Verdacht

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Matula

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Während ich über ein anderes Wort für "Argwohn" mit acht Buchstaben nachdachte, fiel mir ein, dass ich Herrn Rufus schon länger nicht gesehen hatte. Warum er mir gerade bei dieser Gelegenheit einfiel, entzieht sich meiner Kenntnis, bestätigt aber aufs Schönste, dass unser Gehirn auf mehr als einer Ebene arbeitet. Herr Rufus war mein Nachbar, ein liebenswürdiger älterer Herr mit einer weit weniger liebenswürdigen Gemahlin. Es bestand an sich kein Grund, sich Sorgen zu machen, denn ich hatte Letztere erst vor wenigen Tagen im Stiegenhaus getroffen und sie hätte wohl erwähnt, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.

Ich legte das Kreuzworträtsel beiseite und widmete mich der Bügelwäsche. Beim letzten Stück fiel mir das Lösungswort "Verdacht" und wiederum Herr Rufus ein. Ob er bettlägerig geworden war? Daheim oder in einem Krankenhaus? Ich beschloss, seine Frau bei nächster Gelegenheit zu fragen. Das würde mich einige Überwindung kosten, weil mir Frau Rufus ein wenig unheimlich war. Sie legte für ihr Alter viel zu viel Schminke auf, trug zu jeder Zeit des Jahres Handschuhe und immer eine Perücke, eine schwarze glatthaarige, eine blond gelockte oder eine kupferrote mit Fransenschnitt. Herr Rufus hatte mir einmal verraten, dass sie darunter fast kahlköpfig war. "Ihre guten Tage hat sie, wenn sie blond ist", fügte er hinzu und lachte schallend.

Ich hatte Glück. Frau Rufus wartete am Morgen vor dem Lift, das zugekleisterte Gesicht von blonden Locken umrahmt. Auf die Frage, ob ihr Mann wohlauf sei, erzählte sie unter Schluchzen, dass er seit dem neunzehnten April abgängig war und niemand wusste, ob er noch lebte. Er hatte an diesem Tag, wie so oft, den Ägidiberg besteigen wollen, um sich der Kräfte seiner Beine zu versichern und dann beim Postschenken-Wirt einzukehren. Dort sei er aber nie angekommen. Die Polizei habe die Suche vorerst eingestellt.

Ich war bestürzt und versuchte, ihr Mut zuzusprechen, obwohl eine dreimonatige Abgängigkeit nichts Gutes verhieß. Andererseits konnte ich mir keinen Grund denken, weshalb jemand einen älteren Herren auf seinem Wanderweg töten sollte. Frau Rufus schon. Sie machte Wölfe für das Verschwinden ihres Gatten verantwortlich. - "Aber hier gibt es doch keine Wölfe !" - "Da irren Sie sich leider gewaltig", erwiderte sie heulend, "seit man sie nicht mehr schießen darf, sind sie überall. Wahrscheinlich war es ein ganzes Rudel. Sie haben den Robert zerrissen und unter sich aufgeteilt." Ich wollte Verschiedenes einwenden, aber sie ließ mich grußlos vor dem Haustor stehen.

Es hat keinen Sinn, mit verschrobenen alten Leuten zu diskutieren. Sie nehmen Gegenargumente als Feindseligkeit wahr und werden zornig. Auch der verschollene Herr Rufus war in manchen Dingen unbelehrbar. Man musste ihn zum Beispiel immer wieder ermahnen, das Licht auszuschalten, bevor er den Keller verließ. Es brannte manchmal tagelang, was kaum auffiel, weil die anderen Mieter den Keller nicht benutzten. Wenn er wieder einmal erwischt wurde, bestritt er seine Vergesslichkeit und forderte die Nachbarn auf, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Am Besten kam man mit ihm zurecht, wenn man ihn reden und erzählen ließ. Auch er konnte ein Gespräch ganz unvermittelt abbrechen, oft mit den Worten: "So, für heute haben Sie genug gelernt!"

Ich musste in den folgenden Tagen oft an ihn denken. Dass er irgendwo im Dickicht des Waldes zusammengebrochen und noch nicht gefunden worden war, schien mir die wahrscheinlichste Erklärung für sein Verschwinden. Dann traf ich Herrn Ottenschlager. Er kam ein bis zweimal im Monat, um den Onkel zu besuchen. Wir kannten uns vom Grüßen. "Mein glupschäugiger Neffe war wieder da, um den Blick über seine künftigen Besitztümer rollen zu lassen, der gute Bub", witzelte Herr Rufus. Er spielte damit auf die dicken Weitsichtgläser an, die Ottenschlager trug und die seine Augen auf geradezu monströse Weise vergrößerten.

"Haben Sie Neuigkeiten von Ihrem Onkel?" - Er schüttelte den Kopf. "Die Polizei schert sich nicht. Sie werden ihn nie finden." - "Meinen Sie denn auch, dass Wölfe ...?" - Er lachte. "Hier gibt es doch keine Wölfe! Nein, er liegt in dem kleinen Weiher hinter der Postschenke. Dort hat man ihn erschlagen, ausgeraubt und versenkt." - Ich war irritiert von der der Ungerührtheit, mit der Herr Ottenschlager seine Vermutung vortrug und meinte nur, dass der Onkel auf seiner Wanderung wohl keinen nennenswerten Geldbetrag mit sich geführt hatte. - "Geld sicher nicht, aber hat er Ihnen einmal seine kleine goldene Taschenuhr gezeigt? Nicht die Uhr selbst, sondern die Münzen an der Kette? Da hing die ältere Faustina zwischen einem Antoninian und einem Aureus. So oft habe ich ihm gesagt, dass er nicht damit protzen soll!"

Am folgenden Wochenende quälte ich mich den Ägidiberg hinauf. Es zeigte sich, dass der Weg nur in zwei kurzen Abschnitten durch einen Wald führte, wo von Dickicht keine Rede sein konnte. Wenn Herr Rufus diesen Weg nicht verlassen hatte, hätte man ihn finden müssen. Sollte er aber tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein, waren meine Möglichkeiten, es aufzuklären, sehr beschränkt. Ich war keine Verwandte, nur eine Nachbarin, hatte also kein Recht, mich in die Angelegenheiten der Familie einzumischen. Trotzdem ließ mir die Sache keine Ruhe.

Der Gastgarten der Postschenke war voll besetzt. Ich nahm an einem Tisch in der kühlen Wirtsstube Platz. Eine sehr stattliche Frau in einem roten Trachtendirndl forderte mich auf, meine Mahlzeit draußen an der Sonne einzunehmen. - "Ich möchte lieber hier im stillen Gedenken an meinen Nachbarn, den armen Herrn Rufus, einen Kaffee und ein Mineralwasser trinken." - Sie musterte mich misstrauisch, dann setzte sie sich zu mir. - "Wir haben der Polizei alles gesagt, was wir wissen. Er war oft hier, aber nicht an diesem Tag im April. Und falls doch, haben wir ihn nicht gesehen. Vielleicht hat er ja nur die Toilette benutzt. Meistens war er eine knappe Stunde da, hat eine Kleinigkeit gegessen und ein Achtel Wein getrunken. Sie werden sicher wissen, dass er äußerst sparsam war. Danach hat er noch einen Jugendfreund am Stadtrand besucht, hat er jedenfalls behauptet."

Während die Wirtin sprach, versuchte ich festzustellen, welche Goldmünzen sie an der Kette um ihren Hals trug. Leider verstand ich nichts von Numismatik, kannte nur die landesüblichen kleinen Münzen mit Wappentier und Kaiserkopf, von denen einige an der Kette hingen. In der Tiefe ihres Dekolletés steckten weitere, aber ich wagte nicht, sie zu bitten, sie mir zu zeigen. Der Name des Jugendfreundes war ihr nicht bekannt. Den wisse nur ihr Mann, aber der sei im Wald zum Brombeerpflücken. Am Ende meinte sie, dass Herr Rufus wahrscheinlich in eine offene Sickergrube in der Umgebung gestürzt war. "Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht ... ". Sie lächelte sinnend.

Der Sommer ging vorüber, aber das Verschwinden meines Nachbarn beschäftigte mich noch immer. Seine Frau lebte sehr zurückgezogen, und Herr Ottenschlager ließ sich auch nicht mehr blicken. Ich glaubte weder an einen Goldmünzenraub noch an den Sturz in eine Sickergrube und schon gar nicht an die Wölfe. Eher glaubte ich an den Jugendfreund, entweder als Mörder oder als Komplize. Möglicherweise hielt sich Herr Rufus bei ihm versteckt, um von der schrecklichen Ehefrau wegzukommen. Das Paar war wohl schon so lange verheiratet, dass die daraus erwachsene Aversion ihn vielleicht zu diesem dramatischen Schritt veranlasst hatte.

Im September stieg ich wieder auf den Ägidiberg. Diesmal war der Wirt anwesend und nannte mir den Namen "Professor Binswanger", wohnhaft vermutlich in K. Ihn habe Herr Rufus als namhaften Ägyptologen und lieben Freund mehrfach erwähnt. Im übrigen war er der Meinung, dass die Polizei den Neffen in die Zange hätte nehmen müssen, über den der Verschollene so wenig Gutes zu sagen gehabt hatte. Näheres wollte er dazu nicht äußern, um nicht am Ende als Verleumder dazustehen. Ich erkundigte mich auch nach dem kleinen Weiher und erfuhr, dass er in diesem Sommer fast ausgetrocknete war. "Wenn er dort hineingefallen wäre, hätten wir ihn mit Sicherheit gefunden", meinte der Wirt.

Ich will mich hier nicht über die Details meiner Suche nach Professor Binswanger verbreitern. Er wohnte jedenfalls nicht in K., sondern in einer benachbarten Gemeinde, in einer Gartensiedlung. Mir war sofort klar, dass er weder Professor noch Ägyptologe, aber geistig zerrüttet war. In seinem Rasen steckten hölzerne Uschebti-Imitate wie Gartenzwerge und unter dem Vordach seines Häuschens bewachte eine Statue des Schakal-Gottes Anubis den Eingang. Er und sein Meister wollten mich nicht hereinlassen. - "Für Besuche sind wir nicht eingerichtet", sagte Binswanger, offen lassend, wer noch zu diesem "wir" gehörte. "Was wollen Sie denn von Herrn Rufus? Ist er Ihnen Geld schuldig? Hat er Sie geschwängert? Nein? Dann stören Sie nicht sein Ka! Immer, wenn Sie seinen Namen aussprechen, muss das Ka auf dem Weg zu seiner Seele innehalten. In dieser Zeit ist sein Körper schutzlos den Prozessen des Verfalls und der Fäulnis ausgeliefert. Wollen Sie das?!" - Ich beeilte mich zu versichern, dass mir nichts ferner liege, aber doch ungewiss sei, ob Herr Rufus schon im Jenseits weile. - "Aber selbstverständlich!" belehrte mich der falsche Professor. "Er ist auf seiner letzten Wanderung der göttlichen Sechmet mit dem Auge des Ra und der Mähne des Löwen begegnet. Wer sie trifft", er senkte die Stimme, "hat nur noch wenige Stunden zu leben." - An dieser Stelle verabschiedete ich mich, konnte es aber nicht lassen, ihm mit einem Kopfschütteln zu bedeuten, dass ich ihn nicht ernst nahm. - "Sie werden noch an mich denken!" schrie er mir nach. "Die große Sechmet wartet auch auf Sie!"

An diesem Punkt ließ ich meine Nachforschungen auf sich beruhen. Dass Herr Rufus bei seinem verwirrten Jugendfreund Unterschlupf genommen hatte, schien mir ganz unwahrscheinlich. Eher schon hatte er den Freitod gewählt und war vielleicht ins Wasser gegangen. Was hatte er zu verlieren? Einen verrückten Freund, eine verrückte Frau und einen geldgierigen Neffen. Ein liebloses Umfeld, in dem die Gespräche mit mir womöglich zu den wenigen Lichtblicken zählten. In einigen Jahren würde man ihn für tot erklären und es gab kein Grab, auf dem man Blumen niederlegen konnte.

Nach langer Zeit traf ich Frau Rufus wieder. Sie war stark erkältet, aber ich stieg trotzdem zu ihr in den Lift. Als ich sie auf ihren Ehemann ansprach, begann sie gleich wieder in ihr Taschentuch zu weinen. Es gab keine Neuigkeiten zu seiner Person, keine Spuren, keine Hinweise, keine Leichtenteile. Die Wölfe hatten ganze Arbeit geleistet. Leider ließ sich nun auch Herr Ottenschlager, der Neffe, nicht mehr blicken. Möglicherweise war auch er allein in den Wald gegangen. - Es war offensichtlich, dass die Frau über ihrem Kummer den Verstand verloren hatte.

Eines Abends, auf dem Heimweg nach der Arbeit, dachte ich über die letzte Betriebskostenabrechnung nach. Zwei Positionen schienen mir zu hoch beziehungsweise fragwürdig: der Stromverbrauch in den allgemein zugänglichen Teilen des Hauses und eine Vertragsgebühr. Im Kopf formulierte ich ein Schreiben an die Hausverwaltung. Während ich nachdachte, lag mein Blick auf den Beinen einer Frau, die vor mir ging. Es waren magere alte Beine in schwarzen Nylonstrümpfen. Ich folgte ihnen und dachte beiläufig, dass es für solche Strümpfe eigentlich zu kalt war. Der Rest der Frau war in einen Kapuzenmantel gehüllt.

Als die Beine langsamer wurden, verzögerte ich unwillkürlich auch meine Schritte. Die Frau suchte in ihrer Handtasche nach dem Haustorschlüssel. Ich blieb stehen, denn es war auch mein Haustor. Ich wartete, bis es hinter ihr ins Schloss fiel. Nach wenigen Minuten folgte ich und hörte noch das Quietschen der alten Kellertür. Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Ich jagte über die Stiegen in den ersten Stock, wo Herr Linus, ein junger Mann mit viel Tagesfreizeit, wohnte. Er gab mir seinen Kellerschlüssel, suchte dann nach einer Taschenlampe und begleitete mich.

Wir öffneten die Tür und schlichen durch den schwach beleuchtete Gang, der zweimal um eine Ecke führte. Es war kalt, es roch muffig, der Boden bestand aus gestampfter Erde und verschluckte den Klang unserer Schritte. Am Ende des Ganges drang Licht und leises Gemurmel aus einem der Abteile. Herr Linus hob die Taschenlampe, bereit, sie jemandem über den Schädel zu ziehen. Als wir das Abteil öffneten, schlug uns ein widerwärtiger Geruch entgegen, aber viel schlimmer noch war das Bild, das sich uns bot.

An einem Tischchen mit brennenden Kerzen saß ein kahlköpfiges Geschöpf mit einer roten Perücke auf dem Schoß. Der helle Rock war ihm über die Schenkel gerutscht und zeigte den Ansatz schwarzer Strümpfe an Strapsen. Gegenüber lehnte in einem Sessel eine in Plastik verpackte Gestalt. Ich schrie vor Entsetzen auf und versteckte mich hinter Herrn Linus. - "Treten Sie ein, meine Herrschaften, treten Sie ein." Das Geschöpf begann zu lachen. "Darf ich vorstellen: meine Gemahlin! Nicht mehr die Schönste, aber sehr treu! Und hier", Rufus wies auf einen in einem Teppich eingerollten Körper zu seinen Füßen, "der gute Bub, fast wie neu!" - Er lachte noch immer, als wir das Vorhängeschloss an der Außenseite des Abteils zuklickten. Später ließ er sich ohne Widerstand von den Polizeibeamten abführen.

Ich weiß bis heute nicht, was Herrn Rufus - unter Mithilfe seines Freundes Binswanger, wie sich später herausstellte - dazu brachte, seine Frau zu töten und in ihre Rolle zu schlüpfen. Der Neffe hatte den Rollentausch vermutlich bemerkt und musste deshalb sterben. - Nach der Entdeckung eines ungewöhnlichen Verbrechens wird ja oft über das Motiv und die Täterpersönlichkeit gerätselt. Die meisten Menschen wünschen sich eine Erklärung, damit das Schreckliche ein wenig an Schrecken verliert, aber solche Erklärungen werden selten nachgereicht. Das Monster bleibt ein Monster, soll ein Monster bleiben. Ich für meinen Teil bin fast sicher, dass ich im Kellergeschoß meiner Wahrnehmung immer wusste, dass Herr Rufus nie verschwunden gewesen war.
 
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Ubertas

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Liebe Matula,
Deine Geschichte gefällt mir sehr. Es tut sich ein ganz anderer Abgrund auf, als der vermeintlich angenommene.
Lieben Gruß ubertas
 

jon

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Mit Vergnügen gelesen - danke. (Auch wenn ich schon sehr zeitig dachte, dass die Frau nicht die Frau ist.)

Ein wiederkehrender Fehler in der Zeichensetzung:
falsch: "Für Besuche sind wir nicht eingerichtet," sagte Binswanger …
richtig: "Für Besuche sind wir nicht eingerichtet", sagte Binswanger …
 

Matula

Mitglied
Guten Abend Jon,

ja, ein "Thriller" ist es nicht gerade, aber wenn das Lesen Spaß gemacht hat, freut's mich sehr.
Die Fehler - ein altes Leiden - sind ausgebessert.
Danke für den Hinweis
und herzliche Grüße,
Matula
 



 
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