Unvergessen - Kapitel 12: Unverhofft kommt oft

Kunstbanause

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"Luna, es tut mir leid. Ich habe versagt... ich... ich konnte nichts tun." Eine miserable Anwältin sein, das kann ich.
"Was passiert jetzt mit meiner Schwester!? Muss sie jetzt wirklich... ins Gefängnis...?" Obwohl sich Luna einigermaßen gefangen hat, steht ihr die pure Angst ins Gesicht geschrieben, ihre Lippen zittern unaufhörlich. Sanft lege ich meine Hände auf ihre Schultern.
"Nein. Ich werde das verhindern und einen neuen Prozess anfordern. Ich... ich werde neue Beweise sammeln und Katias Unschuld bew-"
"Schon gut, mach dir keine Mühe."

Betrübt wendet sie sich von mir ab und sieht zu Boden, mein Herz durchfährt ein Stich. "Es ist sowieso aussichtslos, von Anfang an stand Katia als Mörderin da. Die Beweislast ist einfach zu schwer." Ein schwaches Lächeln huscht über ihre Lippen. "Ich verstehe das, sie brauchen mir keine falschen Hoffnungen zu machen."
"Luna, so etwas will ich nicht hören! Bitte sieh mich an." Widerwillig richten sich die tiefbraunen, verheulten Augen auf mich. Es fällt mir schwer, Blickkontakt zu halten.
"Hör zu, du darfst nicht aufgeben! So aussichtslos die Lage momentan auch scheint: glaube weiterhin an die Unschuld deiner Schwester, denn das tue ich auch. Pass auf, ich fahre rasch ins Büro und besorge das nötige Formular, um in Berufung gehen zu können. Währenddessen leistest du deiner Schwester Gesellschaft, sie sollte jetzt nicht allein sein. Wir treffen uns in einer Stunde im Stadtpark, wo wir unser weiteres Vorgehen besprechen, okay?" Luna wischt sich eine Träne aus dem Auge.
"I-Ist gut", schluchzt sie.
Ich streiche ihr kurz über ihr blondes Haar und versuche mein in dieser Situation bestmögliches Lächeln aufzusetzen. "Vielen Dank, Luna. Es bedeutet mir unglaublich viel, dass du mir noch eine Chance gibst. Also dann... bleib tapfer. Ich komme so schnell ich kann zu unserem Treffpunkt!", rufe ich noch hinterher, als ich das Mädchen, schweren Herzens, allein in der dunklen Lobby zurück lasse.

Noch immer lässt der Regengott keine Gnade walten. Die paar Meter zu meinem Auto haben gereicht, um meine Klamotten vollkommen zu durchnässen. Ich hoffe Amaterasu offenbart ihre Macht noch, bevor mein Treffen mit Luna stattfindet, ansonsten muss ich es in mein Büro verlegen.
Der Verkehr in der Innenstadt ist turbulent wie eh und je, in den breiten Pfützen auf der Straße spiegeln sich grelle Verkehrslichter. Beständig muss ich an Lunas verzweifeltes Gesicht im Prozess denken, an den Moment, an dem sämtlicher Glaube an das Gute aus diesem unschuldigen Mädchen gewichen ist.
Ich habe mein Versprechen gebrochen... haushoch verloren. Nichts, aber auch gar nichts hatte ich Justins Argumenten entgegenzusetzen. Ich hätte es schaffen können. Wenn ich einfach etwas mehr gekämpft hätte, dann... dann müssten all diese Menschen jetzt nicht leiden.
Verbittert schlage ich auf das Lenkrad. Die Hupe dröhnt laut in meinen Ohren, doch es ist mir vollkommen egal, dass mich die anderen Autofahrer wie eine Irre ansehen. Hach... am liebsten würde ich mich sofort weinend unter meiner Bettdecke verkriechen, aber das geht nicht. So schwer es mir auch fällt, ich muss stark sein, für Luna. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Im Büro angekommen, knalle ich meine Tasche auf den Fußboden, augenblicklich setzte ich mich an meinen Rechner. Surrend startet das Gerät, als wäre ein Föhn darin verbaut. Auf dem Bildschirm erscheint eine sonnige Graslandschaft, doch noch bevor ich nach der Maus greife, fällt der Computer aus und ich sehe im Schwarz eine Versagerin.
"Verdammte Scheiße!! Auch das noch!", fluche ich meinem Spiegelbild entgegen. In letzter Zeit überhitzt das olle Ding ständig, das hat man davon, wenn man sich weigert, alle zwei Jahre einen neuen Stromschlucker anzuschaffen. Oh mann...
Kurzer Hand beschließe ich, Robins Laptop zu benutzen. Er wird schon nichts dagegen haben. Im Gegensatz zu meiner alten Gurke fährt dieses Wunderwerk der Technik binnen Sekunden hoch, und das geradezu geräuschlos. Als Hintergrund scheint Robin ein Bild von uns im letzten Hollandurlaub eingestellt zu haben. Hach... und ich kaltherzige Ignorantin verwende seit Jahren diese vorgefertigte Sommerlandschaft. Offenbar bin ich in der Liebe ein fast noch größerer Loser als vor Gericht...

Nanu? Ich bemerke auf dem Desktop einen Ordner namens Chris, welcher meine Neugier weckt. Geistesabwesend fahre ich mit dem Cursor darüber. Moment, was mache ich denn da? Die Zeit ist knapp, ich sollte mich lieber um das Berufungs-Formular kümmern, statt meinem Freund hinterher zu spionieren. Ich habe das flaue Gefühl im Magen, etwas Verbotenes zu tun, dennoch kann ich mir den Drang nicht verkneifen. Schließlich weiß ich gar nichts über Robins Bruder, noch nicht mal wie er aussieht.
Was ist schon dabei? Mit einem Klick befinde ich mich in einem Raum, der mir sehr bekannt vorkommt. In der Mitte steht ein apfelgrünes Sofa mit einer Blutlache, im Hintergrund ein Klavier und eine Statue... was zum... das ist doch das Anwesen der Neverknows! Und zwar aus Sicht der Überwachungskamera!
Meine Bauchschmerzen intensivieren sich, mir wird heiß. Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten? Kann es sein? Hat Robin etwa die Kamera gehackt? Aber... warum? Was hat er mit dem Fall zu tun?
Der Cursor zittert vor Nervosität, doch meine Neugierde ist stärker und lässt mich wie von selbst auf eine weitere Datei klicken. Wieder bin ich im Wohnzimmer, Katia und ihr Mann streiten sich, dann gehen sie auseinander. Tristan setzt sich auf das Sofa und schreit laut auf, bevor Katia ins Zimmer stürmt. Was zum... Der Geist ist ja nirgends zu sehen! Aber das würde ja bedeuten, dass dies das... das Originalvideo ist!
Mit dem Bürostuhl rolle ich ein wenig nach hinten und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Warum... warum nur sind diese Dateien auf Robins Laptop? Ein Schlüssel klimpert an der Tür und lässt mich herumfahren. Schlagartig rast mein Puls, es ist Robin.

Ich stehe auf. Du musst ihn zur Rede stellen Yuri, jetzt sofort. Du darfst keine Zeit verlieren.
"Na?" Er lächelt mich an. "Hast du den Fall schon gewonnen? Ging ja schneller als ged-"
"Was ist das?" Ohne eine Miene zu verziehen, zeige ich auf seinen Laptop. Als Robin das Gerät erblickt, hält er entgeistert inne. "Was ist was?" Schnurstracks fasst er sich wieder und kommt langsam auf mich zu.
"Das weißt du genau. Warum hast du das Überwachungsvideo in meinem Fall auf deinem Laptop? Unverändert. Außerdem hast du die Kamera gehackt." Nachdem ich ihm diese Worte an den Kopf geworfen habe, scheint diese beklemmende Situation plötzlich viel realer. Robin kratzt sich verwirrt am Kopf.
"Wie? Aber ich habe doch keinen Schimmer, wie das überhaupt funktioniert! Irgendjemand muss die Daten auf meinen PC gespielt haben!" Verzweifelt blicke ich zu Boden. Ist das möglich? Kann ich ihm glauben? ...Nein, so einfach kann ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen.
"Erzähl mir nichts. Du kennst dich bestens mit Computern aus, du weißt wie das geht. Also sage mir endlich, was du mit meinem Fall und den Neverknows am Hut hast!" Robin seufzt. Dann geht er langsam zurück zur Eingangstür und schließt diese ab.
"W-Was soll das?" Ein unheilvolles Kribbeln durchströmt meinen Körper. Mit ausdrucksloser Miene dreht Robin sich zu mir um.
"Du willst reden? Schön, dann reden wir."
 



 
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