Unüberbrückbare Differenzen

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Matula

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Auf der oberen Kante des Fensterrahmens sitzt ein Insekt. Es hat sich dort geräuschvoll niedergelassen und sondiert die Lage. Als es meinem hasserfüllten Blick begegnet, fliegt es erschrocken auf, weiß aber nicht so recht wohin.

Es ist ziemlich groß, vielleicht eineinhalb Zentimeter, und glänzend schwarz. Unschlüssig läuft es an der Kante auf und ab. Wahrscheinlich entwickelt es einen Plan, der mich in die Flucht schlagen soll. Noch weiß es nicht, dass hektisches Herumschwirren die Methode der Wahl wäre.

Gerade war ich noch müde und wollte zu Bett, aber jetzt ist nicht mehr an Schlaf zu denken. Das einladend geöffnete Fenster wird ignoriert. Draußen ist die Nacht gefährlich. Das Insekt begutachtet hopsend die Zimmerdecke. Von der Schreibtischlampe hält es sich fern, denn da sitze ich und beobachte jede seiner Bewegungen.

Ganz Mensch denke ich an den Gebrauch von Werkzeug. Besen sind nur bedingt geeignet. Ist man erfolgreich, gibt es eine scheußliche schwarze Schiere, versagt man, weiß der Feind Bescheid und geht zum Angriff über. Staubsauger sind effizienter. Ein kurzer Wirbelsturm und alles ist vorbei. Keine Spuren, keine Gegenwehr.

Das Tier sitzt still und scheint nachzudenken. Mich fliegt so etwas wie Scham an. Warum so gewalttätig? Warum nicht warten, bis es zutraulich wird und sich in Reichweite niederlässt? Dann ein Glas, ein Blatt Papier - und fort mit dir! So machen es die guten Menschen, die, die wissen, dass das Insektensterben die Singvogelpopulation in Bedrängnis bringt.

Ich sollte ihm einen Namen geben, wie dem Ligusterschwärmer vom Vorjahr, der sich durch den engen Spalt eines geöffneten Fensters gezwängt hat, um mich das Fürchten zu lehren. Ich nannte ihn "Franz-Josef". Auf diese Weise entging er dem Wirbelsturm. Er wäre gern länger geblieben, aber ich nutzte einen Moment der Unschlüssigkeit, als er auf dem Fensterbrett saß und ihn der Keulenschlag einer Zeitung nach draußen beförderte.

Jetzt ist es weg! Nicht an der Decke, nicht an der Wand, nicht am Fenster! Hoffnung keimt auf, aber Käthe, die Katze, hat alles gesehen. Ich muss nur ihrem Blick folgen. Das Insekt hat sich ins oberste Bücherregal verzogen. Dort untersucht es in eiligen Zick-Zack Schritten die Beschaffenheit des Holzes. Sie ist nicht zufriedenstellend.

Wütend flattert es auf und ab, krachend schlägt der Chitinpanzer gegen die obere Abdeckung. Käthe denkt, wir sollten es uns holen - for a midnight snack. Bei mir vermischt sich der Hass mit Ekel. Ich finde keinen Namen für das dumme Tier, das sich gleich auf mich stürzen wird.

Während ich den Staubsauger hole, muss ich an die Gene denken, die wir gemeinsam haben. Wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent. Es ist kein Alien, es hat ein Herz in der Brust und ein Gehirn im Kopf, es fühlt Hunger und sexuelles Verlangen. Womöglich hängt es an seiner Familie. Ich hoffe, es hat sich aus dem Staub gemacht.

Bei meiner Rückkehr ist es nicht zu sehen, aber ich spüre, dass es noch da ist. Käthe hat das Interesse verloren und putzt sich die Pfoten. Dann ein verräterisches Schwirren. Von irgendwoher kommt es im Sturzflug und landet auf einem Bilderrahmen. Dort will es sich verstecken, wahrscheinlich um zu schlafen. Zornig heult der Staubsauger auf.

Vor dem Einschlafen denke ich mir, dass es neue Menschen braucht, nicht solche wie mich, die nie aufhören werden, ein sechsbeiniges Geschöpf als Ungeziefer zu betrachten. Andererseits, denke ich mir, werden sie nie aufhören, unsere toten Leiber in Beschlag zu nehmen und in kleinen Bröckchen an ihre Larven zu verfüttern.
 
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GerRey

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Hallo Matula,

liest sich sehr gut und interessant.
Nur der Staubsauger, der Staubsauger! Da verenden doch solche Tierchen qualvoll!
Trotzdem - Käthe behält die Nerven.

Habe ich gerne gelesen.

Gruß
GerRey
 

Matula

Mitglied
Guten Abend GerRey,

ja, so brutal geht's zu in der Literatur ! Grausamer noch wäre Käthe, die sich gern ausführlich beschäftigt, mit allem, was zappelt ...

Danke und schöne Grüße,
Matula
 



 
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