Verbrannte Träume

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ackermann

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Lutz hat so seine Rituale. Eines dieser Rituale besteht darin, am Samstagnachmittag dem Supermarkt seiner Wahl einen Besuch abzustatten. Flasche Rotwein, Tüte Chips, würziger Alpenkäse, Schokolade. All diese kleinen Gemeinheiten, die man nicht wirklich braucht, die das Leben aber angenehmer und den Ranzen fetter machen. Sei’s drum, denkt Lutz.
Samstagnachmittag ist da nie viel los. Tote Hose. Aber manchmal trifft man an diesen Samstagen auch Frauen, die scheinbar ziellos durch die Gänge irren. Aber wenn du Glück hast, dann ertappst du sie bei einem auf dich gerichteten Seitenblick. Und dann weißt du, welches Ziel sie tatsächlich verfolgen. Lutz ignoriert diese Blicke. Vielleicht lächelt er dezent. Es genügt ihm zu wissen, dass er noch in Frage käme. Für Sex, für ziellosen Sex mit ziellosen Frauen. Oder wäre zügelloser Sex mit zügellosen Frauen besser? Ob es besser wäre? Es hört sich jedenfalls toll an.

Nur eine Kasse ist offen, offen aber nicht besetzt. Lutz schaut sich um und wird fündig. Da steht sie ja, Tanja, Lutz‘s Lieblingskassiererin, und räumt leere Schachteln aus den Regalen. Ob Tanja wirklich Tanja heißt weiß Lutz nicht. Aber der Name passt zu ihr wie kein anderer. Tanja ist groß, gertenschlank und biegsam. Eine schwarzweiß gestreifte Piratenhose modelliert ihre langen Beine. Der Saum des blauen Einheitshemdes reicht gerade bis über den Po. Sie schaut herüber zu Lutz, nickt ihm zu. Soll heißen, ich komme gleich. Nur keine Eile, denkt Lutz, manche Dinge brauchen Zeit. Auch das Kommen und das Gehen. Lutz legt Rotwein, Chips und Alpenkäse auf das Kassenband. Vielleicht noch ein Päckchen Tabak?

Tanja ist eine Katzenfrau, sie hat ein Katzengesicht und Katzenaugen. Auch ihr Gang gleicht dem einer Katze, sie ist die Wiedergeburt einer Katze - einer Wildkatze. Wie sie Lutz anschaut. Leicht unterwürfig und doch unberechenbar. Der Kunde ist König. Ihr Gesicht mit den breiten, hohen Wangenknochen ist immer leicht gerötet, so, als ob sie gerade aus dem Solarium käme. Die glänzendschwarzen, schulterlangen Haare passen nicht so recht zur rötlichen Hautfarbe. Natürlich sind ihre Haare gefärbt. Vielleicht ist sie eine Blondine? Doch Lutz kann sich Tanja als Blondine nicht vorstellen.
Tanja wirkt immer leicht nervös und angespannt. Sie ist immer auf dem Sprung, fang die Maus. Ihre Katzenaugen haben stets alles im Blick, auch Lutz. Lutz mag ihren Blick, der freundlich auf ihm ruht. Darf ich dich berühren Tanja, denkt Lutz. Tanja wirft den Kassenzettel in den Einkaufswagen. Ein tiefer Blick aus dunklen Augen zum Abschied: „Tschüss. Schönes Wochenende.“

Zu Hause starrt Lutz minutenlang auf die Telefonnummer oben rechts auf dem Kassenzettel. Wenn du lange Jahre verheiratet bist und nur noch zwischen Arbeit und Familie hin- und her pendelst, dann kann es leicht passieren, dass du minutenlang auf eine Telefonnummer starrst. Besonders dann, wenn es die Telefonnummer einer Frau ist. Ist es wirklich Tanjas Nummer? Eine Nummer mit Tanja? Was denkst dir du eigentlich. Lutz schüttelt den Kopf.
Während des gemeinsamen Abendessens wirkt Lutz abwesend. Nach dem Abendessen dreht er sich eine Zigarette. Lutz raucht immer draußen. Er aktiviert sein Handy und tippt probeweise die 5-stellige Nummer ein. Ein Spiel.
Obwohl es Winter ist, findet er eine blühende Blume. Lutz pflückt diese Blume und spielt das alte Spiel: Sie ist es, sie ist es nicht, sie ist es, sie ist es nicht, sie ist …?

An diesem Abend gräbt Lutz seinen Traum von der großen Liebe wieder aus. Vor einigen Jahren hat er diesen Traum eigenhändig unter die Erde gebracht. Nun hat Lutz ihn exhumiert. Er schaut ihn an, betrachtet ihn von allen Seiten, klopft den Dreck aus seinen Kleidern. Und er sieht gut. Mit Tanja in der Hauptrolle sieht er verdammt gut aus. Fast leuchtet er so hell wie früher. Und das Leuchten nimmt stetig zu.
Sonntag, Montag, Dienstag trägt Lutz diesen Traum mit sich herum. Er spielt mit ihm wie ein Kind mit Lego-Bausteinen. Und das Traumgebäude wächst und wächst, wandert vom Kopf in sein Herz und wärmt ihn. Und Tanja wird zu einem überirdischen Wesen.
Ab Mittwoch beginnt der Abstieg, das Leuchten lässt nach, das Traumgebäude bröckelt - the rise and fall of the British Empire. Am Freitagabend, nach dem Abendessen, geht Lutz in den Garten. Er entzündet ein Feuer in der Feuerschale und wartet. Und als die Flammen hell lodern wirft Lutz den Kassenzettel mit Tanjas Telefonnummer in das Feuer. Minutenlang starrt Lutz auf das Feuer, das langsam erlischt. Dann fängt er an zu lachen. Und lacht und lacht …

Das Leben scheint so kompliziert und ist doch so einfach. Warum hat er Tanja nicht einfach angerufen? Warum hat er ihr Angebot, wenn es denn eines war, nicht angenommen? Vielleicht wollte sie einfach nur Sex? Aber warum gerade mit ihm, fragt sich Lutz?

Lutz hat so seine Rituale. Eines dieser Rituale besteht darin, am Samstagnachmittag dem Supermarkt seiner Wahl einen Besuch abzustatten …
 



 
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