Unveränderlichkeiten

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Wie erwartet. Auch dort Kastanien, Aststücke und Laubreste auf dem Weg, faserig, zertreten, hier kamen viele lang den Tag über. Der Fluss in seiner Mulde, das Ufer mit Holzplanken verhauen, gefestigt, aber Johann wusste, das hatte er erfahren damals, dass die Pfähle faulten im Schlick, dort wuchs Schilf ins Wasser, auch um den Kahn und um die Ankerkette, die in die Entengrütze hing. Das Paddel über dem Querholz war zerbrochen. Wellen kreiselten weiter draußen um Weideäste, ein Baum, der aus einer Insel wuchs, ein Trauerkloß, dort, dessen Ruten über die Wellen strichen bei jeder Windbö. War es so?, es war, sagte Johann, anders, damals. Noch war die Steintreppe, fünf Stufen hinab am Holzgeländer, verstärkt wie damals mit Rohren, dreifach verschränkt, Latten, verkeilt und mit Dachnägeln befestigt. Dort die Bank, beim Rhabarber, der alles deckte mit seinem Grün.
Bist du dir sicher, nach der Zeit? Johann winkte ab, das wollte er nicht auch noch beantworten, Fragen waren nicht seine Sache, es waren die Spuren in den Steinen, die waren zu finden, Holz, das dort gelegen, neben dem Zufluss zur Aue. Bohlen von den Bahngleisen, Eiche, Hartholz, damals waren Arbeiter, Bahner, kräftige Männer, die sie heben konnten, ihr Deputat, auf denen sie im Garten saßen beim Abendbier. Hier waren sie gelegen, gestapelt zweireihig, und hoch, dass das Holz die Bank zur Straße verdeckte.
Er trug eine schlabbrige, gelbe Joppe über ein schwarzes Leinenhemd, aufgesetzte große Taschen, ausgebeult an den Knien die Manchesterhose, grüne Anglerstiefel, glänzend vom fetten, gelben Matsch des Grabens. Er strich mit dem Handteller über das Holz, stockte, dann noch einmal. Schüttelte den Kopf.
Es war wieder Herbst. Seit der Frühe hatte das Tief Wolken getrieben, hierher vom Westen über den Himmel, über den Fluss, Nieselregen, der schräg heran wehte.
Johann hatte sich gesetzt, saß auf der Holzbank, den noch feuchten Latten, die Knie weit auseinander, darauf die Unterarme gestützt, seine Hände berührten sich, Kopf und Augen zum Steinboden gesenkt. In den Ritzen, zwischen den Steinplatten, wuchs Giersch. Links eine Birkenhecke und gleich dahinter Rhododendron nahe am Ufergeländer.
Johann, warum weinst du? Johann berührte mit den Fingern die Banklehne. Die Einritzungen waren alt, nicht mehr zu lesen, er strich darüber, drückte den Daumennagel hinein, fuhr mit der flachen Hand über das Holz. Feucht war es, schmierig. Der Himmel war klarer geworden, der Wind war geblieben. Er stand auf, lehnte sich mit der Hüfte ans Geländer, blickte über das Wasser.
Nun kam eine wie aus dem Schatten. Schwarz gekleidet. Anne, wie gehts denn immer? Sie ging schräg über den Weg, strich sich die Strähnen aus den Augen. Der Krückstock, ihn brauchte sie nicht zum Gehen, ebenfalls schwarz, der Griff etwas heller vom vielen Berühren. Nein, sie trug keinen Hut, einen Mantel hatte sie angezogen, mit einer Kapuze, darunter weiß man nicht, sie hatte den Mantel hochgeschlossen. So kam sie. Und Johann? Er sah sie kommen, die fünf Stufen herab. Und blieb vor ihm stehn.
Johann nickte ihr zu. Dass du gekommen bist, sagte er dann. Ja, sie nickte jetzt auch und setzte sich auf das Holz nieder. Ich habe es dir in die Hand versprochen, damals. Ich habe die Tage mit Warten verbracht, die Tage und die Jahre, Johannes.
Sie sah ihn an. Dunkle, schwarze Augen, in denen es schimmerte. Aber es waren keine Tränen, er kannte diese Augen lange.
Er blickte weg. Du bist, wie du warst, sagte er dann, er sprach bedächtig, und immer mehr in der kehligen Aussprache seiner alemannischen Herkunft. Hast du es mitgebracht?
Sie gab ihm das Schächtelchen, es war rund, und es war blau.
Danke, sagte er leise, das wird helfen. Ich werde es jeden Tag brauchen.
Und dass du nichts verdirbst, sagte sie ebenso leise.
Sein Gesicht war weicher geworden, die Furchen auf der Stirn weniger, so sieht es aus, wenn Johann sich freut. Es hatte sich die Zeit gelohnt. Nun würde er gehen, den Weg am Fluss zurück. Er knöpfte seine Joppe unten zu, steckte das Schächtelchen in die Brusttasche und ging. Nein, umsehen wollte er sich nicht mehr. Johann, was ist mit Anne, du kannst nicht gehen ohne Gruß. Aber jetzt wollte er kein Adieu. Er stieg die fünf Stufen hoch, hohe Stufen, vom Niesel angefeuchtete Steine, glitschig waren sie, aber das konnte er erinnern, so war es zur Herbstzeit ein jedes Mal. Dann ging es nach links. Manchmal spürte er ihren Blick hinter sich, dann musste er das eine Bein nachziehen, erst bei den Kastanien, jenseits der Bogenleuchte, war er wieder für sich.

Dass ich es nur erzähle, wenn auch umsonst. Und von dem Park mit den engen Wegen. Zugewachsen mit Kleinlaub, Grasinseln, dort Büsche mit Zirpen, Wanderefeu von Baum zu Baum, im Lehm eingeritzte Buchstaben, Runen, oder: in den Rinden Jahreszahlen. Ein Frühling am Ende, ein Abschiedsgang, zu dem die Hände die Zweige berühren, sich ziehen lassen durch den Bürgerpark, und ich sie am Ende sehe, an der Mauer, dort wo du dich hindurch dachtest, und ihr Fahrrad zwischen den beiden. Und: Was ist schon eine Benennung, ein Nicken in dem Augenblick.

Bei der trauernden Mutter am Weserwall, all die Namen, um die ich schleiche, Namen, Namen, werde ich in aller Ewigkeit bei diesen Namen bleiben, darauf hören? Und der Riesenbaum, vom Blitz gespalten, ausgemauert, links dabei der uralte Stockturm. Matsch auf dem Weg, Regenpfützen. Ist es Frühling? Die beiden dort, Katrin, Hand in Hand, Daniel. Der Photograph. Und am nächsten Tag ein Bild im Abendblatt. Ja, es ist Frühling für die Lebenden.

Als ich das Hotel zur Sonne verlasse stehen die beiden auf der oberen Treppenstufe, eng an eng, die Arme dort wo sie hingehören. Autos fahren vorbei, hupen. Aber die beiden sind zu ernsthaft dabei, um zu lächeln, es sieht aus wie schwere Arbeit. Ich gehe hinüber zur Konditorei, kaufe Windbeutel. Bei der Rückkehr ist von dem Paar nichts mehr zu sehen. Ihren Eltern gehört das Hotel, und wenn es der Himmel so will, was ist zu tun gegen Gottes Hand. Auch ist das Wetter danach, föhnig warm. Später ruft Johann an, ob es Neues gäbe. Ein Paar vor dem Hotel, sage ich. Er schweigt. Ich höre wie er etwas trinkt. Was trinkst du?, frage ich. Ich sitze bei Dino, sagt er. Ich stecke das Telefon in die Manteltasche, gehe hinüber zur Wilhelmstraße, am Goetheplatz vorbei zur Langen Straße. Seine Weserapotheke ist noch hell erleuchtet, von dort zu Dino die wenigen Schritte.

Ich gehe vom Gaswerk, kurz scheint die Neue Wallstraße und endet mit einer Kirche. Vieles endet mit einer Kirche. Düstere Straße, das Gaslicht und drei Bäume, rotblühend im März. Ebenerdige Fenster, dahinter hell erleuchtet ein großes Zimmer. So lernt man das Tanzen und hütet sich dabei. Die Enge überrascht beim ersten Schritt und dazwischen auch. Was man nie tat, ist niemals geschehen, nicht wirklich. Aber wenn es für dieses Mögliche eine besondere Welt gibt, zu der ich nicht ganz gehöre, die Erinnerung daran ist immer zu greifen, das Gefühl Wenn-nun-aber. Von der Kirche weiter zum Stadtgraben, bei dem mich die Schwäne begleiten.

Die Friedrichstraße quer zur Parkstraße, endet am Stadtgraben vorbei. Zwei Schulen, getrennt. Johann blickt vom Park auf die geöffneten Fenster. Daniel, der hochgewachsene dunkelhaarige Junge dort schaut dem roten Mantel entgegen, vorbei, hinterher. Es ist kein Blick hin und her. Es ist Vorfrühling, denke ich, wie es dem März gefallen mag. Johann betrachtet die Krokusse auf der Wiese, Tage werden kommen, da wird er Wiesen sehen am Meer, in der grauen Stadt, und sich wundern über die Hand, als wäre sie für ihn gewesen.

Johann geht vom Film-Eck dem Springbrunnen zu, einmal halb herum, am Stahnwall vorbei, dem Pissoir, schlendert die Lange Straße hinunter. Die Straße wie damals an jedem Freitag belebt. Aber hier, Johann pocht an die Fensterscheibe vor ihm, dahinter trank er seinen Kaffee, und sie, im Pepitarock, rührte Zucker hinein. Du meinst, es war ein Versuch? Der Weg vom Stadtgraben ist nicht weit, und der von der Moltkestraße auch nicht, sagt Johann und schaut hinein. Die beiden an der Kaffeetheke lehnen aneinander als wäre der Kaffee ihnen nur Vorwand. Die Bedienung lächelt in Erwartung an eine Erinnerung.

Um den Stadtgraben führen viele Wege. Einer von der Schauburg geht rechts an dem kleinen Hügel vorbei, dort im Winter üben die noch Unsterblichen das Schlittenfahren, fallen um dabei, stehen wieder auf. So lernt sich das. Weiter vorbei am Bauhof, wer weiß, wer dort arbeitet. Es wird ein Verhau sein am Ende, mit Verstrickungen und Mutmaßungen, keine Verlässlichkeiten. Dann das respektable Gebäude mit den hohen Tantenfenstern, den abweisenden Toren: Schule. Links hat der Stadtgraben ein Ende. Und noch eine Schule, neu wie eine Entschuldigung, mit hoher Tür, ein Treppenhaus, und die dort hochsteigt, dreht sich zum Fenster, Katrin hebt leicht die Hand, und ihm ist es für immer. Dem, der ihr zusieht. Und Johann?

Zum Geburtstag unter Gästen Gast zu sein. Ein rundes Fest, und alle, alle kamen sie. Auch die drei mit Anhang und Partner, Freunden. Auch er darunter, der mir den Weg dahin wert war. Ein Porschefahrer, ein Postbeamter. Ich streune durch die Räume, man nickt sich zu, auch mir, dem Unbekannten, beim Vorbeikommen. Die Septemberluft: lau, an den geöffneten Fenstern üben die Vorhänge Wind fangen. Mir gefällt das Geraune, das was als Satzstück hörbar vorbei kommt und wieder verschwindet. Lass mich dich sehen. Jemand summt vor sich hin. Ist eigentlich Musik? Katrin, die mit den schwarzen Augen, steht am Küchentisch, sieht Daniel, den mit den dunklen Haaren, ins Gesicht. Du kannst das doch nicht einfach, sie hält ihre Hände gegen die Brust, und sie sieht ihn beim Sprechen an. Das war ein Versehen, oder? Eine schmale Stimme, die jede Silbe bewahrt. Er nickt nicht wirklich, auch wenn sie es für sich annimmt. Und diese Berührung an seinen Händen wird er behalten. Beim Gehen drehe ich mich nicht um, ich könnte es Johann erzählen, wenn er nicht alles wüsste. Alles war gesagt.

Johann kennt den Weg. Neben mir, etwas gegen den Wind gebeugt, geht er am Bürgerpark vorbei über den Meerbach die lange Strecke bis zum Immenweg und um das Haus.
Der Garten ist verzaubernd wild. Um das Grün herum wachsen ungezählte Rhododendren-Büsche, hier und dort Brennnessel und wilder Rhabarber. Dahinter Kastanienbäume und hochstolze Fichten. Ich höre Stimmen durch die geöffnete Glastür. Der Mann am Schreibtisch legt sein Nagelbesteck beiseite. Im Wohnzimmer vor einem Gemälde ein Junge von geschätzten sechzehn Jahren, buschelige, halbblonde Haare, Cashmere Pullover, braune Flanellhosen. Er blickt in meine Richtung. Neben ihm Daniel, gleichaltrig, sehr viel größer, mit dunklen, dünnen Haaren. Plötzlich steht ein Kind im Zimmer. Meine Tochter, sagt er. Ich spürte Stolz in seinem Reden, seiner Stimme. Sie steht unbefangen, die Hände etwas gehoben, bekleidet mit einem dünnen, weißen Nachthemd. Und sieht wie verletzlich aus. Sie setzt sich ans Klavier. Jetzt nicht! sagt er.
Komm, sagt Johann, wir müssen. Gehen wir zu Dino auf einen Wein? Beim Merlot am Tresen frage ich denn doch: Gibt es jemanden, der später auf sie achtgibt? Es geht wie es will, sagt Johann.

Von der Parkstraße zur Triemerstraße ist es kein Weg. Selbst Johann in seinem gebremsten Gang, mit Stock und Strohhut bei Sommerhitze scheut ihn nicht. Und steht vor dem grünen Eisentor. Sie sind längst im Haus, Daniel, der Student, hoch gewachsen, dunkle Haare, und sie, Katrin, die größere oder wenn man will kleinste der drei. In der Hand die Einkaufstasche. Johann ahnt was gekauft wurde, ein Bikini, ein T-Shirt oder Hemd. Zeit zum Anprobieren ist leicht zu haben. Johann lächelt bei dem was er ahnt, und sich ihn vorstellt bei ihrem kurzen Kleiderwechsel, bei dem sie sich zu ihm dreht, wenn auch nicht so anblickt, dass es verpflichtet. Sie gehen dann wieder, sie im neuen T-Shirt. Ich schau auf die Uhr, es ist Nachmittag, Johann ist nicht mehr zu sehen, und die beiden verschwinden gerade zur Parkstraße. Ich bin erleichtert. Auch wenn ich weiß, dass es auch anders kommen kann.

Die Carl-Schütte-Straße ist leicht abschüssig, endet im Gasplatz mit seinem Schottergries, dem Grasbewuchs auf der südlichen Seite mit den weißgekalkten Röhren. Ich gehe hinüber zur Aue, dem Meerbach, dann zurück an die Hecke, dem Holztor vor dem Birnbaum, links davon die ummauerte Steinbank; hier sitzen sie, essen Eierbrote mit Mostrich zu ihrem Abendbier, winken beim Reden durch die Luft. Am Schuppen weiter hinten weiß Johann die beiden Jungen, dunkelhaarig der eine, Daniel in grüner Lederhose, und einer mit einer Gitarre in der Hand. Die beiden im Schuppen. Um ein Haar, denke ich, und sehe Johann, wie er abwinkt. Manche Geschichte gliedert sich durch die Jahre. Und hebt sich soweit, dass man ihr treu bleibt.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist fünfzehn Uhr zwanzig. Johann ist bereits da. Und da kommt sie, mit ihr ein größerer, etwas krumm geratener Schlaksiger. Sie liegen auf ihren Handtüchern. Da kommt noch einer, dunkle Haare, großgewachsen, weite Cordhose, Basketballschuhe, ohne Hemd, und geht vorbei, bleibt stehen, dreht sich um. Er zeigt auf sie, sie lacht. Ich gehe etwas zu Seite, neben eine Hecke. Katrin zieht langsam die Streifen ihrer Bikinihose mit den Fingern nach. Die hat er nicht gemeint, sagt Johann, als ich an ihm vorbei zum Ausgang bin. Aber sie wird es, sage ich. Und Johann hebt die Hand, er weiß es, möchte es aber nicht.

Das Eisentor mit den speerartigen Verzierungen geöffnet, aber ich wäre auch hinübergeklettert. Es hat geregnet, Pollacken, Blasen, der Hof unter Wasser. Der Gulli neben der Mauer läuft über. Rechts, vorsichtig, man könnte mich entdecken: die Kinder. Zwei Mädchen und ein Junge, er die Augen verbunden. Der Junge, dunkelhaarig wie das Mädchen mit den zwei Zöpfen, das andere, mit Pagenschnitt und hellblond. Das Wetter maiwarm, der Regen längst vergessen. Der Junge hält die Hellblonde an seinen Händen. Plötzlich ist es still auf dem Hof. Die Spatzen sehen sich an. Das dunkelhaarige Mädchen steht unbeweglich an der Mauer. Der Pagenschnitt beugt sich etwas vor, legt dem Jungen die Lippen zu den Lippen. Eine Tür geht auf. Keine Zeit vergeht ähnlich.

Die Chorpause jetzt, rechtzeitig. Der Dirigent öffnet die Doppeltür zum Schankraum. Nur einen Spalt, aber ich sehe die beiden bei ihrem Spiel, das Ergebnis an der Wand zeigt ein Plus für den einen. Der Halbblonde in Flanell geht mit dem Queue in der Hand um den Tisch, sieht fragend zu Daniel. Der sagt nichts, steht am Tresen, das Glas Altbier bei ihm, prostet ihm zu. Der weiße Ball küsst den roten Ball, umgeht den anderen weißen, dreht sich um und umarmt ihn. Rechts sitzt ein Paar. Sie trinkt Wein. In ihren Kurzhaaren, den rot auffallenden Lippen, engem Oberteil über den flachen Brüsten, hat sie etwas wie Spott an sich. Der Billardspieler nickt in die Richtung der Kurzhaarigen, lächelt. Das Klicken der Bälle, der Blicke.

Es ist ein Platz zum Übersehen. Die Theke, der korpulente Wirt, seine Frau in Blond daneben, der magenkranke Kellner. Auf den Bänken zwei Studenten, ein Finanzbeamter, daneben ein Altschüler. Und einer, der Escorial Grün einschenken lässt, ein Makler in Sorge um seine zukünftige Klientel, ein Assessor. Der Wirt, so viel dringt zu mir herüber, bemüht um seine Partei, links davon sind die beiden Studenten, man trinkt Remmer-Bier, dunkel, die Diskussion ist lautstark und erfolglos. Die linken Studenten bleiben links, der Wirt bleibt Wirt und Ortsvorsteher seiner Partei. Der Halbblonde und Daniel nippen am Bier. Irgendeiner, der Mäxchen heißt, fragt einen, der Hans heißt, ob der Bescheid wüsste. Die beiden Studenten zahlen. Das waren sechs Remmer, sagt die Blonde, streicht beim Geld einsammeln Daniel über die Hand. Der Halbblonde streicht sich über das Haar. Du brauchst zu viel Nähe sagt er beim Hinausgehen.

Chlorgeruch, das Freibad neben der Weser. Von den Tischen links am Kiosk ist Johann aufgestanden, blickt zum Planschbecken, der Schwimmmeister lässt die Jungen dort auf einem Bein stehen. Brustschwimmen geht so, sagt der im weißen Hemd, Hose, Schuhe. Jetzt stehen alle auf einem Bein. Es gibt Freuden, die enden mit sich.
Ich schaue auf den Jungen in Badehose auf der Bank beim Ruderklub, und neben Daniel der Bikini in Pink. Man vergisst sie nicht, die Gänsehaut auf dem Arm, auf ihrer Brust. Johann blickt mich an. Er wird ihr nachgehen. Ich habe Bedenken, in dem Alter. Aber Johann hat es am Schnürchen, den Weg bis zum Stahnwall. Der in weißer Hose bewegt mit der Stange den Jungen durch das Schwimmbecken, ruhig, bestimmt. Das Glück ist bei ihm, damit kommt er weit.
Daniel blickt zum Zehn-Meter-Turm. Einer ist ihm über. Einer springt. Zwischen Flug und Fall ist es eng, ein ganzes Leben wird ihn das begleiten.

Ich übersehe die Vergangenheit nicht. Ich bringe Vergangenes, Übriggebliebenes, etwas, das unter der Haut sich ansammelte, durch Jahre gefiltert, ausgeleuchtet beim Wein, mag sein: erfunden in Träumen. Aber unveränderlich. Und stehe am Kiosk, Waffelbruch in der Tüte, schaue kauend zu dem Mädchen: bunter Zweiteiler, mit den polnisch hohen Wangen, der Mouche auf der rechten Wange, das enge Oberteil, auf das Daniel blickt. Er zupft Gras, Kleeblätter, sitzt ihr gegenüber. Johann würde schmunzeln über die Verlegenheit, aber es ist Ernsthaftes, es soll überspringen, am Ende sich retten. Johann sagt, er habe den Engel sehen können neben den beiden. Wir gehen zurück über die Mindener Landstraße, ein Eis in der Hand. Ich blicke zum Himmel, der Kirchturm St. Martin. Engel sind immer um die Schönheit, sage ich, lecke am Eis. An der Aue gibt es verschiedene Wege. Johann nimmt den zum Sir Winston, er will den Tänzer sehen. Er legt mir die Hand auf meine Hand, aber ich gehe nicht wegen des Tanzes, seine Bilder und Zeichnungen sind was ich will. Das Saska, denke ich, es gibt dort ein Zwischenspiel. Soll ich davon erzählen? Aber Johann ist schon unterwegs.

Die beiden sehen aus wie ein Paar geht. Untergehakt und sieht ihn an… ihr Lachen dabei, ich habe ihr Lachen vergessen. Ihre Hand auf seinen Schultern überrascht, oder bin ich verwundert über ihre Berührungen? Seine Augen wirken lebhaft, ihre verschwommen, als dächte sie anders. Sie schüttelt ihr dunkelbraunes, halblanges Haar, um den Hals einen schwarzen, unfertigen Schal, Johann weiß, wer ihn gestrickt hat, sie haben nur Augen für ihre Augen. Sie mit ihrer Seite fest an seiner Seite, gehen im gleichen Schritt. Nichts was sie sagt ist hörbar, Lippen lesen, aber wer schon beherrscht diese Kunst. Ich blicke hinterher, die Georgstraße ist bereits dämmerig, die beiden schlendern, sie legt einen Arm um seinen Nacken, eine Weile, als wäre etwas Wichtiges zu erledigen. Dass sie sich voneinander trennen, war nicht abzuwarten. Aber sie werden vergessen, die Trennung zu feiern. An der Tür dreht sich Daniel noch um, stockt kurz als ich ihn anblicke, zuckt die Achseln. Johann blickt unverwandt, ehe es vorbei ist. Als ich bei ihm sitze bei Dino, sieht er müde ins Licht. Was trinkst du? frage ich. Wie immer, sagt er leise.
Die Vorhänge wehen traumhaft. Der Sommerwind, das Fenster öffnet sich ohne Frage. Ich stehe nicht von allein im Garten, nahe genug. Nein, sie braucht kein T-Shirt, nichts, um an seinen Blicken zu hängen. Dann aber doch das neue in Pink anzuziehen, überzuziehen mit kreuzenden Armen. Und er blickt ihr zu, sagt nichts. Dunkelhaarig, großgewachsen steht er. Beide sehen zu sich. Ich winke Johann zu mir. Der Sommerwind wird ausgesperrt von den Vorhängen. Johann schaut auf die Uhr, es sind zwei Stunden als die Gartentür knarrt. Zwei gehen, er im Hemd, sie im weißen T-Shirt. Es wird knapp, sagt Johann.

Ich stehe im Dunkeln und weiß auch wozu. Der da über den Zaun steigt mit ihr, der Schwarzhaarigen, Kurzhaarigen, sicher auch Dunkeläugigen. Es geht nur bei Dunkelheit. Das Schwimmbecken leuchtet grünlich, und die beiden schwimmen mit leichter Hand. Es ist ein Anfang oder schon, dass es war. Einer schwimmt um sie, vielleicht vergeblich, und wird sich wieder fremd. Das Plätschern. Um diese Zeit, im Dunkeln, ernstlich schwimmen als wären sie nicht nackt. Ich will jetzt Licht; verlasse ihn, den Dunkelhaarigen und seine Vergessene.

Vom Bürgerpark zur Oderstraße ist es nicht weit, aber das Gehen dorthin kann lange dauern. Ich sehe die beiden kommen, nur das Fahrrad trennt sie. Seine Hand, die eine, neben ihren Fingern. Im Kino wäre es wundersam, wenn nichts geschehen würde, hier war es nur still. Ich schaue zu, dann wieder weg, ich habe es so nicht wollen. Warum ist ein Mensch wie er ist, und er kann sich nicht wehren. An der Haustür lehnt sie sich an. Lippen. Johann kam nicht mit. Nein, er wollte das nicht sehen. Der Himmel, sagte ich, weiß was er schafft. Johann sah mich nicht an, möglich, dass es dem Himmel hilft, aber wem noch? Sie ist jetzt weg. Daniel, dunkelhaarig, großgewachsen, steht und schaut. Und geht.

Vom Gasplatz sind die Schuppen für mich gut zu überblicken. Rechts der große mit Werkzeugen, Spaten und Harken, Gartengeräten, einem Bollerwagen mit großer Deichsel, grüne alte Jacken finden sich dort, getrocknete Gewürze und Tomaten hängen an den Wänden und unter der Holzdecke, auch Samen, alte Leinensäcke, darunter die Kartoffelkiepen. Der Boden aus Lehm gestampft. Die Wände aus Holzbohlen aufgezogen, lückenhaft, die Brettertür ohne Schloss, das Dach mit schwarzen Teerdecken genagelt. Spinnen dazu, flüchtiges Volk wenn man eintritt. Links der kleine Schuppen, ein Verschlag, nicht abschließbar, mit einigen Strohsäcken auf dem Lehmboden, an den Wänden hier Äxte, Schaufeln. Die Strohsäcke sind weich, es gibt ein ruhiges Gefühl. Und dass sie dort liegen, Daniel, und die mit den zwei Zöpfen: deswegen bin ich hierher. Johann neben mir, unbemerkt. Du wolltest doch wissen, wie das ist. Und er sieht den beiden zu. Stimmt, nickt er. Ich spreche leise, es ist wie es ist, oder, jedenfalls, es bleibt im Kopf, sage ich. Johann hebt zustimmend die Hand und geht still.

Mit Johann die Marienstraße hinunter, an Bollmanns Bunter Bühne vorbei, und über die Meerbachbrücke. Ich zeige dir, wie etwas entsteht. Es ist ein kurzer Gang von dort bis zum Theater. Wir müssen uns nicht verstecken: es ist dunkel im Saal, und in der Reihe vor uns ein Großgewachsener, rechts neben Daniel eine: halblanges, dunkles Haar. Der Fliegende Holländer. Schon während der Südwind bläst fällt ihr Kopf an seine Schulter. Er schaut Katrin ins Gesicht, aber sie schläft aus von all den toten Kindern. Sie schlägt die Augen auf, er nickt, und beide gehn. Ja, sagt Johann, er wird sie begleiten, immer wieder. Es sind die Blicke, die bleiben. Selbst wenn wir weiterziehen. In der Wilhelmstraße gehen wir im Regen unter den alten Bäumen. Komm, sagt Johann, bei Dino wird noch Licht sein.

Die Lange Straße endet hinter dem Pestkorb, noch vor dem Weserwall. Dort geht einer gegen den Nieselregen und Westwind im Burberry, und geht etwas schief, bleibt manchmal stehen und sucht die dunklen Augen, ob er sie fände. Sich zu sehen vor der Zeit, ist nichts sich zu wünschen, denkt Johann. Er blickt dem im Regen nach und der ihm entgegenkommt, bis beide bei Dino verschwinden. Ich gehe ihnen nach, der warme Dunst am Tresen, die beschlagenen Brillengläser. Die Saaltochter schaut mich an, ich nicke. Zu dem Glas passt ihr Lächeln. Die beiden weit rechts sind ins Trinken versunken.

Den Auewall entlang. Noch ist er unbefestigt, mit Pfützen, rutschig, voller Schlammlöcher nach jedem Regen. Links vom Gasplatz Röhren, weißgekalkt, Löwenzahn und Brennnessel neben Giersch, Sträucher dabei. Zwei liegen in der Sonne auf den Röhren. Sie blicken zum Himmel oder sich an. Jede Wolke ist ein Abbild von Bekanntem. Und wie ist es wenn wir fünfzig sind, dann, dort in New York oder Kalifornien. Wenn ich groß bin, sagt der Dunkelhaarige, wohn ich in New York, wohne bei den Sternen droben. Der andere lacht: Ich soll sowas nicht. Er ist größer und stärker als jener, schaut Johann nach, der sich zunickt und zur Schauburg bummelt.

Der Grefengrund von der Baptistenkirche geht bergab, sie schiebt ihr Fahrrad am Roten Kreuz vorbei, schweigsam sind beide, in der Luft liegt Erwartung, vielleicht Enttäuschung, es gibt ein Glücksgefühl aus beidem. Als ich vorbeigehe legt sie die Hand auf seinen Arm, sie bleiben stehen. Der Alt ist unverändert, das Lachen, dunkel wie in der Erinnerung. Und du, sagt sie, und geht langsam weiter. Vor dem Eisenbahntunnel, sagt Johann, aber es ist zu laut. Dann nickt er, winkt zum Abschied. Ich warte auf die beiden. Fahrrad schieben ist Glück, ihre Hand auf seinem Arm macht es dazu. Später, und das wollte Johann mir sagen, gibt es anderes am Bürgerpark. Das lässt sich nicht abwischen, das beharrt bis ans Ende. Dort auf der Parkbank sitzen im Burberry, der Park dunkel wie immer, dort das Fenster, hell wie damals im Herbst. Er hat sich durch die Jahre geholfen, denke ich, schau ihnen nach. Ja, ihr Lachen könnte bei ihm bleiben und helfen, aber sie war unterwegs, und er? Johann, wieder neben mir, schüttelt den Kopf. Jerusalem, sagt er, der große Fall, das kommt erst noch.

Er hält sich wach mit Captagon. Ja, sagt Johann, aber nur ein kleines Stück, und es wird sein einziger Versuch bleiben. Von der Ziegelkampstraße biegen wir rechts ab, ein schmaler Weg, staubig, unbefestigt neben einem Graben mit dem rostigen Fahrrad. Da ist ein Haus, ein Arztschild an der Gästetür, nein kein Doktor. Ich geh hinunter in den Partykeller, hinter dem Tresen ein großgewachsener Dunkelhaariger. Sie auf dem Hocker, schaut zu ihm. Geht und tanzt. Und kommt zurück, schaut ihn immer wieder an. Bestellt etwas Gezuckertes, zeigt ihm wie es zu gehen hat. Und lacht dabei. Der etwas kleinere, fast Blonde, bei seinem Weizen, hat kaum einen Blick für sie, er ist hier oft und mag das Haus. Dann tanzt sie mit Daniel. Nein, nicht hier, oben, sagt sie. Geht voran. Johann bleibt hier, das geht nur sie an. Und ihm.

Das ist jenseits der Stadt. Ein grünes Gewölbe, ohne Wege, nur Breschen in den Hecken, Schlingpflanzen von den Ästen, dunkle Verwirrungen. Das Licht kommt von den Seiten, kein Wind bewegt die Zweige. Und du an den hohen Bäumen bist frei. Hier fällt kein Regen, nur tropfendes Grün, etwas, das durch dein Gesicht streift, Berührungen, fremd aber freundlich. Johann geht zu den zwei Teichen, nein, hier gibt es keine Bank, er streicht mit der Hand durch das Wasser, grün und weich, niemand dort außer ihm und ihr. Hier ist ein Zuhause. Und die Seerosen? Nirgends sonst sind sie zu sehen, nur dort, außerhalb der Stadt, ein Garten, verboten und ummauert. Anne kommt vom anderen, dem zweiten See. Johann schaut auf. Sie steht vor ihm. Du kannst dich nicht entscheiden, sagt sie. Es ist etwas um die Seerosen, und blickt hinüber. Du wirst ein anderes Hier brauchen, sie lächelt, ich komme dann wieder. Johann blickt ihr nach. Sie geht nicht, denkt er, ihr Kleid trägt sie.

Johann sagt nichts. Dort war er oben, wird er mir später erzählen. Der großgewachsene Student vor dem Schrank sucht Musik aus. Ein Zimmer, halbverdunkelt, Vorhänge im Wind, er betrachtet die Bilder von seinem Sessel aus. Wie sie die Treppe hochkommen, langsame Schritte, als wäre es ein schwerer Gang, der Weg noch unbekannt. Es ist nichts ums Tanzen, eng an eng, im Halbdunkel. Wo waren seine Hände, Johann? Ihr Mann schaut die beiden an, Musik in den Händen. Man sollte gehen, sagt er und hilft ihnen die Treppe hinunter. Ein enttäuschender Gang. Später, sagt Johann, schlief er trotz Captagon, erlöst, wie mit Engeln. Weißt du, sage ich, nippe am Merlot bei Dino, es ist eine schöne Welt.

Da sitzt einer. Blickt in den Garten und ist nicht bei sich. Die Düsseldorfer Straße zu dieser Zeit ist wie nicht da. Oder der Himmel. Wenn jetzt der Mond aufginge, aber es ist heller Tag. Im Garten blühen Sonnenblumen. Es kann nicht sein, dass der Mond aufsteigt an dem Himmel. Der Himmel ist fort. Nur die Sonnenblumen. Kann ein Himmel fortschwimmen? Vielleicht wenn er den Mond mitnimmt. Und ihn. Mit dem Blick auf die Sonnenblumen.

Warum hat Daniel sich aufgegeben? Johann blickt über den Stadtgraben. Es ist still geworden beim Warten auf Antworten. Sie hat damals die Hand gehoben, im Treppenhaus, und das war ihm etwas. Es blieb nicht bei ihm, sagt Johann, es war ihm über. Ich zeige auf das Schwanenpaar: Hanne und Peter. Johann schaut mich an, es ist Zeit, sagt er. Er hat sich nicht aufgegeben, sage ich, es ihm passiert. Und warten in der Parkstraße dann wir beide, vor der Haustür steht einer, ein roter Mantel kommt, der ihn unterhakt, kein Blick, kein Lachen. Johann wendet sich zum Gehen. Ich weiß was er denkt, und es wird lange dauern durch die Jahre.

Das Kino, Nordertor, öffnet. Es gibt nicht viel zu sehen. Pärchen zumeist, Frauen alleine. Sie im gesprenkelten Rock, rote, sehr rote Bluse, er, dunkelhaarig, zahlt. Sie sitzen weit hinten, ihre Schatten manchmal unscharf wenn ich hinschaue. Johann auf einem Platz rechts von ihnen, nein, er winkt ab, ich soll nicht kommen. Dass sie ihn berührte, bekam ich von ihm später, und konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. Bist du dir da einig? Johann nickt, ja, es war etwas um die beiden, das bei ihnen bleibt. Und Daniel? Ich seh ihn zweifelnd an. Kann sein, er sagt es langsam, er hat für sein Begreifen viel Zeit. Willst du ihnen nach? Aber meine Frage hört er nicht mehr, er geht bereits die Treppe entlang.

Du bist sicher, dass du das sehen willst, deshalb bist du hier. Der frühe Frost steht im Garten. Johann bringt mich vom Golfplatz durch den Garten bis zum Fenster. Schau genau hin, sagt er, was siehst du? So berühren sich Fingerspitzen nur im Nachhinein. Und wenn der Mensch verloren hat. Nein, er geht nicht umher, um die Zukunft ist ihm nicht zu tun, sie war, ist nicht mehr. Er hebt tatsächlich die Hand, wie sie, schaut sich um, die Vergeblichkeit im Gesicht. Johann, schau weg, es gibt sie, die vergeblichen Anläufe, dass etwas endet und damit beginnt der Rest. Es bleibt unaufhörlich. Es ist zu sehen, auf der Stirn, selbst noch im Schlaf. Johann geht durch den Bürgerwald, schaut sich nicht um. Er weiß das Ende, kennt die Nacht, das Aufschauen. Wem es auch immer passiert.

Was schreibt sie da? Sie wird es ihm geben, sagt Johann, später, auf dem Baum, der die Sau erschlug drüben im Haus an der Aue. Johann spricht leise, wie ein Gebet. Aber es ist nichts was hilft, sage ich und sehe zum Himmel. Der Sturm. Viele gehen um die vom Sturm gefällten Bäume, es hat ein Ende auch mit dem Stärksten, wenn seine Hand es will. Du musst den Brief wieder lesen, sage ich. Aber Johann steht schon hinter dem Jungen, blickt ihm über die Schulter. Ob es ihm bleibt? fragt er als wir bei Dino sitzen. Du weißt es, sage ich langsam, nippe am Merlot. Ja, sagt er, alles was war, bleibt einem für sich.

Der Junge, dunkle dünne Haare, mit einem Aktendeckel. Er trägt ihn unter dem Arm, vorbei an dem katholischen Kirchlein neben der Neuen Wallstraße, zwischen Kiosk und Stadtgraben, vorbei am Kindergarten und schneller an der Schule, Mädchen in der Pause. So viel Lachen. Der Stahnwall ist auch sein Zuhause, dort wo er später einmal an Schubert erinnert wird. Rechts der Weg zu seiner Schule, ein Bau mit dicken, dunklen Mauern wie eine Burg, mit hochmütigen Fenstern. Das wird ihn hierher bringen, denkt Johann, das Lachen, und die Schultasche auf dem Gang zum Schlossplatz jenseits der Langen Straße. Sein Ehrgeiz hat auch ihm dunkle Seiten.

Die Brombeerhecken, übervoll, sind nicht leicht zu finden, aber Johann erinnert sich. Es ist die richtige Zeit zur Ernte. Die beiden Mädchen, die Fahrräder im Gras, schauen ihm zu beim Brombeerpflücken. Der dunkelhaarige Junge, mit roten Striemen an den verkratzte Händen. Sie wird sie Jahre später wieder sehen auf seiner Schulter, fünf neben einander, und er nach Ausreden suchen. Die Brombeere erscheint der Zunge wie eine Lippe, sagt Johann. Ich schaue zu, Daniel füttert die beiden, und er hat Blicke für sie.

Bis du sicher, das noch mal zu bedenken? Johann nickt. Es gibt andere Facetten, es gibt nicht allein den einen Blick auf eine, die sich vorbei trägt. Es war das was sie ansah, mit dunklen Augen, das was ihren Gang bestimmte. Und du kannst sagen, wie es war? Ich schaue Johann an. Aber er, ganz gedankenverloren, schaut weg. Nein, sagt er, nichts, es war nichts. Du hast sie wegen nichts um dich? Johann geht, winkt kurz. Ich seh ihm nach auf seinem Weg durch die Parkstraße. Vor dem Haus steht er, schaut hinauf, sieht sich um. Ich neben ihm. Johann, was machst du? Er betrachtet mich, dann sieht er wieder zu den Fenstern. Es gibt keinen Sinn, sagt er, es ist alles verschwunden.

Ein Blick aus dem Fenster. Links der Stadtgraben, vor ihm, unten, die Friedrichstraße, Fußgänger, Fahrräder, Fahrschüler. Der rote Mantel bis zu den Knien, so weit doch, Stiefel: schwarz, und die eine Hand frei. Bereit sie zu heben. Der ihr nachfolgt macht keinen Versuch, sie zu erreichen. Der Stadtgraben, die Kastanien, sind eine Behinderung. Und steht vor dem Schultor. Johann weiß, was er sieht und zu ihm gehört. Ein Bild, ein Blick für Daniel allein. Dass er es trägt durch die Zeit, seine Unruhe, Für-wahr-halten bis zum Erstaunen. Selbst der Nebel wird unsichtbar vor ihrer Hand, Katrin hebt sie leicht, und sie trägt ihn vorbei in seiner Schwere. Johann sieht zu Boden, keine Welt bringt das zurück ins Nichtgeschehen, und ich lese seine Gedanken. Wohin gehst du, seh ich ihn an. Wo ich noch nie war, sagt er leise, das geht nicht gut. Ich nicke. Ich weiß es längst. Vielleicht gibt es ein Einsehen, sage ich. Aber das ist es doch, dabei dreht er sich weg vom Fenster. Geht.

Ich bleibe am Stadtgraben stehen. Die Schwäne sind längst eingefangen und im Winterquartier. Nebel liegt über dem Wasser. Drüben sieht man noch Lichter in den Fenstern über der hellen Tür. An den hohen Eichen vorbei, sie waren schon hoch und alt als er hier in kurzen Hosen ging. Vor dem Fachwerkhaus steht ein Junge und liest die Klingelschilder. Der Junge dreht sich immer wieder um zu dem Haus, zieht dann die Schultern nach vorne, verschwindet im hellen Licht der Langen Straße. Nein, ich gehe nicht zum Haus, weiß ja was dort ist, blicke den Stahnwall zurück, freu mich über den kleinen, hell erleuchteten Kiosk gegenüber der katholischen Kirche. Vielleicht gibt es dort etwas Merlot.

Es gibt keinen Schutz vor dem Ostwind, die Hannoversche Straße ist zu breit. An der Ampel wechseln die Lichter. Ich friere. Unter dem Burberry die Hände in den Hosentaschen geht der Junge schräg über die Straße. Rechts gegenüber der Kaserne das Sternhochhaus, und dort ist noch Licht in ihren Fenstern. Zeit für einen Gruß wäre, denkt Johann, aber der geht weiter. Alles hat seine Zeit, auch das Dichten und die sich häufenden Abschiede, die um sich greifenden Belanglosigkeiten, das Geschwätz. Vom Triftweg der Gang an einem Arzthaus vorbei. Ich kenne die Geschichte so gut wie Johann, die von der Älteren und dem Jüngeren, dem Tanz im Sonderlichen. Wie er groß wurde mit ihr in der Gefahr. Aber der Junge bleibt nicht stehen, er weiß noch nichts davon, geht gegen den Ostwind gebeugt. Was immer er denkt, es bleibt für ihn.

Der Wind bringt leichten Schneefall von links, vom Westen. Im Laternenlicht vor dem Haus die Flocken. Die Straßen frieren ein. Die Tür geht auf. Beide jung, vielleicht schon fünfzehn. Das Mädchen im dunklen Wollmantel. Daniel, links von ihr, hakt sich ein, sie schliddern versuchsweise. Es ist nicht glitschig, sagt sie, eine Altstimme. Doch, sagt er, und sie lacht dunkel, als hätte er etwas geahnt. Das Paar, Arm an Arm, vertraut, geht die Straße hinunter, biegt dann links ab, verschwindet aus meinen Augen. Ihr Lachen bleibt in der Luft. Dunkel und herb als wollte es wohin.
Ich schlendere langsam durch den immer dichter fallenden Schnee, ich weiß ja die Wohnung. Und sehe die beiden kommen, Hand in Hand. Ihre zögernde Stimme, sein Winken nach dem sie ging.

Die Sektbar ist oben, eine in sich gedrehte Treppe hinauf, heimelig und düster, aber dort ist niemand Vertrautes. Die Musik und das Gesicht des Kellners sind klebrig. Unten neben dem Klavierspieler stehen drei. Ein Hübscher, halbblond, fast lockig, raucht und in der Hand ein Glas, sie, Kleine, Zierliche, nein Sportliche, und ein dunkler, Großgewachsener zwischen den beiden. Einer kommt, öffnet das Fenster. Vorhänge wehen, es wird kühl. Und schließt das Fenster wieder. Die Vorhänge sinken zögerlich, als hätten sie alle Zeit der Welt. Das Klavier spielt Silvester, Mitternacht. Der Dunkle legt sein Gesicht auf die Sportliche. Ich schaue weg. Es gibt Ungesehenes, und das beharrt darauf, nicht in der Welt gewesen zu sein. Endlich Böller. Ich betrachte die drei neben dem Klavier. Der Lockige schaut sie an, sie den Dunklen, wie Augen blicken, denke ich und Johann nickt dazu. Dann gehe ich weiter, hin zum Ausgang. Draußen regnet es Sterne, Menschen scheinen sich zu umarmen. Was für ein Jahr? Ich schau zurück zu dem Weserschlösschen. Die drei stehen zusammen vor der geöffneten Eingangstür, Daniel nah bei ihr. Jetzt gibt er ihr die Hand, nickt dem Halbblonden zu, der streicht sich mit der Hand übers Haar. Wie kannst du jetzt gehen? Zwei bleiben vor der Tür, gehen hinein. Es ist dunkel jenseits der Tür, still und dunkel am Himmel.

Wenn viele reden, verstehe ich niemanden im Sir Winston. Links die Blonde mit dem Cola-Rum-Säufer. Rechts der Halbblonde und der, der ihm zuhört. Wir sollten das fest verabreden…wenn wir fünfzig sind ziehen wir zusammen nach Island. Daniel lacht. Ja, und einer wird Butler. Der andere nickt. Aber das machen wir erst aus, wenn wir in Reykjavik in der Kneipe sitzen, dort, bei der, die Ich liebe dich auf Deutsch wusste. Der mit dem Cola-Rum tippt der Blonden auf die Hand. Sie sagt etwas, was ich nicht verstehe. Steht dann auf, schwebt irgendwo hin, kommt zurückgeschwebt, nimmt seine Hand in ihre beiden Hände. Du kannst oben dich einrichten, sagt der Halbblonde, streicht sich dabei mit der Hand übers Haar, mit deinen Büchern. Wir brauchen Bier, sagt der, Wein auch und Obstler. Der Junge ruft den Kellner. Zahlen. Sechzehn Cola-Rum, sagt der Kellner. Die Blonde lässt seine Hand los. Junge, Junge, du gehst aber ran. Ich stehe auf, seh mich um, der Tänzer tanzt noch, so allein wie vorher. Draußen schneit es zum Frieren.

Der Männerchor, dirigiert von einem angenähten Finger: Heilig, Heilig, Heilig. Mäßig Tenor und Bass. Allein der Bariton ist durchgängig erträglich. Er steht am Ölofen nahe am Eingang, wärmt sich die Hände, hört zu, wie der Erste Tenor die Geschichte seiner Reise nach Frankfurt erzählt, und ihm das Geld ausging schon bei jener Esmeralda in der ersten Bar. Geht dann hinüber zum anderen Ofen, steht bei einer Altstimme und hat kein Blick mehr für anderes. Später, viel später, schaue ich den beiden nach. Nein, sie fährt nicht nachhause, schiebt ihr Fahrrad zum Bürgerpark. Daniel neben ihr.

St. Bernward überblickt den Stadtgraben vom Ende der Neuen Wallstraße. Johann steht am hellen Kiosk gegenüber dem Kirchlein, neben dem Stadtgraben, schaut zur Trauerweide auf der kleinen Schwaneninsel, die Wärme hat ihn gefangen, der Glühwein. Der dunkelhaarige kleine Junge fährt immer wieder den Hügel hinunter, als wenn er die Schlittenfahrt ein Leben aufbewahren will. Bald wird das Eis kein Wagnis mehr sein, Johann denkt nach, einbrechen wird er am Auezufluss, vielleicht die Knie aufreißen am Stacheldraht. Ich sehe Johann zu, er spricht zu sich, trinkt einen Schluck und bestellt sich ein zweites Glas. Er schaut dem Schlitten nach. Johann ist scheu, trifft er auf mich, schaut er als wären wir ein Paar. Ich gehe den Stahnwall hinauf, der Schnee ist flockig, nichts knirscht. Am Ende die Lange Straße, bei Dino gibt es, was es dort immer gab, Suchtgefahren. Der Junge mit dem Schlitten hat gezeigt wie es gehen kann, aufzubrechen, wohin man will.

Johann geht entlang der beiden Seen im weiten Englischen Garten, bleibt kurz stehen und streicht mit der Hand über die weiß gekalkte Mauer mit den vertrauten Namen, den verwittert braunen Jahreszeilen, Wasgewesen, Wermitwem. Mit dem Fuß fegt er das Laub zusammen, der Wind weht es wieder umher. Durch die Kastanien schimmert Licht, fahl und untergehend, um die Seerosenreste kräuseln sich winzige Wellen, wiegen die blass grünen Blätter in langsamen Bewegungen, dort wo die große Trauerweide in der Mitte des Sees überwintert auf ihrer kleinen Insel, sich im Wasser spiegelt.

Johann nickt der Weide zu, geht weiter durch den wilden Rhabarber zum anderen Ufer, dort wo früher die Schwäne ihm zusahen hinter dem zerfallenen Zaun, dem modrigen Holzverschlag, in dem sie saßen, wenn ihnen danach war. Johann sieht sich um, eine Hand vergraben in der Joppe, in der anderen das blaue Kästchen. Woran hängen deine Gedanken? Er schaut, als wäre das keine Frage an ihn. Ihn hat das niemals wirklich umgetrieben, der Gedanke daran, an den See, an sie. Und wenn sie den Wall herunter käme, Johann? Würdest du sie erkennen? Johann winkt ab. Geht langsam um die Ufer, mit Vorsicht vor dem schlammigen Grund, dem Schlick, seine Stiefel sind gelb davon, und kann sich nicht retten davor. Ist es nicht, dass du gehen willst? Manchmal nickt er dabei. Aber es kommt keine, die ihn bewegt, er steht, sieht dem Licht zu, denkt sich die Schatten weg von dem dunklen Gebäude im Westen neben dem Stadtgraben. Dann geht er doch.

Johann, wohin willst du? Er hört es nicht, sein Weg geht über die hölzerne Auebrücke, steht auf den algengrünen Bohlen und sieht, er hat sich geirrt. Zurück über den längst gepflasterten Gasplatz mit seinen vergessenen Kuhlen und Wasserpfützen. Dass er die Schuhe damals auszog und sich die Füße blutig lief auf dem Schottergeröll, will er nicht wissen. Und die jetzt vor ihm geht, die Neue Wallstraße hinauf, erkennt er an ihrem Gang. Johann bleibt stehen am ersten Hauseingang, legt das blaue Schächtelchen unter den Türstein. Dunkel und bitterkalt die schmale Straße, er geht vorbei an den dem schneebedeckten Rotdorn und der fahl leuchtenden Gaslaterne, rechts die kleine katholische Kirche, gegenüber das Kiosk leuchtet in der Dämmerung.

Anne wird auf ihn warten am Stadtgraben, dort auf der Bank, auch wenn es schneit wie jetzt, und der Boden klamm und rutschig wird auf der Steintreppe. Sie ist vertraut damit. Er schaut auf. Ob sie weiß, dass sie auf eine andere Zeit warten wird? Johann, das ist gegen jede Verabredung. Dass es das nicht ist, wird er nie sagen.

Der Wind weht Schneereste von den Buchen im Park neben der Aue, von den Brücken weht er das Laub in den Bach, auf die Böschung neben der Ruine der Schauburg, er weht vorbei an den hellen Fenstern der beiden Schulen links und rechts am Stadtgraben, kalt den Stahnwall hinunter, über Fachwerkhäuser und schräg weiter an der Weserapotheke vorbei zu den schneebedeckten Häusern am Schlossplatz und zur Blauen Brücke, treibt den Dunst vom Weserwall durch den Pestkorb und über die leere Lange Straße bis zu Dino. Johann steht in der geöffneten Tür, schaut zum Tresen und winkt zum Abschied. Ich schau ihm nach.

Als er seinen vertrauten Weg betritt atmet er auf, die Bogenlampen geben kaum Licht, und manchmal stolpert er zwischen den hohen, alten Kastanien bis sich sein Schatten verläuft hinter der Biegung. Wenn ich ihm nachgehe, denke ich, bleibe aber stehen, die Sonne dort ist längst untergangen, nur etwas Licht noch, fern über den Schneewolken, das uns scheint, dort, auf dem Weg in die Ferne, die uns verließ, ein schmales Rot.
 

lester

Mitglied
Na ja, Inge, ich denke, der Text ist etwas sehr umfangreich für ein Forum. Das Online zu lesen ist etwas mühsam, auf Papier, am Küchentisch, bei einem Glas Burgunder oder Gutedel mag es besser einleuchten (noch besser wahrscheinlich nach dem zweiten Glas). Und die Kategorie „Erzählung“ ist nicht das, was es trifft, „Collage“ hätte sicherer gepasst, oder irgendwas zwischen Prosa und Lyrik.

Aber Danke für deine Antwort. Manchmal ist die Leselupe doch sehr stumm.

Daniel Lester
 

Inge. B

Mitglied
Guten Morgen
Wenn ich Zeit habe, lese ich das auch zweimal. Heute das vierte Mal mit einer Tasse Kaffee. Und mit jedem Mal gefällt es mir besser.
Inge
 
Hallo Lester, ich bin noch ein Neuling auf der Seite, aber Dein Text hat mir von allen, die ich bisher gelesen habe, am besten gefallen. Viele schöne gut beobachtete spezifische Details, vor allem botanisch, gelungene Orts- und Figurenbeschreibungen. Auf der zeitlichen Ebene fällt es dagegen schwerer zu folgen. Es wirkt wie ein einziger Spaziergang, aber es geht durch alle Jahreszeiten, das habe ich nicht wirklich verstanden. Und was ist ein Deputat? Vielleicht findest Du auch noch ein besseres Verb als "kreiseln" für Wellen.
 



 
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