Urlaubsbekanntschaft (Sonett)

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James Blond

Mitglied
Was träumt mein blaues Weib im Silbermeer,
wenn es zur Mittagsglut im Schlaf erstarrt?
Einst hatten Götter sich ins Bild vernarrt
und gaben zögernd einen Torso her.

Dort steig ich schwitzend über karge Rücken
zu Marmorknochen alter Götterwiegen,
und mich bedauern höchstens dürre Ziegen,
an deren Charme sich wenige entzücken.

Heut bleibt die Liebe auf den Teil beschränkt,
der sich verkauft als bunter Urlaubsladen,
sofern man nicht die eignen Schritte lenkt,

sich Orte sucht, im alten Klang zu baden
und lauscht, von Armutslagen reich beschenkt,
dem großen Freikonzert der Singzikaden.
 
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sufnus

Mitglied
Gefällt mir! Meine Komposita-Affine Seite wird auch sehr schön abgeholt (ist aber jetzt keine seitenhiebige Bemerkung, sondern ganz relaxt und positiv gemeint, sind ja auch tatsächlich keine lesefordernden Zusammenfügungen aus der Stirnschweiß-Klasse. :) ).
Liest sich schön und rund.
LG!
S.
 

mondnein

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Wie schön, James,

wieder ein Sonett zu lesen, wo sich Walther doch ziemlich rar gemacht hat.
Und eines von Dir!

Was träumt mein blaues Weib im Silbermeer,
wenn es zur Mittagsglut im Schlaf erstarrt?
ich vermute, zuerst sollte das blaue Meer im Silberweib erstarren, aber egal, wie rum mans dreht, es hat einen expressionistischen touch, der bei Dir, James, sonst ziemlich selten ist.

zu Marmorknochen alter Götterwiegen,
wunderbar!
erinnert mich an Mozart im Amadeus-Film, die Stelle mit den "marmorscheißenden Göttern", von denen der Figaro-Komponist die Nase voll hat. Aber das ist eine schräg geschielte Nebenbemerkung, denn das mit dem "Marmorknochen" ist eine knackige Fügung, ich hoffe, Du bist der Urheber dieses originellen und zugleich naheliegenden Kompositums.

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
@sufnus, @mondnein :

Danke für die Kommentare! In der Tat habe ich dieses Sonett nicht nur wegen des Sommerferienendes, sondern auch wegen seiner Wortbilder ausgebuddelt, als kleine Antwort auf sufnus' besondere Leidenschaften. Und ich freue mich, dass dieser Klangkörper nun auf Resonanz gestoßen ist.

Mit Kompositas sollte man bei aller Liebe zur Sprache zurückhaltend umgehen. Abgesehen von den eingebürgerten Begriffen wirken sie oft gekünstelt, oft sind sie auch schillernd mehrdeutig und nicht immer gelingt es, diese Mehrdeutigkeit dann lyrisch zu umfassen. "Marmorknochen" ist z. B. ein anderer Begriff für Osteoporose, passt aber auch gut zum Bild antiker Ruinen der Mittelmeerinseln.

Nichts wurde getauscht: Das "blaue Weib" als Inseltorso im "Silbermeer" des wellengespiegelten Sonnenlichts war der Ausgangspunkt zu diesem Son(n)ett.
"Götterwiegen" eine leicht euphemistische Bezeichnung der Tempelreste, "Urlaubsladen" das Komplettangebot des (Massen)Tourismus, sein Reimpartner "Armutslagen" als der komplementäre Inselteil, dem Jargon des Sozialarbeiters entrissen und auf die unberührte und vergessene Natur angewendet.
Zur abschließenden Entspannung dann zwei gebräuchliche Kompositas: "Freikonzert" und "Singzikaden" als wohltuende kostenlose Alternative zum Lärm der Urlaubsläden.

Grüße
JB
 

sufnus

Mitglied
Gelobt seien die Mehrwortbandwurmzusammensetzungsmöglichkeiten! :)
Ich finde ja, manchmal ist da ein Zuviel zu viel und manchmal genau richtig.
LG!
S.
 

mondnein

Mitglied
Kompositum, Plural Komposita

es ist ein Geschenk des Erfinders der deutschen Sprache, daß sie fähig ist, beliebig lange Nominalkomposita zu bilden
wie im Sanskrit, wo Komposita, insbesondere in metrisch gebundenen Lehrgedichten, aber natürlich auch in der wissenschaftlichen Prosa, und last but not least in den gewaltigen Epen, noch beliebter sind als im Deutschen und im Griechischen, wo sie zwar möglich sind, aber nicht verszeilenlang aufzutreten pflegen

man kann dieses Geschenk des Grammatikschöpfers annehmen (wer auch immer das gewesen sein will), oder auch nicht

das hängt natürlich auch von der Beckmesserei des Besserwissers ab

oder auch nicht
 
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James Blond

Mitglied
Genau - die Kompositas sind ein schönes Geschenk unserer Sprache, allerdings auch eines, das mit Umsicht einzusetzen ist. In welche Sprachverwüstungen es uns abgleiten lassen kann, zeigt uns u. a. die Beamten- und Juristensprache, auch die der Nachrichten, von der sich manche dann auch im Rentenalter nicht mehr befreien können.

Außerdem ist es eine verführerische Schwäche der Komposita, dass ihnen die bedeutungsstiftende Präposition fehlt und Hundekuchen neben Käsekuchen auftauchen lässt. Das schafft zuweilen kreative Mehrdeutigkeiten, aber auch viel Unsinn und Missverständnisse. Komposita sind praktisch, sie lassen uns Hochkomplexes in wenigen Worten sagen. Ob sie dadurch aber lyrisch sind, möchte ich bezweifeln. Denn mit ihnen wird die Sprache quasi "eingefroren", sie lebt nicht, sie tanzt nicht, sondern wird auf ihre Faktizität konzentriert und reduziert.

Grüße
JB
 



 
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