Unvergessen - Kapitel 7: Böse Geister

Kunstbanause

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"Luna, es tut mir so Leid..." Die Dunkelheit der Lobby entspricht meiner momentanen Stimmung.
"Du warst großartig!" Zu meiner Überraschung strahlt sie mich an. "Ganz so, wie ich es von meiner Chefin erwartet habe."
"Oh, ja, danke. Bist du denn nicht enttäuscht?" Verwundert schlägt sie sich ihre Hand vor den Mund. "Was? Oh nein! Ich habe noch nie einen so fulminanten Schlagabtausch gesehen! Wie ihr gegenseitig immer wieder 'Einspruch' geschrien habt", schwärmerisch blickt Luna ins Leere, "hihi, der Richter musste pausenlos hin und her schauen." Ihr Lächeln schwächt etwas ab. "Nein, ich dachte mir schon, dass es nicht so leicht werden würde. Meine Schwester steckt ja tief in der Tinte."
"Wow, meine Assistentin ist noch viel erwachsener als ich gedacht habe!" Lunas gute Laune lässt den Raum gleich viel heller wirken, so wie der Mond die Nacht erhellt. Dabei müsste ich doch diejenige sein, die sie aufheitert. Meine Schuldgefühle plagen mich. "Luna, ich... ich verspreche dir: morgen ist Schluss mit dieser Spukgeschichte. Endgültig."

Die Sonne durchdringt die Windschutzscheibe, wir sind unterwegs, um Katia im Untersuchungsgefängnis zu besuchen. Luna verschränkt nachdenklich die Arme.
"Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Herr Ervnet seine Finger im Spiel hat."
"Geht mir genauso", pflichte ich ihr bei. "Um ehrlich zu sein glaube ich auch nicht, dass er schuldig ist. Er ist manchmal etwas grob und dämlich, aber ich denke er hat ein gutes Herz."
"Hast du eine Vermutung, wer das Video gefälscht hat?" Ich schüttle den Kopf. "Noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass weder Katia noch Ervnet dafür verantwortlich sind."
"Katia hat keine Ahnung von Computern", kichert Luna.
"Ja, und Harry", ich sehe sie verschmitzt an, "ist einfach zu dämlich." Wir müssen beide lachen. Noch bevor wir uns vollends einkriegen können, sind wir angekommen.

Bereits zehn Minuten warte ich mit Luna im Besuchszimmer des Polizeipräsidiums auf Katia. Es herrscht immer noch die selbe bedrückende Stimmung in diesem kahlen, winzigen Raum, bei der man stets einen Polizisten im Nacken hat. Zumindest ist Luna diesmal bei mir. Ein Räuspern lässt mich zusammenfahren.
"Frau Neverknow wird gerade vernommen, Sie müssen später wiederkommen", sagt der Polizist plötzlich hinter mir. Wütend stehe ich auf und drehe mich zu ihm um. "Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Sie Stümper!? Da sitzen wir hier und verschwenden unsere wertvolle Zeit... Unfassbar."
"Sie gehen also?", fragt er unbeeindruckt.
"Natürlich gehe ich! Komm Luna." Ich stampfte mit Luna im Gepäck Richtung Ausgang, als ich gegen eine Wand pralle. Moment... bei genauerem Hinsehen... Harry! Er wird von zwei Polizisten eskortiert. Sofort fühle ich mich schlecht, denn ich bin verantwortlich für seinen Aufenthalt in diesem einsamen Gemäuer.
"Tach och, Fro Starbing!" Trotz allem freut sich dieser Riese immer noch, mich zu sehen. Mein Bauch verkrampft sich angesichts dieses unschuldigen Lächelns.
"Ervnet... es tut mir leid, wie der Prozess vorhin geendet hat. Glaub mir, ich wollte das nicht. Niemals hätte-"
"Schon in Ordnung. Se könne ja nichts für, ik hab mich ganz von allene verdächtigt. Also lasse wir das."
"Gut, wenn du meinst. Trotzdem möchte ich das wieder gut machen. Sei dir gewiss, dass ich dich hier rausholen werde." Neben Harrys massiver Statur sind die beiden Polizisten links und rechts von ihm für einen kurzen Moment unsichtbar geworden. "Wurdest du gerade vernommen?", will ich wissen.
"Jup, unn jetzt is Besuchszeit."
"Oh, tatsächlich?" Wenn dem so ist, dann sollte ich diese Chance nutzen. Dann wäre ich immerhin nicht umsonst hierher gefahren, ich habe Harry ohnehin treffen wollen. "Das kommt mir gerade recht. Würde es dir etwas ausmachen, mir ein paar Fragen zu beantworten?" Hoffend falte ich die Hände.
"Kein Problem, ik helf' immer, wenn ik kann."
"Vielen Dank!"

Und schon wieder befinden ich und Luna uns im Besuchszimmer, zu meinem Leidwesen steht der Polizist, den ich vorhin beleidigt habe, noch immer hinter mir. Die Stimmung ist somit bedrückender denn je. Ob er mich wegen Beamtenbeleidigung anzeigen könnte? Hm... es scheint ihm nichts ausgemacht zu haben, vermutlich wird er wegen seiner schlampigen Arbeit öfters angefahren. Und selbst wenn, dann verteidige ich mich eben selbst.
Ich wende meine Gedanken von ihm ab und versuche mich auf die graue Maus zu konzentrieren, welche jetzt durch eine spröde Glasscheibe von mir getrennt ist. "Also gut, Harry. Erzähl mir, was du gemacht hast, als du am Tatort angekommen bist."
"Tja, ik hab ledeglich de Tatort gesichert unn Fro Neverno festgenomme."
"Wer war alles dort?"
"Nu Dr. Nevernos Leiche unn sene Fro, die gewent hat. Dann is mir de Überwachungskamera ofgefalle unn weil ik mei Laptop immer dabei hab, konnt' ik des Video sofort übertrage." Das Video, was? Hm...
"Wann und wo hast du dir das Video erstmals angesehen?"
"Naja...", er kratzt sich an seinem großen Kopf, "ik hatt' alle Hände voll zu tun mit de Absicherung, wissen Se? Ik glob später in mei Büro, im Polizeirevier um ca. 9.10 Uhr." Ich kreuze die Beine und lehne mich zurück. Also sind seit dem Mord um 8.30 Uhr bereits 40 Minuten vergangen...
"Hatte in dieser Zeit irgendjemand Zugriff auf deinen Laptop?"
"Nee, wie schon gesacht, ik war stolz, so 'n wichtiges Bewesmittel zu ham, also trug ik's immer bei mir. Ik würd's och jetzt noch ham, wenn de Polizei 's net konfisziert hätt."
"Du sagtest eben, dass du stolz warst, einen so wichtigen Beweis zu haben... Woher wusstest du eigentlich, dass er wichtig ist? Schließlich hattest das Video zu jenem Zeitpunkt ja noch gar nicht gesehen." Harrys Schädel kippt nach rechts, er blickt ins Leere.
"Also... ik hab halt vermutet, dass 's wichtig is, weil die Kamera direkt of des Opfer fixiert war."

"Verstehe. Gut, eine Frage noch: Stehst du in irgendeinem Verhältnis zur Angeklagten?"
"Nee, gestern hab ik se des erste mal gesehn, aber ik kannt' ihren Mann." Ich schlage die Beine ruckartig auseinander und beuge mich an die Glasscheibe heran.
"Tatsächlich? Wie kommt's?"
"Naja, also net persönlich. Se wisse wohl, dass er Chefartz is, ik hatt' mir mal bei 'nem Einsatz des Bein verstocht und er hat mich verarztet. Des is alles." Urplötzlich sucht mich der Gedanke heim, wie Harry bei einem Einsatz um Leben und Tod einem Täter hinterher jagt, ehe er über seine eigenen Füße stolpert.
"Hm? Warum lachen Se?" Er stülpt verwundert die Lippen.
"Was? A-ach, nicht so wichtig." Reiß dich zusammen Yuri, diese Befragung ist essenziell, um Katias Unschuld zu beweisen!
"Wie war er so? Dr. Neverknow meine ich."
"Ik weß net, ziemlich kühl unn net sehr enfühlsam, so grob, wie er mit mir umgegange is. Gerüchte besage, dass ihn kom jemand leiden kann, oßer Fro Neverno 'türlich. Sonst hätt' se ihn ja net geheiratet."
"Herr Neverknow hat sich also nicht gerade beliebt gemacht“, schlussfolgere ich.
"Ja, er hatt' kom Freunde. Oh, da fällt mir ein, 's gibt da dieses Gerücht..." Huch, noch eines also. "Was meinst du?"
"Naja, 's heißt, Dr. Neverknow wurd' öfters von bösen Geistern heimsucht."

Es dauert einige Augenblicke, bis diese Information mein Gehirn erreicht, doch ich verstehe es immer noch nicht.
"Tatsächlich? Geister?", frage ich irritiert.
"Jap, 's sollen die Geister ehemaliger Patiente sei, die durch sei Behandlung umgekommen sind. Deswegen fand ik de Geist in de Video anfangs och net merkwürdig. Also schon irgendwie, aber-"
"Moment, du dachtest also zuerst nicht, dass es Frau Neverknow in Verkleidung war?"
"Ja, ik dacht 's war 'n echter Geist."
Konnte es sich um ein echtes Gespenst handeln? Eines, das auf Rache aus war, auch nach dem Tod? Dafür spricht, dass das Video von keiner Person direkt hätte manipuliert werden können, zudem haben die Neverknows niemanden gesehen...
Es schüttelt mich. Nein, das kann nicht sein, ich glaube nicht an Geister. Ohne Zweifel ist Herr Neverknows Tod menschlicher Ursache. Und wenn doch nicht...?
"Fro Starbing? Alles in Ordnung?" Ich zucke zusammen, als Ervnets monströses Gesicht an der Scheibe klebt.
"Oh! J-ja, tut mir Leid, ich war eben kurz weggetreten." Welch ein Riesenschädel...
"Des merkt man, Se ham mich eben net mal korrigiert."
Ich schaue ihn mit erhobener Augenbraue an. Ist es möglich, dass er meinen Namen absichtlich falsch ausspricht? Wenn dem so ist, werde ich diesen Mann gnadenlos verklagen.
"Also dann, Harry." Ich stehe auf. "Danke für dieses überaus aufschlussreiche Gespräch. Ich möchte mich noch einmal aufrichtig für deine derzeitige Situation entschuldigen."
"Och, des müssen Se net."
"Will ich aber. Der wahre Täter wird für seine Untaten büßen und der Gerechtigkeit zugeführt werden, das verspreche ich dir."

Luna und ich verlassen das Untersuchungsgefängnis und fahren noch einmal zum Tatort. Ich möchte ihn ein weiteres Mal untersuchen, da immer noch nicht geklärt ist, wie das Opfer nun rücklings erstochen worden sein kann. Wir öffnen das quietschende Gartentor des Anwesens und marschieren auf das Gebäude zu.
"Herr Sunsweet hat doch behauptet, dass der wirkliche Moment des Mordes, als Tristan dem Mörder mit dem Rücken gegenüber stand, rausgeschnitten wurde. Aber irgendwie...", Luna verschränkt mit nachdenklicher Miene die Arme, "...finde ich diese Theorie äußerst wage."
"Da stimme ich dir voll und ganz zu. Außerdem, selbst wenn der Mordmoment vernichtet wurde... die Mordwaffe ist immer noch real und lässt sich nicht so einfach löschen wie ein digitales Bild. Sie könnte noch immer am Tatort versteckt sein."
Wir betreten das Anwesen, auch heute laufen hier zahlreiche Polizisten scheinbar ziellos umher. Diesmal versperrt uns kein überheblicher Polizeikommissar den Weg, doch paradoxerweise wüsche ich mir, dass es so wäre.
"Nanu?" Luna bückt sich neben mir hinunter und hebt ein zerknülltes Bonbon-Papier auf.
"Ah, ich glaube zu wissen, woher das-"
"Hey, junges Fräulein! Es werden keine Gegenstände vom Tatort entfernt!" Zeitgleichd wirbeln ich und Luna herum, Justin steht mit schelmischen Grinsen im Türrahmen. Genau wie ich geahnt habe.

"Nicht schlecht Darling, da hast du heute ja einen ordentlichen Auftritt hingelegt." Er kommt mit seinem typisch eleganten Gang auf mich zu.
"Sollte dies ein Kompliment sein, so gebe ich es gerne zurück", sage ich. "Ehrlich gesagt bin etwas verwundert, dich hier anzutreffen. Bist du dir heute nicht zu nobel, den Tatort persönlich zu untersuchen? Hast du keine Handlanger geschickt?"
"Oh, Darling..." Er macht eine abfällige Handbewegung. "Du weißt doch genau, dass Ervnet derzeit in Untersuchungshaft ist. Außerdem will ich den Tatort noch einmal selbst unter die Lupe nehmen, da das Video allein nicht mehr glaubwürdig ist."
"Sag mal... warum hast du dich eigentlich von Hamburg hier her versetzen lassen?", frage ich direkt. Justins Miene versteinert für einen Moment, dann nimmt sie wieder den gleichen eingebildeten Ausdruck wie immer an.
"Nun, in meiner Kanzlei hat es Umstrukturierungsmaßnahmen gegeben. So einfach ist das."
"Verstehe, du bist also aus rein geschäftlichen Gründen hier. Und dass wir am selben Fall arbeiten ist sicher auch Zufall?" Justin schielt kurz an mir vorbei, dann sagt er achselzuckend: "Klar, was sonst." Wo hat er eben hingesehen? Etwa zu Luna?
"So, genug gequatscht, den Rest klären wir besser morgen vor Gericht", sagt er und schiebt sich eine Zuckerstange in den Mund, ehe er in die Küche entschwindet.
"Sollten wir nicht auch nach Hinweisen suchen?" Luna reißt mich aus meinem Tagtraum.
"Was? Oh ja, natürlich wir haben keine Zeit zu verlieren." Warum ist er wirklich hier? Irgendwas stimmt nicht, aber das muss vorerst warten.
 



 
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