Unvergessen - Kapitel 8: Eine transluzide Katia

Kunstbanause

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"Unabhängig davon, ob das Video nun bearbeitet wurde oder nicht: von Katia wissen wir, dass sich zum Zeitpunkt des Mordes niemand außer ihr und Dr. Neverknow im Anwesen aufhielt. Dennoch wurde er rücklings erstochen. Wenn wir also davon ausgehen, dass Katia unschuldig ist, dann..." Mal überlegen... es klingt zwar unmöglich, aber in Anbetracht der Tatsachen kann es nicht anders sein. "...dann muss der Täter sein Werk verrichtet haben, ohne das Anwesen zu betreten."

Luna macht einen unsicheren Gesichtsausdruck. "Aber Yuri, das ist doch völlig unmöglich!"
"Unwahrscheinlich, ja, aber nicht unmöglich, sonst wäre es nicht passiert. Oder glaubst du etwa, Katia lügt?"
"Nein... Meine Schweser würde uns nicht anlügen. Aber... aber könnte es nicht auch sein, dass Dr. Neverknow woanders ermordet und dann hierher gebracht wurde?"
"Luna, ich bin beeindruckt", ich tätschle ihr die Schulter, "ein wirklich sehr interessanter Gedanke. Aber diesmal leider wirklich unmöglich."
"Warum?"
"Ganz einfach", ich deute auf das Sofa, "das Blut. Wenn Tristan an einem anderen Ort ermordet und danach hieher verfrachtet worden wäre, dann müsste es im Wohnzimmer auch an anderen Stellen Spuren geben. Tatsächlich gibt es aber nur hier auf diesem Sofa welche."
"Aber der Täter hätte das Blut doch einfach entfernen können."
"Ja, aber das hätte ihm nichts genützt. Blut lässt sich nicht einfach weg wischen, selbst wenn du es tätest, hätte die Untersuchungskommission ihre Mittel, um es noch nachzuweisen. Außerdem", ich grinse sie an, "wenn wir uns an Katias Aussage erinnern, dann hat sie das Anwesen noch mit einem durchaus lebendigen Tristan betreten, oder nicht?" Lunas zarte Wangen färben sich rot.
"Oh, ähm, da hast du wohl recht..." Ihr blonder Zopf schwingt hin und her, als sie den Kopf schüttelt, um wieder zu Sinnen zu kommen.

"A-Aber was heißt das? Dass nur Blut auf dem Sofa ist?"
"Naja, es bedeuet, dass Tristan hier ermordet wurde."
Sie wirft mir einen misstrauischen Blick zu. "Ja, aber das wissen wir doch schon.“
"Genau, aber wir wissen nicht, wo die Mordwaffe abgeblieben ist. Wenn wir also die Tatsache, dass Tristan hier ermordet wurde und unsere Vermutung, dass der Täter sein Werk von außerhalb verübt hat zusammen nehmen, dann bedeuet das im Bezug auf den Verbleib der Tatwaffe, dass..." Ich denke nach. Es ist nur Blut auf dem Sofa... ja, kein Zweifel. "... dass sie auch hier sein muss. Die Tatwaffe ist immer noch hier."
"Aber Yuri, die Polizei hat doch schon das ganze Anwesen nach dem Messer durchsucht!", protestiert Luna.
"Richtig, aber auch wirklich alles? Überleg' doch mal. Das Blut befindet sich ausschließlich hier auf diesem Sofa, also muss besagtes Objekt auch hier zum Einsatz gekommen sein."
"Die Waffe ist aber nicht hier auf diesem Sofa und Katia hätte keinen Grund gehabt sie zu verstecken."
"Hm... das finde ich auch seltsam." Durch all die Grübelei beginne ich unbewusst hin und her zu laufen.

"Mal sehen... Wenn der Täter die Tat von außerhalb verübt hat, dann... ja, dann muss die Mordwaffe schon vor dem Mord hier gewesen sein. Das heißt im Umkehrschluss: normalerweise muss sie ebenfalls nach der Tat hier gewesen sein, auch wenn ich noch nicht weiß, wie der Täter sie von außerhalb bedient hat."
"Du meinst, er hat sie verschwinden lassen?" Luna erinnert mich an Katia, jetzt da ihre Stirn in Falten liegt. Vermutlich hält sie mich für eine Spinnerin, und damit wären wir einer Meinung.
"Das vermute ich, ja. Denk doch mal darüber nach. Wenn die Waffe schon vor der Tat hier bei diesem Sofa gewesen wäre, dann hätten Katia oder Tristan sie bemerkt."
"Also war sie doch nicht vor der Tat da? Mein Kopf raucht." Und meiner erst, aber jetzt gilt es durchhalten.
"Doch, sie muss da gewesen sein, sonst hätte der Täter Dr. Neverknow nicht töten können. Sie war die ganze Zeit hier, wurde jedoch weder vor noch nach der Tat gesehen... Das bedeuet also, der Täter muss es geschafft haben, die Waffe verschwinden und auf Wunsch zum Einsatz kommen zu lassen."
"Hä?" Ungläubig sieht sie mich an. "Aber gibt es denn überhaupt so eine Waffe? Die praktisch von alleine, wie auf Knopfdruck funktioniert?" Moment mal... wie auf Knopfdruck? Was wäre wenn... "Luna, du hast mich auf eine tolle Idee gebracht!"
"Tja, etwas anderes", arrogant wirft sie ihr Haar zurück, "solltest du von deiner fleißigen Assistentin auch nicht erwarten."

Jetzt habe ich eine Vermutung, sehr wage, aber nicht unmöglich. Lächelnd hebe ich einen Finger. "Am besten rekonstruieren wie den Moment des Mordes."
"Huch? Den Moment des Mordes? Aber brauchen wir dafür nicht die Mordwaffe?"
"Ich bin sicher, dass sie bereits hier ist. Wir sehen sie nur noch nicht." Luna beißt sich mit gerunzelter Stirn auf die Lippe.
"Wir... sehen sie nur nicht?"
"Ja, es ist wie vor dem Mord, da haben weder Katia noch Tristan sie entdeckt. Das heißt, Tristan hat sie wohl entdeckt, zu seinem Leidwesen. Wir müssen einfach die selben Bedingungen schaffen wie gestern zur Tatzeit, dann kommen wir bestimmt auf die Lösung." Ich sehe mich im Wohnzimmer um. "Ist hier etwas Schweres, das wir auf das Sofa stellen können?"
"Äh, ich kann dir nicht ganz folgen, aber gut. Wie wär's mit der Statue von Katia dort hinten?" Luna zeigt auf die steinerne Katia, welche neben dem Flügel die in der Luft sitzt. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte sie bestimmt gerne mal eine Sitzgelegenheit. Aber...
"Ist die denn nicht zu schwer?"
"Was? Oh nein", kichert sie, "die Figur ist nicht aus echtem Marmor, sondern aus Kunststoff. Aber Yuri, dürfen wir denn einfach so am Tatort herumwerken?"
"Ich bin sicher, dass Herr Sunsweet nichts dagegen hat. Stimmt's Justin?"

Irritiert dreht sich Luna um. "Nanu? Stehen Sie schon die ganze Zeit hier?" Die Hände in den Hosentaschen vergraben, nähert sich Justin uns nun endlich, ich habe mich lange genug von ihm beobachten lassen müssen.
"Ich habe alles gehört. Jedes kleine Hirngespinst, das Frau Starling bis eben entwickelt hat." Er grinst spöttisch und zieht eine Tafel Schokolade aus seiner Hose hervor. "Dann soll sie uns ihre magische Waffe-erscheine-aus-dem-Nichts-Theorie doch vorführen. Ich habe schon länger kein Theater mehr besucht und etwas Unterhaltung kann nicht schaden."
"Wie freundlich von Ihnen Herr Sunsweet. Dann tragen Sie, im wahrsten Sinne des Wortes, doch zu diesem Stück bei und helfen mir, diese Figur auf das Ledersofa zu heben."
"Pff, Darling, dafür schuldest du mir eine Lakritzschnecke. Eine lange."
"Sie wird der Länge deines Fruchtgummis angemessen sein."
Verwirrt hebt er eine Augenbraue. "Wie meinen?"
"Ach nichts, nichts. Also los."
Gemeinsam heben wir die Statue an. Sie ist wirklich nicht so schwer wie sie aussieht, aber auch nicht gerade leicht. Justin und ich sind ein gutes Team, im Nullkommanichts sind wir beim Sofa. Neben der vom Blut durchtränkten Stelle befindet sich noch ein freier Sitzplatz. Wir lassen die Statue vorsichtig herab. Es vergeht eine geschlagene Minute, doch nichts geschieht.

"Haha, gut! Sehr gut, eine fantastische Komödie Dar-" Plötzlich gibt einen Schlag.
"Y-Yuri, sieh mal!", stottert Luna.
Wie ich vermutete, dennoch bin ich überrascht. Aus der Naht zwischen Anlehne und Sitzfläche ist ein langes Messer geschossen, welches nun über der Blutlache diagonal in die Luft ragt. Es ist mit getrocknetem Blut überzogen. Das Sofa knarrt, dann fährt das Messer wieder ins Innere der Couch ein und verschwindet spurlos. Justin versucht seine Verwunderung zu verbergen, vergisst jedoch seinen Mund zu schließen.
"Damit wäre der Verbleib der Mordwaffe geklärt", sage ich triumphierend. "Der Mörder hat dieses Sofa präpariert. Sobald jemand darauf Platz nimmt, wird ein Mechanismus durch den Gewichtsunterschied aktiviert. Die Waffe funktioniert automatisch."
 



 
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