Vanessas gefährliche Marotte oder ein Traum von einem Café - Teil 1

Kai Kernberg

Mitglied
Vanessas gefährliche Marotte oder ein Traum von einem Café - Teil 1

Prolog

Vanessa saß in dem einigermaßen bequemen Sesselstuhl. Eine nie zuvor gefühlte Mischung aus rastloser Ratlosigkeit und eingeschüchterter Entschlossenheit hatte sie ergriffen. Sie blickte durch die leichte Gardine aus dem französischen Fenster hinaus, über den schmalen Vorgarten hinweg, über den filigranen Zaun, hinaus auf die Straße. Ein Pärchen kam im Sonnenschein den Gehweg entlang, blieb im Sichtbereich stehen, um zu knutschen. Nickend fasste Vanessa den Vorschlag zusammen "vom Erlebten so erzählen, als ob eine gute Freundin vor mir säße, die keine Ahnung von Allem hat." Sie atmetete tief durch. Mit leicht vibrierender Stimme fuhr sie fort "ich stelle mir den Anfang vor und erzähle was ich erlebe und fühle, als ob es gerade jetzt passiert". Sie schwebte in Gedanken über die Straßen, "das könnte mir wirklich helfen". Aus ihrer Handtasche duftete es nach frisch gemahlenem Kaffee. Sie nippte an ihrem Glas Wasser, bemerkte am Glasrand ein dunkles Bröckchen, es sah aus wie Kaffeesatz. Darauf starrend fuhr sie fort "das ist eine gute Idee." Wie ein bestätigendes Zeichen spiegelte sich die Sonne in der Armbanduhr Ihres Gegenübers. "Es ist ein wunderbarer, warmer Sommertag..."

Pausenszenerie

Es ist ein wunderbarer, warmer Sommertag. Frisch, luftig, sonnenglitzernd, so mag ich Mittagspausen in der Stadt. Raus aus dem Büro, den leichten Straßenwind durch die Kleidung streichen lassen.
Im Hintergrund
die quietschenden Reifen eines Autoposers,
schreiende Viecher im Großstadtdschungel.
Eine Klimaanlage rauscht,
der Wellengang des Glasfassadenozeans.
Eine Sirene heult,
aufdringliches Balzen der Statussymbole.
"Die Natur ist auch laut", denke ich verklärt. Doch es ist keine Zeit für Träumereien. Zeit ist Geld, ich habe fünfundvierzig Minuten und ich muss mich entscheiden. Gehe ich erst zu Sushi Point oder gleich zur Barista Lounge? Die rote Fußgängerampel gibt mir Gelegenheit, in Ruhe zu überlegen. Entscheidungen fallen mir immer schwer. Ich bekomme bei jeder Art von Entscheidung so ein ungutes Gefühl im unteren Hals. Ein Frosch, ein nervöses Zuschnüren, eine panische Atemnot, ein bedrohlicher Druck. Mir ist dann, als müsse ich den Hals, die Lunge, das Herz, den Körper von einer Last befreien, mich an die Luft bringen. In diesen Momenten senkt sich vor mir eine Rutschbahn ab, ein Sog zieht mich nach vorne und für einige Sekunden flüchten meine Gedanken in Gefilde, die noch nie etwas Nützliches zutage gebracht haben. Die Furcht vor diesen unkontrolliert wegdriftenden Sekunden sind noch schlimmer, als die Entscheidung selbst. "Die Angst vor der Angst", denke ich "das ist das Schlimmste. Das lähmt mich richtig". Sanft lege ich meine Hand auf die knöchernen Enden der obersten Rippen und atme durch. Der oberste Knopf der Bluse ist offen. Da ist genug Luft zum Atmen, bemerke ich beruhigt. Einige Bekannte haben mir schon vorgeworfen "Du bist einfach zu unkonzentriert und dann wirst Du überrascht und lässt Dich verunsichern" oder "Du musst Entspannungstechniken üben" oder "fokussier' Dich stärker auf den Moment". Doch das trifft es nicht. Ich erlebe in Entscheidungssituationen so etwas wie ein mentales Torkeln. Ich nehme die Dinge vorher durchaus vollständig wahr, sie überraschen mich nicht. Mein Wille lenkt mich auch grundsätzlich in die richtige Richtung. Nur wenn die konkrete Entscheidung zu treffen ist, dann habe ich für wenige Augenblicke das Gefühl, ohne Cockpit durch einen Tunnel zu rasen und erst dahinter wieder die Hebel in der Hand zu halten. "Das hemmt mich im Leben", gestehe ich mir wieder einmal ein. Doch heute werde ich es anders machen. Jetzt gleich werde ich mich zusammenreißen, bei der Sache bleiben und meinen Plan durchziehen, egal wer welche Entscheidung von mir verlangt.
Ich blicke an der Ampel zur Seite, zu dem Mann mit dem weißen Strohhut, dem rosa Hemd und der sandgelben Hose. Eine auffällige Figur, aber nicht extravagant. Ein selbsbewusster Mensch. Ein attraktiver Mann. Er weiß sicher stets, was im Leben Priorität hat. Er sieht, was kommt und gestaltet seinen Weg drei Züge im Voraus. Ich spüre seine Aura. Als ob ich es aus seinen Gedanken ablesen würde, murmele ich mir selbst zu "zuerst zur Barista-Lounge". Er scheint mir dezent zuzunicken und geht los. Beiläufig tippt er auf seine Armbanduhr. Ich muss kichern. Fünfundvierzig Minuten, Barista-Lounge, der Mann mit Hut weiß, was gut für mich ist. Das grüne Männchen auf der Ampel anschmunzelnd wandele ich schräg über die Straße, mein Ziel bereits im Blick. Der Laden ist nicht besonders groß, auf der vollen Breite steht über den Schaufenstern "Barista-Lounge HOT Coffee Place". Das klingt nach Exotik, aber auch nach Edelkitsch. Der Name spricht eine Möchtegern-Cosmopoliten-Zielgruppe an, schreckt aber normale Menschen eher ab, mich eingeschlossen. Trotzdem werde ich mich überwinden. So schwer kann das nicht sein. Die Zeit ist reif, ich will endlich mitreden können. Mein Kollege Frederic war darüber perplex. Ungläubig und beinahe besorgt sprudelte es aus ihm heraus "Das ist ja ein Ding! Du gehst zur Barista-Lounge? Das hätte ich nicht gedacht! Warst Du da schonmal?". "Warum soll ich da nicht hingehen? Gehen doch alle hin", hielt ich pikiert dagegen. In seinem Gesicht spiegelte sich heftiges Nachdenken, "dann... am Besten... such' Dir am Besten vorher online raus, was Du holen möchtest. Dann: Schnell rein, schnell raus", empfahl er mir, als ob ich einen schlecht geplanten Bankraub vorhätte. "Schnell rein, schnell raus", lachte ich ihn an, "typisch Mann". Doch Fred blieb ernst. "Der Laden ist eng. Er ist stickig. Halte Deine Tasche fest, halte Deine Sachen fest. Wenn was passiert... Du weißt ja, wie es in der Stadt läuft". Seine Warnung fand ich anmaßend. London, New York, Prag, Tokio, die Hotspots des Tourismus, ich bin damit vertraut. Meine beleidigte Miene nahm Fred tatsächlich zum Anlass, sich zu entschuldigen und fügte kumpelhaft hinzu "ist nicht böse gemeint. In der Barista-Lounge ist es manchmal, sagen wir mal ... unübersichtlich. Such Dir vorher 'was aus, dann ist Alles easy". Er ist so besorgt und herzlich, Fred ist wirklich ein Mann zum Heiraten. Obwohl, eigentlich eher nicht, denn er ist wohl zehn Jahre jünger als ich und hat bereits ein oder zwei Kinder. Aber wenn er sich einmal in die falsche Toilette verirren würde und ich stünde gerade am Waschbecken... Ich würde das Bürschchen bearbeiten, bis er mit seiner Manneskraft den Buchstaben "O" morst.
Freds nützlichen Rat habe ich jedenfalls tatsächlich befolgt. Das ausdifferenzierte Angebot der Barista-Lounge ist auf den ersten Blick erschlagend. Fred ist wirklich ein Engel, so wie er sich um mich sorgt, nur weil ich Kaffee kaufen gehe. Nun bin ich gut vorbereitet und fühle mich dadurch very secure. Von Weitem schon ist die Schlange vor dem Laden sichtbar. Gewöhnlich auf der Straße herumzulungern ist natürlich prollig. Aber auf dem Gehweg vor einem trendigen Café ewig anstehen, das ist hip! Das ist Hollister, das ist Louis Vitton, das ist Oberschicht, da will ich dazugehören. Meine Haut kribbelt, eine Mischung aus Todesmut und Versagensangst treibt mich voran. Mein schwarzer Bleistiftrock, der unterhalb der Rippen ansetzt und oberhalb des Knies endet, verwandelt sich in meinem Geist in ein elegantes, eng anliegendes, knöchellanges, ikonisches Abendkleid, das mit mir in Cannes über den roten Teppich schwebt. Soll sich der Alp doch hinter meinem Rücken in die Nähte des PRADA-Gewandes krallen! Ich gehe voran und lasse mich von ihm nicht aufhalten.
In meinen Ohren klingen Freds Mahnungen. Lächerlicherweise blicke ich über die Schulter, um zu schauen, ob von dort Gefahr droht. In der Entfernung geht der Mann mit Hut. Nervös lache ich in mich hinein "der Strohhutmann ist schuld, wenn ich gleich Schuh' und Strümpf' verlier'".

Das Café

Ich erreiche die Schlange. Gleich werde ich andocken, Kontakt aufnehmen zu der angesagten Community aus Bankern, Versicherungsleuten, Analysts, Specialists, Senior Consultants, C-Levels und Presidents. Entschlossen steuere ich auf zwei Herren in modisch engen Anzügen und mit kantigen Sonnenbrillen zu. So wie sie dastehen könnten sie von einem Werbeplakat für Gentlemanmode jeden beliebigen Platz der Stadt vereinnahmen. "Wenn ich mich bei den beiden unterhaken könnte, dürften sie mit mir machen, was sie wollen", phantasiere ich lüstern. In meinen Gedanken tauche ich mit den beiden ein in Szenen aus Pretty Woman, Fifty Shades of Grey und lande mit ihnen in Toni Erdmann, in jener Szene, als Ines in ihrer Budapester Wohnung eine Teamparty gibt.
"Steht ihr an für...", spreche ich die beiden an. Es lohnt sich, die Queue in der Mehrzahl anzusprechen. Das "steht ihr an" enthält ein "Du", ohne billig zu wirken. Das "ihr" nimmt Kontakt zu mehreren auf, lenkt die Aufmerksamkeit auf mich. Die zwei sind enttäuschenderweise so ins Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht bemerken. Das "ihr" rettet mich. Ein Anderer wendet sich mir zu, nimmt den Gesprächsfaden auf. Er hat den richtigen Spirit! Hier in der Scene lässst Du keinen hängen, Du hilfst den Bedürftigen, Du springst ein, auch wenn es nicht Dein Job ist. Das ist Lunchtime, das ist smooth, hier zeigst Du Personality. "Einer für Alle, Alle für Einen!" So eine krass impressing Solidarity. Es ist geschmeidig und humanitär, Part of It zu sein. Kurz gesagt: Hier feiert sich das Kapitalistendreckspack selbst. Aber gut sehen sie dabei aus.
Der Herr mustert mich wohlwollend, mein Dresscode passt. Sein interessierter Blick verweilt auf meiner Bluse. Vor der Lunchbreak lohnt es sich, den Kontrast der Kleidung zu erhöhen. Habe ich ein helles Oberteil an, ziehe ich etwas dunkles darunter, schwarze Unterwäsche macht es den Betrachtern leicht, sich die Bluse wegzudenken. Oder umgekehrt leuchtet weiße Unterwäsche verführerisch durch dünnen, dunkelblauen Blusenstoff. Kleidung anderer Menschen animiert mich immer zu Phantasien. Mir gefällt auch der Gedanke, selbst Assoziationen auszulösen, durchscheinende Unterwäsche mag ich dabei am Liebsten. Allerdings spüre ich schon beim Gedanken an die bereits getroffene Entscheidung einen unangenehmen Druck im Hals und führe meine Finger zum Kehlkopf. "Hell unter dunkel", spreche ich mir im Geiste zu. Ich habe mich schon entschieden. "Dunkelblaue Sommerbluse, weiße Unterwäsche", mache ich mit bewußt, "ich kann Ruhe bewahren..., ich bekomme Luft, Alles ist gut."
"To Go oder Coffeepack?", fragt er, meine Schulter fixierend. Der weiße, fingerbreite Träger schimmert dort besonders deutlich durch den Stoff. Er selbst trägt einen Anzug in hellem Karamell und darunter ein blassgrünes Hemd. Er ist so unscheinbar. Ich hatte ihn gar nicht wahrgenommen, bevor er seine Frage gestellt hatte. Jetzt ist er plötzlich, wie ein Wunder, vor mir erschienen. Seine Frage trifft mich dementsprechend unvorbereitet. Ich nestele am Knopf der Bluse, presse das Wort "Coffeepack", hervor, zwinkere ihm nervös zu und öffne dazu unbewusst den nächsten Knopf, um mir Luft zu verschaffen. An den Knöpfen zu knibbeln, war schon immer meine nervöse Angewohnheit. Im Geiste abschweifend sehe ich mich als Jugendliche in der Tanzschule, wo mir genau diese Nestelei an den Knöpfen eine große Auswahl an Tanzpartnern einbrachte. Die Buben lauerten nur darauf, mir in den immer tiefer werdenden Ausschnitt zu stielen. Damals war ich 14, heute bin ich 41 und die unschuldigen Tanzschulzeiten sind lange vorbei. Meine damals hoffnungsvolle A-Oberweite ist zu einem repräsentativen C herangewachsen. Die Schwerkraft macht daraus große, wogende Tropfen, die Männer geradezu verrückt machen, wenn ich auf ihnen reite und ich freue mich dann diebisch darüber, wie ihre Augen dazu auf und ab hüpfen...
Die sanfte Stimme meines Gesprächspartners holt mich zurück auf den Gehweg "dann darfst Du an der Schlange vorbeigehen". Ich nehme meine Hand hinunter, lächele ihm charmant zu, hauche ihm "Danke!" zu, wende mich galant von ihm ab und ziehe dabei mit einem geübten, kaum erkennbaren Griff den Rock zwei fingerbreit hoch. Betont langsam, mit extra Hüftschwung und in der Gewissheit, dass mir der Bursche hinterher sieht, stolziere ich an der Schlange entlang in Richtung der Eingangstür. Dort, an der Tür, zeigst Du, ob Du würdig bist, ob Deine Confidence ausreicht, die Prüfung überhaupt anzunehmen. Es ist eine einfache Glastür, eine wie an vielen Geschäften. Die dichte Reihe der Anstehenden schlängelt sich hindurch wie eine unzertrennbare Kette. Sie füllt den Türdurchgang zu zwei Dritteln aus. Ich werde mir den Weg durch dieses Nadelöhr bahnen müssen. Es gilt, die Nerven zu bewahren. "Hier darfst Du nicht canceln", appelliert meine innere Stimme. Die Wartenden in der Schlange sind konzentriert. Sie müssen ihr Smartphone im Blick behalten, haben vielleicht ein Telefonat am Laufen, sind vielleicht in Begleitung und müssen dem Gespräch folgen, müssen den Anschluss an die Schlange halten, müssen ohne zu stolpern die Türschwelle überwinden, müssen bei alledem gut aussehen. Und dann komme ich und walke an ihnen vorbei. Noch vier Schritte, bis dahin muss ich es geschafft haben, dass die Eine, die gerade in der Tür steht, mich bemerkt, mir Platz macht. Es ist offenbar eine rollierende Verantwortung im Kundenstamm der To Go-Schlange, die Türsteherrolle zu übernehmen. Die Eine. Sie steht da, im dunkelblauen, langen Jumpsuit. In ihrem Makeup zeichnet sich eine strong Woman ab. Mein Hals wird eng, unwillkürlich hebe ich meine Hand in Richtung meines Halses. Jetzt onboard bleiben. Jetzt fresh sein. Sie hat mich bemerkt, ich muss stabil durchstarten. Mit kühlem Blick und festem Schritt schreite ich voran, meine Hand fährt an der Knopfleiste hinab in den Ausschnitt. Eine Armlänge vor ihr werde ich langsamer, bleibe fast stehen. Ihr Blick ruht auf meiner Hand. Mein Daumen liegt auf dem Rand des von Häkelspitze überzogenen Cups. Das weiße Relief prägt sich durch den blauen Stoff. Das habe ich gut gewählt. Innerlich trumphiere ich, "wenn Du wüsstest, dass ich auch das dazu passende Unterteil aus transparenter Spitze trage! Das würde Dir gefallen...", geht es mir durch den Kopf.
 



 
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