Horst M. Radmacher
Mitglied
Die Kündigung seines Volontariats im Referat Kunstsammlungen der Stadt Chemnitz trug Wenzel Urban mit Fassung. Diese Maßnahme hatte er über kurz oder lang erwartet. Die Begründung für seine Entlassung: Der Nachweis über den erforderlichen Masterabschluss im Studienfach Kunstgeschichte lag nicht vor - nach elf Monaten immer noch nicht. Konnte auch nicht vorliegen; denn Wenzel besaß einen solchen Abschluss nicht. Klar, er hatte geschwindelt, aber als Krimineller fühlte er sich deswegen nicht. Schließlich hatte er als Gegenleistung eine außerordentlich ambitionierte Arbeit abgeliefert. Und zwar ganz so, wie er es bei seiner Einstellung zugesagt hatte und in der Folgezeit durch enormes Fachwissen bewiesen hatte. Und nun diese kleinkarierte Entscheidung der Ratsherren. Suboptimal gelaufen, dieser Versuch des Berufseinstiegs. Aber stärker belastete Wenzel die nun nicht mehr vorhandene Nähe zu seinem Lieblingsgerät, zu dem im Rathaus von Chemnitz im Einsatz befindlichen technischen Wunderwerk eines Personenumlaufaufzugs. Volkstümlich werden diese Beförderungsgeräte auch Paternoster genannt. Wenzel Urban hatte seinen Ausbildungsplatz ganz gezielt wegen der Nähe zu dieser traditionellen Technik gewählt. Der Paternoster in Chemnitz gilt als ein ganz besonderer. Er ist einer der wenigen noch intakten seiner Art und in Wenzels sächsischer Heimat der einzige. Wenzel Urban gehört der Gattung technophiler Menschen an, die ein Faible für ein spezielles Gerät aufweisen. In solchen Fällen haben die Betroffenen ein fast erotisches Verhältnis zu dem Objekt ihres Begehrens.
Der Abschiedsschmerz wurde verstärkt durch ein Verbot der Bundesregierung, das den Einsatz von Paternostern in öffentlich zugänglichen Bereichen untersagt. Dagegen baute sich grimmiger Widerstand im Lande auf, der durch eine breit angelegte Kampagne, u.a. durch die Zeitung Neues Deutschland, verstärkt wurde. Unter diesem öffentlichen Druck setzten die Regierenden in Berlin diese Maßnahme vorerst aus. Nun konnte Wenzel wieder unbelastet durchschlafen und mit ihm eine große Anzahl Leidensgenossen in der gesamten Republik. Unter all denen befand sich, hoch im Norden in Kiel, die Kunsthistorikerin Dr. Gesine Fiedler, die im dortigen Landeshaus angestellt war. Dieses ist ebenfalls ein Gebäude mit einem Paternoster zur Personenbeförderung. Und dort bewarb sich Wenzel um die Stelle eines Kunstreferenten. Es war die empathische Frau Dr. Fiedler, die über seine Einstellung zu entscheiden hatte. Bei ihr hinterließ Wenzel fachlich einen sehr kompetenten Eindruck. Der in solchen Fällen obligatorische Nachweis des Studienabschlusses war für Gesine Fiedler nebensächlich. So etwas konnte nachgereicht werden. Und Wenzel Urban wurde auch in Kiel bald hoch geschätzt, nicht zuletzt wegen seiner ambitionierten Arbeitsweise. Hinzu kam, Gesine und Wenzel kamen sich im Lauf der Zeit auch menschlich näher, spätestens als sich ihrer beider Faszination für Paternoster offenbarte.
Ausgelöst durch diese innige Nähe zur Frau und Vorgesetzten, eröffnete sich für Wenzel Urban eine neue, höchst interessante Sichtweise auf die Welt der Paternoster. Gesine zählte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins zur Rettung der letzten Personenumlaufumzüge. Dieses Bündnis, sowie dessen Unterstützer, hatten es fertiggebracht, ein sympathisches Bild dieses traditionellen, beliebten Beförderungsmittels in der Öffentlichkeit zu etablieren. Das bornierte Argument der Behörden, einen Paternoster einzusetzen, wäre gefährlich, konnte schnell ausgehebelt werden. Und der behördliche Vorschlag, einen Paternoster-Führerschein vorzuschreiben, war völlig absurd. Schließlich gab es ja bei den oft sehr langen und sehr steilen Rolltreppen in U-Bahnhöfen oder ähnlichen Örtlichkeiten auch keine Bedenken, diese ohne Führerschein zu betreiben. Und so führte Wenzels Weg, initiiert und befeuert durch die elevatorphile Gesine, tief ins Reich der 'Ups & Downs', wie sich die internationale Gemeinde der Aufzugenthusiasten nannte. Zu deren nächsten Welt-Jahreskonferenz reisten Wenzel und Gesine dann gemeinsam ins brasilianische Salvador de Bahia. Allein das Thema der Veranstaltung, „What goes up, must come down“, ließ beide vor Vorfreude strahlen. Dort, im fernen Brasilien, vor der Kulisse des gigantischen Elevador Lacerda, der die Unter- und Oberstadt mit einem unvergleichlichen Ausblick auf den Atlantik über zweiundsiebzig Höhenmeter verbindet, wurde ein faszinierender Einblick in die Vielfalt ungewöhnlicher Aufzüge vermittelt. Bei diesem Symposium ging es nicht ausschließlich um Aufzüge vom Typ Paternoster. Es wurde über Elevatoren jeglicher Art gefachsimpelt. Man fühlte sich wie auf einer Reise durch eine andere, sehr spezielle Welt, in der von den ungewöhnlichsten Aufzügen der Erde in Bild und Ton berichtet wurde. Wenzel war fasziniert von den kühnen Konstruktionen. Prachtstücke wie der Bailong Fahrstuhl in China, der Gateway Arch in den U.S.A. oder der Elevador de Santa Justa in Lissabon trugen zur Begeisterung bei.
Besonders interessant war für die beiden deutschen Teilnehmer die Sparte Paternoster auf der Agenda dieser Fach-Konferenz als Schwerpunktthema. Äußerst aufmerksam hörten Wenzel und Gesine zu, als der neuseeländische Neurologe, Dr. Ian Russell, über eine therapeutische Verwendung dieser Geräte referierte. Er hatte in seiner Heimatstadt Wellington Patienten, die unter Akrophobie, Höhenkrankheit, leiden, unter Einbeziehung eines Paternosters erfolgreich behandelt. Unter großer Begeisterung des Publikums demonstrierte der Facharzt, wie bei diesem Krankheitsbild eine Kombinationstherapie mittels verschiedener Bauarten von Aufzügen erfolgreich durchzuführen sei. Im ersten Schritt, zur Hyposensibilisierung, wurden die Akrophobiker zunächst in geschlossene Kabinen gebracht. Diese waren mit einer durchgehenden Fensterfront ausgestattet. So wurden die Probanden bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt. Später schlossen sich Fahrten in den nach vorne komplett offenen Paternostern an. Dann ging es weiter mit einer allmählichen Steigerung der Fahrhöhe. Die variierte je nach Bauart des Moduls und nach Schweregrad der Angststörung. Der neuseeländische Arzt konnte eine beeindruckende Erfolgsquote aufweisen.
Wenzel und Gesine waren von den Möglichkeiten dieser Methode überwältigt. Im weiteren Verlauf der Tagung freundeten sich die beiden mit einem Paar aus Portugal an. Zusammen mit diesem gründeten sie nach ihrer Rückkehr eine Reiseagentur in Lissabon, speziell für Menschen, die unter Höhenangst leiden. Die geniale Idee dabei: Der dort befindliche, baulich attraktive Aufzug, Elevador de Santa Justa, sollte der Schritt in die erste Phase einer Desensibilisierung sein. Später dann, in Verbindung mit attraktiven Reisezielen, folgte dann der nächste Schritt im offenem Paternoster. Genau so, wie man diese in München, Kiel, Chemnitz, London oder Wien antreffen kann. Durch diese Idee wurde aus dem Beinahe-Verbot für ein Traditionsgerät ein erfolgreiches Therapiemedium. Das innovative Reise- und Therapieunternehmen hatte Großes vor. Als nächster Schritt war die Kassenzulassung geplant, um breiten Bevölkerungsschichten eine solche Maßnahme auf Krankenschein zugänglich zu machen.
Der Abschiedsschmerz wurde verstärkt durch ein Verbot der Bundesregierung, das den Einsatz von Paternostern in öffentlich zugänglichen Bereichen untersagt. Dagegen baute sich grimmiger Widerstand im Lande auf, der durch eine breit angelegte Kampagne, u.a. durch die Zeitung Neues Deutschland, verstärkt wurde. Unter diesem öffentlichen Druck setzten die Regierenden in Berlin diese Maßnahme vorerst aus. Nun konnte Wenzel wieder unbelastet durchschlafen und mit ihm eine große Anzahl Leidensgenossen in der gesamten Republik. Unter all denen befand sich, hoch im Norden in Kiel, die Kunsthistorikerin Dr. Gesine Fiedler, die im dortigen Landeshaus angestellt war. Dieses ist ebenfalls ein Gebäude mit einem Paternoster zur Personenbeförderung. Und dort bewarb sich Wenzel um die Stelle eines Kunstreferenten. Es war die empathische Frau Dr. Fiedler, die über seine Einstellung zu entscheiden hatte. Bei ihr hinterließ Wenzel fachlich einen sehr kompetenten Eindruck. Der in solchen Fällen obligatorische Nachweis des Studienabschlusses war für Gesine Fiedler nebensächlich. So etwas konnte nachgereicht werden. Und Wenzel Urban wurde auch in Kiel bald hoch geschätzt, nicht zuletzt wegen seiner ambitionierten Arbeitsweise. Hinzu kam, Gesine und Wenzel kamen sich im Lauf der Zeit auch menschlich näher, spätestens als sich ihrer beider Faszination für Paternoster offenbarte.
Ausgelöst durch diese innige Nähe zur Frau und Vorgesetzten, eröffnete sich für Wenzel Urban eine neue, höchst interessante Sichtweise auf die Welt der Paternoster. Gesine zählte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins zur Rettung der letzten Personenumlaufumzüge. Dieses Bündnis, sowie dessen Unterstützer, hatten es fertiggebracht, ein sympathisches Bild dieses traditionellen, beliebten Beförderungsmittels in der Öffentlichkeit zu etablieren. Das bornierte Argument der Behörden, einen Paternoster einzusetzen, wäre gefährlich, konnte schnell ausgehebelt werden. Und der behördliche Vorschlag, einen Paternoster-Führerschein vorzuschreiben, war völlig absurd. Schließlich gab es ja bei den oft sehr langen und sehr steilen Rolltreppen in U-Bahnhöfen oder ähnlichen Örtlichkeiten auch keine Bedenken, diese ohne Führerschein zu betreiben. Und so führte Wenzels Weg, initiiert und befeuert durch die elevatorphile Gesine, tief ins Reich der 'Ups & Downs', wie sich die internationale Gemeinde der Aufzugenthusiasten nannte. Zu deren nächsten Welt-Jahreskonferenz reisten Wenzel und Gesine dann gemeinsam ins brasilianische Salvador de Bahia. Allein das Thema der Veranstaltung, „What goes up, must come down“, ließ beide vor Vorfreude strahlen. Dort, im fernen Brasilien, vor der Kulisse des gigantischen Elevador Lacerda, der die Unter- und Oberstadt mit einem unvergleichlichen Ausblick auf den Atlantik über zweiundsiebzig Höhenmeter verbindet, wurde ein faszinierender Einblick in die Vielfalt ungewöhnlicher Aufzüge vermittelt. Bei diesem Symposium ging es nicht ausschließlich um Aufzüge vom Typ Paternoster. Es wurde über Elevatoren jeglicher Art gefachsimpelt. Man fühlte sich wie auf einer Reise durch eine andere, sehr spezielle Welt, in der von den ungewöhnlichsten Aufzügen der Erde in Bild und Ton berichtet wurde. Wenzel war fasziniert von den kühnen Konstruktionen. Prachtstücke wie der Bailong Fahrstuhl in China, der Gateway Arch in den U.S.A. oder der Elevador de Santa Justa in Lissabon trugen zur Begeisterung bei.
Besonders interessant war für die beiden deutschen Teilnehmer die Sparte Paternoster auf der Agenda dieser Fach-Konferenz als Schwerpunktthema. Äußerst aufmerksam hörten Wenzel und Gesine zu, als der neuseeländische Neurologe, Dr. Ian Russell, über eine therapeutische Verwendung dieser Geräte referierte. Er hatte in seiner Heimatstadt Wellington Patienten, die unter Akrophobie, Höhenkrankheit, leiden, unter Einbeziehung eines Paternosters erfolgreich behandelt. Unter großer Begeisterung des Publikums demonstrierte der Facharzt, wie bei diesem Krankheitsbild eine Kombinationstherapie mittels verschiedener Bauarten von Aufzügen erfolgreich durchzuführen sei. Im ersten Schritt, zur Hyposensibilisierung, wurden die Akrophobiker zunächst in geschlossene Kabinen gebracht. Diese waren mit einer durchgehenden Fensterfront ausgestattet. So wurden die Probanden bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt. Später schlossen sich Fahrten in den nach vorne komplett offenen Paternostern an. Dann ging es weiter mit einer allmählichen Steigerung der Fahrhöhe. Die variierte je nach Bauart des Moduls und nach Schweregrad der Angststörung. Der neuseeländische Arzt konnte eine beeindruckende Erfolgsquote aufweisen.
Wenzel und Gesine waren von den Möglichkeiten dieser Methode überwältigt. Im weiteren Verlauf der Tagung freundeten sich die beiden mit einem Paar aus Portugal an. Zusammen mit diesem gründeten sie nach ihrer Rückkehr eine Reiseagentur in Lissabon, speziell für Menschen, die unter Höhenangst leiden. Die geniale Idee dabei: Der dort befindliche, baulich attraktive Aufzug, Elevador de Santa Justa, sollte der Schritt in die erste Phase einer Desensibilisierung sein. Später dann, in Verbindung mit attraktiven Reisezielen, folgte dann der nächste Schritt im offenem Paternoster. Genau so, wie man diese in München, Kiel, Chemnitz, London oder Wien antreffen kann. Durch diese Idee wurde aus dem Beinahe-Verbot für ein Traditionsgerät ein erfolgreiches Therapiemedium. Das innovative Reise- und Therapieunternehmen hatte Großes vor. Als nächster Schritt war die Kassenzulassung geplant, um breiten Bevölkerungsschichten eine solche Maßnahme auf Krankenschein zugänglich zu machen.