Vaters Schuhe

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Apolonia

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Vaters Schuhe

Es gibt ihn nicht mehr, geblieben sind nur seine Schuhe.
Alles andere wurde schon eher entsorgt, Platz für Neues geschafft.
Nur in meinem Herzen habe ich eine Ecke frei gelassen, in der ich alle Andenken an ihn aufbewahre.
Ja, seine Schuhe auch.
Jedes Mal, wenn ich in der Großmutters Hochzeitstruhe nach den Erinnerungen suche, erblicke ich zuerst Vaters Soldatenschuhe.
Und auch jetzt. Ich betrachte sie mit Ehrfurcht. Wenn sie nur sprechen könnten, würden sie mir wieder und wieder von Vaters Kriegsodyssee erzählen.
Er sprach nicht gerne darüber. Vielleicht haben wir ihm nicht aufmerksam genug zugehört?
Jetzt ist es vorbei. Geblieben sind nur Vaters Geschichten. Kurz, trocken, traurig, schmerzhaft. Und diese Schuhe, aufbewahrt, wie eine Reliquie.
Groß, derb, auch von dem Leben gezeichnet. Schon lange keine Schuhschwärze gesehen. Die Senkel abgenutzt, dünn, wie ein Faden. Als hätten sie sagen wollen, dass man nicht zusammen binden kann, was früher zusammen gehörte, jedoch getrennt wurde.
Die können jetzt niemandem nützlich sein. Bloß keine Kriege mehr. Niemals. Nicht auf dem deutschen Boden und nicht in Europa. Die ganze Welt versöhnt. Was für ein utopischer Gedanke. Die richtige Frage wäre, wie lange noch können wir den Frieden sichern, internationale Konflikte friedlich lösen, ohne Waffen?
Immer die gleichen Gedanken kreisen in meinem Kopf, wenn ich diese Soldatenschuhe betrachte. Ich bringe es nicht über mein Herz, sie einfach zu entsorgen. Nein, auch jetzt nicht. Es wäre, als hätte ich Vaters Lebensgeschichte ausradiert, weggespült.
Nein, diese übergroßen Lederschuhe, voll Furchen und Falten, porös und unansehnlich, die bleiben weiterhin in Großmutters Hochzeitstruhe, in meiner Erinnerungskiste.
Ich möchte meinen Enkelkindern mal erzählen:
Vor lange, langer Zeit war ein schrecklicher Krieg ausgebrochen, da ein böser Mann die halbe Welt regieren wollte. Euer Urgroßvater ist nach fünf Jahren Krieg und vier Jahren Gefangenschaft in dem kalten Sibirien auf wunderbare Weise zurück nach Hause gekehrt. Diese Schuhe haben ihm das Leben gerettet. Sie haben ihn durch Schneestürme getragen und vor dem Erfrieren geschützt. Kurz danach war ich geboren.
 
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ThomasQu

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Servus Apolonia,

ein sehr schöner und stimmungsvoller Text.
Ließ mich gleich wieder an meinen kriegsversehrten Opa denken.
Der wurde 1945 schwer verwundet, war danach ein Krüppel und schwer traumatisiert.

Viele Grüße,

Thomas
 



 
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