Unvergessen - Kapitel 18: Ende schlecht, alles schlecht?

Kunstbanause

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"Trotzdem möchte ich mich dafür entschuldigen, euer Türschloss geknackt zu haben. Bei einem Gentleman wie mir ziemt sich das nicht." Justin und ein Gentleman? Pah, vorher komme ich noch auf den Geschmack von Süßem zurück.
"Ach, schon in Ordnung. Aber sag' mal...", ich zeige angewidert auf den Stiel, der aus seinem Mund ragt, "findest du es denn nicht auch pervers, kurz vor dem Essen so dermaßen viel Süßkram in dich zu stopfen? Sogar ein 'Gentleman' wie du muss doch zu einem gewissen Zeitpunkt die Grenze des Erbrechens überschritten haben." Justin neigt seinen Kopf und hebt arrogant eine Augenbraue.
"Darling", er spricht mit mir, wie mit einer Grundschülerin, die man belehren muss. "Das Zeug landet doch überhaupt nicht in meinem Magen. Süßigkeiten sind für mich so natürlich wie die Luft zum Atmen, ich nehme ihre Energie direkt in mich auf. So gesehen habe ich heute noch gar nichts gegessen."
Ich muss lachen. Für einen Moment hören wir nur das blubbernde Brutzeln von Fett, der Duft von Pommes lässt mir unweigerlich das Wasser im Mund zusammen laufen.

"Und du meinst wirklich, das war sein Bruder?" Justin greift auf unser vorheriges Thema zurück. Ich nicke zustimmend. "Ja, ich bin mir ziemlich sicher. In der letzten Sekunde wollte Chris seinen Bruder davon abhalten, noch mehr Schreckliches zu tun. Es war sein letztes Zeichen. Glaube ich."
"Hmmm...", Justin legt mit aufgesetzter Nachdenklichkeit eine Hand an sein Kinn, "das klingt ziemlich wage. Haben Sie für ihre Mutmaßungen auch Beweise, Frau Starling?" Ich verschränke hochnäsig die Arme.
"Man kann nicht alles mit Beweisen erklären. Viel wichtiger sind doch die Gefühle dahinter, oder? Ich grinse ihn an, er schaut beschämt weg. "S-Seit wann bist du denn so schnulzig..."
"Der nächste bitte!", ruft der Imbissbesitzer. Lediglich ein alter Mann ist noch vor uns, mit seiner glänzenden Halbglatze erinnert er mich an eine ältere Version von Richter Zedek.

"Das mit deinem Freund tut mir Leid", sagt Justin mitfühlend.
"Ja, es war schon ein ziemlicher Schock für mich. Aber ich kann Robin verstehen. Chris war für ihn das Wichtigste auf der Welt und dann wurde er ihm genommen, Stück für Stück. Er musste sich die ganze Entwicklung des Dramas machtlos mitansehen. N-Nicht, dass das Dr. Neverknows Tot gerechtfertigt hätte", füge ich mit einem raschen Blick zu ihm hinzu, "aber ich kann Robins Gefühle nachvollziehen. Nun, zumindest hat er inzwischen eingesehen, dass Rache sinnlos ist."
Es ging alles ganz schnell. Nur wenige Stunden nach Robins Festnahme hat der Richter sein Urteil über Katia und Ervnet revidiert. Die Daten auf Robins Laptop waren als Beweise aussagekräftig genug, um die beiden vollständig zu entlasten. Der Moment, als Luna ihre Schwester wieder in die Arme schließen konnte, er war so berührend, ein stärkerer und wärmerer Moment als der, an dem Katia verurteilt wurde. Ich hoffe sie behält nur diesen in Erinnerung.
Schließlich habe ich Robin noch im Gefängnis besucht. Er war wieder der Alte, der, in den ich mich verliebt habe. Er hat sich tausendmal dafür entschuldigt, was er getan hat, aber ich denke auch er weiß, dass unsere Beziehung keinen Sinn mehr hat.
"Hallo? Der nächste bitte!", schimpft der Inhaber.

"Oh, ja." Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. "Natürlich. Justin, was nimmst du?"
"Eine Pommes-Schranke bitte", sagt er und zwinkert dem Mann zu, dieser wirkt leicht angewidert.
"Ja, ähm... alles klar, und Sie?" Ich benötige einen Moment, um eine Wahl zu treffen. Diese Entscheidung ist wichtiger, als man zuerst annehmen würde. "Eine Bratwurst, bitte. Mit Senf", ergänze ich. Justin schaut mich von der Seite her entgeistert an, sagt aber nichts weiter. Ach ja! Ich ziehe einen Brief aus meiner Handtasche und halte ihn Justin entgegen. "Der ist von Luna", antworte ich auf seine fragende Miene hin. Verdutzt nimmt er das Stück Papier in die Hand. Er entfaltet es und beginnt zu vorzulesen. "Liebe Yuri-"
"Doch nicht laut!", schimpfe ich und werde rot. "Ist ja peinlich..."
Justin lacht nur. "Na schön." Seine saphirblauen Augen beginnen hin und her zu fahren.

Liebe Yuri,

danke nochmal dafür, dass du meine Schwester gerettet hast. Ich weiß, zu welchem Preis du das getan hast. Das werde ich dir nie vergessen. Ich will mich entschuldigen, dass ich kürzlich den Glauben in dich verloren hatte, ich hätte nicht so leicht aufgeben sollen. Du bist die beste Anwältin die ich kenne (Zugegeben auch die einzige... aber trotzdem!) und ich werde ewig in deiner Schuld stehen.

Neulich habe ich mir nochmal intensiv Gedanken gemacht, was ich mal beruflich machen möchte und ich glaube eine Antwort gefunden zu haben. Ich möchte Ärztin werden.
Jedoch nicht aus dem Grund, an den du jetzt denkst, weil ja so gut wie jeder in meiner Familie Arzt ist. Nein, ich habe von der Geschichte mit Herr Tirpses Bruder erfahren und ich will nicht, dass jemanden jemals wieder so etwas widerfährt. Es braucht mehr gute Ärzte auf dieser Welt, niemand soll mehr unter den Folgen von Behandlungsfehlern leiden. Ich werde alles dafür tun, dass Menschen wie Herr Tirpse Ärzten wieder Vertrauen schenken können. Ich weiß, einfacher gesagt als getan, aber das ist mein Ziel, welches ich um jeden Preis erreichen möchte - und auch werde. Verlass dich ruhig auf deine ehemalige Assistentin!

Übrigens, ich habe nochmal darüber nachgedacht, was du mir neulich erzählt hast. Der Grund, warum du und Herr Sunsweet nicht mehr zusammen seid. Du hast doch gesagt, du hättest dir damals mehr Mut von seiner Seite gewünscht, richtig? Den Mut, Regeln zu brechen. Wenn ich so genau darüber nachdenke, dann hat er das doch getan, oder? Ich meine... nachdem Katia verurteilt wurde, hätte er eigentlich noch jede Menge regeln müssen, um den Fall ordnungsgemäß abzuschließen, aber stattdessen hat er mich aufgegabelt und ist zu dir gefahren, weil er sich Sorgen gemacht hat (zu Recht, wie sich letztenendes herausstellte).
Er hat, nur für dich, alles stehen und liegen lassen und dir obendrein noch das Leben gerettet. Also wenn das nichts heißt... Denk mal darüber nach! Ich finde du solltest ihm noch eine Chance geben, ihr seid so zuckersüß zusammen! Vielleicht legt er seine Knisterbonbon-Angewohnheit auch ab, wenn er dich dafür zurückbekommt.

Ich hoffe wir sehen uns bald mal wieder! Und zwar zu dritt!

Luna


Wie ich sehe, ist auch Justin nun errötet. Er regt sich künstlich auf: "Tse, Knisterbonbon-Angewohnheit. Was soll das denn heißen? So ein Schwachsinn..."
"Bitteschön...", lächlend reicht mir der Imbissbesitzer ein Tablett mit einer Bratwurst und einer Pommes-Schranke darauf, dann wirft er Justin einen vernichtenden Blick zu, "...ihre Bestellung", entgegnet er kühl.
"Danke." Ich erwidere sein Lächeln und nehme das Tablett entgegen.
"Ich zahle", sagt Justin, als ich mein Portemonnaie gerade zücken möchte.

Schweigend verweilen wir an einem Stehtisch, Justin starrt ins Leere. "Warum isst du nichts?", bemerke ich schmatzend.
"Yuri...", schießt es aus ihm heraus. Justin sieht mich auf einmal sehr ernst an, die Zeit scheint still zu stehen.
"Weißt du, am ersten Prozesstag sagte ich, du würdest mich nicht kennen, erinnerst du dich?" Ich nicke. "Ja, nur eines der zahllosen schwachsinnigen Dinge, die du mir in letzter Zeit an den Kopf geworfen hast."
"Ja... w-wie auch immer. Aber dem war wirklich so, denn an jenem Tag, als wir uns das erste mal nach langem wieder sahen, da standest du nicht dem alten Justin gegenüber. Ich denke Luna hat recht, wenn sie meint, ich hätte mich verändert." Für einen Moment sehe ich, munter kauernd, an ihm vorbei. "Hm... ja, das hast du in der Tat", gestehe ich, bevor ich wieder in diese deliziöse Bratwurst beiße. Justin wirkt urplötzlich sehr nervös, was auch mich nervös werden lässt.
"A-Also, dann, ähm, öh... liebst du mich noch?"
Mir bleibt meine Wurst im Hals stecken. Die Backen prall gefüllt, schaue ich ihm in seine hoffnungsvollen Augen. Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Ich schlucke runter.
"We-Weißt du, Jus- tin", hustend lege ich mein Festmahl erst einmal beiseite, "ich habe dich nie vergessen." Ich senke den Blick kurz auf seine Pommes. "...und du mich anscheinend auch nicht. Jedenfalls...", ich werde zunehmend nervöser, "...als du mich neulich umarmt hast... da habe ich es gemerkt." Ich mache eine Pause, Justin sieht mich weiterhin aufmerksam an.
"In dem Moment ist mir klar geworden, dass...", ich atme einmal ein und aus. Komm schon, Yuri, sag's ihm endlich.
"...dass ich dich nicht mehr liebe. Es tut mir leid."

Wirklich leid. Nach allem, was er für mich getan hat, ihm einfach eine so kalte Abfuhr zu erteilen... Ich bin ein grausamer Mensch.
Justin schluckt und sieht zu Boden, es fällt mir schwer, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Doch schon nach einigen Sekunden schaut er lächelnd auf und nimmt seine Pommesgabel in die Hand, ich sehe jedoch die Enttäuschung in seinen Augen.
"Verstehe. So was habe ich mir schon gedacht. Du liebst Robin noch, was?" Ach Justin... Ich wünschte, ich könnte dir eine andere Antwort geben. Eine, die dich heute aus tiefstem Herzen lächeln lassen würde. Aber es hätte auch keinen Sinn gemacht, mich selbst zu belügen.
"Ja... ich empfinde noch etwas für ihn. Auch wenn ich weiß, dass wir wohl nicht mehr zusammen kommen werden, kann ich meine Gefühle für ihn nicht einfach abstellen. Schließlich bin ich keine Maschine, verstehst du?"
"Vollkommen." Justin hat angefangen zu essen und wirkt gelassen. "Ich könnte meine Gefühle für Knisterbonbons auch nicht einfach abstellen."
"Haha", ich beiße in meine Wurst, "hey, das ist nicht das gleiche!"
"Stimmt", pflichtet er mir bei. "Die Beziehung zu meinen Bonbons ist viel inniger. Zweifellos wird sie alle Zeiten überdauern. Apropos Zeit...", Justin sieht so aus, als wäre ihm soeben etwas eingefallen. "...Ich werde nicht mehr lange in Frankfurt sein."

"Was?" Geschockt lasse ich meine Bratwurst fallen. "Du... gehst weg? E-Etwa nach Hamburg?" Irgendwie missfällt mir der Gedanke, dass er bald nicht mehr da sein soll. Seine Anwesenheit hier die letzten Tage tut mir richtig gut, es ist schön, einen engen Freund bei sich zu haben.
Nein... ich verdiene es nicht, solche Gedanken zu hegen. Ich habe wirklich kein Recht dazu, traurig zu sein. Schließlich habe ich ihm soeben klar gemacht, dass ich keine Zukunft für uns sehe. Und doch...
"Ja, schon heute Abend geht mein Flug. Sorry, Darling, aber hier hält mich nichts mehr." Er schenkt mir ein Lächeln. "Außer dieser Konfekt-Laden hier um die Ecke, die haben da echt alles." Mein schlechtes Gewissen plagt mich, obwohl ich wahrscheinlich nicht mal über so etwas wie ein Gewissen verfüge. Also war er wirklich nur wegen mir hier...
"Tut mir leid, Justin. Ich wünschte es wäre anders."
"Jetzt schau doch nicht so traurig, Darling." Er hebt meinen Kopf an und sieht mir in die Augen, sein Gesicht so nahe an meinem wie lange nicht mehr.
"Es war schön, dich wiederzusehen und ich will, noch lieber als aller Süßkram auf der Welt, dass wir mit einem Lächeln auseinander gehen."
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nehme seine Hand, als eine Träne darauf tropft. Ich bin mir nicht sicher, ob es meine oder Justins ist. Oder der Beginn eines Schauers.
"Ja, du hast Recht. Anwälte verlassen den Gerichtssaal auch immer erhobenen Hauptes. Also...", ich löse unsere Hände und deute auf seine Pommes, "...ist die Staatsanwaltschaft gewillt, mir ein Stück ihrer köstlich anmutenden Pommes-Schranke zu spendieren?" Empört verschränkt er seine Arme.
"Einspruch! Die Verteidigung ist mit Ihrer deftigen Bratwurst bereits bestens versorgt."
"Ach ja? Und wo sind Ihre Beweise, Herr Sunsweet?"
"Aber, aber Darling." Der Scheibenwischer schwenkt wild hin und her. "Du sagtest doch selbst: Man kann nicht alles beweisen. Viel wichtiger sind doch die Gefühle dahinter."
 



 
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