DarkskiesOne
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Mein Vater musste uns bereits verlassen, als ich noch viel zu klein war, um zu wissen, dass jedes Kind einen Vater hat. Freiwillig ist er nicht gegangen. Es war meine Mutter, die ihm den Laufpass gab. Das passierte, nachdem mein Vater die Treppe heruntergefallen war und sich das Bein gebrochen hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn im Krankenhaus besuchte, hatte er so großen Durst gehabt, dass er sie immer und immer wieder bat, ihm etwas zu Trinken zu bringen. Nur einen einzigen, winzigen Schluck. Sie weigerte sich. Als sie von einem ihrer Krankenbesuche zurückkam, entdeckte sie in seiner Wohnung die Flaschen im Kleiderschrank. Leere Flaschen hinter den Vorhängen im Schlafzimmer. Und unter seinem Bett. Wie vom letzten Osterfest übriggebliebene Eier hatten sie in ihrem Unterschlupf gelegen, bis jemand sie finden und über die unerwarteten Gaben jubeln würde. Doch niemand war erfreut gewesen. Stattdessen wurden die leeren Flaschen aus ihren Verstecken entfernt, und mein Vater verschwand aus meinem Leben, das gerade erst begonnen hatte. So wuchs ich auf, ohne meinen Vater jemals gesehen zu haben. Ich vermisste ihn nie. Das einzige Foto, das meine Mutter von ihm besaß, war ein Schnappschuss, aufgenommen kurz nach meiner Geburt. Es zeigte mich als strampelnden Säugling, ein rosiges Ferkelchen auf der Wickelkommode im Badezimmer. Meine Mutter lächelte, das Gesicht halb dem Fotografen zugewandt, strahlend in die Kamera. Neben ihr, mein Vater, dessen Blick auf mir ruhte. Meinen Vater sah man nur im Profil. Markante Nase, dunkles Haar. Mehr war von ihm nicht zu erkennen.
Als ich zur Schule kam, musste ich schmerzlich feststellen, dass ein Kind einen Vater braucht. Jedes Kind hat einen. Ein Kind ohne Vater ist nur ein halbes Kind. Die Papas reparierten die Autos, wenn sie kaputt waren. Sie verdienten das Geld, damit die Mütter zu Hause bleiben und ihren Kindern Mittagessen kochen konnten, wenn die Kleinen aus der Schule kamen. Am Wochenende spielten die Väter mit ihren Söhnen Fußball und wenn die Mädchen sich dabei nicht zu doof anstellten, durften sie sogar mitspielen. Mein Mittagessen wurde von meiner Tagesmutter gekocht, damit meine Mutter den Job meines Vaters übernehmen konnte. Später erledigte der Backofen die Kocherei, reinschieben, 150 Grad, 20 Minuten, fertig. Meine Mutter arbeitete den ganzen Tag in irgendeinem Büro, wo der Vater eines anderen Kindes ihr Briefe diktierte.
Jeden Morgen um 7.00 Uhr klingelte bei uns zu Hause das Telefon. Meine Mutter war schon lange ins Büro gegangen. Ich wusste, dass ich aufstehen musste, wenn das Telefon das erste Mal läutete. Ich hob den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung hörte ich die Stimme meiner Mutter, die mir sagte, dass ich jetzt aufstehen, mich anziehen und frühstücken solle. Das Frühstück stand immer in der Küche für mich bereit. Wenn meine Mutter das nächste Mal anrief, war es Zeit, sich auf den Weg in die Schule zu machen. Den Schulweg hatten wir gemeinsam geübt. Am ersten Schultag waren wir zusammen zur Schule gelaufen. Ich in meinem neuen blauen Cordkleid, die blaue Schultüte mit dem gelben Entchen darauf, im Arm. In der Schule bekamen die Jungs orangefarbene Schirmmützen mit dem hellgrünen Emblem der Verkehrswacht darauf und die Mädchen ebensolche Kopftücher. Die leuchtenden Farben sollten die Autofahrer auf uns aufmerksam machen, damit wir als Schulanfänger auf unserem Schulweg nicht überfahren würden. Blöde Idee, fand ich, denn fast alle Kinder wurden sowieso tagtäglich von ihren Müttern zur Schule begleitet und diese passten schon auf, dass ihren Kleinen nichts Böses zustieß. Außerdem hätte ich viel lieber so eine coole Schirmmütze gehabt, wie die Jungs sie tragen durften. Meine beiden Freundinnen sahen mit ihren Kopftüchern und den Zahnlücken in ihren grinsenden Erstklässlergebissen wie kleine Hexen aus. Ich wollte keine Hexe sein. Dann schon lieber ein Junge.
Als ich älter wurde, stellte ich fest, dass Väter auch sehr gut dazu taugten, mit ihren Kindern ins Kino zu gehen, zum Schlittschuhlaufen oder in die Eisdiele. Jedenfalls machte mein Stiefvater solche Sachen, wenn er am Wochenende seine eigene Tochter abholte. Manchmal wünschte ich mir, auch eine Sonntagstochter zu sein. Irgendwie war das etwas Besonderes. Mein Vater allerdings wollte noch nicht mal eine Sonntagstochter haben.
Als ich volljährig wurde, gab das Jugendamt die Pflegschaft für mich in meine Hände und ich erhielt einen schweren Packen wichtig aussehender Dokumente und den wohlgemeinten Ratschlag, meinen Vater auf Unterhalt zu verklagen, damit ich einen Rechtstitel besäße. Ansonsten würde der Anspruch auf Unterhalt eines Tages erlöschen.
Es ist überhaupt nicht schwierig, jemanden zu verklagen, den man nur von der Seite kennt.
Ein bisschen wie Pokern.
An beiden Enden des Spieltisches sitzen Anwälte hinter ihren Schutzwällen aus Aktenordnern und Gesetzestexten und bluffen, was das Zeug hält. Es geht auch nicht darum, wer das beste Blatt auf der Hand hat, sondern, welche Seite am geschicktesten mit gezinkten Karten spielen kann oder, einem Zauberkünstler gleich, unbemerkt das fünfte As aus dem Ärmel zieht. In meinem Fall waren sich die Gegner durchaus ebenbürtig. Das Spiel fand kein Ende.
Deshalb beschloss ich schließlich, meinen Vater mit einem persönlich verfassten Brief zu überraschen. Was meine Anwältin in einem Jahr der Korrespondenz mit eiserner Feder nicht vermocht hatte, schafften meine schüchternen Zeilen innerhalb weniger Wochen. Mein Vater meldete sich bei mir, ebenfalls per Brief, und ich erhielt zum ersten Mal in meinem Leben väterliche Zuwendung in Form von dunkelblauen Worten auf weißem Untergrund.
Jetzt hatte ich einen Vater, auch wenn er für mich weiterhin nur auf dem Papier existierte.
Auf meinem alten Kinderfoto und buntbedruckten Postkarten, die er mir schickte und zu denen sich hin und wieder ein knisternder Geldschein gesellte.
Ich wurde ein klein wenig neugierig auf dieses Phantom, das aus dem Nebel der Vergangenheit aufgetaucht war und begonnen hatte, mit Hilfe eines gewöhnlichen Kugelschreibers zu mir zu sprechen. Fragen sammelten sich auf meiner Zunge, Fragen, über die zu stellen ich vorher nie nachgedacht hatte und die ich nun doch endlich stellen wollte. Warum mein Vater seit der Trennung von meiner Mutter nie nach mir gefragt habe, schrieb mein Füllfederhalter auf das geduldige Briefpapier und verhalf meinen Worten zu einer lautlosen Stimme. Ob er sich nie danach gesehnt habe, mich zu sehen? Der Stift stockte, schwebte eine ganze Weile unschlüssig über dem Papier, doch es musste ausgesprochen werden und so bewegte er sich langsam, tastete sich Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz heran und verriet meinem Vater behutsam, dass es ihm, dem Stift, nicht leicht fiele, diese Fragen überhaupt niederzuschreiben.
Ich blickte auf das Blatt Papier vor mir auf dem Tisch, auf dem ich meinem Vater die Frage stellte, ob er Alkoholiker gewesen sei.
Seit 23 Jahren kannte ich nur die Version meiner Mutter.
Meinen Vater nur von einer Seite.
Es wurde Zeit, die andere kennenzulernen.
Als ich den Antwortbrief Wochen später aus dem Kasten zog, spürte ich einen Kloß im Hals und den unwiderstehlichen Drang, das Schriftstück, das sich in meinen Händen wie ein Klumpen Blei anfühlte, einfach ungeöffnet in den Mülleimer zu werfen. Aber ich hatte mich schon zu weit vorgewagt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.
Mit klopfendem Herzen riss ich den Umschlag auf und begann zu lesen.
Die andere Seite fuhr schwere Geschütze auf. Keine Spur von der Behutsamkeit, mit der ich meine Fragen zu Papier gebracht hatte. Worte explodierten wie Knallfrösche direkt vor meinen Augen, sprangen mir als hässliche Kastenteufel mitten ins Gesicht und zeigten ihre verzerrten Fratzen. Schuld, Lüge, Verrat, schrie es mir von jeder Seite des Briefes entgegen.
Es ist alles ihre Schuld! Sie hat mich betrogen! Ich konnte ja noch nicht mal sicher sein, dass du wirklich meine Tochter bist. Belogen hat deine Mutter dich von Anfang an. Ich habe nicht getrunken. Niemals. Und wenn, dann nur ein kleines bisschen. Weil sie mich dazu gebracht hat. Sie hat mir alles genommen, was mir lieb war, als sie gegangen ist. Sie hat mein Leben zerstört.
Fassungslos starrte ich auf diese Anklageschrift und spürte, wie heisse Wut in mir aufstieg. Wut auf dieses Gespenst, das von sich behauptete, mein Vater zu sein und trotzdem nicht davor zurückschreckte, mir jetzt auch noch meine Mutter nehmen zu wollen. Ein Fremder, der Lügen über meine Mutter verbreitete. Der über sein eigenes Elend jammerte, ohne auch nur zu fragen, wie es uns beiden die ganzen Jahre über ergangen war, in denen meine Mutter versucht hatte, mir Mutter und Vater zu sein und unter dieser Bürde nicht selten zusammenzubrechen drohte. Ich kenne meine Mutter seit 23 Jahren.
Von vielen Seiten.
Eine Lügnerin ist sie nicht.
Ich weiss, dass sie meinen Vater geliebt hat.
Aber weiter mit ihm zusammenleben konnte sie unter den gegebenen Umständen nicht.
Ich beschloss, diesen Mann, der vorgab, mein Vater zu sein, fortan zu ignorieren. Es war einfacher, weiterzuleben wie bisher, mit einem Haufen unbeantworteter Fragen im Gepäck, aber ohne die Gefahr, plötzlich hinterrücks ins Herz geschossen zu werden. Das Phantom verschwand wieder im Nebel und ich konnte nicht behaupten, dass ich es sonderlich vermisste.
Eines Abends klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer ab und eine mir gänzlich unbekannte Männerstimme erklang in meinem Ohr. Als sie ihren Namen nannte, wusste ich, dass ich mit einem Geist telefonierte. Das Gespenst, welches hartnäckig darauf bestand, mein Vater zu sein, wollte mit mir plaudern, als habe es den verhängnisvollen Brief niemals geschrieben. Aber ich war alt genug, um zwar bei Bedarf zu verdrängen, aber keineswegs zu vergessen. Noch einmal versuchte ich, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Antworten, die das Phantom mir geben konnte, wenn es tatsächlich mein Vater war und er war mir diese Antworten verdammt schuldig! Der Mann am Telefon weigerte sich, mit mir zu reden. Wieder wurde meine Mutter zur Zielscheibe seiner Anschuldigungen, während er im weißen Gewand eines Engels durch seine Ausführungen schwebte. Wieder unternahm ich einen vergeblichen Versuch, die Stimme dazu zu bringen, mir eine Antwort auf das zu geben, was ich sie gefragt hatte.
Als mir das nicht gelang, versuchte ich, sie zum Schweigen zu bringen.
Ich schrie.
Ich schrie so laut, dass mein Vater mich hören musste, egal, wo auf der Welt er sich gerade befand, selbst wenn er den Telefonhörer bereits wieder auf die Gabel zurückgelegt und die Verbindung damit unterbrochen hätte.
Ich brüllte meine Wut, den Schmerz und die Enttäuschung über unsere Sprachlosigkeit heraus, als könnte ich durch überhöhte Lautstärke das fehlende Verständnis wettmachen.
Dann warf ich den Hörer auf die Gabel und begann zu weinen.
Das Nichtgespräch ist jetzt bereits einige Wochen her.
Es ist kurz vor Weihnachten und in der Buchhandlung wie immer die Hölle los. Ich habe den Beruf der Buchhändlerin gelernt. Viel lieber würde ich selbst Geschichten erfinden, um vielleicht mit dem geschriebenen Wort das zu erreichen, was mir mit gesprochener Sprache einfach nicht gelingen will. Menschen zu berühren. Bislang begnüge ich mich damit, die Gedanken und Botschaften anderer zu verkaufen. Ein Kunde in einem grünen Mantel mit grauem Pelzkragen an der Kapuze, einen kleinen Zettel zwischen den Fingern, zwängt sich durch die Massen der potentiellen Käufer und bahnt sich zielstrebig seinen Weg zu mir. Vorbei an einem roten Anorak, dessen Hals von einem ebenso roten Wollschal umschlungen wird, und einem hellen Cordmantel mit blonden Locken unter dem kamelfarbenen Hut.
„Der graue Pelzkragen braucht Beratung“, raune ich meiner Kollegin zu und flüchte auf die Toilette. Ich mag einfach nicht mehr. Das geht uns kurz vor Weihnachten allen so. Zumindest jedem, der nicht auf eigene Rechnung 60 Stunden die Woche lächelt. Als ich von der Toilette zurückkomme, stürmt gerade ein neuer Trupp von Kunden das Geschäft. Ich verdrücke mich an den Packtisch und beginne, mechanisch lächelnd, Paket für Paket zu packen. Silberne Sterne auf blauem Grund, goldfarbener Aufkleber, bitteschön, danke, gern geschehen. Wenn ich Glück habe, kann ich die letzte Stunde vor Feierabend damit verbringen, Bücher als Geschenk zu verpacken. Dann muss ich zumindest nicht auf Fragen wie “Tschuldigung, wo finde ich denn Schillers „Leiden des jungen Werther?“, antworten. Oder mir spontane Begeisterungsausbrüche über meinen tollen Beruf anzuhören. Als Buchhändler braucht man nämlich den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Bücher zu lesen.
Wie schön!
Die meisten Kunden, die geduldig in der Schlange am Packtisch warten, sprechen nicht viel. Der Nächste bitte.
Ein rundlicher Schnauzbart in einer braunen Fliegerjacke.
Preisschild vom Buch abknibbeln, Lektüre einwickeln, Papier zukleben, bitteschön.
Die Fliegerjacke antwortet mir nicht. Sie geht auch nicht grußlos davon, um dem Nächsten in der Schlange Platz zu machen. Stattdessen wirft der Mann einen Blick auf das Namensschild auf meiner Brust und sagt dann leise:
„Du bist also Jasmin.“
Wieso duzt mich dieser Mensch, den ich noch nie im Leben gesehen habe?
Und woher kennt er meinen Vornamen?
Auf dem Messingschildchen, das an meinen Pullover gepinnt ist, steht nur
J. Steinbächer.
„Und ich bin Peter Welte“, sagt der Fremde in der Lederjacke, bevor mein Hirn überhaupt dazu kommt, das eben Erlebte zu erfassen.
Wer?
Den Namen kenne ich.
Den Namen und ein altes Foto seines Trägers.
Das Phantom ist aus dem Nebel getreten und vor meinen Augen zu Fleisch und Blut geworden.
Vater frontal.
Lange schaue ich den Mann mir gegenüber an, während hinter ihm die Schlange am Packtisch wächst und wächst.
Ich sehe in meine Augen.
Auch seine Nase ist der meinen sehr ähnlich, nur, dass ich eine weiblich filigranere Version geerbt habe.
Ich erinnere mich plötzlich, dass meine Mutter manchmal gesagt hat, ich sähe aus, wie mein Vater. Und auch seine Mimik und Gestik habe sich ab und zu in meine Glieder geschlichen. Ich war meiner Mutter immer ins Wort gefallen, wenn sie diese Ähnlichkeiten feststellte, weil ich nicht wie mein Vater aussehen wollte. Es war mir unheimlich, einen Teil dieses Phantoms in mir zu haben, nebulös und fremd. Jetzt steht ein Mensch vor mir, am Packtisch in der Buchhandlung, eine Woche vor Weihnachten. Hält das Buch in den Händen, das ich für ihn verpackt habe und schaut mich mit meinen eigenen Fragezeichenaugen an.
Ich werde mit ihm sprechen. Gleich jetzt, sobald der Laden geschlossen hat. Und er wird mir antworten.
Wenn nicht heute, dann vielleicht eines Tages.
Als ich zur Schule kam, musste ich schmerzlich feststellen, dass ein Kind einen Vater braucht. Jedes Kind hat einen. Ein Kind ohne Vater ist nur ein halbes Kind. Die Papas reparierten die Autos, wenn sie kaputt waren. Sie verdienten das Geld, damit die Mütter zu Hause bleiben und ihren Kindern Mittagessen kochen konnten, wenn die Kleinen aus der Schule kamen. Am Wochenende spielten die Väter mit ihren Söhnen Fußball und wenn die Mädchen sich dabei nicht zu doof anstellten, durften sie sogar mitspielen. Mein Mittagessen wurde von meiner Tagesmutter gekocht, damit meine Mutter den Job meines Vaters übernehmen konnte. Später erledigte der Backofen die Kocherei, reinschieben, 150 Grad, 20 Minuten, fertig. Meine Mutter arbeitete den ganzen Tag in irgendeinem Büro, wo der Vater eines anderen Kindes ihr Briefe diktierte.
Jeden Morgen um 7.00 Uhr klingelte bei uns zu Hause das Telefon. Meine Mutter war schon lange ins Büro gegangen. Ich wusste, dass ich aufstehen musste, wenn das Telefon das erste Mal läutete. Ich hob den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung hörte ich die Stimme meiner Mutter, die mir sagte, dass ich jetzt aufstehen, mich anziehen und frühstücken solle. Das Frühstück stand immer in der Küche für mich bereit. Wenn meine Mutter das nächste Mal anrief, war es Zeit, sich auf den Weg in die Schule zu machen. Den Schulweg hatten wir gemeinsam geübt. Am ersten Schultag waren wir zusammen zur Schule gelaufen. Ich in meinem neuen blauen Cordkleid, die blaue Schultüte mit dem gelben Entchen darauf, im Arm. In der Schule bekamen die Jungs orangefarbene Schirmmützen mit dem hellgrünen Emblem der Verkehrswacht darauf und die Mädchen ebensolche Kopftücher. Die leuchtenden Farben sollten die Autofahrer auf uns aufmerksam machen, damit wir als Schulanfänger auf unserem Schulweg nicht überfahren würden. Blöde Idee, fand ich, denn fast alle Kinder wurden sowieso tagtäglich von ihren Müttern zur Schule begleitet und diese passten schon auf, dass ihren Kleinen nichts Böses zustieß. Außerdem hätte ich viel lieber so eine coole Schirmmütze gehabt, wie die Jungs sie tragen durften. Meine beiden Freundinnen sahen mit ihren Kopftüchern und den Zahnlücken in ihren grinsenden Erstklässlergebissen wie kleine Hexen aus. Ich wollte keine Hexe sein. Dann schon lieber ein Junge.
Als ich älter wurde, stellte ich fest, dass Väter auch sehr gut dazu taugten, mit ihren Kindern ins Kino zu gehen, zum Schlittschuhlaufen oder in die Eisdiele. Jedenfalls machte mein Stiefvater solche Sachen, wenn er am Wochenende seine eigene Tochter abholte. Manchmal wünschte ich mir, auch eine Sonntagstochter zu sein. Irgendwie war das etwas Besonderes. Mein Vater allerdings wollte noch nicht mal eine Sonntagstochter haben.
Als ich volljährig wurde, gab das Jugendamt die Pflegschaft für mich in meine Hände und ich erhielt einen schweren Packen wichtig aussehender Dokumente und den wohlgemeinten Ratschlag, meinen Vater auf Unterhalt zu verklagen, damit ich einen Rechtstitel besäße. Ansonsten würde der Anspruch auf Unterhalt eines Tages erlöschen.
Es ist überhaupt nicht schwierig, jemanden zu verklagen, den man nur von der Seite kennt.
Ein bisschen wie Pokern.
An beiden Enden des Spieltisches sitzen Anwälte hinter ihren Schutzwällen aus Aktenordnern und Gesetzestexten und bluffen, was das Zeug hält. Es geht auch nicht darum, wer das beste Blatt auf der Hand hat, sondern, welche Seite am geschicktesten mit gezinkten Karten spielen kann oder, einem Zauberkünstler gleich, unbemerkt das fünfte As aus dem Ärmel zieht. In meinem Fall waren sich die Gegner durchaus ebenbürtig. Das Spiel fand kein Ende.
Deshalb beschloss ich schließlich, meinen Vater mit einem persönlich verfassten Brief zu überraschen. Was meine Anwältin in einem Jahr der Korrespondenz mit eiserner Feder nicht vermocht hatte, schafften meine schüchternen Zeilen innerhalb weniger Wochen. Mein Vater meldete sich bei mir, ebenfalls per Brief, und ich erhielt zum ersten Mal in meinem Leben väterliche Zuwendung in Form von dunkelblauen Worten auf weißem Untergrund.
Jetzt hatte ich einen Vater, auch wenn er für mich weiterhin nur auf dem Papier existierte.
Auf meinem alten Kinderfoto und buntbedruckten Postkarten, die er mir schickte und zu denen sich hin und wieder ein knisternder Geldschein gesellte.
Ich wurde ein klein wenig neugierig auf dieses Phantom, das aus dem Nebel der Vergangenheit aufgetaucht war und begonnen hatte, mit Hilfe eines gewöhnlichen Kugelschreibers zu mir zu sprechen. Fragen sammelten sich auf meiner Zunge, Fragen, über die zu stellen ich vorher nie nachgedacht hatte und die ich nun doch endlich stellen wollte. Warum mein Vater seit der Trennung von meiner Mutter nie nach mir gefragt habe, schrieb mein Füllfederhalter auf das geduldige Briefpapier und verhalf meinen Worten zu einer lautlosen Stimme. Ob er sich nie danach gesehnt habe, mich zu sehen? Der Stift stockte, schwebte eine ganze Weile unschlüssig über dem Papier, doch es musste ausgesprochen werden und so bewegte er sich langsam, tastete sich Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz heran und verriet meinem Vater behutsam, dass es ihm, dem Stift, nicht leicht fiele, diese Fragen überhaupt niederzuschreiben.
Ich blickte auf das Blatt Papier vor mir auf dem Tisch, auf dem ich meinem Vater die Frage stellte, ob er Alkoholiker gewesen sei.
Seit 23 Jahren kannte ich nur die Version meiner Mutter.
Meinen Vater nur von einer Seite.
Es wurde Zeit, die andere kennenzulernen.
Als ich den Antwortbrief Wochen später aus dem Kasten zog, spürte ich einen Kloß im Hals und den unwiderstehlichen Drang, das Schriftstück, das sich in meinen Händen wie ein Klumpen Blei anfühlte, einfach ungeöffnet in den Mülleimer zu werfen. Aber ich hatte mich schon zu weit vorgewagt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.
Mit klopfendem Herzen riss ich den Umschlag auf und begann zu lesen.
Die andere Seite fuhr schwere Geschütze auf. Keine Spur von der Behutsamkeit, mit der ich meine Fragen zu Papier gebracht hatte. Worte explodierten wie Knallfrösche direkt vor meinen Augen, sprangen mir als hässliche Kastenteufel mitten ins Gesicht und zeigten ihre verzerrten Fratzen. Schuld, Lüge, Verrat, schrie es mir von jeder Seite des Briefes entgegen.
Es ist alles ihre Schuld! Sie hat mich betrogen! Ich konnte ja noch nicht mal sicher sein, dass du wirklich meine Tochter bist. Belogen hat deine Mutter dich von Anfang an. Ich habe nicht getrunken. Niemals. Und wenn, dann nur ein kleines bisschen. Weil sie mich dazu gebracht hat. Sie hat mir alles genommen, was mir lieb war, als sie gegangen ist. Sie hat mein Leben zerstört.
Fassungslos starrte ich auf diese Anklageschrift und spürte, wie heisse Wut in mir aufstieg. Wut auf dieses Gespenst, das von sich behauptete, mein Vater zu sein und trotzdem nicht davor zurückschreckte, mir jetzt auch noch meine Mutter nehmen zu wollen. Ein Fremder, der Lügen über meine Mutter verbreitete. Der über sein eigenes Elend jammerte, ohne auch nur zu fragen, wie es uns beiden die ganzen Jahre über ergangen war, in denen meine Mutter versucht hatte, mir Mutter und Vater zu sein und unter dieser Bürde nicht selten zusammenzubrechen drohte. Ich kenne meine Mutter seit 23 Jahren.
Von vielen Seiten.
Eine Lügnerin ist sie nicht.
Ich weiss, dass sie meinen Vater geliebt hat.
Aber weiter mit ihm zusammenleben konnte sie unter den gegebenen Umständen nicht.
Ich beschloss, diesen Mann, der vorgab, mein Vater zu sein, fortan zu ignorieren. Es war einfacher, weiterzuleben wie bisher, mit einem Haufen unbeantworteter Fragen im Gepäck, aber ohne die Gefahr, plötzlich hinterrücks ins Herz geschossen zu werden. Das Phantom verschwand wieder im Nebel und ich konnte nicht behaupten, dass ich es sonderlich vermisste.
Eines Abends klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer ab und eine mir gänzlich unbekannte Männerstimme erklang in meinem Ohr. Als sie ihren Namen nannte, wusste ich, dass ich mit einem Geist telefonierte. Das Gespenst, welches hartnäckig darauf bestand, mein Vater zu sein, wollte mit mir plaudern, als habe es den verhängnisvollen Brief niemals geschrieben. Aber ich war alt genug, um zwar bei Bedarf zu verdrängen, aber keineswegs zu vergessen. Noch einmal versuchte ich, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Antworten, die das Phantom mir geben konnte, wenn es tatsächlich mein Vater war und er war mir diese Antworten verdammt schuldig! Der Mann am Telefon weigerte sich, mit mir zu reden. Wieder wurde meine Mutter zur Zielscheibe seiner Anschuldigungen, während er im weißen Gewand eines Engels durch seine Ausführungen schwebte. Wieder unternahm ich einen vergeblichen Versuch, die Stimme dazu zu bringen, mir eine Antwort auf das zu geben, was ich sie gefragt hatte.
Als mir das nicht gelang, versuchte ich, sie zum Schweigen zu bringen.
Ich schrie.
Ich schrie so laut, dass mein Vater mich hören musste, egal, wo auf der Welt er sich gerade befand, selbst wenn er den Telefonhörer bereits wieder auf die Gabel zurückgelegt und die Verbindung damit unterbrochen hätte.
Ich brüllte meine Wut, den Schmerz und die Enttäuschung über unsere Sprachlosigkeit heraus, als könnte ich durch überhöhte Lautstärke das fehlende Verständnis wettmachen.
Dann warf ich den Hörer auf die Gabel und begann zu weinen.
Das Nichtgespräch ist jetzt bereits einige Wochen her.
Es ist kurz vor Weihnachten und in der Buchhandlung wie immer die Hölle los. Ich habe den Beruf der Buchhändlerin gelernt. Viel lieber würde ich selbst Geschichten erfinden, um vielleicht mit dem geschriebenen Wort das zu erreichen, was mir mit gesprochener Sprache einfach nicht gelingen will. Menschen zu berühren. Bislang begnüge ich mich damit, die Gedanken und Botschaften anderer zu verkaufen. Ein Kunde in einem grünen Mantel mit grauem Pelzkragen an der Kapuze, einen kleinen Zettel zwischen den Fingern, zwängt sich durch die Massen der potentiellen Käufer und bahnt sich zielstrebig seinen Weg zu mir. Vorbei an einem roten Anorak, dessen Hals von einem ebenso roten Wollschal umschlungen wird, und einem hellen Cordmantel mit blonden Locken unter dem kamelfarbenen Hut.
„Der graue Pelzkragen braucht Beratung“, raune ich meiner Kollegin zu und flüchte auf die Toilette. Ich mag einfach nicht mehr. Das geht uns kurz vor Weihnachten allen so. Zumindest jedem, der nicht auf eigene Rechnung 60 Stunden die Woche lächelt. Als ich von der Toilette zurückkomme, stürmt gerade ein neuer Trupp von Kunden das Geschäft. Ich verdrücke mich an den Packtisch und beginne, mechanisch lächelnd, Paket für Paket zu packen. Silberne Sterne auf blauem Grund, goldfarbener Aufkleber, bitteschön, danke, gern geschehen. Wenn ich Glück habe, kann ich die letzte Stunde vor Feierabend damit verbringen, Bücher als Geschenk zu verpacken. Dann muss ich zumindest nicht auf Fragen wie “Tschuldigung, wo finde ich denn Schillers „Leiden des jungen Werther?“, antworten. Oder mir spontane Begeisterungsausbrüche über meinen tollen Beruf anzuhören. Als Buchhändler braucht man nämlich den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Bücher zu lesen.
Wie schön!
Die meisten Kunden, die geduldig in der Schlange am Packtisch warten, sprechen nicht viel. Der Nächste bitte.
Ein rundlicher Schnauzbart in einer braunen Fliegerjacke.
Preisschild vom Buch abknibbeln, Lektüre einwickeln, Papier zukleben, bitteschön.
Die Fliegerjacke antwortet mir nicht. Sie geht auch nicht grußlos davon, um dem Nächsten in der Schlange Platz zu machen. Stattdessen wirft der Mann einen Blick auf das Namensschild auf meiner Brust und sagt dann leise:
„Du bist also Jasmin.“
Wieso duzt mich dieser Mensch, den ich noch nie im Leben gesehen habe?
Und woher kennt er meinen Vornamen?
Auf dem Messingschildchen, das an meinen Pullover gepinnt ist, steht nur
J. Steinbächer.
„Und ich bin Peter Welte“, sagt der Fremde in der Lederjacke, bevor mein Hirn überhaupt dazu kommt, das eben Erlebte zu erfassen.
Wer?
Den Namen kenne ich.
Den Namen und ein altes Foto seines Trägers.
Das Phantom ist aus dem Nebel getreten und vor meinen Augen zu Fleisch und Blut geworden.
Vater frontal.
Lange schaue ich den Mann mir gegenüber an, während hinter ihm die Schlange am Packtisch wächst und wächst.
Ich sehe in meine Augen.
Auch seine Nase ist der meinen sehr ähnlich, nur, dass ich eine weiblich filigranere Version geerbt habe.
Ich erinnere mich plötzlich, dass meine Mutter manchmal gesagt hat, ich sähe aus, wie mein Vater. Und auch seine Mimik und Gestik habe sich ab und zu in meine Glieder geschlichen. Ich war meiner Mutter immer ins Wort gefallen, wenn sie diese Ähnlichkeiten feststellte, weil ich nicht wie mein Vater aussehen wollte. Es war mir unheimlich, einen Teil dieses Phantoms in mir zu haben, nebulös und fremd. Jetzt steht ein Mensch vor mir, am Packtisch in der Buchhandlung, eine Woche vor Weihnachten. Hält das Buch in den Händen, das ich für ihn verpackt habe und schaut mich mit meinen eigenen Fragezeichenaugen an.
Ich werde mit ihm sprechen. Gleich jetzt, sobald der Laden geschlossen hat. Und er wird mir antworten.
Wenn nicht heute, dann vielleicht eines Tages.