie dieses gewaltige Tier vor sich bemerkten. Gemächlich kroch die Schnecke weiter, bis ihr rechtes Stielauge ein Löwenzahnblatt streifte. Ich erwartete, dass sie sich erneut über das Blatt erhob. Diesmal reckte sie ihren Kopf aber, um sich ihr Hindernis einzuverleiben. Genüsslich und mit sanften Kaubewegungen schlang sie das bereits vergilbte Blatt herunter. Die zwei unteren Fühler fokussierten sich auf ihre Mahlzeit, während ihre Stielaugen mir entgegenblickten.
Ich war voller Freude, ein solches Festmahl miterleben zu können, auch wenn ich der Schnecke eins der saftig-grüneren Blätter in unmittelbarer Umgebung gegönnt hätte. Sie begnügte sich, ach was, sie feierte regelrecht ihr welkendes Blatt, ihr ganzer Kopf pulsierte im ruhigen Tempo mit jedem einzelnen Bissen. „…keine Aussicht auf ein Ende des Leidens. Früher dachte ich, ein Tyrannenmord könnte…“ Das Knirschen der Schritte wirkte so, als entstamme es ihren Kaubewegungen. „…bei diesem herrlichen Wetter auf jeden Fall noch im See baden.“ Sie zog das Blatt weiter in sich hinein und ließ sich auch für diesen Bissen alle Zeit. „Es werden ja immer mehr, da muss die Politik doch mit Abschiebungen und härteren Grenzkontrollen reagieren, um glaubwürdig…“ Ein kleiner Marienkäfer krabbelte auf dem benachbarten Blatt. Es war einer dieser asiatischen Harlekin-Marienkäfer: schwarz und mit roten Punkten. Ich fragte mich, ob sich meine Schnecke an ihm störte oder ihn gar als Bedrohung wahrnahm. Sie blieb aber ungerührt an ihrer Mahlzeit dran. „… wie ich die Miete zahlen soll. Ich hoffe nur, dass die Inflation…“ So viele Geschichten und Gedanken hörte die kleine Schnecke mit und mir war so, als zerkaue sie mit jedem Bissen alle Sehnsüchte und Sorgen dieser Welt.
Auf einmal stockte sie und ließ abrupt von ihrem Blatt ab. Sie wendete sich leicht nach rechts und erhob ihren Körper über die angrenzenden Blätter und Halme. Sie drang satt in das Gebüsch ein, zog leise und kaum sichtbar weiter auf ihre Reise. Ich verabschiedete mich, erhob mich und führte meinen Spaziergang weiter fort. Während ich noch über unsere Begegnung nachsann, ließ ich mich auf die nächste Parkbank nieder und holte meine Brotdose heraus. Meine Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt und stattdessen machte sich ein leichter Hunger bemerkbar. Genüsslich wendete ich mich meinem Käsebrot zu und lauschte weiter den Gesprächen der vorbeischlendernden Mitmenschen. Ich kaute mit jedem Bissen bedächtig auf ihren und meinen Sehnsüchten und Sorgen herum und ließ sie anschließend mit den Kajaks flussabwärts weiterziehen. Ich fühlte mich wie diese Schnecke und mein Herz schlug leicht und zuversichtlich an jenem Tag.
Ein kurzer Blick auf den Boden ließ mich innehalten. Eine kleine Weinbergschnecke überquerte vor mir den Schotterpfad, sie steuerte nach zweidrittel des Weges direkt auf das angrenzende Gebüsch zu. Mit dem nächsten Schritt hätte mein rechter Fuß ihr kleines Häuschen zertreten. Sie konnte sich glücklich nennen, dachte ich mir, dass es nicht so weit gekommen war. Die Schnecke zog aber unbeirrt weiter voran und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie schien die Gefahr nicht wahrgenommen zu haben oder ließ sie sich zumindest nicht anmerken. Ich ging in die Knie, um sie auf ihrem Weg einen Augenblick lang zu beobachten. Ein älterer Mann schlenderte an mir vorbei und kurz danach kamen mir zwei Radfahrerinnen aus der anderen Richtung entgegen. „Ich meine, wenn sie sich weiter so viel Zeit lässt…“ griff ich von ihrem Gespräch auf und vervollständigte den Satz in meinen Gedanken: „Dann kommst Du mir hier vielleicht noch unter die Räder.“ Ich blieb also in der gebeugten Position und fühlte mich voller Stolz wie ein Verkehrspolizist, der die Schnecke sicher über die Straße begleitete. Auf Außenstehende musste ich sicherlich befremdlich wirken, wie ich da am Wegesrand hockte und auf den Boden starrte. „Was macht der Mann da?“ fragte etwas später ein Junge seinen Vater. „Das kann ich dir auch …“ konnte ich noch verstehen, bis sie auf ihren Rädern außer Hörweite waren. „Nicht sagen“ dachte ich und blickte auf die Schnecke. Sie schien von alledem und auch von mir nichts mitzubekommen. Oder war sie eine stille Zuhörerin des ganzen Geschehens? Ihr schleimiger Körper tastete sich weiter an die ersten Pflänzchen heran, alles außer dem Schneckenhaus war in gelassener Bewegung und ihre Stielaugen erkundeten den vor ihr liegenden Weg.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf ihren Gang, nur das Knirschen der Steinchen durch vorbeieilende Schritte oder Räder sowie die Satzstücke einzelner Gespräche ließen mich erahnen, wie die Zeit verstrich. „Ich hoffe, dass die Rechten nicht weiter erstarken. Ich sehe sonst die Gefahr…“ teilte eine Frau ihrem Gesprächspartner mit. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, das Konzert von Taylor war…“ erklang eine weitere Stimme aus einer vorbeieilenden Gruppe, die meine Schnecke und mich erreichte. „Also mir macht die Stationierung weiterer US-Raketen Angst! So ist ein Krieg…“ war eine weitere Äußerung, die ich aufgriff. Wieviel wohl die kleine Schnecke von alledem verstand? Sortierte sie die Aussagen danach, was sie mit ihr zu tun haben könnte? Eigentlich betraf sie das ja alles nicht, sie lebte in einer kleinen, heilen Welt inmitten der unsrigen.
Doch auch ihre Welt konnte erschüttert werden. Denn auf einmal schoss ein kleiner Border Terrier auf mich zu, schnüffelte erst an meinen Beinen und wendete sich dann der Schnecke zu. Während sie sich sofort in ihrem Häuschen verkroch, schrie ich: „Weg mit dir!“ Eine Joggerin rief den Hund zu sich, entschuldigte sich und lief mit ihm weiter. Die kleine Schnecke bemerkte nicht, dass sie der Gefahr entronnen war. Sie blieb noch einige Minuten in ihrem Schneckenhaus und erholte sich von ihrem Schreck über den Angriff der Riesenschnauze.
Ich wollte mich gerade erheben und weitergehen, die Schnecke hatte es ja fast bis zum Gebüsch geschafft, als sie sich doch wieder aus dem Häuschen reckte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, führte sie ihren Weg zum Gebüsch fort. Ihre Fühler zuckten dabei gleichmäßig und gaben in sanften Bewegungen die Zielrichtung an. Plötzlich stieß sie sich mit ihrem linken Stielauge an einem Grashalm. Sie erhob ihren Vorderkörper und überwand das Hindernis mit Leichtigkeit, indem sie das Gras sowie weitere Blätter mit ihrer Körpermasse zerdrückte. Erst da fiel mir auf, wie groß sie im Vergleich zu ihrer Umgebung war. Ich bemerkte, wie einige Ameisen ihre Laufrichtung abrupt änderten, als sie dieses gewaltige Tier vor sich bemerkten. Gemächlich kroch die Schnecke weiter, bis ihr rechtes Stielauge ein Löwenzahnblatt streifte. Ich erwartete, dass sie sich erneut über das Blatt erhob. Diesmal reckte sie ihren Kopf aber, um sich ihr Hindernis einzuverleiben. Genüsslich und mit sanften Kaubewegungen schlang sie das bereits vergilbte Blatt herunter. Die zwei unteren Fühler fokussierten sich auf ihre Mahlzeit, während ihre Stielaugen mir entgegenblickten.
Ich war voller Freude, ein solches Festmahl miterleben zu können, auch wenn ich der Schnecke eins der saftig-grüneren Blätter in unmittelbarer Umgebung gegönnt hätte. Sie begnügte sich, ach was, sie feierte regelrecht ihr welkendes Blatt, ihr ganzer Kopf pulsierte im ruhigen Tempo mit jedem einzelnen Bissen. „…keine Aussicht auf ein Ende des Leidens. Früher dachte ich, ein Tyrannenmord könnte…“ Das Knirschen der Schritte wirkte so, als entstamme es ihren Kaubewegungen. „…bei diesem herrlichen Wetter auf jeden Fall noch im See baden.“ Sie zog das Blatt weiter in sich hinein und ließ sich auch für diesen Bissen alle Zeit. „Es werden ja immer mehr, da muss die Politik doch mit Abschiebungen und härteren Grenzkontrollen reagieren, um glaubwürdig…“ Ein kleiner Marienkäfer krabbelte auf dem benachbarten Blatt. Es war einer dieser asiatischen Harlekin-Marienkäfer: schwarz und mit roten Punkten. Ich fragte mich, ob sich meine Schnecke an ihm störte oder ihn gar als Bedrohung wahrnahm. Sie blieb aber ungerührt an ihrer Mahlzeit dran. „… wie ich die Miete zahlen soll. Ich hoffe nur, dass die Inflation…“ So viele Geschichten und Gedanken hörte die kleine Schnecke mit und mir war so, als zerkaue sie mit jedem Bissen alle Sehnsüchte und Sorgen dieser Welt.
Auf einmal stockte sie und ließ abrupt von ihrem Blatt ab. Sie wendete sich leicht nach rechts und erhob ihren Körper über die angrenzenden Blätter und Halme. Sie drang satt in das Gebüsch ein, zog leise und kaum sichtbar weiter auf ihre Reise. Ich verabschiedete mich, erhob mich und führte meinen Spaziergang weiter fort. Während ich noch über unsere Begegnung nachsann, ließ ich mich auf die nächste Parkbank nieder und holte meine Brotdose heraus. Meine Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt und stattdessen machte sich ein leichter Hunger bemerkbar. Genüsslich wendete ich mich meinem Käsebrot zu und lauschte weiter den Gesprächen der vorbeischlendernden Mitmenschen. Ich kaute mit jedem Bissen bedächtig auf ihren und meinen Sehnsüchten und Sorgen herum und ließ sie anschließend mit den Kajaks flussabwärts weiterziehen. Ich fühlte mich wie diese Schnecke und mein Herz schlug leicht und zuversichtlich an jenem Tag.