Unvergessen - Kapitel 14: Sein letztes Lächeln

Kunstbanause

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"Ich weiß noch, wie er jeden Morgen draußen Fußball spielte, lange bevor ich aufgewacht bin. Das entfernte Geräusch des Balls, der immer wieder auf dem Boden auftitschte, das Rascheln frischen Grases, wenn er durch den morgendlichen Garten rannte. Er hat den Fußball geliebt, Sport war sein ein und alles."

Robin lässt sich in meinen Bürostuhl fallen. Mit ausdrucksloser Miene faltet er seine Hände im Schoß, so als würde er beten. "Leider neigte er dazu, es öfters zu übertreiben. Er ging ziemlich unvorsichtig mit sich um und so kam es wie es musste: Eines Tages brach er sich das Schienbein und sollte ins Krankenhaus. Ich bin damals mit im Krankenwagen gefahren, im Gegensatz zu mir war Chris scheinbar völlig entspannt. Er hat sogar gelacht."
"Er hat gelacht?", schalte ich mich vorsichtig ein. Das kann ich mir nur schwer vorstellen, ich habe ihn nur als traurigen, in sich gekehrten Menschen in Erinnerung. Allerdings kenne ich Chris auch nur aus Robins Erzählungen. Er sieht mich einen Moment lang traurig an, antwortet jedoch nicht und fährt fort.
"Im Krankenhaus dann der Schock: Sein Bein war so unglücklich gebrochen, dass eine Operation nötig war, wenn er in Zukunft jemals wieder Fußball spielen wollte. Natürlich stimmte er zu, ich hingegen zögerte. Letztendlich hatte mein Bruder mich jedoch überredet. Es würde ihm besser gehen, wenn er diese OP hinter sich gebracht hat. Wie falsch ich lag." Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, beginnt Robin auf und ab zu gehen.

"Ich erinnere mich noch an sein Lächeln, bevor er in Narkose versetzt wurde... an sein hoffnungsvolles freudiges Lächeln. Es würde das letzte Mal sein, denn während der Operation kam es zu Komplikationen. Der leitende Oberarzt hatte einen fatalen Fehler gemacht."
"Und dieser Arzt... war Dr. Neverknow?", schlussfolgere ich. Robin bleibt, den Blick gedankenverloren auf die Dielen geheftet, stehen. "Ja. Diesem Wichser ist ein Behandlungsfehler unterlaufen. Einer, der meinem Bruder teuer zu stehen kommen sollte. Es war früh morgens, als ich an seinem Krankenbett saß und er aufwachte. Ich war glücklich, dass er die OP unbeschadet hinter sich gebracht hat, doch als er die Augen öffnete...", er schnaubt verächtlich, "...waren sie leer. Ich kann es einfach nicht vergessen, sein entsetztes Gesicht als er sagte: 'Ich spüre meine Beine nicht.' Fortan würde er immer so schauen, es war sein neuer Gesichtsausdruck. Er war querschnittsgelähmt."
Chris... ist im Rollstuhl gelandet? Wenn ich nur daran denke, dass Robin all dies hat allein durchstehen müssen... Es tut mir in der Seele weh.

"Dr. Neverknow interessierte das überhaupt nicht." Seine Stimme offenbart einen frustrierten Unterton. "Ich stellte ihn zur Rede, aber er wies mich eiskalt ab. 'Das kann schon mal passieren, daran ist nicht das Krankenhaus schuld', teilte er mir gleichgültig mit. Doch ich wusste, dass er log. Ich wusste nicht genau wie, aber ich war überzeugt, dass er seine Finger im Spiel hatte. Er regelte die Angelegenheit ganz diplomatisch, indem er Chris in einen Rollstuhl steckte und uns dem Krankenhaus verwies. Der Skandal wurde einfach", wütend schlägt er gegen die Wand, "vertuscht!" Vor Schreck zucke ich zusammen, noch nie habe Robin so außer sich erlebt...
"Ich wollte vor Gericht ziehen, aber jeder verdammte Anwalt, den ich besuchte, rechnete mir mangels Beweisen geringe Chancen aus, nein, sie stellten mir nur ihre Beratungsgespräche in Rechnung, weshalb ich mich hoch verschuldete." Urplötzlich drängt sich mir ein Gedanke auf: Wenn ich Robin damals schon gekannt hätte, dann hätte ich ihm bestimmt helfen und dieses Drama verhindern können. Aber Moment... ich bin damals ja nur eine einfache Jura-Studentin gewesen...

"Doch das war nichts gegen das Leid, welches Chris die nächsten fünf Jahre durchleben musste." Mein Blick wandert wieder zu Robin, welcher erneut planlos hin und her läuft. "Mit einem Mal war sein altes Leben Geschichte, er konnte keinen Sport mehr machen, keinen Fußball mehr spielen. Mein Bruder begann sich zu isolieren, er wollte keine Menschen mehr sehen, er wollte nicht, dass sie ihn so sehen. Ich besuchte ihn jeden Tag, sprach ihm immer wieder gut zu, doch es half nichts. Chris wurde nur immer verbitterter, er konnte sein neues Leben partout nicht akzeptieren. Irgendwann wollte er nicht mal mehr mich sehen."
Robin setzt sich auf den Bürotisch und lässt einen langen Seufzer verlauten, während er aus dem Fenster sieht. Noch immer fällt der Regen.
"Vor zwei Monaten machte die Nachricht die Runde, dass jemand sich im Main ertränkt habe." Davon weiß ich. An jenem Tag habe ich den Artikel in der Zeitung entdeckt und ihn Robin vorgelesen, wir haben uns jedoch nicht viel dabei gedacht. Heute fühle ich mich schlecht deswegen, Robin muss es noch schlimmer ergehen.
"Als ich erfuhr, dass es sich um Chris handelte, brach eine Welt für mich zusammen." Eine Träne rinnt über sein Wange. "Ich konnte mich nicht mal von ihm verabschieden. Damit war auch mein Leben vorbei, ohne Chris war für mich kein einziger Tag mehr ertragbar."
Ich muss an die vielen Nächte denken, an denen ich stets ein unterdrücktes Schluchzen von der anderen Bettseite her vernommen habe. Sein Bruder ist zweifellos das Wichtigste auf der Welt für ihn, mehr noch als ich es jemals sein könnte.

Mit einem Satz hüpft er vom Tisch, langsam nährt er sich dem Fenster. "Nur eine Sache hielt mich noch am Leben: Der Wunsch nach Rache. Vergeltung an dem Mann, der für alles verantwortlich war. Er sollte kein glückliches Leben haben, wenn Chris eines verwehrt blieb. Das würde ich sicher stellen." Ich beobachte nervös, wie er mit einem Finger auf der beschlagenen Scheibe malt. Sein Spiegelbild besitzt einen einschüchternd bösen Blick.
"Über das Internet machte ich seine Adresse aus. Ich hackte mich in seine Überwachungskamera und begann ihn zu beobachten. Es stach mir ins Herz, wie er jeden Tag so unbekümmert lachte, als wäre nichts gewesen. Meine Wut steigerte sich ins Unermessliche." Mit einem diabolischen Grinsen wendet er sich mir zu. "Nach einigen Wochen hatte ich sein Verhaltensmuster durchschaut. Ich wusste, dass er sich immer wieder auf diesem Sofa entspannte, immer dort zu Ruhe kam. Genau dort sollte er seine ewige Ruhe finden."
Ich schlucke, Robin wirkt befremdlich aggressiv. Dabei kenne ich ihn nur als stilles Wasser. Obwohl... die sind bekanntlich tief. Robin ein Mörder? Es fällt ihr schwer zu glauben und doch läuft es mir plötzlich kalt den Rücken runter, während sein scharfer Blick mich durchdringt.

"Als die Neverknows eines Nachts wie gewöhnlich ausgingen, brach ich ins Anwesen ein. Natürlich hatte ich zuvor die Kamera deaktiviert. Ich war selbst etwas erstaunt, wie schnell ich dieses Ledersofa zu einem Teufelsinstrument umgebaut hatte. Die Arbeit daran erfüllte mich mit tiefster Genugtuung. Schließlich verließ ich, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, das Anwesen. Obwohl... eine Spur hinterließ ich." Sein Lächeln wird breiter, er zeigt auf mich. "Einen deiner Slips, ich platzierte ihn in einer Ecke des Schlafzimmers." Ich bin geschockfrostet. Also hat Tristan Katia gar nicht betrogen! Wie kann er nur... Katia ist so unendlich verletzt deswegen!
"Seine Frau sollte sich im Streit von ihm verabschieden, genau wie ich und Chris sollte sie nicht die Chance haben, im Guten mit ihm auseinander zu gehen. Naja, immerhin fiel es ihr so leichter, sich von ihm zu verabschieden, so gesehen habe ich ihr nur einen Gefallen getan." Was zum Teufel ist hier los? Das... das ist doch nicht der liebenswürdige, fürsorgliche Robin, mit dem ich gestern noch zusammen gelacht habe... oder?
"Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn es geschah." Aufgeregt setzt er sich vor meinen Computer, gebannt starrt er auf den schwarzen Bildschirm. "Ich wollte auf keinen Fall den Moment verpassen, in dem er begriff, dass sein Leben vorbei war. In freudiger Erwartung schaute ich auf den Bildschirm, morgens kamen die Neverknows dann endlich nach Hause. Seine Frau fand den Slip und sie begannen zu streiten, dann gingen sie auseinander. Es hätte nicht besser laufen können", lacht er.

"Als sich dieser Mistkerl rücklings auf das Sofa fallen lies und kurz zusammenzuckte ehe er schrie, da wusste ich, dass ich Erfolg hatte. In seinen Augen konnte ich das selbe Entsetzen lesen, wie ihn Chris', als er erfuhr, dass sein Leben vorbei war."
Mir fährt ein Gedanke durch den Kopf: Er ist verrückt, du musst verschwinden, Yuri. Doch vor lauter Angst traue ich mich nicht, mich zu rühren. Was ich gerade erfahre, die ganze Situation kommt mir so unwirklich vor, dass ich wie versteinert bin. Wut und Trauer gehen in mir pausenlos auf und ab, ich weiß nicht, welche Gefühle die richtigen sind. Robin bemerkt mein verwirrtes Gesicht, spricht jedoch munter weiter.
"Um den Verdacht auf seine Frau zu lenken, manipulierte ich schließlich noch das Überwachungsvideo. Natürlich wäre sie auch so verdächtigt worden, es war ja niemand sonst im Anwesen, aber Frau Neverknows Wortwahl, als sie sagte: 'Sollen dich doch die Geister holen', brachte mich auf eine fantastische Idee. Ein programmierte einen Geist, der auf der Bildfläche erschien... ich stellte mir vor, dass es Chris sei, der persönlich Rache an diesem Wichser nahm. Er hätte es sicher so gewollt, ich war es ihm schuldig."
Robin sieht nachdenklich ins Leere, sein Blick hat etwas Wahnsinniges. Ich versuche mich unauffällig zur Tür zu bewegen, wie als Antwort darauf, dass es kein Entkommen gibt, lässt Robin den Schlüsselbund in seiner Hosentasche rascheln. Unbeeindruckt fährt er fort.

"Heute hätte er ein toller Fußballspieler sein können, er könnte in der Bundesliga spielen, ich würde ihn morgen bei einem Spiel anfeuern." Seine Stimme bricht, sie klingt nun sehr weinerlich. "Aber er ist nicht da, mein geliebter Bruder kommt nicht mehr, nie mehr", schluchzt er, während beständig Tränen auf die Dielen tropfen. "Er... er wurde nur 25 Jahre alt und hatte sein ganzes Leben noch vor sich, aber dieser arrogante Mistkerl hat es ihm vorzeitig zerstört und damit auch meines." Mit einer Armbewegung wischt er sich sein rotes Gesicht trocken. Ein Schmerz geht durch meine Brust, ich kann nicht anders als unweigerlich Mitleid zu empfinden.
"Ich bereue nichts." Verweint und mit zitternden Lippen sieht er mich an, sein Gesichtsausdruck erinnert mich Luna.
"Gerne hätte ich ihn persönlich erstochen, seinen letzten Atemzug gehört, aber das wäre zu riskant gewesen. So wird Dr. Neverknow zwar nie wissen, wer ihn umgebracht hat, doch das spielt keine Rolle. Er wird schon den Grund kennen, warum er sterben musste. Chris war zweifellos kein Einzelfall, viele Menschenleben wurden durch dieses Arschloch verpfuscht. Ich denke ich habe der Welt einen großen Gefallen getan."
 



 
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