Vater werden ist nicht schwer

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onivido

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Er stand in der Warteschlange zum Check-in für den Neun- Stundenflug von Caracas nach Amsterdam. Gelangweilt musterte er die Menschen an den Schaltern. Sie schienen alle Sonderwünsche zu haben, oder vielleicht auch nur zu viel Gepäck. Womöglich war es lediglich die gewohnte Behäbigkeit des Bodenpersonals, jedenfalls dauerte die Abfertigung lange, zu lange, um Rodrigos Passion für das Fliegen etwas über den Nullpunkt zu heben.

Die Geduldsprobe animierte ihn, sich umzudrehen, um das Treiben hinter ihm zu beobachten. Dazu kam es nicht, denn hinter ihm, fast an ihn gedrängt, stand eine junge Frau, die seinen Blick bannte. Er versuchte sie nicht anzustarren, jedoch so sehr er sich auch bemühte über sie hinwegzusehen, sie zu ignorieren, seine Augen kehrten immer wieder zu ihr zurück. Da Rodrigo ein höflicher Mensch war, ausserdem ein verheirateter Mann, fand er es angebracht sich wieder umzuwenden, aber das Bild der Frau hatte sich in sein Gehirn gemeisselt und wenn er die Augen schloss, sah er sie wieder vor sich stehen.

Zweifelslos war sie Asiatin. Ihre faszinierenden Gesichtszüge paarten sich mit einer betörenden Figur. Sie trug hautenge Jeans und ein T-shirt und ausserdem einen Riesenrucksack. An ihr linkes Bein hatte sich ein kleiner Junge geklammert, fast noch ein Säugling.
In “wohllüstige” Gedanken versunken, kam Rodrigo schliesslich an den Schalter. Nein, er benötigte kein kosheres Essen, nein, er war auch kein Veganer und wenn möglich würde er einen Gangplatz bevorzugen. Er erhielt seinen Boarding Pass, verweigerte sich den Genuss sich nochmals nach der jungen Mutter umzusehen, liess die Passkontrolle und die Sicherheitsprozeduren über sich ergehen, trank ein Bier und stellte sich in die nächste Schlange, jetzt zum Einsteigen.

Als er sich seinem Platz näherte, sah er den kleinen Jungen, diesmal an einen Sitz geklammert eine Reihe hinter seinem eigenen.
“Hola, campeón”, grüsste er spontan.
Der Kleine versteckte sein Gesicht im Sitzpolster, aber seine Mutter sagte lächelnd:
“Hola, buenas noches.”
“Muy buenas noches”, erwiderte Rodrigo und fügte hinzu,”es wird eine lange Nacht.”
“Wir werden sie schon hinter uns bringen”, sagte die Frau mit einem schelmischen Lächeln.
Rodrigo setzte sich, um den Gang für die Passagiere hinter ihm frei zu machen.
Als die Flugzeugtüren geschlossen wurden, war der Platz neben ihm frei geblieben. Rodrigo stand auf und wandte sich an die Frau:
“Wo fliegen Sie denn hin?”
“Nach Hong-Kong.”
“Das ist schon ein bischen weit. Kennen Sie Hong-Kong?”
“Nein ich war noch nie dort, aber mein Grossonkel wird mich am Flughafen abholen, damit ich mich nicht verirre. Und Sie? Bleiben Sie in Amsterdam?”
“Nein, ich muss nach Dublin, habe aber fünf Stunden Aufenthalt in Amsterdam.”
“Das geht ja noch. Weil dieser Flug verspätet ist muss ich einen ganzen Tag auf meinen Anschluss nach Hong-Kong warten.”
Sie zuckte die Schultern. Resigniert. Dann sagte sie:
“Ach, könnten Sie den Kleinen ein paar Minuten übernehmen? Ich muss mal auf die Toilette.”
“Gerne”, sagte Rodrigo. Es klang nicht sehr überzeugend.

”Ich hoffe er weint nicht.”
“No, no, Sie sind ihm anscheinend symphatiscch.”
“Das freut mich. Ich hoffe seine Mutter teilt diese Gefühle.”
Die Frau lachte. Rodrigo hielt das für eine Bejahung.
Als sie von der Toilette zurückkam, setzte sie sich auf den freien Sitz neben Rodrigo und nahm ihr Kind auf den Schoss.
“Ich heisse Lily und komme aus Barquisimeto.”
“ Mucho gusto, ich bin Rodrigo und komme von überall, meistens aber von Caracas”
“Das klingt geheimnisvoll. Ich hoffe du bist kein CIA- Agent.”
¨Wie kommst du darauf?”
Im Film schauen die Agenten so aus wie du.”
“Und die Spioninnen so wie du.”
“Ja, wer weiss. Du must auf der Hut sein vor mir.”
Sie lachten beide. Lily setzte sich wieder auf ihren Platz.


Es dauerte nicht lange, bis sie ihn wieder an die Schulter tippte.
“Oye, sei so gut und bitte die Stewardess Carlitos Milchflassche zu wärmen. Ich spreche kein Englisch."
Den Film sahen sie zusammen. Carlitos schlief auf den Sitzen hinter ihnen, bis eine Flugbegleiterin dies bemerkte.
“One of you has to stay with the child”, sagte sie vorwurfsvoll.
¿Qué dice –was sagt sie? fragte Lily
“Du musst bei Carlitos bleiben, weil er nicht angeschnallt ist und er bei einer Turbulenz vom Sitz fallen könnte.”
“Dios mio! Was für eine dumme Rabenmutter ich bin”, sagte Lily beschämt.
“Bueno. Das hätte mir doch auch einfallen können”, beruhigte sie Rodrigo.
Lily zwängte sich auf den Gangplatz in ihrer Sitzreihe. Carlitos hatte sich ausgestreckt und beanspruchte den Fensterplatz und einen Teil des Gangplatzes.


Auch Rodrigo schämte sich, denn wohl hatte er an die Turbulenzen gedacht, aber Lily nicht darauf hingewiesen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sie nicht an seiner Seite wollte. Ihre Nähe hatte bei ihm Turbulenzen verursacht, die beinahe sichtbar geworden wären, als Lily einmal zufällig seinen Schenckel berührt hatte und die Wärme ihrer Hand bis in seine Hoden zu dringen schien


Bei den Vorbereitungen zum Aussteigen nahm Rodrigo Carlitos auf den Arm, während Lily sich ihren Rucksack umhängte.
Er trug ihn auch beim Verlassen des Flugzeugs. Die Stewardess am Ausgang, verabschiedete sich freundlich und fragte:
“Wie alt ist ihr Junge denn?
 
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Ji Rina

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Hallo Onivido,
Ein sympathischer Text :) Eine "normale" Geschichte, so wie sie jeden Tag überall passieren könnte. Ich hätte gern noch mehr gelesen. Mehr Gespräch zwischen beiden hätte mich interessiert. Aber so schlicht und schnörkellos, gefällt mir die Geschichte auch. Charmantes Ende... mit Rodrigo als Papa.;)

Finde aber es könnte besser zu Kurzgeschichten passen. Was meinst du?

Sehr gern gelesen!
saludillos desde la isla,
Ji
 

molly

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Hallo Onivido,
ich schließe mich Ji an, ein sympathischer Text mit einem offenen Ende. Würde besser zu Kurzgeschichten passen.
Aber schön, dass Du wieder Texte einstellst.

Viele Grüße
molly
 

onivido

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Hola Ji,
Du bist eine treue Seele. Immer liest Du mein Geschreibsel. Ich habe den Text in "Erzaehlungen" gestellt, weil ich mal gehoert habe , dass eine Kurzgeschichte einen heftigen Endeffekt haben soll und der ist hier doch eher mild. Es freut mich wirklich, dass Du das Geschichtlein gelesen hast.
Saludos , también a toda la isla. Tengo muchos recuerdos gratos
Onivido

Hallo Molly,
danke fuers Lesen und den Kommentar. Ich habe ich schon gesagt warum ich die Geschichte nicht in "Kurzgeschichten" gestellt habe. Es freut mich, dass Du sie dennoch gefunden und gelesen hast.
Viele Gruesse
Onivido
 

Steven Omen

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Gerade in Zeiten des Lockdowns sehnt man sich nach dieser „Normalität“ am Check-In-Schalter zurück, den du gut dargestellt hast. Eine Zufallsbekanntschaft wie sie oft bei Flügen entsteht, ist man da offener und gesprächiger. Bloß die Dialogszene mit dem Spion fand ich zu hölzern und klischeehaft, ansonsten realistisch und auch mit Verve sehr gut beschrieben. Ich vermute, dies ist ein längerer Text, nicht wahr? Zumindest würde ich daran weiterschreiben.
 

onivido

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Hallo Steven,

gerade habe ich deinen Kommentar gelesen. Interessant, dass du den Dialog mit CIA und Spion klischeehaft findest. Hoelzern vielleicht, weil ich es nicht besser kann, aber vom Inhalt her ist das zwei jungen Menschen aus dem Norden Suedamerikas durchaus zuzumuten.

Zum Weiterschreiben fiel mir ein, dass Rodrigo seinen Flug nach Dublin auf den Morgen des naechstenTages nach seiner Ankunft in Amsterdam verschieben koennte, weil er sowieso am selben Tag zu spaet in Dublin ankommen wuerde. um noch arbeiten zu koennen. Er koennte mit Lily den Tag in Amsterdam verbringen. Ob sie wohl getrennte Zimmer im Hotel genommen haetten?

Das wird mir zu anruechig fuer die Leselupe und ich lasse es besser.

Vielen Dank fuer deinen Kommentar.
 

onivido

Mitglied
Hallo Steven,
Noch was. Ich muss meine Kulturferne eingestehen. " mit Verve sehr gut beschrieben ". verstehe ich nicht. Ich habe nach "Verve" gegoogelt und habe eine Rock Band gefunden.
 



 
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