Unvergessen - Kapitel 11: Ein bittersüßer Prozess

Kunstbanause

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Erbarmungslos feuert der wolkenverhangene Himmel Regentropfen gegen die deckenhohen Fenster des Gerichtssaals. Die Stimmung ist eine ganz andere, im Vergleich zur gestrigen Verhandlung. Auch an diesem Tag wohnt ein relativ breitgefächertes Publikum dem 'Spektakel des Geistermörders' bei. So lautet zumindest die Schlagzeile, die ich heute morgen in der Zeitung entdeckt habe. Wirklich ein fabelhaftes Spektakel, bei dem eine unschuldige Frau ihrer Freiheit beraubt werden könnte.

"Hiermit wird der Prozess um Katia Neverknow fortgesetzt." Zedek, so glatzköpfig wie eh und je, wendet sich mir zu. "Ist die Verteidigung bereit?"
"Ja, euer Ehren." Auf meine Antwort hin macht der Richter große graue Augen. "Alles in Ordnung, Frau Starling? Ich meine mich zu erinnern, Sie gestern wesentlich enthusiastischer erlebt zu haben." Ja, das bin ich auch gewesen, doch heute habe ich kaum Beweise zu Hand, nur ein flaues Gefühl im Magen. "Ich kann mich nicht beklagen", lüge ich mit gekünseltem Lächeln. Komm schon Yuri, lass dich nicht so hängen! Luna schaut zu, ich muss stark bleiben, damit sie weiterhin an mich glauben kann! Und damit ich an mich glauben kann...
"Ist die Staansanwaltschaft ebenfalls bereit?" Zedeks faltiges Gesicht beäugt Justin kritisch, ich folge seinem Blick und sehe, dass Justin, der auch heute diese lächerliche Clowns-Krawatte trägt, stillschweigend an einer Zuckerstange nuckelt. "Nun... wie es scheint, können wir ohne Umschweife beginnen. Ihr Eröffnungsplädoyer bitte, Herr Sunsweet." Unbeirrt hüllt sich Justin weiterhin in Schweigen, völlig im Einklang mit seiner Stange. Wozu die Zeitschinderei? Er sollte doch wissen, dass er klar im Vorteil-

"Könnte jemand der Dame hier bitte einen Kaffee bringen?" Plötzlich zeigt er auf mich, anscheinend hat Justin den intimen Moment zwischen ihm und seiner Zuckerstange beendet. "Mindestens drei Würfel Zucker", fügt er hinzu.
"Hä?" Entgeistert sehe ich ihn an. Sollten wir nicht besser den Prozess einläuten? Außerdem mag ich meinen Kaffee doch schwarz. Gut, vielleicht einen Würfel... oder zwei... oder... ngh...verdammt!
"Ich bin sicher die Verteidigung wird alsbald einen süßen Ausgleich benötigen. Ihre Niederlage wird nämlich bitter sein." Er grinst mich dermaßen breit an, dass er wie ein Chinese aussieht.
"Hat die Verteidigung dem etwas hinzuzufügen?", möchte der Richter wissen und wendet sich zu mir.
"..."
"Nun, offenbar nicht. Man bringe ihr den Kaff-"
"Einspruch!"
"Ja, Frau Starling?"
"Die Verteidigung vertritt folgenden Standpunkt: Der Kaffee ist selbstredend für die Staatsanwaltschaft bestimmt und muss schwarz sein, damit diese die Süße meines Sieges hinnehmen kann." Ha! Wie schmeckt dir das!? Justin schaut spöttisch drein und schwingt seinen Zeigefinger wie einen Scheibenwischer bei strömenden Regen.
"Ts, ts, ts... Darling, ist das wirklich alles, was du drauf hast?"
"Wahrlich, selten sieht man solch Unkreativität in diesem Saal", pflichtet ihm der Richter bei. Wer ist hier denn eigentlich die Angeklagte?!
"Euer Ehren, ich schlage vor wir bringen den Prozess schnell zu Ende, damit uns weiteres Gefasel seitens der Verteidigung erspart bleibt."
"Antrag statt gegeben", zustimmend schlägt Zedek mit seinem Vorschlaghammer auf. Unglaublich... dabei hat er doch mit dem Geschwafel angefangen!

"Nun, Herr Sunsweet. Ich nehme an, Sie können uns mit neuen Erkenntnissen im Verbleib auf die Mordwaffe, die Manipulation des Überwachungsvideos und Herr Ervnets Rolle in diesem Verbrechen, versorgen?"
"Gewiss, euer Ehren." Mit klackernden Lederschuhen tritt Justin in die Mitte des Gerichtssaals. "Ich kann mit Freude verkünden, dass die Mordwaffe gefunden wurde, wenn auch auf ungewöhnliche Weise." Genau, ich habe sie gefunden, aber davon wird niemals jemand erfahren. Zedek ist seine Neugier anzusehen, er wirkt in diesem Moment wie ein kleines, verspieltes Kind. "Tatsächlich? Lassen Sie hören!"
Justin verschränkt mit einem Blick, welcher an Arroganz nicht zu toppen ist, die Arme. "Oh, ich werde es Sie sehen lassen." Er deutet auf den Fernseher über der Eingangstür. "Ich habe nämlich ein kleines Demonstrationsvideo vorbereitet. Sie wissen ja", seine Augen wandern in meine Richtung, "dass ich überflüssigen Konversationen nichts abgewinnen kann." Sagt derjenige, der mir bis eben einen Vortrag über Kaffee gehalten hat. Und das vor Gericht.

Justin schwingt anmutig eine Mini-Fernbedienung in die Luft, mit einem Klick weicht die Spiegelung von Zedeks Glatze dem Wohnzimmer der Neverknows. Aber... moment... das... das bin ja ich! Luna und Justin sind auch zu sehen... Kann es sein? Hat Justin uns gestern ernsthaft gefilmt!? Und zeigt dieser Lutscher dem Richter gerade das Überwachungsvideo? Unfassbar, wie kann man derart dreist sein? Wenn er noch ein Mindestmaß an Anstand besäße, hätte er mich zuvor darüber informiert. Also wirklich...
"Wie Sie sehen, euer Ehren, funktioniert die Tatwaffe vollkommen automatisch. Sobald jemand Erholung auf diesem Teufelssofa sucht...", seine Saphiraugen werfen mir einen dämonischen Blick zu, "...wird diese Person lediglich den Tod finden. In diesem Fall traf es Dr. Neverknow." Vor Entsetzen haben Haut und Haare des Richters die selbe putzweiße Farbe angenommen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass er einige Momente benötigt, diese bizarren Tatsachen zu realisieren. Ich selbst kann es immer noch nicht wirklich glauben.
"A-Aber", Zedek ringt nach Worten, "wer könnte solch einen komplizierten Mechanismus gebaut haben?" Das Fernsehbild wird in Schwarz getaucht, mit einem siegreichen Grinsen auf den Lippen begibt sich Justin zurück an sein Pult. "Oh, das wissen wir bereits."
"Tatsächlich?", fragt der Richter verdutzt. Ich weiß nicht, ob ich das hören möchte.
"Natürlich", Justin breitet ein Banquett der Süße auf seinem Tisch aus, während er munter vor sich hin spricht, "Die Angeklagte hat das Sofa präpariert. Auf diese Weise konnte sie die Mordwaffe verschwinden lassen und ihre Spukgeschichte glaubhaft machen."

Gleich drei Gummibärchen auf einmal führt er zu Munde, ich hoffe er geht an Diabetes zu Grunde.
"Niemand sonst hatte Zugriff auf besagtes Objekt, die Überwachungskamera hätte dies aufgezeichnet. Frau Neverknow hatte, während ihr Mann im Krankenhaus tätig war, mehr als genug Zeit dazu gehabt. Sie musste einfach kurz die Kameras ausschalten. Außerdem...", Justin streckt mir seine Handfläche entgegen und lässt seine Finger wie wild strampeln, "...wurde das Sofa nach Fingerabdrücken untersucht, natürlich waren nur die der Neverknows darauf zu finden." Es reicht, genug der Anschuldigungen!

"Einspruch!" Wutentbrannt schlage ich auf den Tisch. "Na und? Dann trug der Täter eben Handschuhe, als er die Couch zu einem Teufelsinstrument umbaute. Nichtsdestotrotz hätte Katia das Sofa nicht präparieren können, sie besitzt keinerlei handwerkliches Geschick."
"Hach..." Justin stößt einen langen Seufzer aus. "Darling, du bist wie dieser Zitronenbonbon hier." Er öffnet ein gelbes Bonbon und nimmt es in den Mund. Oh mein Gott, jetzt kommt's.
"Selbst wenn du sauer wirst, bist du noch süß." Ach du meine Güte, sollte das ein Kompliment sein? Na warte.
"Und Sie, Herr Sunsweet, sind wie... Kaugummi." Ungläubig hebt er eine Augenbraue. "Pardon?"
"Sie sind zäh, verlieren aber schnell Ihren Geschmack. Außerdem kleben Sie mir ständig an den Versen." Wow, ich glaube, ich habe mich selbst übertroffen.
"Meine Güte...", Justin verschränkt gelangweilt die Arme. "Führen wir den Prozess besser fort...", ergänzt der Richter und verdreht die Augen. Allmählich glaube ich, nicht für die Kunst der Süßmetaphorik geschaffen zu sein...

"Wie auch immer, Darling. Frau Neverknows Aussagen allein haben keinen Wert. Ich könnte genauso gut behaupten, kein juristisches Geschick zu haben, aber oh, sieh mal", er fährt sich eingebildet durchs Haar, "das habe ich ja! Bodenlose Behauptungen zählen in diesem Saal gar nichts. Ich dachte, du wüsstest-"
"Falls Sie es bereits vergessen haben, Herr Sunsweet", gekonnt ignoriere ich ihn, "meine Mandantin hat die Kamera doch überhaupt erst wegen den Einbrüchen in jüngster Zeit aufgestellt. Einbrecher hätten das Sofa problemlos manipulieren können, beispielsweise als die Familie Neverknow sich letzten Monat im Italienurlaub befand."
"Einspruch." Justin genehmigt sich eine Tasse Kaffee, wo auch immer diese plötzlich herkommt. Möchte er mir ernsthaft den bitteren Geschmack meiner Niederlage demonstrieren? "Einbrecher können das Sofa nicht präpariert haben."
"Warum nicht?"
Er gönnt sich einen langen, intensiven Schluck, bevor er das Porzellan auf den Tisch pfeffert. "Ganz einfach: der letzte Einbruch liegt bereits einen Monat zurück. In diesem Zeitraum hätte jemand schon längst die Couch benutzt und als Eis am Stiel geendet, meinen Sie nicht auch? Dr. Neverknow ging jedoch erst vorgestern von uns. Ergo: Die Angeklagte kann ihren fürchterlichen Plan vor nicht allzu langer Zeit in die Tat umgesetzt haben. Niemand anderes kommt dafür in Frage, schließlich gab es nach Aufstellung der Kamera keine weiteren Einbrüche." Ich muss zugeben, dass seine Ausführungen plausibel klingen, aber...
"Die Einbrüche sind auch nach Anbringen der Kamera möglich gewesen, jemand musste lediglich Kamera hacken. Immerhin konnte ich gestern beweisen, dass das Video ebenfalls manipuliert wurde. Warum also-"
"Und wo bleiben Ihre heutigen Beweise?", wirft er mir eiskalt entgegen. "Ngh..." Verdammt! Gibt es denn nichts, womit ich das Blatt wenden kann!?

"Dachte ich's mir doch. Oh, wenn wir schon beim Überwachungsvideo sind", Justin wendet sich mit einer eleganten Umdrehung zum Richter, "inzwischen wissen wir auch, welche Rolle Herr Ervnet in dieser Gruselgeschichte spielt." Wieder offenbart sich das neugierige Kleinkind in diesem vermeintlich erwachsenen Richter. "Wirklich? Also kennt der Polizeikommissar die Angeklagte?" Justin lacht verächtlich, das bedeutet nichts Gutes...
"Nun, unsere Recherchen ließen auf keine direkte Beziehung zwischen Herr Ervnet und Frau Neverknow schließen."
"Oh..." Zedek wirkt etwas enttäuscht. "Nun, ich hätte gedacht-"
"Jedoch... kannte er den Mann der Angeklagten." Schlagartig wird mir heiß, die Situation entgleitet mir mehr und mehr. Justin registriert mein entsetztes Gesicht und fährt munter fort. "Dr. Neverknow behandelte Ervnet, nachdem sich dieser bei einem Einsatz eine schwere Verletzung zugezogen hatte."
"Also bitte! Harry hat sich lediglich den Fuß verstaucht!", versuche ich ihn zu unterbrechen, doch auch Justin scheint die Kunst vollständiger Ignoranz zu beherrschen.
"...dankbar, seinem Beruf wieder schnell und ungehindert nachgehen zu können, bot ihm sich endlich die Gelegenheit, sich zu revanchieren. Dem Arzt zu Liebe wollte er die Angeklagte entlassten und hat daher das Video manipuliert. Unabhängig davon, ob dies Frau Neverknow im Endeffekt mehr schadete oder nicht, hat es unser lieber Kommissar nur gut gemeint." Entspannt und siegessicher stützt Justin sich mit den Ellenbogen am Pult ab. "Ich möchte daran erinnern, dass niemand sonst Zugriff auf das Überwachungsvideo haben konnte." Verzweifelt suche ich auf meinem Tisch nach Hinweisen, doch ich finde lediglich eine leere Holzplatte vor. "M-Moment mal! Ervnet hatte das Video erst 40 Minuten nach Erhalt angesehen. In dieser Zeit konnte sein Laptop gehackt und das Video bearbeitet worden sein. Zudem verfügt er über kein Computerwiss-"
"Und Sie wissen offenbar nicht, wie ein Gericht funktioniert, oder wo bleiben Ihre Beweise? Wie oft denn noch? Dies sind alles leere Behauptungen, deren Wahrheitsgehalt Sie nicht nachweisen können."
"Aber-"
"Nichts aber." Zum ersten Mal sieht mich Justin vollkommen ernst an, seine Augen strahlen eine düstere Kälte aus. "Der letzte Drops ist gelutscht Yuri, sieh's endlich ein."
Ich... soll verloren haben? Nein...
Der Richter schließt nachdenklich seine Augen. "Nun, ich muss sagen, die Ausführungen der Staatsanwaltschaft erscheinen mir durchaus schlüssig." Zedek greift seinen Hammer und dreht seinen Glatzkopf langsam zu mir. "Wenn die Verteidigung dem nichts mehr entgegenzusetzen hat, würde ich gerne mein Urteil fällen."
Mein Herz schlägt in atemberaubender Geschwindigkeit. W-Was soll ich tun? Katia, Luna... sie... sie können doch nicht...
"Dieser Fall geht nun schon viel zu lange", stöhnt Justin, während er sich mit gestresster Miene durchs Haar fährt, "Gestern konnte die Verteidigung den Prozess mit ihren haltlosen Behauptungen noch etwas hinauszögern, das Urteil ist mehr als überfällig. Außerdem muss ich dringend mal wieder zum Süßigkeitenladen."
"Keine Einwände?" Der Richter schaut fragend in die Runde. Es kann doch noch nicht vorbei sein, der... der Prozess, er hatte eben erst begonnen! Alles was ich bis heute herausgefunden habe... soll alles umsonst sein? Ich habe Luna doch versprochen, ihre Schwester heute freizusprechen...
"Nun, dem scheint nicht so. Dann werde ich nun urteilen." Das war's, auf keinen Fall kann ich jetzt noch etwas drehen. Dieser Prozess ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.
"Die Angeklagte möge in den Zeugenstand treten. Den Polizeikommissar bitte ich ebenfalls nach vorne."

Katias Zustand muss sich innerhalb der letzten zwei Tage erheblich verschlechtert haben: Ihr Teint ist pfahlweiß, die Falten sitzen, besonders unter den Augen, noch tiefer als ich es jemals für möglich gehalten hätte und auf ihrem nun blau-violetten Schal, zeichnet sich deutlich die Trauer der vergangenen Tage ab. Und das Schlimmste ist: ich allein bin daran schuld. Zedeks gnadenlose Stimme donnert durch den trüben Saal, während der schwarze Regen beständig die Fenster attackiert. Alle Anwesend erheben sich, abgesehen von meiner Stimmung.
"Wie die Staatsanwaltschaft eindrucksvoll bewiesen hat, sprechen alle Indizien gegen Frau Neverknow. Niemand anderes war am Tatort oder hätte die Gelegenheit dazu gehabt, das Sofa zu präparieren. Daher lautet mein Urteil: Schuldig im Sinne der Anklage. Frau Neverknow wird wegen vorsätzlichen Mordes an ihrem Mann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Hauptkommissar Ervnet macht sich durch Beihilfe nach der Tat durch Manipulation der Beweise ebenfalls strafbar. Er wird seines Amtes entzogen und zu drei Jahren Haft verurteilt."
"NEIIIIIN!" Ein markerschütternder Schrei schallt durch den Saal, Luna rennt zum Richtertisch. Sie ist völlig aufgelöst. "Bitte Herr Richter! M-Meine Schwester ist unschuldig!" Katia geht langsam auf sie zu und legt Luna ihre plumpe Hand auf die Schulter. "L-Luna, bitte Liebes, lass gut sein..." Für einen Moment sehen die Schwestern sich an, beide vom Leben gezeichnet, dann wendet sich Luna erneut dem Richter zu.
"Bitte! Es muss sich", sie schluchzt laut, "um einen Irrtum handeln. Geben... geben Sie der Verteidigung noch eine Chance!!"
Zedek schließt die Augen und schüttelt geruhsam den Kopf. "Es tut mir Leid, aber das Urteil ist nun rechtens. Frau Starling hatte genug Chancen, konnte die Tatsachen jedoch nicht widerlegen."
"W-Was? Aber-"
"Ich erkläre das Gericht hiermit für geschlossen." Er schlägt mit seinem Hammer auf, die Endgültigkeit des Knalls hallt im ganzen Gerichtssaal. Ich sehe alles in Zeitlupe: Justin schaut mit einem undefinierbaren Blick zu Boden, Katia umschlingt verzweifelt Luna, welche sich, die Augen seelenlos und düster, hilfesuchend zu mir umdreht. Es zerreißt mir das Herz.
 



 
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