Unvergessen - Kapitel 4: Ein süßes Wiedersehen

Kunstbanause

Mitglied
"Hey!" Kaum betrete ich das Haus, kommt er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. "Hast du Hunger? Ich habe gerade Mittagessen gemacht." Er küsst mich und schmiegt sich an mich. "Oh! Oder soll ich dir vielleicht ein Bad einlassen? Du bist bestimmt fix und alle." Das sagt der Richtige.
"Hey." Lächelnd fahre ich ihm durch sein kurzes schwarzes Haar. "Danke, aber ich habe gerade keinen Hunger. Das Bad klingt allerdings ziemlich verlockend", sage ich und habe unweigerlich ein schlechtes Gewissen.
"Kommt sofort!" Scherzend salutiert er vor mir und eilt die Treppe hinauf, kurz darauf höre ich Wasserrauschen. Ach Robin...

Ich habe Luna bei ihren Eltern abgegeben und bin nach Hause gefahren. Hier wohne ich seit ein paar Jahren mit meinem Freund, Robin Tirpse. Auch wenn es nicht im Geringsten an das der Neverknows herankommt, würde ich unser Zuhause doch als groß und geräumig bezeichnen.
Ich befinde mich gerade im Erdgeschoss, hier teilen ich und Robin uns ein Büro. Dass unsere Arbeitsplätze sich genau gegenüber stehen, wirkt sich eigentlich negativ auf unsere Arbeit aus, denn seine kristallblauen Augen, die mich auch heute wieder gleich in seinen Bann gezogen haben, schwächen meine Konzentration erheblich.
Manchmal werde ich dann wie magisch angezogen und ehe ich mich versehe, sitze ich auf seinem Schoß und wir können nur schwer wieder aufhören, uns zu küssen. Moment... bin ich etwa allein daran schuld, dass unser Arbeitstempo so mies ist? Obwohl es eigentlich er ist, der mir ständig den Kopf verdreht... Vielleicht sind wir beide irgendwie dafür verantwortlich? Ich bin jedenfalls froh ihn zu haben.

Robin ist IT-Techniker und arbeitet viel von Zuhause aus. Wenn er nicht gerade an seinem Computer herum tippt, sitzt er in seinem, eigens für ihn eingerichteten, Werkzimmer im ersten Stock und tüftelt an irgendwelchen Apparaturen herum, von denen ich nichts verstehe.
Mit einer fast schon krankhaften Passion bastelt der Hobby-Physiker hier mitunter Tage an mysteriösen, scheinbar nutzlosen Geräten. Es kam durchaus schon vor, dass ich ihm das Essen vor die Tür stellen musste. Zumindest bis vor einigen Tagen.
Wenn ich neuerdings nach Hause komme, heißt er mich sogleich wärmstens willkommen und versucht mich auf jegliche Art und Weise zu verwöhnen. Er ist immer sehr fürsorglich, sogar jetzt, zu solch schweren Zeiten.

Erst vor zwei Monaten ist sein Bruder gestorben. Chris Tirpse hat Suizid begangen, sich im Main ertränkt. Wir haben uns leider nie kennengelernt, Robin erzählt auch nicht viel von ihm. Womöglich ist er seit Tagen nur so fürsorglich, um sich abzulenken. Noch bis vor zwei Wochen hat er jeden Tag geweint, inzwischen weint er ausschließlich nachts, wenn er glaubt, ich schlafe. Aber ich bin jedes Mal wach und werde selbst zu Tränen gerührt. Ich will ihn nicht traurig sehen. Deshalb kann ich seine Fürsorge auch nicht positiv aufnehmen, denn ich weiß, wie schlecht es ihm in Wirklichkeit geht. Kein Zweifel, er und Chris haben sich sehr nahe gestanden. Robin kümmerte sich regelmäßig um ihn und ich denke, ich sollte mich auch mehr um ihn kümmern. Er würde es niemals zugeben, doch zu solch schweren Zeiten braucht er mich mehr denn je. Mit diesem Entschluss gehe ich die Treppe hinauf.

Ich liege in der Badewanne, das Wasser dampft so stark, dass der Spiegel beschlägt. Herrlich... dieses heisse Bad ist der einzige Ort, an dem ich, nach einem anstrengenden Tag wie diesem, wirklich entspannen kann. Beim Anblick der rot-weiß gefliesten Wände muss ich an Justin denken.
Er ist mein Ex-Freund, wir haben zusammen Jura studiert. Nach unserem Staatsexamen vor zwei Jahren, sind wir jedoch im Streit auseinander gegangen. Er ist in Hamburg geblieben und ich Rechtsanwältin in Frankfurt geworden, wo ich Robin kennengelernt und mich in ihn verliebt habe. Warum in aller Welt hat er sich hierher versetzen lassen?
Ist es Schicksal, dass wir uns vor Gericht wiedersehen? Vor allem, da sich unsere Wege ja bei einem Gericht gekreuzt haben, einem etwas anderem Gericht...
Das schaumige Wasser plätschert, als ich gedankenverloren aus der Wanne steige. Auch als ich neben Robin im Bett liege, hören die Zahnräder in meinem Kopf nicht auf sich zu drehen. In dieser Nacht weint Robin ausnahmsweise nicht, ich bin froh darüber und greife nach seiner Hand. Mit diesem Gedanken werden auch endlich meine Augenlider schwer und die Fabrik stellt ihren Betrieb ein.

Früh am nächsten Tag fahre ich ins Gericht, im Rückspiegel prüfe ich ständig mein Aussehen. Mein schulterlanges brünettes Haar habe ich zu einem Zopf gebunden. Ich trage eine schicke Jacke und einen Rock, beides in schwarz, darunter eine weiße Bluse und zur Abrundung meines Outfits schwarze Stöckelschuhe. Hoffentlich habe ich mich nicht zu sehr rausgeputzt. Das tue ich normalerweise nie, aber heute ist ja auch kein normaler Tag, denn heute sehe ich ihn zum ersten Mal wieder. Justin...
In der Lobby entdecke ich Luna. Es ist etwas dunkel hier, ab und zu laufen Menschen in Anzügen vorbei oder man hört Absätze auf dem glänzenden Parkett schallen. Es riecht ziemlich steril, ich bin aufgeregt, will mir aber wegen Luna nichts anmerken lassen.
"Guten Morgen Frau Starling!" Luna strahlt mich an und bringt so etwas Licht in den düsteren Raum.
"Ach Luna, lass' doch mal die Formalitäten." Warum denke ich jetzt an Katia? "Nenn' mich einfach Yuri, okay?"
"Gut, wenn Sie woll-, ähm, wenn du willst, Yuri." Ich muss lachen, dieses Gespräch kommt mir bekannt vor.
"Da fühle ich mich doch gleich jünger, danke. Oh, und dir auch einen guten Morgen! Ich hoffe du hast nicht die Schule geschwänzt um hier sein zu können?" Ich hebe eine Augenbraue.
"Oh nein, mein Lehrer weiß Bescheid und hat mich für heute freigestellt."
"Ah, ganz meine Assistentin. Geht stets ihren Pflichten nach."
Ich sehe sich um. "Hm... hast du deine Schwester schon gesehen?"
"Ja, zwei Polizisten sind mit ihr hier vorbeigekommen. Sie wird dem Prozess wohl beiwohnen, falls sie als Zeugin gebraucht wird."
"Da hast du recht. Wie sah sie aus? Hast du mit ihr gesprochen?"
"Dazu war leider keine Zeit. Sie hat mich zwar angelächelt, sieht aber ziemlich fertig aus." Luna schaut bedrückt ins Leere. Ich klopfe ihr auf die Schulter.
"Ich werde heute mein Bestes geben, damit sie nicht noch eine Nacht in Untersuchungshaft verbringen muss."
"Vielen Dank Frau, äh Yuri."
"Dank' mir erst, sobald deine Schwester freigesprochen ist. Nanu?"
Ich vernehme das Klackern von Lederschuhen, eine Gestalt kommt den dunklen Gang entlang und macht ein paar Schritte vor mir Halt.
"Na sieh mal einer an, Darling."

James Dean, so könnte man sein stylisches blondes Haar kurz und prägnant beschreiben, dazu blaue Augen, ähnlich wie Robins Kristalle, aber dunkler wie Saphire. Er ist immer noch schlank und hat einen Anzug an, ganz in schwarz wie ich, jedoch trägt er eine auffällige rot-weiß gestreifte Krawatte. Der Stiel eines Lutschers ragt ihm quer aus dem Mund und statt einer Serviette hat er Bonbon-Papier in seinem Sacko stecken. Er sieht perfekt aus. Wie ein perfekter Clown.
"So sieht man sich wieder Justin. Du bist wohl immer noch das Leckermäulchen von früher."
Justin ist ein Süßigkeiten-Fetischist. Während wir zusammen gewesen sind, hat es ständig zwischen uns geknistert, selten jedoch auf gefühlsmäßiger Ebene. Noch heute verfolgt mich dieses Geräusch von Plastik, das aufgedreht wird. Einer der Hauptgründe, warum ich ihn abserviert habe. Ich hasse Süßes fast noch mehr als Süßholzgeraspel.
Luna schaut verwundert drein. "Kennst du den, Yuri?" Ich werde aus meinen Gedanken gerissen.
"Oh ja, Luna, das ist Staatsanwalt Justin Sunsweet, Justin, das ist Luna Baroud, die kleine Schwester der Frau, die du ins Kittchen bringen willst." Ich schenke ihm ein diabolisches Lächeln, doch er bleibt unbeeindruckt.
"Hohoho", er fährt sich mit ausgestreckten Fingern durch sein gestyltes Haar und ruiniert damit seine Frisur, "du bist noch genauso keck wie damals." Plötzlich tritt er nahe an mich heran und setzt eine ernste Miene auf. "Wir sehen uns vor Gericht." Lachend winkt er ab und verschwindet schließlich in der Doppelflügeltür, die in den Gerichtssaal führt.

"Das war aber ein kurzes Gespräch", bemerkt Luna.
"Oh, wir beide werden gleich noch mehr als genug miteinander zu bereden haben, das kannst du mir glauben."
Sie hebt eine Braue und legt nachdenklich eine Hand an ihr Kinn.
"Also kennst du ihn doch! Dazu noch besser als jeder andere nehme ich an..." Sie grinst verschmitzt.
"Puh, ich schätze, vor meiner Assistentin kann ich wohl keine Geheimnisse haben, was? Ja, wir haben zusammen Jura studiert, haben uns dann aber getrennt."
"Wirklich? Warum das?"
"Lange Geschichte, ein andermal, okay? Ich muss jetzt auch da rein." Ich deutet auf die Tür.
"Feuerst du deine Chefin von der Tribüne aus an?" Sie wendet sich ab und verschränkt die Arme.
"Nur wenn du mir später mehr von dir und Herr Sunsweet erzählst."
"Mist, meine Assistentin hat schon gelernt zu verhandeln! Haha, also gut, aber nur, wenn wir heute einen Freispruch erzielen. Also dann, wünsch' mir Glück!"
Ich öffne die Doppeltür, grelles Licht blendet mich. Jetzt wird es ernst.
 



 
Oben Unten