Unvergessen - Kapitel 6: Verblüffte Visagen

Kunstbanause

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"Das hast du aber gerade noch gewendet."
"Ja, das kann man-"
"Kann Katia also doch auf einen Freispruch hoffen?"
"Nun, es hängt davon ab, ob das Video manipuliert wurde oder nicht..." Und selbst dann ist der Prozessausgang ungewiss.
Lunas glitzernden hoffnungsvollen Augen zwingen mich jedoch zu einer anderen Antwort. "...ich bin dennoch zuversichtlich, dass wir deine Schwester heute frei gesprochen bekommen." Ich hoffe es inständig.

Luna wirft erleichtert ihren blonden Zopf über ihre Schulter. "Puh, da bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, vor allem da es anfangs noch kaum Chancen zu geben schien, aber wenn du das sagst, bin ich beruhigt." Ein zärtliches Lächeln ziert ihr Gesicht.
Ach, ich wünschte dem wäre wirklich so...
Nein, so darf ich nicht denken. Ich muss weiterhin an Katias Freispruch glauben. Die Beweislage ist dabei, sich zu meinen Gunsten zu wenden. Wir haben eine reelle Chance, noch ist es nicht zu spät!
"Also Luna, der Prozess wird gleich weitergehen. Ich werde noch einmal all meine Kraft mobilisieren, um diese Spukgeschichte möglichst bald zu einem Ende zu bringen. Einem Happy End für dich und deine Schwester." Luna nickt mir entschlossen zu. "Danke Yuri, ich weiß deine Mühen wirklich zu schätzen. Ich glaube an dich, du schaffst das!"
"Vielen Dank, Luna." Ja, ich werde es schaffen!

Als der Prozess fortgeführt wird, bin ich leicht verwundert, dass Justins Frisur wieder makelos gestylt ist. Noch erstaunlicher erscheint mir jedoch, wie er in nur 20 Minuten seinen Süßigkeitenvorrat derart aufstocken kann: Seine Tischfläche ist ein einziges regenbogenfarbenes Plastikmeer. Wie dieser Mann trotz seiner unmenschlichen Nascherei solch eine perfekte Figur bewahrt, ist mir ein beinahe noch größeres Mysterium, als dieser Fall. Der Richter räuspert sich und verschafft sich mit seiner tiefen Stimme erfolgreich meine Aufmerksamkeit. Justin planscht mit seiner Hand unbeeindruckt im Ozean.
"Fahren wir nun mit dem Prozess um Katia Neverknow fort. Herr Sunsweet, zu welchem Ergebnis hat die Untersuchung des Videos geführt?" Er wühlt noch eine Weile auf dem Tisch herum, greift dann jedoch zu einem lila Lolly in seinem Sakko. Seine Antwort erfolgt ohne aufzusehen.
"Nun, ein fremdes Netzwerk hat die Videodatei tatsächlich angezapft. Jedoch konnte nicht ermittelt werden, von wem und wann dies geschah." Ha! Wusste ich's doch!
"Und damit steht fest, dass-"
"Ja, ja. Schon klar", unterbricht mich Justin ungeniert.
"Ich fasse die Haltung der Verteidigung folgendermaßen zusammen: Der Geist auf dem Video ist nur computergeneriert, weshalb weder eine Geisterverkleidung noch die vermeintliche Mordwaffe existieren. Folglich kann Frau Neverknow die Tat nicht begangen haben. Ist das deine Sicht der Dinge, Darling?" Endlich stimmt er mir mal zu. Ich nicke. "Richtig."
Er schaut auf. "Falsch."
"Wie bitte?" Du weißt auch nicht, wann man aufgibt, oder!?
Zedek sieht ihn hilfesuchend an. "Könnte die Staatsanwaltschaft womöglich ein wenig präziser werden?"

"Natürlich, euer Ehren." Er verbeugt sich und wendet sich wieder grinsend zu mir. Mir schwant nichts Gutes.
"Ganz einfach", er hebt einen Finger in die Luft. "Nur weil die Datei manipuliert wurde, ist die Unschuld Ihrer Mandantin noch lange nicht bewiesen. Selbst wenn unser Gespenst ein täuschend echter Fake ist, so waren an jenem Tag nur Frau Neverknow und ihr Mann im Hause. Niemand anderes war am Tatort, der als Täter in Frage kommen könnte, außerdem ist noch nicht geklärt, wie das Opfer nun zu Tode gekommen ist."
"Einspruch! Wenn der Geist gefälscht ist, dann ist auf dem Video doch nur noch dokumentiert, wie die Angeklagte die Leiche ihres Mannes entdeckt, also ihre Unschuld!"
"Einspruch!" Justin sucht knisternd nach einem Bonbon.
"Sie selbst haben eben bewiesen, dass das Filmmaterial manipuliert und somit kein aussagekräftiges Beweismaterial mehr ist. Der Täter könnte noch mehr am Video gewerkelt, geschnitten, retuschiert haben, um somit seine eigene Schuld zu verbergen."
D-Das kann doch nicht wahr sein...
Behauptet Justin gerade wirklich, Katia habe das Video zu ihrem Vorteil manipuliert?
"Einspruch!" Ich schlage fest auf den Tisch, meine Handfläche brennt. "Warum sollte meine Mandantin dann den Geist gefälscht und so den Verdacht auf sich gezogen haben? Ohne jegliche Manipulation würde sie doch offensichtlich als unschuldig gelten!"

"Darling, wenn ich für jeden deiner sinnlosen Einsprüche einen Bonbon bekäme, dann hätte ich jetzt Karies." Müsstest du das nicht sowieso schon haben?!
"Frau Neverknow hat sich den Geist zu Nutze gemacht, um im Video 'unsichtbar' zu werden. So wäre auch geklärt, wie das Opfer zu Tode kam. Unverkleidet stellte sich die Angeklagte vor das Opfer. Der Mann ignorierte sie, da sie zuvor gestritten hatten, dann erstach sie ihn."
"Einspruch! Ervnet sagte vorhin aus, zwischen dem Mord und dem Eintreffen der Polizei seien lediglich zehn Minuten vergangen. Wie soll meine Mandantin in dieser kurzen das Überwachungsvideo auf ihren Computer übertragen und bearbeitet haben? Außerdem: Haben wir nicht vorhin herausgefunden, dass das Opfer nicht von vorne erstochen worden sein kann?"
"Haben wir nicht vorhin herausgefunden, dass das Video bearbeitet wurde und somit nicht mehr aussagekräftig ist? Womöglich stand das Opfer der Angeklagten anfangs mit dem Rücken gegenüber, Frau Neverknow erstach es und setzte es auf das Sofa. Sie hätte diesen Teil problemlos raus schneiden können. Allein die Tatsache, dass das Video manipuliert wurde beweist doch, dass Frau Neverknow, die einzige Person am Tatort, genug Zeit dazu hatte."
"Euer Ehren! Die Staatsanwaltschaft stellt willkürlich Behauptungen auf!"
"Können Sie beweisen, dass es nicht so war? Fest steht doch: Im Haus befanden sich lediglich die Angeklagte und das Opfer. Außerdem hatte sie die Gelegenheit, das Video vor Eintreffen der Polizei zu bearbeiten." Zedek schließt für einen Moment seine müden Augen.
"Nun, ich muss zugeben, die Ausführungen der Staatsanwaltschaft erscheinen mir sehr schlüssig. Ich denke, ein Urteil ist mehr als überfällig." Das... passiert doch gerade nicht wirklich, oder? Justin benutzt meine Entdeckung gegen mich! Wie soll ich den Prozess denn jetzt noch umdrehen? Ich weiß wirklich nicht mehr weiter... Ist das Ende gekommen?

"Öh, 'schuldigung..." Ervnet schaltet sich schüchtern ein. Bis eben hatte ich vollkommen vergessen, dass die graue Maus noch im Zeugenstand steht. Und damit bin ich, den verblüfften Visagen Zedeks und Justins nach zu urteilen, nicht alleine. "Geht's um des Video?" Hm... ob er etwas dazu weiß?
"Ja, darum geht es. Wissen Sie vielleicht etwas darüber? Etwa wann und wie die Polizei an das Video gekommen ist?"
"Naja, des Video hab ik bei de Ankunft am Tatort glech von de Überwachungskamera of mei Laptop gelade." Harry öffnet seinen Mantel und gibt das Gerät stolz zum Vorschein.
"Hab den klenen immer bei mir, wichtiges Bewesmaterial, wissen Se." Mein Gehirn benötigt einige Sekunden, um das Ausmaß dieser Aussage zu begreifen.
"M-Moment mal." Ich schüttle den Kopf in der Hoffnung, wieder auf klare Gedanken zu kommen. Erfolglos. "Ervnet... Sie haben, nachdem Sie das Anwesen betraten, sofort das Überwachungsvideo auf ihren Laptop übertragen?"
Er schwingt seinen großen Schädel auf und ab. "Jup. Ik wollt sicher gehn, dass ik der erste bin, der des Bewesmaterial sichert."
Auch der Richter wirkt schockiert, völlig entgeistert spricht er meine Gedanken aus.
"W-Wissen Sie was das bedeutet, Herr Hauptkommissar?" Ervnet richtet sich vor Stolz schwellender Brust auf.
"Dass ik de entscheidene Bewes geliefert hab?"
"Ja, und zwar um sich selbst zu verdächtigen!" Der graue Riese macht ein dümmliches Gesicht, er scheint wirklich keinen Schimmer zu haben, in welch prekäre Situation er sich soeben befördert hat.
"Natürlich." Justin fährt sich mit den klebrigen Händen durch sein blondes Haar. "Wenn Frau Neverknow es in der kurzen Zeit bis zum Eintreffen der Polizei geschafft hätte, das Video mithilfe ihres Computers zu manipulieren, dann hätte sie das Originalvideo auf der Kamera gelöscht, um keinen Verdacht zu erregen. Jedoch war Ervnet in der Lage, das Überwachungsvideo auf seinen Laptop zu überspielen, die Angeklagte hatte es nicht gelöscht, im Umkehrschluss also noch nicht bearbeitet. Die einzige Person, die das Video hätte manipulieren können, ist somit Ervnet", schlussfolgert Justin. "Er war der erste am Tatort und ohne seine Aufsicht hatte niemand im Polizeirevier mehr Zugriff auf das Video. Er hatte als Hauptkommissar genug Zeit, das Video zu manipulieren, bevor es jemand sehen konnte."
Das... kann doch nicht... Ervnet soll etwas mit dem Mord zu tun haben. Nein... unmöglich!
"Einspruch! Es wäre doch möglich gewesen, dass der Mörder das Video angezapft und bearbeitet hat, nachdem Nervnet es auf seinen Laptop geladen hat!"
"Einspruch! Weit gegriffen, Darling. Hast du auch irgendwelche verwertbaren Beweise für deine Behauptungen? Moment!" Er zieht eine Schnute und macht große Augen. "Euer Ehren! Die Staatsanwaltschaft stellt willkürlich Behauptungen auf! Das könnte ich jetzt auch sagen. Oh, das habe ich ja." Grr... verflixt und zugenäht...

Mein Blick wandert zur Eingangstür, die sich quietschend öffnet. Zwei Polizisten betreten mit klackernden Schuhen den Saal und machen neben Harry halt. Er weiß nicht, wie ihm geschieht.
"Herr Ervnet, ich sehe mich leider gezwungen, Sie bis auf Weiteres in Untersuchungshaft zu bringen." Die tiefe Stimme des Richters donnert unbarmherzig gegen die Saalwände. "Die neusten Erkenntnisse belasten Sie schwer im Fall involviert zu sein und wir müssen alle Verdächtigen vernehmen, bevor ein Urteil gefällt werden kann. Es tut mir leid." Klickend werden ihm Handschellen angelegt, einer der Polizisten nimmt dem Kommissar seinen Laptop ab und klemmt ihn sich unter seinen Arm. "A-aber ik hab nix damit zu tun! I-Ik bin unschuldig!" Plötzlich sieht der sonst so grob anmutende Riese wie ein kleines unschuldiges Kind aus. Ich verstehe immer noch nicht, wie drastisch sich die Situation binnen weniger Minuten geändert hat. Was bedeutet das für Katia?
"Herr Sunsweet, sollte meine Mandantin denn nun nicht freigesprochen werden?" Als wäre nichts geschehen, sieht Justin mich eine ganze Weile entspannt Kaugummikauend an. "Warum sollte sie? Frau Neverknows Unschuld ist noch nicht bewiesen."
"Einspruch! Es ist doch nun bewiesen, dass Katia das Video nicht bearbeitet hat!"
"Nein, das ist es nicht, denn Ervnet hat es noch nicht zugegeben. Jedoch ist es Tatsache, dass das Video bearbeitet wurde, egal von wem. Katia kann das Opfer immer noch getötet haben, das Video wurde dann hinterher von Ernev bearbeitet. Vielleicht arbeiten sie sogar zusammen."
"Pah!" Empört verschränke ich meine Arme. "Das ist doch absurd!"
"...und dennoch eine Möglichkeit, der nachgegangen werden muss. Euer Ehren", er wendet sich an Zedek, "ich bitte um eine Vertagung des Prozesses auf morgen, da nun viele Fragen aufgeworfen wurden, die noch einer Antwort bedürfen, sowie ein neuer Tatverdächtiger festgenommen wurde." Justin grinst mich schräg an. "Hier und heute mit Frau Starlings Mutmaßungen fortzufahren, erscheint mir wenig sinnvoll."
Der Richter nickt bedächtig. "Dieser Meinung bin ich auch. Wir verfahren genauso, wie Herr Sunsweet vorgeschlagen hat. Also gut." Der alte Greis erhebt sich.
"Ich bitte die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung inständig, weiter Hinweise zu sammeln, damit wir in diesem Fall endlich zu einem Urteil kommen können." Er schlägt mit seinem Hämmerchen auf. "Der Prozess wird auf morgen vertagt!"
Das ist es also, das Ende des ersten Prozesses und ich habe nichts, aber auch nichts erreicht, außer noch jemanden zu belasten. Verdammt... wie soll ich Luna nun begegnen?
 



 
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