Unvergessen - Kapitel 5: En Garde!

Kunstbanause

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Die großen Fenster lichtdurchfluten den gesamten Gerichtssaal, es riecht nach lackiertem Holz. Ein paar Meter gegenüber von mir steht ein kaugummikauender Justin an einem hüfthohen Pult, rechts diagonal sitzt der heutige Richter, Daniel Zedek. Trotz seiner ergrauten Halbglatze und seinem Vollbart wirkt er, aufgrund seines jugendlichen Teints, nicht sonderlich alt. Ich kenne ihn bereits aus vergangenen Prozessen, etwas einfältig, aber dennoch gerecht. Er erhebt sich, ebenso seine tiefe kraftvolle Stimme, die im ganzen Saal hallt.

"Ich eröffne nun den Prozess um Katia Neverknow." Er dreht seinen glänzenden Glatzkopf zu mir. "Ist die Verteidigung bereit?" Ich nicke. "Die Verteidigung kann loslegen!"
"Sehr schön, wie viel Enthusiasmus Sie heute an den Tag legen, Frau Starling.“ Eigentlich bin ich nur nervös, da heute ausgesprochen viel Publikum vorherrscht. Sogar ein Kamerateam ist anwesend. Sitzen meine Haare? Hm...
"Ist die Staatsanwaltschaft ebenfalls be- oh?" Der Richter sieht verdutzt drein, als er Justin erblickt. "Ein neues Gesicht wie ich sehe?"
"Das ist Justin Sunsweet, euer Ehren", schalte ich mich ein. "Er hat sich kürzlich von Hamburg nach Frankfurt versetzen lassen." Fragt sich nur warum...
"Oh, Sie kennen die Staatsanwaltschaft, Frau Starling?"
Justin ergreift das Wort, verschmitzt hebt er eine Augenbraue.
"Nun man könnte sagen, wir kennen uns, jedoch beruht dies auf Einseitigkeit, denn die Dame glaubt lediglich, mich zu kennen."
Was soll das denn heißen? Natürlich kenne ich ihn! So ein Spinner...
"Ah, verstehe... ich nicht. Doch das tut momentan nichts zur Sache. Ich bitte um das Eröffnungsplädoyer der Staatsanwaltschaft." Mit gerunzelter Stirn setzt sich der Richter.
"Gerne euer Ehren." Justin tritt mit hallenden Schritten in die Mitte des Saals und zückt eine winzige Fernbedienung.
"Ich denke wir können uns überflüssiges Gefasel meinerseits zum Tathergang sparen, denn es existiert ein Video, auf dem die Tat klar und deutlich zu sehen ist." Justin deutet auf den Flachbildfernseher, der bereits über der Eingangstür hängt. Endlich ist es soweit und ich kann das Überwachungsvideo sehen. Leider habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache.
Dem schwarzen Bildschirm, in dem sich Zedeks Glatze spiegelt, weicht ein mir vertrautes Bild. Es ist das Wohnzimmer der Neverknows, mit dem Flügel und der Statue im Hintergrund und dem apfelgrünen Sofa im Vordergrund, nur dass jetzt Katia und ihr Mann, den ich jetzt zum ersten Mal lebendig sehe, anwesend sind. Sie streiten so laut, dass es im gesamten Saal zu hören ist.
"Ach ja! Der Slip ist von ganz alleine in unser Schlafzimmer gewandert! Natürlich!" Ich kann Katia nirgends im Publikum entdecken, aber ich weiß wie unangenehm diese intimen Szenen für sie sein müssen.
Tristan streitet alle Anschuldigungen seiner Frau ab, schließlich gehen die beiden auseinander. "Ach! Sollen dich doch die Geister holen!" Frau Neverknow stampft wütend in die Küche und ist nun nicht mehr zu sehen. Genervt nimmt Dr. Neverknow auf der linken Seite des Sofas Platz, als das Unglaubliche geschieht.
Richter Zedek steht empört auf. "Was ist denn das!?"
Auch ich staune nicht schlecht, als ein richtiges Gespenst aus der Küchentür spaziert. Mystisch blau leuchtend schreitet es zielstrebig auf sein Opfer zu und bleibt vor ihm stehen. Der Geist zückt ein Messer und sticht zu, Tristan zuckt zusammen und schreit laut auf. Kurz darauf rinnt Blut über das Sofa und die Lichtgestalt flüchtet zurück in die Küche.
Sofort eilt Katia ins Wohnzimmer. Als sie die Leiche ihres Mannes erblickt, weicht sie einen Schritt zurück und schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht. Der Bildschirm verfärbt sich erneut schwarz und spiegelt nun Zedeks geschockte Miene wider.

"I-Ist das... ein echtes Gespenst...?"
Justin zieht einen Lolly aus seinem Mund. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er ihn mit dem Kaugummi getauscht hat.
"Tse, natürlich handelt es sich hier um keinen richtigen Geist. Wie soll es auch? Gespenster existieren nur in unserer Fantasie. Nein, was wir hier sehen, waren lediglich die lächerliche Maskierung der Angeklagten und die grausame Tat, die sie vor unser aller Augen begangen hat." Der Richter wirkt wieder beruhigter.
"Ja... jetzt wo Sie es sagen. Das macht schon mehr Sinn." Er räuspert sich. "Keine Frage, es gibt keine Geister."
Das gefällt mir ganz und gar nicht. Der Prozess hat gerade erst begonnen und Justin hat Zedek schon auf seiner Seite.
"Moment mal! Dieses Video beweist überhaupt nichts! Frau Neverknow hat ausgesa-"
"Es spielt keine Rolle, was die Angeklagte gesagt hat. Als Schuldige in diesem Fall ist ihre Aussage bedeutungslos."
Der Richter nickt zustimmend. "Herr Sunsweet hat recht. Frau Neverknows Aussage hat in ihrer derzeitigen Position keinerlei Gehalt. Außerdem scheint mir das Video sehr aufschlussreich." Das kann doch nicht wahr sein! Katia wird bereits als schuldig angesehen!

"Glauben Sie mir euer Ehren", er wirft mir einen arroganten Blick zu, "gleich werden Sie vollkommen überzeugt von der Schuld der Angeklagten sein. Ich bitte den leitenden Kommissar in diesem Fall in den Zeugenstand. Herr Ervnet hat genauere Daten über den Tathergang für uns, er war als erster vor Ort."
Was? Bevor ich meine Überraschung über Harrys Anwesenheit verdauen kann, betritt die graue Maus bereits den Gerichtssaal. Als die Doppeltür quietschend zu fällt, hat der Riese bereits den Stand erreicht. In Anbetracht der Länge seiner Gliedmaßen kein Wunder.
"Ah, Ervnet. So schnell sieht man sich wieder."
"Tach och, Fro Starbing. Schön, dass Se sich mei' Nam gemerkt ham."
"Oh ja, natürlich. Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit, was Larry?" Räuspernd schaltet sich der Richter ein.
"Sie, ähm... waren also also die erste Person am Tatort?" Übermütig schüttelt er seinen übergroßen Kopf auf und ab.
"Jo freilich! Ik hob de Angeklagte of frische Tat ertappt!" Zedek nickt zustimmend. "Gut, dann erzählen Sie uns doch bitte, was Sie gesehen haben." Verdammt... wieso muss das Schicksal meiner Mandantin von diesem Vollpfosten abhängen? Bitte, bitte sag' jetzt nichts Falsches!

Betretenes Schweigen füllt den Saal. Ervnet stellt sich etwas aufrechter hin, wodurch er gleich einen Meter größer wirkt.
"Also... gestern, um geno 8.30 Uhr errecht uns n' Anruf."
"Wer meldete den Mord?", will ich wissen.
"Wer schon? Die Angeklagte, sonst war nimmand am Tatort."
"Ist es nicht seltsam, dass Frau Nerverknow, wenn sie wirklich schuldig wäre, sofort die Polizei gerufen hat?"
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen scheint Harrys Hirn bei dem Versuch, nachzudenken, beinahe zu explodieren. "Hä? Wes menen Se?"
"Naja, wenn ich der Mörder wäre, würde ich doch versuchen, die Tat zu vertuschen, indem ich die Leiche verstecke. Erst danach würde ich die Polizei rufen, als hätte ich die Blutlache entdeckt und mir Sorgen gemacht."
"Einspruch!" Justin grinst verächtlich. "Darling, ich staune über deine kriminelle Energie, jedoch wärst du ein ganz schön unfähiger Mörder." Er deutet auf den Fernseher über der Eingangstür. "Die Überwachungskamera hätte alles aufgezeichnet, daher wäre jeglicher Vertuschungsversuch verlorene Liebesmüh. Katia hat ihren Ehemann unüberlegt aus Wut getötet, danach suchten sie Schuldgefühle heim und sie rief die Polizei, sprich unseren lausigen Kommissar."
"Einspruch!" Mit der flachen Hand schlage ich auf mein Pult. "Es existieren keine Beweise, dass Katia ihn getötet hat! Ihr Anruf erfolgte nicht aus Schuldbewusstsein, nein, er beruht auf Pflichtbewusstsein!"
"Auf dem Video ist ihr Verbrechen klar und deutlich zu sehen."
"Das ist noch lange kein Beweis. Man sieht lediglich einen Geist, das hätte jeder sein können."
"Einspruch! Nur die Neverknows befanden sich an jenem Tag am Tatort. Die Verteidigung muss Bewiese liefern, nicht ich, und die hat sie nicht. Also Ervnet, fahren Sie bitte fort." Verflucht, er hat recht. Ich brauche Beweise.
Harry scheint kurz verwirrt und blickt zwischen mir und Justin hin und her, bis er schließlich Worte findet.
"Öh, ja... als wir dann zehn Minute später am Tatort erschiene, war's bereits zu spät: Fro Neverno hat ihren Mann umgebracht. De Todeszeitpunkt ca. 8.30 Uhr, wege Verblutung durch Stichwunde. Des Opfer war net mehr ansprechbar während de Verblutung. Wir ham de Täterin unverzüglich festgenomme und de Tatort abgesichert."

Justin fährt sich seelenruhig durchs Haar und verwuschelt seine Frisur so noch schlimmer als in der Lobby. Zu meiner Verwunderung scheint es niemanden zu stören.
"Da hören Sie es euer Ehren, die Aussage des Kommissars deckt sich hervorragend mit dem Überwachungsvideo. Um weitere Zeitverschwendung in diesem Prozess zu vermeiden, würde ich vorschlagen, sofort zu einem Urteil zu kommen." Er zieht einen Stiel aus dem Mund und zeigt damit in meine Richtung. "Ohnehin sind mir die hier ausgegangen und allmählich werde ich ungemütlich."
Der Richter schließt für einen Moment die Augen, dann nickt er und greift seinen Vorschlaghammer. "Herr Sunsweet hat recht. Die Beweislast gegen Frau Neverknow ist erdrückend. Es liegt auf der Hand, was sich an jenem Tag ereign-"
"Moment Mal!" So darf es nicht enden! "Ich... ich bitte um eine Verzögerung der Urteilsverkündung!" Zedek lässt verwirrt sein Hämmerchen sinken. "Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf, Frau Starling?"
"Tse." Justin dreht knisternd ein rotes Bonbon auf. "Warum wohl? Die Verteidigung möchte Zeit schinden." Mist, er hat mich sofort durchschaut. Komm schon Yuri, lass' dir was einfallen!
"Ich, äh..." Genau! Das könnte funktionieren! "Das.. das Video, euer Ehren! Es kam mir etwas merkwürdig vor, wenn ich ehrlich bin. Ich würde gerne Herr Ervnets Meinung hören, um etwaige Widersprüche aus dem Weg zu räumen." Der Richter sieht mich fragend an. "Sie wollen also, dass der Zeuge eine Aussage zum Überwachungsvideo macht?"
"Richtig." Auch wenn ich nicht weiß, wie mir das weiterhelfen soll. Er wendet seine schimmernde Glatze zu Harry. "Wäre das für Sie in Ordnung, Herr Hauptkommissar?"
"Ken Problem, ik helf' gern, wenn ik kann!" Ich spüre, wie er mich verlegen anlächelt, jedoch gelingt es mir, ihn gekonnt zu ignorieren. "Also schön. Ich verstehe ihre Beweggründe zwar nicht, jedoch möchte ich Ihnen eine letzte Chance nicht verwehren. Nutzen Sie sie, Frau Starling."
"Das werde ich, danke."
"Darling..." Justin stützt seinen Ellenbogen auf seinem Pult auf und wirft mir einen gelangweilten Blick zu. "Jeder hier im Saal weiß, dass du bluffst. Aber ich will dich nicht daran hindern, dir dein eigenes Grab zu schaufeln. Nur zu." Gnadenlos zerbeißt er ein kleines hilfloses Bonbon.
Wieder herrscht Schweigen, bis Ervnet endlich versteht, dass wir auf seinen Auftritt warten. "Achso! Äh, ja. Dann leg' ik ma los!" Er kratzt sich mit dümmlicher Miene am Kopf. Diese Aussage ist alles, was ich noch habe. Hoffentlich kann ich etwas damit anfangen...

"Naja, des Video zeigt jo deutlich, wes passiert is'. Nach de Strei verkledet sich de Angeklagte als Gespenst unn-"
"Einspruch! Dafür gibt es keine Beweise! Zumal keine Verkleidung am Tatort gefunden werden konn-"
"Einspruch!" Wortlos hebt Justin seine Mini-Fernbedienung. Auf dem Flachbildschirm erscheint erneut das Wohnzimmer mit den Neverknows, jedoch bewegt sich das Bild unnatürlich schnell und ich kann kein Wort verstehen. Justin spult das Video wohl vor, plötzlich läuft es wieder in normaler Geschwindigkeit und Katia spricht den verhängnisvollen Satz: "Sollen dich doch die Geister holen!" Die Szenerie weicht wieder Zedeks leuchtender Glatze.
"Ihre Mandantin war so frei ihr Vorhaben klar und deutlich anzukündigen. Außerdem hat sie selbst ausgesagt niemanden gesehen zu haben, gleichzeitig war sie die Einzige in der Küche, dort wo der Maskierte her kam. Es gibt hier keinen Grund für zeitschindende Einsprüche." Ervnet nickt bestätigend.
"Jup, klingt logisch, wes de Staatsanwaltschaft sacht."
Der Richter wendet sich mit kritischem Blick zu mir, bedrohlich lässt er den Hammer zwischen seinen Fingern tanzen. "Frau Starling, ich habe sie gewarnt. Noch ein sinnloser Einspruch und ich fälle mein Urteil. Herr Hauptkommissar, bitte fahren Sie fort."
Ruhe bewahren... ich darf nicht so überstürzt handeln. Schon gleich könnte alles vorbei sein.

"Öh, da mach' ik ma' weiter. Also, 's is' jo eigetlich alles gesacht. Nach de Strei verkledet sich Fro Neverno in de Küch' unn... naja..." Nachdenklich legt er seinen Riesenschädel auf seine massive Schulter. "Joa, dann überascht se des Opfer und ermordets." Moment... was sagt er da? Das... das könnte es sein, der Widerspruch, den ich gesucht habe! Aber soll ich wirklich Einspruch erheben? Ja... ich muss es wagen. Eine andere Chance wird sich mir zweifellos nicht mehr bieten, ich möchte Luna auf keinen Fall enttäuschen!
"E-Einspruch!" Ervnet erschrickt, Justin verschränkt mit herausfordernder Miene die Arme. "Das hat ja ewig gedauert. Ich hoffe du hast dir wenigstens etwas Süßes ausgedacht, Darling."
Ich versuche ihm mit meinem Blick möglichst viel Verachtung entgegen zu bringen, dann wende ich mich an Harry. "Herr Ervnet, Sie haben eben ausgesagt, die Geistergestalt hätte das Opfer überrascht, ist das richtig?"
"Äh... ja geno. Warum?"
"Nun, als ich soeben lauthals Einspruch erhoben habe, sind Sie leicht zusammengezuckt. Mit anderen Worten: Sie waren überrascht."
"Ervnet ist eben ein Weichei", wirft Justin ein.
"Gut, also stimmen Sie mir zu, dass er sich erschreckt hat. Und auch, dass man es ihm ansehen konnte."
"Komm endlich zum Punkt, Darling. Worauf willst du hinaus?"
Lässig stütze ich eine Hand am Tisch ab und lege die andere an meine Hüfte. "Ich denke wir können uns überflüssiges Gefasel meinerseits zum Tathergang sparen", äffe ich ihn, mal wieder perfekt, nach.
"Bitte spulen Sie das Video zu dem Moment zurück, an dem sich das Gespenst vor seinem Opfer befindet", fordere ich Justin auf. Ungläubig hebt er eine Augenbraue, tut dann jedoch wie ihm geheißen.
"Stopp! Genau dort. Sehen Sie euer Ehren." Ich deute auf den Fernseher. "Ist es nicht reichlich seltsam, dass Herr Neverknow keine Miene verzieht? Sie wären bei diesem Anblick schon unter ihrem Tisch verschwunden."

"Hm... jetzt wo Sie es sagen... es ist schon merkwürdig. Die Verteidigung hat einen Punkt“, gesteht Zedek.
"Einspruch!" Justin schlägt genervt auf das Pult vor ihm. "An seinem Verhalten ist überhaupt nichts seltsam. Schon vergessen? Das Opfer hatte unmittelbar vorher mit seiner Frau gestritten. Er möchte sie einfach ignorieren, das ist alles."
"Richtig, er hatte mit seiner Frau gestritten. Doch in diesem Moment steht ein Gespenst vor ihm, dennoch wirkt er ganz gelassen. Also Herr Nervnet: Wie können Sie behaupten, das Opfer sei überrascht gewesen?" Ratlos dreht er Däumchen.
"Oh... ich weß net, ich dacht nur, weil 's wär doch normal gewese."
"Ja genau, dieses Verhalten wäre normal gewesen. Und doch war es nicht so. Also unterlassen Sie ihre Mutmaßungen und halten Sie sich an die Beweise! Es geht hier um das Wohl meiner Mandantin!"
"Einspruch!" Justin wirkt plötzlich gereizt, so kenne ich ihn gar nicht. "Na und? Dann hat der Zeuge sich eben geirrt. Am wichtigsten ist doch der darauf folgende Moment des Mordes. Auf solch unwichtige Details achtet doch niemand."
"Einspruch! Allen Details muss gleich viel Wichtigkeit beigemessen werden! Nur so kommen wir der Wahrheit näher."
"Gut, dann zeigen Sie uns doch, wie wichtig dieses Detail ist." Er betrachtet seine Fingernägel und schaut dann herausfordernd zu mir hinauf. "Das Opfer war nicht überrascht, als es die Angeklagte sah. Erklären Sie uns, was das bedeutet."
"Also Frau Starling?" Auch Zedek blickt zu mir, alle Augen sind in diesem entscheidenden Moment auf mich gerichtet.
"Erhellen Sie uns. Warum ist es so wichtig, dass Herr Neverknow nicht überrascht war, die Angeklagte zu sehen?"
"Sprechen Sie nicht von der Angeklagten, es ist nicht zweifelsfrei bewiesen, dass sie der Geist ist. Nein, momentan liegt die Identität des Geistes noch im Dunkeln. Noch."
"Euer Ehren, die Verteidigung versucht nur Zeit zu schinden. Sie hat keine Erklärung parat", schlussfolgert Justin.
"Frau Starling, wenn Sie den Prozess noch unnötig länger hinauszögern, sehe ich mich gezwungen ein Urteil zu fällen. Sie wissen, dass dies ihre letzte Chance ist?"

Ich atme einmal tief ein und aus. Es kann nur diese Möglichkeit geben, alles andere würde keinen Sinn ergeben. Langsam bewege ich mich in die Mitte des Gerichtssaals.
"Die Polizei konnte die besagte Verkleidung nirgends am Tatort finden. Auch von der Tatwaffe, mit welcher unser Geist im Video das Opfer tötet, gibt es keine Spur. Dazu kommt, dass das Opfer nicht überrascht war, geradezu als hätte es niemanden gesehen. All dies kann nur auf eines hindeuten: Dr. Neverknow konnte niemanden sehen, weil es nichts zu sehen gab."

Nervös fährt sich der Richter über seinen schneeweißen Bart.
"A-Also ist der Geist doch echt? Und er hat sich unsichtbar gemacht? Aber... warum ist er dann auf dem Video?"
"Tse." Vergeblich sucht Justin in seinen Hosentaschen nach Süßigkeiten. "Natürlich gibt es kein Gespenst, nur das Hirngespinst der Verteidigung. Es handelt sich um die Angeklagte im Geisterkostüm. Auf dem Video ist das klar zu sehen."
Ich bleibe vor Justin stehen.
"Ja, auf dem Video, aber auch die Angeklagte hat bezeugt, niemanden gesehen zu haben, als sie sich in der Küche aufhielt. Sie hätte genauso überrascht sein müssen wie ihr Mann, war es jedoch nicht. Schon die ganze Zeit kam mir diese Geistergeschichte komisch vor. Der Geist kann unter keinen Umständen echt sein."
"Also gut." Justin beugt sich, einen Ellenbogen aufgestützt, zu mir vor. Warum ist mir das unangenehm?
"Gehen wir mal Ihrem Hirngespinst nach und nehmen an, es gibt keinen Geist. Dann erklären Sie doch mal, wie dieses wandelnde Bettlaken aufs Video kommt."
"Ja, das ist ein offensichtlicher Widerspruch, Frau Starling. Können Sie ihn erklären? Natürlich wäre ich froh, wenn dieser Geist nicht echt ist."
"Oh, Sie können froh sein, Euer Ehren." Ich schenke dem Richter ein Lächeln und begebe mich zurück an mein Pult.
"Ich wage zu behaupten, dass die Kamera manipuliert wurde. Der Geist wurde hinterher aufs Bild gezaubert. Und zwar vom wahren Täter, um den Verdacht auf Frau Neverknow zu lenken!"
Justin schnaubt verächtlich. "Darling, deine Argumentation ist wie ein Lutscher ohne Stiel. Toller Geschmack, aber haltlos."
"Herr Sunsweet hat einen Punkt", pflichtet ihm der Richter bei. "Können Sie das stichhaltig beweisen?"

Ich muss nachdenken. Stichhaltige Beweise brauche ich also...
Moment... stichhaltig? Das... das ist es! Ich wühle in meinen Unterlagen den Autopsiebericht hervor.
"Ja, ich denke, das kann ich." Zedek wirkt überrascht.
"Herr Sunsweet, bitte spulen Sie das Video zum Moment des Mordes vor. Halt! Genau bis hier. Und jetzt passen Sie auf. Das Gespenst hebt seinen Arm und... sticht zu. Es spritzt Blut." Kein Zweifel, meine Vermutung ist richtig. Justin zeigt mit kritischem Blick auf mich. "Ich weiß, dass Sie eine blutrünstige Sadistin sind, aber hier sieht man nichts, was man einen Beweis nennen könnte." Ha, wie falsch du liegst!
"Blut ist das Stichwort, im wahrsten Sinne des Wortes. Sehen Sie? Das Opfer sitzt auf dem Sofa, das Gespenst stellt sich direkt davor und sticht zu. Es müsste im Brust- oder Bauchbereich bluten, doch das Blut rinnt hinter dem Opfer hervor. Wenn Sie nun den Autopsiebericht lesen, erkennen Sie bestimmt den Widerspruch. Versuchen Sie es, Herr Sunsweet."

Nervös und ungläubig kramt Justin in seinen Papieren. Seine Augen fahren rasch über den Bericht, plötzlich weiten sie sich. "Tod nach Blutverlust durch Schnittwunde... im Rücken", zitiert er. Der Richter ist baff. "Jetzt wo Sie es sagen... merkwürdig. Was in aller Welt bedeutet das?"
"Das kann ich Ihnen derzeit auch nicht sagen, euer Ehren", muss ich zugeben. "Jedoch weiß ich, dass dies ein eindeutiger Beweis dafür ist, dass es keinen Geist am Tatort gab. Aufgrund der Position des Opfers, welches auf dem Sofa saß, kann der Geist ihm nicht von vorne in den Rücken gestochen haben. Ergo: Der Frontalangriff ist nur Schein, ebenso wie das Gespenst!" Justin wirkt wortwörtlich entgeistert. "Das kann nicht sein..."
Auch im Gesicht des Richters steht Verwunderung geschrieben.
"Hm... ihre Erklärung scheint mir sehr schlüssig, Frau Starling. Wie sollen wir Ihrer Meinung nach weiter verfahren?" Endlich habe ich ihn auf meiner Seite, jetzt bloß nicht nachlassen.
"Ich bin sicher, wenn wir die Videodatei des Überwachungsvideos untersuchen, werden wir feststellen, dass sie bearbeitet wurde." Zedek erhebt sich. "Also gut, die Datei wird unverzüglich von Experten geprüft. Nach einer 20-Minütigen Pause werden wir mit den Untersuchungsergebnissen fortfahren." Sein Hammerschlag besiegelt den ersten Teil des Prozesses.
 



 
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