Anonym
Gast
Verästelungen
Das Leben spinnt sich in Verästelungen weiter. Die Fäden sind aber heutzutage bei weitem weniger geordnet als Molekularketten, wie sie sich zu Anfang des Lebens irgendwo im All und später auf der Erde, in Süß- oder Salzwasserlaken, gebildet haben. Oder es erscheint nur so, weil man die Systematik hinter den Verästelungen, ihre Zusammenhänge und Bedingtheiten, nicht erkennen kann. Wie es sowieso logisch unmöglich ist, als Teil eines Geschehens dieses völlig neutral und es, ohne es zu beeinflussen, zu beschreiben.
Er sitzt in der Küche, und das Frühstück ist abgetragen, die Spülmaschine gefüllt, der Tisch abgewischt. Nach Wiederherstellung der Ordnung schaltet er die Spülmaschine ein, die er zuvor nach seinem System so zurecht geräumt und gestapelt hatte, dass auch der letzte Teller noch hineingeht. Das Verhalten ist scheinbar eine Ansammlung von persönlichen Marotten, ist ihm dabei durch den Kopf geschossen. Und geschmunzelt hat er dabei nicht.
Weil er nicht stillsitzen kann vor lauter Anspannung, beginnt er damit, die diversen Mülleimer zu inspizieren und die gut gefüllten zu leeren. Danach kommt die Kaffeekanne dran, die schon lange eine Reinigung und Entkalkung verdiente. Danach nimmt er den Boden vor der Spüle in Angriff, den er erst saugen und dann nass aufnehmen will. Am Ende ertappt er sich dabei, gleich die ganze Küche zu saugen, anschließend den Staubsauger wegzuräumen, die Stühle wieder auszurichten und danach mit dem Auswischen zu beginnen.
Putzen, Hausarbeit - eine gute Ersatzhandlung und willkommene Ablenkung. Wer kennte das nicht, redet er sich ein. Schließlich setzt er sich an seinen Platz zurück. Doch die Unruhe treibt ihn gleich wieder hoch, und er entschließt sich, die Pflanzen zu gießen. Die waren sicherlich trocken, es ist ja eine Woche nach dem letzten Gießen vergangen. Nachdem das fertig ist, holt er sich ein Glas Sprudel, setzt sich hin und grübelt.
Kaum hat er sich platziert, steht er erneut auf, will sich die Zeitung holen, biegt dann aber ab in Richtung Schlafzimmer, wo er die Betten aufschüttelt und das Fenster aufreißt, weil man ja durchlüften muss. Wo bleiben die beiden denn, sagt er leise zu sich, sie wollten doch schon längst vom Einkaufen zurück sein. Seine Unruhe nimmt zu.
Schon will er den BlackBerry nehmen, um sie anzurufen. Doch am Ende entscheidet er sich um und geht zum PC, um nötige private und berufliche Emails zu bearbeiten. Dort bleibt er schließlich und versinkt in der Welt des Netzes, die, weil medial-real, einen so sehr in den Bann schlägt, dass man auch die unangenehmsten Gedanken beiseite schieben kann. Aus diesem Rausch erwacht er erst, als die Türklingel summt.
Rasch springt er auf und hastet zur Eingangstür, wobei er über einen der Läufer im Flur stolpert und beinahe fällt. Er hat sich gerade wieder gefangen, als die Tür aufgeht und sein Sohn auf ihn zustürmt. „Papa!“ ruft er und umarmt ihn. Und, obwohl er nicht weißt weshalb und zugleich sich dafür schämt, steigen ihm Tränen in die Augen, die er mühsam bekämpft und dadurch zu verbergen sucht, indem er sein Gesicht in den Haaren des Sohnes vergräbt.
„So, auch schon auf. Wo warst Du denn gestern wieder so lang!“ Das ist die Ansprache seiner Frau. Sie trifft ihn mitten im Kern, weil er weiß, dass der Vorwurf in diesen Worten nur zu berechtigt ist. Sein schlechtes Gewissen drückt ihn noch tiefer in die Haare des Sohnes, der jetzt der Umarmung inzwischen überdrüssig ist und sich aus ihr herauswühlt, sich umdreht, eine der von beiden abgesetzten Taschen schnappt und damit in die Küche marschiert.
Er steht ziemlich betreten da und grinst schief. „Hallo, guten Morgen, Liebes. Wie war es auf dem Markt?“ Das Friedensangebot in dieser Frage trifft nicht auf fruchtbaren Boden. „Tu jetzt nicht so, als ob Dich das wirklich interessierte!“ Sie deutet auf eine der beiden anderen Taschen und sagt: „Das muss in den Keller. Und, übrigens, Du kannst gleich Kartoffeln und die Pilze aus dem Vorratskeller mitbringen. Wir müssen schnell etwas kochen, sonst ist der ganze Tag hinüber.“
Er tut, wie ihm geheißen. Und weiß, dass dieser Samstagvormittag unter keinen guten Stern steht. An diesem Abend ist die Aussprache angesetzt, um die sie ihn gebeten und dafür gesorgt hatte, dass der gemeinsame Sohn bei einem Freund übernachtete. Ihm ist jetzt bereits richtig schummrig bei dem Gedanken, was das Ergebnis dieses Gespräches wohl sein könnte. Nachdem in den letzten sechs Monaten bereits zwei ernsthafte Auseinandersetzungen stattgefunden hatten, fürchtet er das Schlimmste. Sie war sehr böse mit ihm, und sie hatte gute Argumente dafür auf ihrer Seite. Er hatte ihre Vereinbarungen nicht eingehalten und Fristen zur Besserung verstreichen lassen.
Was sie nicht wusste, war in dieser Zeit sich entwickelnde schwierige berufliche Situation, in der seine Firma und er als ihr Verkaufsleiter sich befanden. Er hatte sie nicht damit auch noch belasten wollen. Vielleicht ist das ein Fehler gewesen, sagt er zu sich, als er in den Keller geht. Vielleicht ist das ein ganz großer Fehler gewesen. Er seufzt, räumt die Tasche aus, holt Kartoffeln und Pilze, steigt die Treppe sinnend wieder hinauf und begibt sich in die Höhle der Löwin.
Das Leben spinnt sich in Verästelungen weiter. Die Fäden sind aber heutzutage bei weitem weniger geordnet als Molekularketten, wie sie sich zu Anfang des Lebens irgendwo im All und später auf der Erde, in Süß- oder Salzwasserlaken, gebildet haben. Oder es erscheint nur so, weil man die Systematik hinter den Verästelungen, ihre Zusammenhänge und Bedingtheiten, nicht erkennen kann. Wie es sowieso logisch unmöglich ist, als Teil eines Geschehens dieses völlig neutral und es, ohne es zu beeinflussen, zu beschreiben.
Er sitzt in der Küche, und das Frühstück ist abgetragen, die Spülmaschine gefüllt, der Tisch abgewischt. Nach Wiederherstellung der Ordnung schaltet er die Spülmaschine ein, die er zuvor nach seinem System so zurecht geräumt und gestapelt hatte, dass auch der letzte Teller noch hineingeht. Das Verhalten ist scheinbar eine Ansammlung von persönlichen Marotten, ist ihm dabei durch den Kopf geschossen. Und geschmunzelt hat er dabei nicht.
Weil er nicht stillsitzen kann vor lauter Anspannung, beginnt er damit, die diversen Mülleimer zu inspizieren und die gut gefüllten zu leeren. Danach kommt die Kaffeekanne dran, die schon lange eine Reinigung und Entkalkung verdiente. Danach nimmt er den Boden vor der Spüle in Angriff, den er erst saugen und dann nass aufnehmen will. Am Ende ertappt er sich dabei, gleich die ganze Küche zu saugen, anschließend den Staubsauger wegzuräumen, die Stühle wieder auszurichten und danach mit dem Auswischen zu beginnen.
Putzen, Hausarbeit - eine gute Ersatzhandlung und willkommene Ablenkung. Wer kennte das nicht, redet er sich ein. Schließlich setzt er sich an seinen Platz zurück. Doch die Unruhe treibt ihn gleich wieder hoch, und er entschließt sich, die Pflanzen zu gießen. Die waren sicherlich trocken, es ist ja eine Woche nach dem letzten Gießen vergangen. Nachdem das fertig ist, holt er sich ein Glas Sprudel, setzt sich hin und grübelt.
Kaum hat er sich platziert, steht er erneut auf, will sich die Zeitung holen, biegt dann aber ab in Richtung Schlafzimmer, wo er die Betten aufschüttelt und das Fenster aufreißt, weil man ja durchlüften muss. Wo bleiben die beiden denn, sagt er leise zu sich, sie wollten doch schon längst vom Einkaufen zurück sein. Seine Unruhe nimmt zu.
Schon will er den BlackBerry nehmen, um sie anzurufen. Doch am Ende entscheidet er sich um und geht zum PC, um nötige private und berufliche Emails zu bearbeiten. Dort bleibt er schließlich und versinkt in der Welt des Netzes, die, weil medial-real, einen so sehr in den Bann schlägt, dass man auch die unangenehmsten Gedanken beiseite schieben kann. Aus diesem Rausch erwacht er erst, als die Türklingel summt.
Rasch springt er auf und hastet zur Eingangstür, wobei er über einen der Läufer im Flur stolpert und beinahe fällt. Er hat sich gerade wieder gefangen, als die Tür aufgeht und sein Sohn auf ihn zustürmt. „Papa!“ ruft er und umarmt ihn. Und, obwohl er nicht weißt weshalb und zugleich sich dafür schämt, steigen ihm Tränen in die Augen, die er mühsam bekämpft und dadurch zu verbergen sucht, indem er sein Gesicht in den Haaren des Sohnes vergräbt.
„So, auch schon auf. Wo warst Du denn gestern wieder so lang!“ Das ist die Ansprache seiner Frau. Sie trifft ihn mitten im Kern, weil er weiß, dass der Vorwurf in diesen Worten nur zu berechtigt ist. Sein schlechtes Gewissen drückt ihn noch tiefer in die Haare des Sohnes, der jetzt der Umarmung inzwischen überdrüssig ist und sich aus ihr herauswühlt, sich umdreht, eine der von beiden abgesetzten Taschen schnappt und damit in die Küche marschiert.
Er steht ziemlich betreten da und grinst schief. „Hallo, guten Morgen, Liebes. Wie war es auf dem Markt?“ Das Friedensangebot in dieser Frage trifft nicht auf fruchtbaren Boden. „Tu jetzt nicht so, als ob Dich das wirklich interessierte!“ Sie deutet auf eine der beiden anderen Taschen und sagt: „Das muss in den Keller. Und, übrigens, Du kannst gleich Kartoffeln und die Pilze aus dem Vorratskeller mitbringen. Wir müssen schnell etwas kochen, sonst ist der ganze Tag hinüber.“
Er tut, wie ihm geheißen. Und weiß, dass dieser Samstagvormittag unter keinen guten Stern steht. An diesem Abend ist die Aussprache angesetzt, um die sie ihn gebeten und dafür gesorgt hatte, dass der gemeinsame Sohn bei einem Freund übernachtete. Ihm ist jetzt bereits richtig schummrig bei dem Gedanken, was das Ergebnis dieses Gespräches wohl sein könnte. Nachdem in den letzten sechs Monaten bereits zwei ernsthafte Auseinandersetzungen stattgefunden hatten, fürchtet er das Schlimmste. Sie war sehr böse mit ihm, und sie hatte gute Argumente dafür auf ihrer Seite. Er hatte ihre Vereinbarungen nicht eingehalten und Fristen zur Besserung verstreichen lassen.
Was sie nicht wusste, war in dieser Zeit sich entwickelnde schwierige berufliche Situation, in der seine Firma und er als ihr Verkaufsleiter sich befanden. Er hatte sie nicht damit auch noch belasten wollen. Vielleicht ist das ein Fehler gewesen, sagt er zu sich, als er in den Keller geht. Vielleicht ist das ein ganz großer Fehler gewesen. Er seufzt, räumt die Tasche aus, holt Kartoffeln und Pilze, steigt die Treppe sinnend wieder hinauf und begibt sich in die Höhle der Löwin.