Vaterfreuden

Ruedipferd

Mitglied
4.Teil
Fortsetzung des Romans "Im falschen Geschlecht" nach : Endlich ein Junge

Vaterfreuden



Eine Viertelstunde später lagen wir uns in den Armen. Ich hatte meine Schlittschuhe von zuhause mitgebracht. Die Außenbahn bei Planten un Blomen war dank der kalten Witterung bereits geöffnet. Rene verlor keine Zeit. Vor der Praxis stiegen wir gleich in den Bus. Als ich meinen Eintritt für die Eisbahn bezahlt hatte und mich umschaute, bemerkte ich das Riesenrad auf dem Heiligengeistfeld. Musik-und Sprachfetzen tönten herüber und Gerüche von Bratwurst und gebrannten Mandeln stiegen mir in die Nase. „Hey, ist schon Dom?“ Rene grinste. „Conny will morgen Abend mit uns rüber. Wir dürfen unsere Mädels mitbringen. Kerrin weiß Bescheid. Heute müssen wir um halb Sieben los. Mein Alter hat einen Tisch im Balkan Restaurant bestellt. Er holt uns hier ab und du kannst deine Klamotten bei ihm im Auto lassen. Zu späterer Stunde treffen wir Conny bei ihm zu Haus. Sina hat Sehnsucht nach uns. Wir wollen auf dem Kiez etwas mit ihr trinken.“ Das hörte sich gut an. Es war halb fünf Uhr und die nächsten zwei Stunden konnten wir uns auf der Eisbahn austoben.

Kurz nach sechs Uhr bemerkte ich Renes Vater an der Bande. Er lachte zu uns rüber. Ich fuhr zu ihm. „Nicht lachen, Rolf. Schlittschuhe an und dann drehst du mit uns ein paar Runden!“, rief ich übermütig aus. „Ne, ne, ich will mir nicht die Haxen brechen, wie ihr in Bayern sagt. Das Toben überlasse ich Rene. Ich werde noch gebraucht. Alles gut, Max? Was macht die Schule?“ „Alles ok, aber viel Arbeit. Mein Dad ist, was meine Zensuren angeht, noch einigermaßen vernünftig, aber meine Mutter macht ordentlich Druck. Adel verpflichtet auch in der Schule, meint sie. Ich kann ihr da leider nicht zustimmen.“ Renes Vater arbeitete bei der Stadt als Verwaltungsbeamter. „Es ist hart, das weiß ich. Aber mit einem guten Notenschnitt erhöhen sich deine Chancen auf einen Studienplatz deiner Wahl beträchtlich. Ihr zwei habt ja ein besonderes Ziel im nächsten Jahr. Und nach dem Abi könnt ihr euch auf den Eingriff vorbereiten. Rene hat gerade einen Brief von der Krankenkasse erhalten. Sie wollen eine Bescheinigung von Herrn Reimers und fragen, wann mit der Vornamen-und Personenstandänderung zu rechnen ist.“

Ich stieß einen Freudenschrei aus. „Super, dann hat sich der Brief von Herrn Dr. Wanninger ja gelohnt. Renes Antrag liegt doch schon beim Gericht, oder?“ Er war gerade herangefahren und hatte uns erst jetzt bemerkt. „Du bist eine halbe Stunde zu früh, Dad.“ Ich knuffte ihn. „Sei nicht so frech. Dein Vater ist ok. Hast du schon Gespräche mit dem Zweitgutachter?“ Rene nickte. „Es war schwer bei dem einen Termin zu bekommen. Man muss sich wundern, wie viele Transen es in Hamburg gibt. Ich hab den Ersttermin nächsten Donnerstag.“ „Frau Michelsen ist auch noch nicht fertig. Ich denke im Februar wird es soweit sein und wenn wir das Schreiben vom Gericht haben, können wir endlich den Ausweis und die Geburtsurkunde umschreiben lassen. Musst du überhaupt den Vornamen wechseln? Rene ist doch geschlechtsneutral?“

Rolf schüttelte den Kopf. „Er heißt anders.“ Und wehrte gleich ab, als er Renes Augen böse funkeln sah. “Ich sag nix!“ Wir verließen die außergewöhnlich schöne Eisbahn und zogen uns unsere Schuhe an. Eine halbe Stunde später saßen wir in einem tollen Balkanrestaurant in der Nähe der Alster. Wir hatten beide Hunger. Renes Vater lachte, als er sah, was für riesen Portionen wir futterten. Um neun Uhr verabschiedeten wir uns von ihm. Er nahm meine Reisetasche mit nach Norderstedt. Rene und ich fuhren gut gelaunt mit der U- Bahn zur Reeperbahn. Ohne vorher anzurufen klingelten wir an Connys Haustür. Er war anscheinend nicht da. Ich schrieb eine SMS. Antwort: „Bin am Parkplatz, hab Kundschaft.“ Ich zeigte Rene die Zeile. „Wo ist das?“ Ich schrieb zurück und bekam sofort eine Beschreibung des Weges. Nach zehn Minuten Spaziergang standen wir vor dem Eingang zu einem Park. Auf der gegenüber liegenden Seite fügte sich ein Toilettenhäuschen aus roten Backsteinen in das Landschaftsbild ein. Es machte, von hohen Bäumen umgeben, einen nicht gerade einladenden Eindruck auf mich. Ein schmaler Pfad führte von dort zu einer Wendeschleife für Autos. Der Abend forderte seinen Tribut und hüllte uns in Dunkelheit ein, an die sich unsere Augen nur mühsam gewöhnten. Arglos steuerten wir auf grelle Autoscheinwerfer zu. Ich erschrak, als ich unmittelbar neben mir ein Geräusch wahrnahm. Eine dunkel gekleidete Person trat etwas hervor und musterte uns eindringlich. Rene hatte den jungen Mann ebenfalls bemerkt und flüsterte mir zu: „Du, hier haben die Sträucher Ohren und Augen. Überall stehen Leute im Gebüsch. Siehst du das?“ Ich sagte ebenso leise „ja.“ Die Situation hatte etwas Unheimliches an sich. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mich auf diesem Weg wohlfühlte. Plötzlich blitzte etwas über uns auf. Eine Straßenlaterne hatte sich wie von Geisterhand eingeschaltet. Die Sonne war im Begriff am Horizont zu verschwinden. Der Himmel färbte sich glutrot. „Gleich ist Draculatime!“, frotzelte ich in Richtung meines Kumpels. Und als ob sie mich verstanden hatte, flatterte eine Fledermaus demonstrativ über uns hinweg. Rene zischte durch die Zähne: „Was du nicht sagst. Dracula liebt bayerisches Adelsblut! Er wird dich zu seinem Diener machen.“ Wir waren am Parkplatz angekommen. Einige Jungen, deren Alter sich schwer zu schätzen ließ, standen am Straßenrand oder gingen auf und ab. In den herannahenden Autos saßen Männer, die anhielten und mit ihnen sprachen. Conny war nirgends zu entdecken. Unschlüssig warteten wir. Ich trat von einem Bein aufs andere. Das wurde anscheinend von den Autofahrern missverstanden. Ein dunkelblauer Ford hielt neben uns. „Wie viel?“, fragte der untersetzte Mann am Steuer. Ich sah in den Wagen und schätzte ihn auf fünfzig bis sechzig Jahre. „Ähm, gar nichts. Wir stehen hier nur und warten auf unseren Freund“, stammelte ich.

„Ich bezahl gut und mach auch nichts ohne Gummi“, meinte er. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Ein älterer Junge kam auf uns zu. „Was wollt ihr hier, haut ab. Das ist nichts für euch!“ Rene hob beschwichtigend die Hände. „Ganz cool. Wir sind mit unserem Kumpel verabredet. Er hat uns das hier beschrieben.“ Der Junge, den ich auf Anfang zwanzig schätzte sah jünger aus. Er trug eine enge weiße Hose, unter der sich sein Geschlecht abzeichnete. Das gelbe T-Shirt schien eingelaufen zu sein. Es endete am Bauchnabel. Er war leicht geschminkt, hatte die Lippen gefärbt und blauen Lidschatten aufgelegt. Ich kannte so etwas nur von Jenny und den Mädels. Bei einem Mann hatte ich ein derartiges Outfit noch nie gesehen. An seinem Hals blinkte ein goldener Kreuzanhänger. „Wie heißt euer Freund?“, fragte er barsch. „Conny“, antwortete ich und versuchte selbstsicher rüberzukommen. „Was ist da los, Jacky?“ Zwei weitere junge Männer kamen nun auf uns zu. „Keine Panik“, erwiderte er. „Es sind Freunde von Conny. Weiß einer, wo der ist?“ Ein blonder Junge in enger schwarzer Lederjeans drehte sich zu uns um. „Conny ist seit einer halben Stunde mit jemandem weg. Das war der schwarze Mercedes. Ich glaub, der gehört einem seiner Stammfreier.“ „Kommt mit, ihr könnt da drüben auf der Bank warten. Hier verwirrt ihr die Kundschaft“, erklärte uns Jacky und zeigte mit der Hand auf die andere Straßenseite. Wir bedankten uns. Die Bank stand etwas abseits der Wendeschleife und Autos konnten dort nicht anhalten. Wir bekamen auf diese Weise einen guten Überblick über die Szenen, die sich vor unseren Augen abspielten. Autos kamen und fuhren langsam an den Jungen vorbei. Einige von ihnen stiegen ein, andere kamen zurück. Das war interessanter als jeder Krimi und jedes Internetspiel. Wir waren mitten drin im Getümmel. Ich frotzelte: „Du, das ist wie beim Fernsehen. Wir sitzen hier in der ersten Reihe!“

Nach einer Viertelstunde erschien ein schwarzer Mercedes mit Hamburger Kennzeichen. Er hielt gegenüber von uns an. Conny stieg aus und verabschiedete sich von dem Fahrer. Er ging zu Jacky und zu dem jungen Mann, der vorhin gefragt hatte, wer wir waren. Mit einer einladenden Geste winkte er uns heran. Wir ließen uns nicht zweimal bitten. War das aufregend! „Hallo, Conny, altes Haus!“ Ich fiel ihm um den Hals. Rene begrüßte unseren Freund ebenso herzlich. „Jacky habt ihr ja schon kennengelernt. Er ist hier so etwas wie die gute Seele und passt auf, dass alles seine Ordnung hat. Es kommen immer wieder Streetworker vorbei, die nach Kids Ausschau halten. Und natürlich die Bullerei. Die interessieren sich für die Dealer, die versuchen, ihren Stoff loszuwerden. Das sind meine Freunde, Jacky, von denen ich euch erzählt habe: Max und Rene. Max kommt aus Bayern. Bis die Tage, Jacky. Ich nehme die beiden mit. Vielen Dank, dass du auf sie aufgepasst hast.“ „Keine Ursache, tschüss ihr zwei!“ Wir winkten den Jungen zu. Conny legte die Arme um uns. „Ab in die Bierstube, Sina will mit euch turteln.“ Ich kam aus dem Schwärmen nicht heraus. „Mensch, Conny. Das war interessant. Ein Männerstrich mitten in Hamburg. Und wir mittendrin.“

Er lachte. „Na, ich glaube, da übertreibst du etwas. Aber, ja, ich hab über deinen Vorschlag mit den online Dates nachgedacht. Ich kann nicht bis in die Puppen Freier treffen. Die Frauen werden, wenn sie älter sind, weiter von Kerlen nachgefragt. Die haben in jedem Alter ihren Markt. Bei uns ist das anders. Da zählt nur das jugendliche Aussehen. Ein Kumpel von mir kennt sich mit Kameras aus. Vielleicht versuchen wir es mal online. Das kann ich gut in meiner Wohnung installieren. Dies hier draußen ist auch gefährlich, weil man nie weiß, zu wem man ins Auto steigt. Wir sind da. Setzt euch unter den Baum. Ich gebe die erste Runde aus.“ Es war ein toller Platz, zu dem uns unser Freund geführt hat. Wir konnten die komplette Sündenmeile überblicken. Conny kam nach wenigen Minuten mit Getränken zurück. Autolärm, Stimmengewirr drang an unsere Ohren, überall blinkte Neonreklame, Musikfetzen vermischten sich. So viele Menschen liefen herum, aber niemand stieß mit einem anderen zusammen. Es war Freitagabend. Arbeitnehmer genossen den Feierabend und tranken ihr Bier. Andere hatten frei und wollten sich in den vielen Läden amüsieren. Wir schauten dem Treiben vor uns fasziniert zu, waren mitten drin und doch weit genug weg.

Um kurz vor elf Uhr hörten wir eine vertraute Stimme. „Drei süße Jungs, und keiner gibt einen aus! Schämt euch.“ Ich sprang auf, drückte Sina und nahm die Bierflaschen in die Hand, die wir bisher geleert hatten. „Ich komme sofort, Sina, du bist unser größter Schatz.“ Sie roch herrlich nach Parfum, als ich sie küsste. Am Kiosk musste ich einen Moment warten. Ich spürte Erregung, als ich zurückkehrte und Sinas Erscheinung in mir aufsog. Sie war älter als sie aussah, dass wusste ich von Conny. Sie hatte ihm von seiner Mutter erzählt. Die beiden trafen sich vor vielen Jahren auf der Reeperbahn und da Conny achtzehn Jahre alt war, mussten die Frauen mindestens sechsunddreißig sein. Conny sagte, seine Mutter hätte ihn mit zwanzig Jahren zur Welt gebracht. Sina sah immer noch wie ein junges Mädchen aus. Ihre Bekanntschaft mit Connys Mutter würde später sehr wichtig für ihn werden, aber davon ahnten wir in diesem Moment noch nichts. Sinas zarte Hände strichen um meine Hüften und glitten langsam auf meine Pobacken. Sina wusste, wie eine Frau mit Männern umzugehen hatte. „Mach ich dich heiß, mein kleiner Liebling?“ Meine Augen konnten sich nicht mehr von ihrem stattlichen Dekolleté abwenden. Meine Wangen glühten. „Die Frage ist angesichts der gegebenen alters-und körperlichen Umstände gemein. Ich wollte, ich hätte die stoische Gelassenheit von Conny“, meinte ich zu ihr. Conny grinste. „Ja, es gibt Momente, da ist es nicht schlecht schwul zu sein. Hast du nicht gesagt, du bekommst heute Abend noch Besuch zu dir nach Hause?“, fragte er sie. Sina trank ihr Bier, nahm ihr Handy aus der Gürteltasche und gähnte. „Hm, da hat sich gestern noch ein Freier angemeldet. Ich muss wirklich langsam los.“ Conny sah uns an. „Ich würde gerne nach Hause gehen und mir etwas Frisches anziehen.“ Er berichtete unserer Freundin auch von dem Segeltörn letztes Mal und dessen unrühmliches Ende. Sina hielt sich prompt den Bauch vor Lachen. „Dann wurdest du ja endlich getauft und das auch noch mit bestem Hamburger Wasser!“ Conny zog die Mundwinkel kraus. „Ich bin getauft und konfirmiert, allerdings mit vierzehn alles auf einmal, weil meine Mutter meinte, ich solle mir sicher sein, mit dem, was ich will.“ Er klang etwas brummig.

„Kommt, lasst uns austrinken und dann bringen wir Sina nach Hause“, sagte er. Zehn Minuten später standen wir vor ihrer Tür. Ich spürte das Bier in meiner Blase und fragte, ob ich schnell zu ihr aufs Klo durfte. Natürlich, das war kein Problem. In der hinteren Hosentasche drückte mein Portemonnaie, so dass ich es herausnahm und auf ein kleines Schränkchen in der Toilette legte. Dass ich es dort vergaß, sollte ein Glücksfall für Sina werden. Den Abend verbrachten wir gutgelaunt bei Conny, wühlten uns durch seine Videothek, die keine Wünsche offenließ. Um halb zwei Uhr war Schluss, wir mussten den Nachtbus erreichten. Rene knuffte mich und alberte auf dem Weg zur Haltestelle herum. Ich wollte meine Fahrkarte aus dem Portemonnaie ziehen. Shit! Es war nicht mehr an seinem Platz. Deshalb fühlte ich mich auch so locker. Das enge Teil auf meinem Hintern fehlte! Aber es war wichtig, denn es enthielt neben Geld meine Fahrkarten, Schülerausweis und meine Alltagstestbescheinigung von Dr. Reimers. Ruhig bleiben und überlegen. Ich wusste schnell, wo es lag. Also Handy ‘raus, anrufen. Verflixt! Es klingelte und klingelte. Sina ging nicht ans Telefon. Conny benachrichtigen und von meinem Malheur erzählen, dachte ich. Gesagt getan. Er lachte. Rene und ich kamen derweil zu Sinas Haus, es brannte noch Licht in ihrer Wohnung. Warum ging sie nicht ans Telefon? War der Freier noch bei ihr? Es war eine komische Situation. Conny meinte, wir sollten nichts auf eigene Faust unternehmen, sondern auf ihn warten. Der Nachtbus wird ohne uns fahren, soviel stand bereits fest. Ein paar Minuten später gingen wir mit Conny über den Hinterhof und er klopfte an Sinas Fenster. Sie reagierte immer noch nicht. Unheimliche Geräusche kamen aus ihrer Wohnung. Rene und ich sahen einander ratlos an. Was war da los? Conny ahnte anscheinend etwas. Sein Finger legte sich über seinen Mund. Wir hatten verstanden. Conny kannte sich auf dem Kiez aus. Es war beruhigend, ihn dabei zu haben. Leise schob er die Haustür auf. Ein stockdunkler Flur lag vor uns. Wir horchten. Aus Sinas Wohnung kam ein leises Schluchzen und dann hörten wir etwas, das wie das Knallen einer Peitsche klang. Irgendetwas stimmte da nicht. Sina war weder Domina, noch hielt sie mit Freiern Fesselspiele ab. Plötzlich schrie jemand, es klang als ob die Person einen Knebel trug.

Conny zögerte nicht einen Moment, sondern riss die Tür zu Sinas Schlafzimmer auf. Ein grauenvolles trauriges Bild bot sich uns. Mir blieb der Atem weg und ich hatte das Gefühl, als ob mein Herz im nächsten Moment aufhören würde zu schlagen. Sina lag gefesselt und geknebelt hilflos und halbnackt auf ihrem Bett. Ein maskierter Mann in schwarzer Kleidung schlug mit der Peitsche auf ihren Körper ein, der schwere Wunden aufwies. Sina stöhnte und ich konnte panische Angst in ihren Augen lesen. Als der Kerl die erste Schrecksekunde überwunden hatte, wollte er weglaufen. Conny stellte sich ihm in den Weg. Der Mann zückte ein Messer. Ohne nachdenken zu müssen, stieß ich Conny beiseite und trat dem Kerl meinen Fuß in die Hüfte. Danach drehte mich einmal herum und schlug mit der Handkante das Messer weg. Mein Taekwondo Training machte sich in diesem schlimmen Augenblick bezahlt. Conny starrte mich erstaunt an. Blitzschnell drückte ich den Mann auf den Boden und kniete mich über ihn. Rene hatte unterdessen Sina geholfen und ihr die Handschellen gelöst. Ich nahm sie ihm freudig ab. Eine Verwendung gab es bereits. Der Fremde wehrte sich nicht mehr, als ich seine Hände damit auf dem Rücken zusammenschloss. Er lag kampfunfähig vor mir.

Vorsichtig befreite Rene Sina aus ihrer misslichen Lage und zog ihr das Klebeband vom Mund ab. Sie schlang den Arm um ihn, drückte ihn fest an sich und schluchzte herzzerreißend. Das war zu viel für die Arme gewesen. Der Angreifer wollte plötzlich aufstehen. Conny holte aus, um ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber so weit kam es nicht. Sein Arm wurde von hinten sanft festgehalten. Ein älterer Mann war ins Zimmer getreten und hatte die Lage in Windeseile erfasst. „Ruhig, Conny. Ich weiß, was du fühlst und zur Zeit meines Vaters hätte der Typ jetzt ein paar gebrochene Knochen bekommen. Aber Selbstjustiz führt zu nichts. Wir reden gleich. Dein Freund“, er zeigte auf mich „hat genau richtig gehandelt und ihn schachmatt gesetzt. Nachtreten ist gegen das Gesetz.“ „Kurt, seit wann kümmerst du dich um das Gesetz?“, fragte Conny entgeistert. Sina hatte sich erholt. „Das wundert mich jetzt auch, aber es ist gut, dass ihr hier seid. Wer weiß, was der Typ sonst noch mit mir angestellt hätte. Er hat auch noch nicht bezahlt. Darf ich mal, Freundchen!“ Sina griff zielstrebig in seine Jackentasche und nahm das Portemonnaie in Augenschein. „Normaler Sex mit allem kostet bei mir Zweihundert. Was du gemacht hast, ging weit darüber hinaus und kostet extra. Sie zählte die Scheine und nahm sich insgesamt fünfhundert Euro raus.“ Kurt grinste. „So mein Junge, du hast die Lady bezahlt, das rechne ich dir an. Ich weiß, dass du dasselbe in der letzten Woche mit einem meiner Mädels abgezogen hast. Sie hatte weniger Glück als Sina. Die restlichen fünfhundert, die ich in deiner Börse gesehen habe, nehme ich mit und gebe sie Chantal, damit sie Schadensersatz bekommt. Du hast sie übel zugerichtet. Und jetzt löst dir der Junge die Fesseln und wir lassen dich ausnahmsweise laufen. Bullen brauchen wir hier nicht. Ich weiß, wer du bist und alle Bordellbesitzer, Kollegen und die Mädels werden benachrichtigt. Du hast ab sofort Kiezverbot. Sehe ich dich noch einmal wieder, überlege ich mir etwas Spezielles für dich. Und es werden nicht die Jungs von der Davidswache sein, die ich dir auf den Hals hetze. Gut, das soll genügen, lasst ihn laufen!“ Ich gehorchte und löste dem Fremden die Fesseln, der sich daraufhin in Windeseile aus dem Staub machte.

Sina wankte ins Bad und kam einen Moment später mit meinem Portemonnaie wieder. Ich nahm sie vorsichtig in die Arme. „Oh, Sina, ich hatte das liegen lassen und als Rene und ich zum Nachtbus sind, fiel es mir ein und ich rief dich an und du nahmst dein Handy nicht ab. Wir sahen Licht bei dir, ich rief Conny an. Den Rest …“ Ich kam nicht weiter, weil mir die Tränen übers Gesicht liefen. Ich schluchzte: „Es tut mir so leid. Solche Typen gehören totgeschlagen.“ Sina küsste mich und streichelte meinen Kopf. „Ist gut, Max. Du warst großartig. Was war das, Karate?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Taekwondo, ich habe den roten Gürtel und trainiere seit meinem achten Lebensjahr. Ich hätte nie geglaubt, dass dieser Sport mal wichtig für mich werden wird.“

„Mensch, Max. Das war allergrößte Spitze. So etwas können nicht einmal unsere Türsteher“, rief Conny voller Bewunderung aus. Ich wurde von dem vielen Lob ganz verlegen. Kurt nickte. „Passt mal auf. Sina macht sich ein wenig frisch und dann gehen wir ‘rüber in meinen Goldenen Anker. Ich spendiere eine Runde.“ Rene sah auf die Uhr und wehrte ab. „Wir müssen nach Hause. Unser Nachtbus ist gerade auf und davon.“ Es war ohnehin zu spät, wir würden nicht mehr pünktlich bei Renes Eltern sein. „Willst du deiner Mutter eine SMS schicken?“, fragte ich. Kurt schüttelte den Kopf. „Nein, wie alt seid ihr zwei?“ „Siebzehn“, antwortete Rene. „Dann machen wir das anders. „Sina, Conny bleibt bei dir und ich fahre die beiden jetzt nach Hause. Wir holen den Umtrunk morgen Abend nach. Ich lade euch zu sieben Uhr ein, meine Tabledance Bar öffnet erst um halb elf Uhr für Publikum.“ Conny atmete zufrieden aus. Man sah ihm die Aufregung an. „Super, danach treffen wir eure Mädels und machen den Dom unsicher.“ Das Wochenende war also gerettet. Der Goldene Anker lag nur wenige Meter von Sinas Wohnung entfernt. Kurt holte sein Auto aus der Tiefgarage. Uns blieb die Spucke weg. Rene nahm vorne im Porsche neben ihm Platz. Ich kletterte auf den Notsitz nach hinten. Auf diese Weise kamen wir sogar noch vor dem Nachtbus und der S-Bahn zu Hause an und beschlossen, sicherheitshalber Renes Eltern nichts von unserem Kiezabenteuer zu erzählen.



Für Kurt war die Nacht hingegen noch nicht zu ende. Sina und Conny erschienen in der Bar um auf den Schrecken zu trinken. In der Folge geschah etwas, das Kurts und auch Connys Leben vollkommen verändern sollte. Kurt hütete ein Geheimnis, das ihn mehr belastete, als er zugeben wollte. Sina wusste darüber Bescheid. Ihre große Stunde nahte. Und nachdem sie ihren nächtlichen Schrecken mit einigen Cocktails herunter gespült hatte, schob sie Kurt resolut in dessen Büro. Dort wurde es zeitweilig laut. Nach einer halben Stunde kamen die beiden wieder heraus. Kurt zitterte leicht und seine Augen waren gerötet, so als hätte er geweint. Er zog Conny zu sich heran und die beiden verschwanden allein in Kurts Büro. Sina bestellte bei Babs, der Bardame, einen doppelten Cocktail auf Kurts Rechnung und meinte sichtlich erleichtert: „Den habe ich mir jetzt redlich verdient.“

Babs ahnte, um was es ging. Die Mädchen auf dem Kiez unterhielten sich über alles, was dort passierte. Die Gerüchteküche brodelte schon lang. „Dann ist es wahr, was die Spatzen von den Dächern pfeifen? Kurt und Claudia? Sie war nicht nur eines seiner Mädchen, sie war mehr?“ Sina nippte genüsslich an ihrem Getränk. Sie konnte eine Menge vertragen. Das brachte der Beruf mit sich. Aber heute spürte sie den Alkohol und beschloss, sich langsam auf den Heimweg zu machen. „Du sagst es, Babsi. Es war mehr als überfällig, dass mal jemand Kurt die Meinung sagt und das hab ich grad getan. Zu seinem Wohl und zu Connys. Conny ist ein prima Junge und er braucht einen Mann wie Kurt. Schwul sein ist nicht schlimm, aber das Anschaffen taugt nichts. Conny muss entweder wieder zur Schule gehen und einen ordentlichen Beruf lernen oder sich zumindest seine Brötchen mit anständiger Arbeit verdienen.“ Kurt und Conny waren inzwischen an die Bar gekommen. „Und das sagt ausgerechnet ein Mädchen wie du, Sina. Aber du hast Recht. Und wenn du willst, kannst du Babs hier an der Theke unterstützen und brauchst nicht mehr auf den Strich. Das ist das Mindeste, was ich dir schuldig bin. Ich werde Claudia anrufen und ihr sagen, dass ich durch dich endgültig Gewissheit hab. Aber ich ahnte es bereits und war nur zu feige“, erklärte Kurt und der kräftige sechzigjährige Bar-und Bordellbesitzer, den kaum etwas erschüttern konnte, trank sein Bier in einem Zug leer.

Er wandte sich Conny zu, sah ihn fast zärtlich an. „Ich bin ein Idiot gewesen. Aber, ein Kind, das bedeutet Verantwortung und deine Mutter wusste, dass ich für eine Familie nicht reif genug war. Sie liebte mich und ich Esel hab viel zu spät begriffen, was ich aufgab. Conny, ich will alles wieder gut machen. Was deine Mutter angeht, so muss sie wissen, mit wem sie zusammen leben will. Ich weiß nicht, ob es klappen wird und wir die vergangenen Jahre nachholen können. Das soll sie entscheiden. Frauen haben einen sechsten Sinn für Familie und so. Aber wir beide, wir gehören zusammen und ich will, dass du mit dem Strich aufhörst. Es ist gefährlicher für Männer als für Frauen, von Ausnahmen wie heute Abend mal abgesehen. Du kannst dir schnell eine Krankheit holen. Ich hab als Junge auch mit Männern geliebäugelt. Die Veranlagung hast du von mir. Aber ich bekam rechtzeitig die Kurve und das solltest du auch tun.“ Conny schluckte. Man sah dem hübschen blonden Jungen an, wie ihn die letzten Minuten bewegt hatten. Es war viel auf ihn eingeprasselt. Eine Vorahnung gab es schon lange. Doch nun war sie Gewissheit geworden. Kurt, der als einer der renommiertesten Kiezgrößen galt, war sein Vater. Er blickte in den Spiegel, der über der Bar hing und sah die jüngere Ausgabe von Kurt darin. Die Ähnlichkeit mit dem untersetzten grauhaarigen Mann neben sich war nicht zu übersehen. Sie besaßen dieselben ausdrucksvollen blau-grünen Augen. Das scharfkantige Kinn, die Wangenknochen und auch ihre schlanke Gestalt ließen keinen Zweifel an ihrem Verwandtschaftsgrad aufkommen. Kurt war für sein Alter erstaunlich fit und durchtrainiert. Nur sein kleiner Bauchansatz trennte seine Figur von der seines Sohnes. Er besaß eine Dauerkarte für das Fitnessstudio, lief im Winter in St. Moritz Ski. Die beiden saßen auf Barhockern an der Theke und begannen Zukunftspläne zu schmieden. Irgendwann drückten sie sich fest und Conny verließ den Goldenen Anker. Er verschlief den ganzen nächsten Tag.

Uns erging es ähnlich. Erst gegen Mittag wühlten wir uns aus den Kissen. Wir simsten Kerrin und Melanie, verabredeten uns gegen 21 Uhr auf dem Dom am Riesenrad. Den Tag verbrachten wir bei Renes Eltern. Es gab mittags reichlich Würstchen mit Kartoffelsalat. Um drei Uhr am Nachmittag fuhren wir mit Rolf und seiner Frau nach Kaltenkirchen in die Therme. Gerade rechtzeitig trafen wir um 19 Uhr bei Conny ein. Dass wir Sina abholten, war Ehrensache. Eine Tabledancebar hatten Rene und ich noch nie besucht. Ich hatte mir im Internet einiges angesehen. Als ich in den großen Raum trat und das Podium mit der Tanzstange sah, spielte mir meine Phantasie sofort die Atmosphäre in den Kopf, die hier am späten Abend herrschen wird. Babs erwartete uns. Sie stellte jedem einen riesigen Coctail vor die Nase. Was da wohl alles drin war, fragte ich mich? Kurt erschien. „Prost, die Herren und Damen, lasst es euch schmecken. Das ist ein Autofahrerdrink, ganz ohne Alkohol. Die Kunden sind ganz verrückt danach.“ Ich nahm den bunten Strohhalm in den Mund. Hm, Ananas. Einige Bananenstücke fischte ich mit einem langen Löffel aus dem Glas. Erdbeeren und Kirschen folgten. Wir tranken den gesündesten Obst-Cocktail, den ich je zu mir genommen hatte. Babs erzählte, dass sie das Getränk mit alkoholfreiem Sekt aufgießt. Deshalb prickelte es im Hals. Conny und Kurt gingen auffallend vertraut miteinander um. Ich sah meinen Freund überrascht an. Was folgte schlug ein wie eine Bombe. Conny und Sina erzählten abwechselnd von ihrem Gespräch gestern Abend. Kurt war Connys Vater. Geahnt hatte Conny schon länger etwas, aber sowohl er als auch Kurt sprachen nie darüber. Sina fühlte sich allem Anschein nach sehr wohl, weil sie es gewesen war, die den Stein endlich ins Rollen brachte. Claudia, Connys Mutter, war eine langjährige Freundin von ihr und Sina fand es nicht gut, dass Conny ohne Vater aufwachsen musste. Aber sie respektierte den Wunsch ihrer Weggefährtin und bewahrte Stillschweigen. Umso mehr freute es sie nun für die beiden. Kurt wollte, dass Conny sein bisheriges Leben aufgab und meinte, dass er ihn auch finanziell unterstützen wird. Connys Zukunft wurde unser intensives Gesprächsthema. Um kurz nach 20 Uhr war es Conny zu viel geworden. Er hielt abrupt inne. „So, Leute. Jetzt ist Wochenende und Schluss mit Lustig. Wir wollen uns amüsieren und eure Mädels warten am Riesenrad. Lasst uns den Dom genießen. Die Schule läuft mir nicht weg.“ Kurt nahm seinen Sohn liebevoll in die Arme. „Das ist okay, Junior. Du bist mir so ähnlich. Mir kommen schon wieder die Tränen. Sina, danke, dass du mir die Augen geöffnet hast. Ich habe nun einen würdigen Nachfolger und Erben für meine Geschäfte. Freut euch jetzt eures Lebens und habt Spaß.“ Er nahm einige hundert Euro aus dem Portemonnaie und reichte sie Conny, der sich herzlich bedankte. Am Riesenrad warteten Kerrin und Melanie schon sehnsüchtig auf uns. Es wurde eine tolle Nacht. Was für ein Kontrastprogramm:

Am nächsten Abend saß ich wieder auf Schloss Wildenstein und besah mir mit einem Anflug von Verzweiflung mein Mathebuch. Wir schrieben fast täglich irgendetwas und das ging bis zum Sommer so weiter. Über Weihnachten kam die ganze Familie zusammen. Hubertus und ich bauten uns wie üblich das Zweimannzelt auf und ernteten von meinem Vater dafür Applaus. Hubi stand kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen. Danach wollte er einige Jahre in Philadelphia weiter studieren. Beatrix war zu einem ungewöhnlich hübschen Mädchen herangewachsen. Sie erhielt weiter professionellen Gesangsunterricht. Ihre Stimme konnte sich hören lassen. Wir lobten sie dafür, mit dem Ergebnis, dass sie ihre kleine Nase etwas höher trug und mir einige Obszönitäten ins Ohr flüsterte.

An Heiligabend erhielt ich ein Buch von ihr: „Was man alles über Sex wissen muss.“ Vater und Onkel Ludwig fanden das Geschenk super. Die Damen weniger. Oma meinte, das schickte sich nicht für eine junge Lady.

Tante Alexa war mit einem französischen Adligen verheiratet. Beatrix‘ Papa hieß Maurice, stammte aus der Camargue. Seine Familie besaß dort ein Gut und eine Pferdezucht. Ich durfte seine Eltern ein paarmal besuchen und lernte inzwischen Französisch in einer der vielen Arbeitsgemeinschaften an unserer Schule. Wir sprachen deshalb seit zwei Jahren nur noch Französisch miteinander, wenn wir uns sahen. Beatrix sollte im nächsten Sommer nach Frankreich auf ein Mädcheninternat. Hubertus und ich neckten sie. Dort unterrichteten nämlich Nonnen.

„Ihr zwei seid fies“, meinte sie, als wir nach der Bescherung einen Moment in den Schlosshof gingen. Es schneite und wir warfen uns Schneebälle zu.

„Bei den Nonnen im Kloster, da ist es schön! Da sieht man die Nonnen breitbeinig gehen. Sie tragen Keuschheitsgürtel um die Hüften, und können sich selbst nicht mal richtig lüften. Der kleinen Beatrix, dem süßen Fratz, wird auch bald so ein Ding verpasst.“ Wir drei waren alleine unten. Hubertus hielt sich den Bauch vor Lachen und ich wurde derb von hinten in den Schnee gestoßen. Meine Cousine stürzte sich wie eine Furie auf mich. „Das sag ich alles deinem Deutschlehrer, das reimt sich nicht einmal und die Versmaße sind alle falsch. Du kommst nie durchs Deutsch-Abi!“, rief sie erbost und klatschte mir Schneebälle in den Nacken.

Iihh, das lief eisig kalt langsam unter dem Hemd runter. „Frieden“, schnaufte ich. „Das Internat wird sehr fein und Mademoiselle eine Grande Dame sein.“

Sie ließ von mir ab. „Hört sich schon besser an. Ich hätte nämlich sonst Hubertus von deinen Eskapaden erzählt. Weißt du, Hubi, du solltest nachher im Zelt aufpassen, dass sich dein Vetter nicht an deinem guten Stück vergreift“, sagte sie, und warf mir einen wissenden Blick zu.

Ich erstarrte. „Was willst du damit sagen, kleine Diva? Oder muss ich dich jetzt mit Hexe anreden?“, fragte ich.

„Ich habe eine Freundin, sie heißt Jenny und ich weiß beim besten Willen nicht, was sie an dir findet. Sie hat mir einiges erzählt. Ich bin über alles im Bilde, was Andreas und Rene angeht. Also, lieber Vetter, sei recht nett zu mir, damit ich nicht aus Versehen mal in Tante Adelheids Gegenwart etwas zu viel erzähle.“

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da lag sie schon in Hubertus‘ Armen.

„Hör zu, kleine Maus, wir haben einen Ehrenkodex, der bedeutet, dass wir uns niemals gegenseitig in die Pfanne hauen. Wenn du also meine Lieblingscousine bleiben willst, plauderst du nie mehr etwas über deine Geheimnisse mit Jenny aus. N’est-ce pas?“ Er hielt sie ziemlich fest und ich sah an seinen Augen, dass er sehr ungehalten wurde.

Hubertus war der Älteste von uns. Wir gehörten zur nächsten Generation der Grafen von Wildenstein und Zusammenhalt wurde bei uns großgeschrieben. Familiengeheimnisse erzählte man keinem. Nicht einmal Familienmitgliedern, wenn es nicht unbedingt nötig war.

Ich schmunzelte. „Danke, Hubi. Ich glaube, Beatrix weiß Bescheid. Sie ist die Nichte der Gräfin Wildenstein und ihre Mutter ist eine Baronesse. Trixi kennt unsere Regeln und wollte uns nur zeigen, dass sie langsam erwachsen wird und wir sie nicht mehr wie ein Kind behandeln dürfen. Komm zu mir, Kleines. Ja, du hast Recht. Ich bin bisexuell. Aber wir brauchen das nicht öffentlich zu erzählen. Jeder hat seine Leiche im Keller und auch du wirst irgendwann eine haben. Nobody is perfect. Ich hab dich lieb, Mäuselchen. Verdreh nur weiter den Männern die Köpfe.“ Ich küsste sie zärtlich auf die Wange.

Sie schwieg betroffen, schlug die Augen nieder.

„Sorry, Max. Wir sollten tatsächlich anfangen, uns über vernünftige Sachen zu unterhalten. Wie funktioniert das mit den Gummis?“ Einen Moment später balgten wir uns alle drei im Schnee.

Abends im Zelt erzählte ich Hubertus von Rene und Andy und meinen Erfahrungen. Er hatte auch seine schwulen Seiten ausgelebt. Das war vollkommen normal, meinte er und betonte, dass er sich für mich wegen meiner Beziehung zu Jenny sehr freute. „Jenny ist eine Bereicherung für die Familie, Max. Ihr passt gut zueinander. Mach dir keine Sorgen um deine Ausflüge ins Homoleben. Unsere Väter waren auch keine Kinder von Traurigkeit und sind inzwischen treusorgende Familienväter.“ Ich lachte und erzählte ihm, was ich über meinen Vater und seinen Freund Hartmut, unseren Förster, wusste. Hubertus kicherte. Er verfügte über eine ebenso große Phantasie wie ich.

Wir feierten Sylvester zusammen und am 2. Januar hieß es Abschied nehmen. Um Oma machte ich mir Sorgen. Sie war klapperig geworden und vergaß nun schon mal das eine oder andere. Ich lief oft, um ihre Brille zu holen oder ihre Tabletten zu suchen. Ständig hatte sie irgendetwas verlegt. Mutter und Tante Alexa kümmerten sich rührend um sie. Tante Friederike ging mit ihr spazieren und wollte sie im Sommer ein paar Wochen nehmen. Oma erzählte von Ostpreußen. Man hatte den Eindruck, sie war gerade von dort gekommen, so zeitnah und authentisch hörte sie sich an. Mutter meinte, sie sollte erst einmal bei uns bleiben.

So saß ich die kommenden Wochen bei Oma und trug ihr meine Referate vor. Sie verstand zwar so gut wie nichts von dem, was ich erzählte, aber ich merkte, dass es ihr Spaß machte. Zu Vaters Geburtstag gab es wieder ein kleines Fest, allerdings nur im engsten Familienkreis. Oma fuhr danach mit Tante Alexa nach Hause.

Es wurde ruhig auf dem Schloss. Ich saß viele Stunden allein oder mit Andy vor dem PC oder an meinen Büchern. Jenny rief fast täglich an und erzählte mir den neuesten Klatsch aus ihrer Schule.

Die Wochen vergingen. Mein achtzehnter Geburtstag nahte. Ich hatte mit meinen Eltern, Hubertus und Beatrix eine riesige Geburtstagsparty geplant. Die Remise musste dazu ausgeräumt und saubergemacht werden, alle Pferdehänger und die Autos wurden rausgefahren. Partytische und Bänke für gut hundertfünfzig Jugendliche und Erwachsene standen stattdessen irgendwann drinnen und wurden hübsch gedeckt. Mia und Lisa ließen mich plötzlich nicht mehr in die Küche.

„Damit du nicht wieder zu viel vom Pudding naschst und dich schmutzig machst“, meinte Mia grinsend. Sie wollte mich sogar zur Feier des Tages siezen und mit Herr Graf ansprechen, aber das erlaubte ich ihr nicht. Mia war immer mein guter Geist gewesen und sie hatte mir mehr als einmal als Kind aus der Patsche geholfen. Sie war wie eine echte Freundin für mich und das würde sie auf ewig bleiben. Ihre Augen schimmerten etwas feucht, als ich es ihr sagte. Verlegen drehte sie sich um und eilte an ihre Arbeit.

Meine Mutter lächelte. Sie stand in der Tür und hatte alles mitbekommen. Die beiden lagen sich kurz in den Armen. Meine Mutter erklärte Mia und der alten Lisa, dass sie beide für uns inzwischen als Familienmitglieder zählten, ohne die hier im Schloss ein geregeltes Leben nicht möglich war.

Aufgeregt und glücklich fuhr ich am Nachmittag zusammen mit Andy zum Bahnhof. Jenny hatte darauf bestanden, mit der Pferdekutsche vom Bahnhof abgeholt zu werden. Sie nahm dasselbe Flugzeug nach München, wie Rene, Conny, Melanie und Kerrin. Mit dem Regionalzug ging es für die ganze Bande nach Wildenstein weiter. Sie fiel mir um den Hals, als sie sah, dass ich mit unseren zwei Brauereipferden und dem Brauereikutschwagen direkt vor dem Bahnhof stand.

Was für ein Trubel, was für eine Begeisterung! Alle Besucher und Fremde wollten erst mal die beiden dicken Kaltblutpferde streicheln. Es dauerte etwas, bis wir das Gepäck auf dem Wagen hatten. Melanie tanzte aufgedreht um uns herum. Sie schob Jenny zur Seite, um mich abknutschen zu können. Unterlegen musste sie sich dennoch der zukünftigen Gräfin Wildenstein geschlagen geben. Conny konnte den Mund nicht zu bekommen. Rene erzählte, wie sie den armen Kerl aufgezogen und geängstigt hatten. Mit seinen Kiezmanieren durfte er sicherlich nicht im Schloss übernachten. Gewöhnliche Leute hätten dort keinen Zutritt. Ich schmunzelte.

Wir werden viel Zeit haben, uns einander auf die Schippe zu nehmen. Ich hatte allen ein großartiges Erlebnis beschert, wobei es für Andy und für Jenny nichts Neues war in einer Kutsche zu fahren. Bewusst lenkte ich die Pferde durch enge Gassen. Sie kannten ihre Aufgaben und liefen willig voran.

„Alle zufrieden? Conny, du sagst gar nichts. Gibt es in Hamburg keine Brauereipferde?“, fragte Andy.

„Alles durchatmen, frische Landluft“, rief Rene aus. Wir verließen das Dorf und nahmen den Umweg durch den Wald. Die Pferde brauchten Bewegung. Sie trabten von selbst munter vorwärts. Der nicht asphaltierte Waldweg durch unseren Forst war eine Wohltat für ihre Hufe. Zufriedenes Schnauben zeigte mir an, dass es ihnen gut ging.

„Wirklich zwei schöne Tiere“, meinte Jenny anerkennend. „Man sieht so etwas heute nur noch selten. Selbst die großen Brauereien halten sich keine Pferde mehr, weil sie zu teuer sind und nur noch für Umzüge gebraucht werden. Wollen wir nachher Kaltblutnachwuchs züchten? Die Fohlen sind richtig knuffig“, fragte sie mich.

Ja, daran hatte ich schon gedacht. Mit Jenny bekam ich eine Pferdefachfrau an meine Seite. Vaters Zucht und unsere eigenen Vorstellungen ließen sich gut miteinander kombinieren.

„Aber nur, wenn ich das erste dicke kleine Stutfohlen Jenny taufen darf“, neckte ich sie.

„Wer ist hier dick? Na warte. Ich werde dir heute Abend zeigen, wer in unserer Ehe das Sagen hat.“

Conny hatte aufmerksam die Ohren gespitzt. „Max, guter Freund, nach dem, was ich nun gehört habe, tust du mir leid. Du bist wirklich gestraft. Wann wirst du deine Herrin ehelichen?“

Ich schüttelte den Kopf. An Entkommen war nicht mehr zu denken.

„Erst kommt das Abi, dann die OP und danach das Studium. Vielleicht gehe ich noch für ein Jahr in die Staaten oder nach England, wie Hubertus. Wir haben viele britische Geschäftspartner. Mein Vater hat Kontakte zu englischen Bierbrauern und meinte, es könnte nicht schaden, wenn ich den Beruf zusätzlich lerne und mich im Geschäft umschaue. Also, Süße, vor Mitte zwanzig brauchst du dir kein weißes Kleid zu kaufen. Ich muss mir als Mann erst in der Fremde die Hörner abstoßen, wie mein alter Herr zu sagen pflegt.“

Ich beugte mich zu Jenny und gab ihr einen Kuss. Sie kannte meine Pläne. Ihre eigenen Berufswünsche lagen im Bereich Pferdewirtschaftsmeisterin und wenn es ihr Abiturzeugnis erlaubte, wollte sie noch zusätzlich Tiermedizin in Hannover studieren.

„Du weißt doch, wie ich darüber denke. Es ist alles besprochen. Ich will ebenfalls meine berufliche Karriere vorbereiten. Als Tierärztin kann ich unsere Pferde selbst behandeln. Du wirst mit mir eine Menge Geld sparen. Ich bin eine gute Partie für dich“, meinte sie und erwiderte meinen Kuss.

Melanie seufzte hinten im Wagen laut auf. „Und was soll ich jetzt machen? Kerrin ist mit Rene zusammen, Andy ist schwul und Conny nimmt keine Notiz von mir. Ich werde den Rest meines jungen Lebens eine alte Jungfer bleiben müssen. Wer bedauert mich nun?“ Sie tat, als schluchzte sie.

Conny legte ganz vorsichtig den Arm um sie. „Vielleicht bin ich ja bi. Wir können es mal versuchen.“

„Herzlichen Glückwunsch, Melli. Ich glaub, deine Wahl war nicht schlecht. Aus Conny könnte etwas werden. Er muss nur in die richtigen Hände.“ Jenny hatte wie immer das letzte Wort.

Die Pferde fielen in gemächlichen Schritt zurück. Ich lenkte sie zu einer Abkürzung und ließ sie die kleine Steigung in ihrem eigenen Tempo hochlaufen. Die Fahrt entspannte unsere beiden Kaltblüter sichtlich. Wir brauchten die Kutsche viel zu wenig. Jenny hatte Recht. Vielleicht würde ich sie nach der OP mehr nutzen und im Sommer regelmäßige Waldfahrten unternehmen.

Zwischen den Tannen tauchte plötzlich in der Ferne unser Schloss auf. Kerrin bemerkte es als erste und stieß einen Schrei aus.

„Nein, das ist ja Wahnsinn. Max, das gehört alles dir?“

Ich lachte. „Nein, meinen Eltern. Mein Vater gehört dem Grafengeschlecht der Wildensteins an. Unser Dorf ist nach uns benannt. Meine Ahnen waren Raubritter. Einer wurde sogar auf dem Schloss ermordet. Man warf ihn ohne Essen und Trinken in den Burgturm und ließ ihn dort verhungern. Sein Skelett liegt noch heute da. Er hatte seinem Bruder, dem Schlossherrn, die Frau geklaut. Sie wurde dafür lebendig im Keller eingemauert. Beide erscheinen jedes Jahr am Tag des Urteilsspruchs, dem 05. August, pünktlich um Mitternacht, um durch lautes Seufzen und Weinen auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Manchmal melden sie sich auch zwischendurch. Oft, wenn wir Feste feiern. Am Geburtstag meines Vaters sind sie schon ein paarmal aufgetaucht und haben die Gäste, die über Nacht bei uns blieben, zu Tode erschreckt. Und das seit 1677. Meistens lachen alle, wenn sie von unseren Schlossgespenstern hören. Aber wenn die sich wirklich im Turmfenster zeigen und laut klagen, zittern alle vor Angst. Vielleicht sind sie heute Nacht wieder da. Sie wissen, dass einer ihrer Nachfahren volljährig wird.“

Conny grinste. Andy auch. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

„Das ist kein Scheiß. Das stimmt wirklich. Das Skelett von Ritter Siegbert besuche ich regelmäßig und werfe ihm Naschis runter. Er mag am liebsten Gummibärchen. Gräfin Barbara schmachtet im Keller. Die Mauer, hinter der sie liegt, haben Max und ich inzwischen gefunden. Wir mussten alle alten Baupläne studieren und wühlten uns durch uralte Chroniken. Wie alt waren wir damals eigentlich, Max? So um die elf oder zwölf Jahre?“, erzählte Andy.

Ich überlegte kurz. „Ja, stimmt. Da haben wir angefangen, nach ihr zu suchen. Gefunden haben wir die Unglückliche erst zwei Jahre später. Wir hatten systematisch alle Kellergänge durchkämmt. Mann, war das unheimlich da unten und kalt. Ich hatte immer Angst, gleich würde sich die Wand auftun und Barbara ihre Ketten um meinen Hals legen, um sich an mir zu rächen. Uns fiel auf, dass eine Wand anders aussah als die anderen und da haben wir dran geklopft. Es war tatsächlich ein Hohlraum dahinter. Und mit einem Gerät, das durch Mauern sehen kann, haben wir sie geröntgt. Das Skelet zeichnet sich deutlich ab. Ich hab ein Foto davon in meinem Zimmer. Das Gerät gehörte dem Bauamt und mein Vater hat es zurück bringen müssen. Unser Schloss steht seit dem unter Denkmalschutz.“

Andy nickte. „Ja, genauso war es. Max durfte nicht mehr ins Gewölbe unter dem Schloss steigen. Das hatte ihm seine Mutter verboten. Es wäre zu gefährlich, meinte sie. Ich denke, dass die beiden Liebenden heute Nacht erscheinen. Allein schon deshalb, weil hier so viele Paare zu Gast sind. Die zwei wollen sich nicht mehr verstecken. Jetzt sind sie ja tot und können nur noch als Geister auftreten.“

Andys ernste Erläuterungen schienen noch nicht ganz zu unseren Gästen durchgedrungen zu sein. Nun sie würden um Mitternacht selbst erfahren, ob es Gespenster gab. Da war ich mir sehr sicher. Als wir auf den Schlosshof rollten, hielt ich meinen üblichen Vortrag über Gebäude, Geschichte, Bewohner und Hintergründe.

Meine Eltern, Hubertus und Beatrix waren zu uns hinunter gekommen und hörten wie meine Besucher aufmerksam zu. Mein Vater warf hin und wieder einige Bemerkungen ein. Am Schluss meldete sich Beatrix mit dem wohl wichtigsten Thema.

„Hat euch mein vergesslicher Vetter denn schon das bedeutsamste Ereignis des Wildensteiner Schlosses erzählt?“ Alle schauten sie an.

„Hier hat sich 1677 ein fürchterliches Drama zugetragen. Ritter Siegbert ging mit der Gattin seines Bruders Max Ferdinand, der schönen und anmutigen Gräfin Barbara, fremd. Zur Strafe wurde er in den Turm geworfen und musste verhungern. Die Gräfin starb im Keller, bei lebendigen Leib eingemauert. Sie spuken seitdem und erscheinen immer wieder an ihrem Todestag, manchmal auch an Geburtstagen ihrer Nachfahren. Mein Onkel musste sehr oft Gäste beruhigen, die zu seinem Geburtstag angereist waren und hier im Schloss übernachteten. Ich weiß noch, wie ich jedes Mal von dem Gekreische der Frauen wach wurde. Und Max ist der Erbe des Hauses und wird heute um Mitternacht achtzehn Jahre alt. Das ist natürlich für die zwei unglücklich Liebenden die beste Gelegenheit, sich in den Mittelpunkt zu stellen.“

Conny grinste wieder. „Ich bin in Hamburg schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden, die sollen nur kommen.“

Mutter lachte und bat uns herein. Sie hatte den Kaffeetisch decken lassen. Meine Freunde kamen im Inneren des Schlosses aus dem Staunen nicht mehr heraus. Andy und Rene erzählten von ihren Erlebnissen bei mir und Jennys Vorträge konnten sich hören lassen, während Kuchen und Tee herumgereicht wurde.

„Wahr ist, dass sich heute sehr wenige Leute über ein derartiges Erbe noch freuen können. Die Unterhaltung des Gebäudes kostet Unsummen. Wenn wir nicht die Brauerei und die Schnapsbrennerei hätten, wäre das hier nicht zu stemmen. Allein mit Holzwirtschaft und ein paar Wildköstlichkeiten im Verkauf kann man dies Anwesen nicht erhalten. Ich bin froh, dass Max ins Geschäft einsteigen will und werde alles tun, um ihm eines Tages eine intakte Firma übergeben zu können“, erklärte mein Vater und stieß auf rege Zustimmung.

Die meisten ahnten, dass es Schlösser mit Prinzen und Prinzessinnen nur im Märchen gab und die Realität heute anders aussah.

Nach dem Kaffee brachte Beatrix die Mädchen auf ihre Zimmer. Natürlich thematisierte der kleine Frechdachs wieder unsere Gespenstergeschichte. Melanie und Kerrin lächelten erst und ließen sich ihre Ängste nicht anmerken. Aber sie gingen nicht so leicht damit um, wie Conny.

Ich hatte zusammen mit Hubertus in meinem Zimmer ein zweites Zelt aufgebaut und beide so ineinander gestellt, dass eine große Schlaffläche zur Verfügung stand und wir zu fünft hineinpassten. Hubertus wollte auf jeden Fall noch eine Weile bei uns bleiben, wenn wir am frühen Morgen zu Bett gingen. Er konnte sonst im Gästezimmer nebenan schlafen.

Aufgekratzt schlug der männliche Anhang nach dem Kaffee und der ersten Schloss- und Schlafplatzbesichtigung unter den schmunzelnden Blicken meines Vaters den Weg zum Bootshaus ein. Ich hatte Conny bereits das Wichtigste darüber erzählt. Hubertus nahm sofort unser Hausbier aus seinem Rucksack heraus und reichte die Flaschen herum. Gemütlich saßen alle vereint in der Runde. Es war wie immer, wenn wir hier zusammen kamen. Sanft schlugen die Wellen an den überdachten Bootssteg und bewegten Vaters Jolle und das Ruderboot, mit dem wir immer zum Angeln auf den See fuhren. Das plätschernde Wasser hörte sich in meinen Ohren wie Musik an. Manchmal klatschte ein Fisch beim Luftschnappen auf den See. Vögel zwitscherten, Schwalben hatten ihre Nester unter das Dach gebaut und flogen emsig über unsere Köpfe hinweg. Was für ein schönes Gefühl, jetzt nach sechs Jahren im Kreise aller neuen Hamburger Freunde dieses Paradies erleben zu dürfen, dachte ich bei mir. Die Erinnerung an das erste Mal, damals, als ich endlich ein Junge sein durfte, übermannte mich so heftig, dass sich eine kleine rührige Träne im Auge löste.

„Entschuldigung, aber ich bin so überwältigt und freu mich wahnsinnig, dass ihr nun alle bei mir seid. Ich denke an damals, Hubi. Andy erinnert sich bestimmt. Hubertus, Martin und Carsten tischten uns Märchen über ihre Erfahrungen mit Frauen auf. Wir Kleinen zitterten geradezu vor Ehrfurcht. Aber ich glaube, das meiste war wohl etwas übertrieben, oder Hubi? Sei ehrlich.“

Er nickte. „Also, ein bisschen dick aufgetragen hatten wir schon. Aber die kleinen Burschen wollten ja immer mehr wissen und glaubten uns fast alles.“

„Nun, wenn wir das nächste Mal Schniedel messen machen, könnt ihr zwei endlich mithalten“, sagte Andy zu Rene. Und zog das alte Lineal hervor, welches einen Ehrenplatz hatte und in einer besonderen Spalte im Boden steckte.

Er zeigte an die gegenüberhängende Holztafel. Wir hatten seit damals alle unsere Namen und Längen eingeritzt. Keiner, der nicht wusste, um was es sich bei der Aufstellung handelte, käme auf die richtige Lösung. Mein und Renes Name standen noch abseits. Wir durften uns erst nach der OP verewigen. Conny las sich die Ergebnisse durch. Selbstbewusst wollte er seine Hose öffnen.

„Halt, Stopp, Kollege. Hierher, zu uns kommen. Wir lesen stets alle gemeinsam ab. Schummeleien gibt es bei uns nicht“, befahl Andy und erhielt ausnahmsweise von mir Rückendeckung. Nein, es musste alles seine Ordnung haben.

„Richtig, die Messung geschieht nur unter strengster notarieller Aufsicht“, erklärte ich.

Conny gehorchte lässig. Er wurde allerdings nur zweiter in der ewigen Bestenliste. So sehr er sich auch um jeden Millimeter mehr abmühte, Martin hatte und behielt den Längsten. Wir prosteten Conny zu.

Interessiert hatte der sich Vaters alter Jolle zugewandt und fragte, ob sie seetüchtig wäre.

Andy nickte. „Natürlich, auch das Ruderboot ist startklar. Wir fahren oft damit zum Angeln auf den See. Wollen wir noch etwas aufs Wasser?“ Hubertus stand auf und öffnete die Takelagekammer. Wir nahmen unser Segel und alles, was sonst noch für die Jolle benötigt wurde, heraus. Andy und Rene machten das Ruderboot startklar. Conny durfte als erster einsteigen und setzte sich wie ein Prinz ans Ende. Rene stieß schnell ab, als Andy saß und die Ruder in die Hand nahm. Hubi und ich mussten uns beeilen. Bei einer Jolle dauerte es etwas länger, bis man damit in See stechen konnte.

Elegant glitten wir über die glitzernde Fläche, wendeten ein paar Mal und genossen den leichten Wind, der uns mühelos übers Wasser fliegen ließ. Hubertus und ich waren geübte Segler. Am frühen Abend lagen beide Boote wieder vertäut im Bootshaus.

„Leute, es ist gleich sieben Uhr. Wir sollten nach Hause und Rudelduschen. Das Haus wird heute Abend voll werden. Meine Abiklasse kommt vollständig, teilweise mit Frauen, Kampfsportgruppe, Fußballelf mit Trainer und die meisten Lehrer inklusive Direx sind eingeladen. Meine Oma fährt im Rollstuhl und hat einen Ehrenplatz neben mir. Die alte Dame ist hochbetagt, lässt sich aber nichts anmerken. Das wird die geilste Party, die Wildenstein je gesehen hat. Der Reitverein wird ebenfalls da sein. Die haben sogar eine Überraschung für mich. Ich denke, die Kleinen führen etwas mit ihren Ponys auf.“

Wir liefen um die Wette und kamen verschwitzt und schnaufend auf dem Schlosshof an. Robert winkte uns zu.

Fortsetzung Familie und zwei Gespenster
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten