Verdunkle niemals meine Tür

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d-m

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Ich lebe nicht, ich existiere. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wer lebt, genießt die Sonne auf dem Gesicht und fühlt den Schmerz, wenn jemand Geliebtes stirbt, lacht über die ungeschickten Nachbarskinder und ist wütend, wenn der Fernseher wegen eines Stromunterbruchs nur graue Mattscheibe zeigt. Oder zumindest stelle ich mir das so vor. Wenn ich den Mut aufbringe, anderen in die Augen zu sehen, dann ist dort immer irgendeine Regung, die ich nicht ganz einordnen kann, etwas Fremdartiges, das sie von mir unterscheidet, das für mich unerreichbar bleibt.
Lacht der Mund, sieht man den Unterschied ganz besonders in diesen Augen, aber auch um sie herum, ich glaube, das Geheimnis liegt zwischen den Fältchen, vergraben in der Haut, es kommt deutlicher zum Vorschein, wenn sie sich kräuseln oder beim Weinen zusammenziehen, und ich frage mich, ob die Menschen wissen, was das ist. Dieser Zustand. Existieren. Ich möchte ihnen sagen: Wer existiert, der lebt nicht, der ist einfach nur da.

Hat man fünfzig Jahre existiert, dann will man endlich leben, so wie die anderen. Fremde Gesichter in den Straßen bekommen plötzlich eine Bedeutung, man will fühlen wie sie. Hauptsache, irgendwas ist in einem drin, aber da ist nur dieses Loch, das man mit nichts füllen kann, obwohl es alles verschlingt, egal was man dagegen versucht.
Den Großteil meiner Kindheit und die Jugendjahre verbrachte ich bei Großmutter, weil der Vater krank war, von der Arbeit und vom Alkohol. Wenn er abends erschöpft und betrunken auf dem Sofa hockte, sah er mich an, aber ich wurde von ihm nur gesehen und nicht geliebt, und die Mutter sagte nichts dazu, sie war verloren, doch anders als ich, wir waren zwei Verlorene in verschiedenen Universen, zwei Stumme, die Blicke ineinandergegraben, als wüssten wir etwas voneinander, dabei war es nur der verzweifelte Versuch, darüber zu sprechen, worüber wir nicht sprechen konnten.

Großmutter hatte ein geräumiges Haus am Meer, viel zu groß für sie allein, und ich mein eigenes Zimmer, in dem die Regale mit den Spielsachen aus meiner Kindheit standen. Auf dem Boden lag der Teppich mit den Braunbären, die sich mit honigverschmierten Schnauzen in den Armen hielten.
Morgens roch es nach Salz und Tang, wenn sie das Zimmer lüftete, und die Boote der Fischer kreuzten durch den Jadeteppich aus unermesslichem Blau. Manchmal konnte ich ihre Rufe im Wind vernehmen, wenn sie in die Bucht zurückkehrten, beobachtete ich, wie die Sonne hinter ihnen aufging und ihre Segel in goldene Dreiecke verwandelte.
Das Haus war alt und vielerorts baufällig, es knarrte und knackte, in den Wänden unter den schmutzigen Tapeten steckte ein eigener Kosmos an Geräuschen, als wäre es etwas Lebendiges, das seine schützende Hand über mich hielt. Deshalb half ich Großmutter, wenn Löcher im Dach repariert oder Fugen im Kriechkeller erneuert werden mussten, sie wollte ja keinen Handwerker kommen lassen. Ein Mann macht sowas selbst, hat sie immer gesagt.

Eine Zeitlang kehrte der Vater zurück, schmiss jedes Wochenende Parties in Großmutters Haus, Leute kamen und betranken sich bis zur Besinnungslosigkeit, so nannte er das, Parties, aber tanzen sah ich ihn nie, obwohl er Musik auf dem Grammophon auflegte. Meine Cousins waren eingeladen und wir nickten uns von weitem zu. Manchmal winkte ich ihnen, wartete auf eine Erwiderung, ein Zeichen, bis der Vater sie begrüßte, und ging wieder hinein, versteckte mich im alten Bootshaus, zusammen mit dem Hund.
Ich schäme mich dafür, dass ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern kann. Während Vaters Partystunden bewahrte er mich davor, verrückt zu werden, wahrscheinlich schulde ich ihm eine ganze Menge, vielleicht sogar mein Leben. Er ist irgendwann gestorben und Großmutter hatte es nicht einmal bemerkt, bis ich sie fragte, wo wir ihn begraben könnten.

Wenn die Geräusche der Party abflauten, schlich ich mich ins Haus, stieg durch ein offenes Fenster oder durch den Keller, wo ein paar Mauersteine locker waren. In der Küche stand der schwere Kühlschrank von General Electric, es roch nach kaltem Schweiß und Zigaretten. Ich öffnete seinen Bauch, nahm so viele Flaschen Bier, wie ich tragen konnte, und schlich auf Zehenspitzen zurück zum Bootshaus und dem schlafenden Hund, was nicht einfach war, weil das Glas ständig klirrte.
Dort setzte ich mich neben ihn, öffnete die erste Flasche und stürzte ihren Inhalt hinunter, versuchte das Loch in mir zu füllen und zu betäuben, immer weiter, bis es überlaufen würde und ich mich benommen ins Fell des Hundes krallte. An manchen Morgen sah mich Großmutter streng an und diese Bestätigung, diese unmittelbare Reaktion auf mein Tun, verlieh den Tagen damals einen Hauch von Zerbrechlichkeit, von so etwas wie Glück.

Sie war eine gute Frau. Ihr Essen schmeckte nicht so pampig wie das von der Mutter, sie sprach mit mir und kümmerte sich um mich, wie sie es sicherlich für den Vater vor langer Zeit auch getan hatte, deshalb nahm ich ihr die Teilnahmslosigkeit am Tod des Hundes nicht böse. Doch ab dem Tag, an dem sie den fremden Mann ins Haus ließ, war ich mir über ihre Absichten nicht mehr so sicher. Irgendwann war er einfach da, saß am Küchentisch und rauchte.
Ich hatte keine Ahnung, wer er war, woher er kam und was er hier tat. Doch Großmutter akzeptierte ihn so wie jeden aus der Familie, ja, als wäre er schon immer ein Teil von ihr gewesen, ein lang vergessener Onkel oder ein entfernter Verwandter, den sie nie erwähnt hatte, und ich fragte mich, wie das sein konnte, dass ein Fremder einfach so vorbeikam, sich in die Küche setzte und dazugehörte.

Mit seinem Auftauchen erinnere ich mich auch wieder an den Schatten und die Tür. Wie sie mitten in der Nacht aufknarrte, der zarte Lichtstreifen breiter und höher wurde, die Dunkelheit langsam mit scharfer Kante aus meinem Zimmer schnitt, als wollte der Schatten in ein Gewand aus Licht schlüpfen, um seine wahre Natur darin zu verbergen und mich mit seinem Gegenteil zu täuschen.
Da lag ich wach im Bett, zitternd und desorientiert, sah die Kälte, die unter die Decke in meine Poren kroch, ohne etwas zu spüren, sah das Herz in meinem Körper rasend schlagen, und die Wärme tröstlicher Gewissheit schmiegte sich zu mir ins Bett, je weiter er die Tür aufstieß. Wenigstens der Schatten hatte mich nicht vergessen.

Ich weiß noch genau, wie der Mann mich bei den seltenen Abendessen, die gemeinsam stattfanden, angesehen hat, so ganz anders als der Vater oder auch die Großmutter, vielleicht war dies damals das erste echte Interesse, das mir jemand entgegenbrachte, und er sprach mit Worten über mich, dass ich glaubte, sie drückten sowas wie Mitgefühl aus. Noch heute, nach alldem, was passiert ist, kann ich es nicht anders deuten.
Verwirrt und aufgelöst davon, was der Schatten heimlich mit mir machte (am Tag hielt er sich versteckt in diesem fremden Mann), so gewöhnte ich mich doch an die Aufmerksamkeit, das Streicheln auf der Haut, seine Bewegungen, ganz sanft, an die Wärme, die er ausstrahlte. Erst kam er nur einmal jede Woche, doch rasch wurden seine Besuche zahlreicher und ich begann mich, so unwirklich es heute klingt, darauf zu freuen.
Das Leben mit ihm wurde zur Normalität, die Jahre zogen vorbei, ohne das ich es bemerkte. Wie viel Zeit mir der Schatten geraubt hatte, realisierte ich erst, als die Großmutter eine Gehhilfe brauchte und die Fischerboote nur noch selten ausliefen, weil das Meer so leer geworden war wie ich.

Erst sehr viel später lernte ich, was der Schatten des Mannes mit mir gemacht hatte, erst als ich mich getraute, mit meiner Frau, Jacinta, darüber zu sprechen. Bei der Gerichtsverhandlung erfuhr ich, dass der Mann mit mir den Vater teilte, der war ja damals bei meiner Geburt schon achtundvierzig und die Mutter erst dreiundzwanzig, der hatte mit einer anderen Frau schon Kinder gehabt.
Abgesehen von dieser Erinnerung an den Gerichtssaal besteht die Zeit mit Jacinta nur mehr aus Bruchstücken, das mit ihr geschah wie im Rausch und außerhalb meiner Kontrolle, aber es gab ein Zentrum, vielleicht hatte der Vater danach gesucht, damals auf seinen Parties, und ich fühlte mich wieder schlecht in guten Stunden, weil er mich sicher dafür beneiden würde.
An dem Tag, an dem ich erkannte, wer das Loch in meinem Inneren geschaffen hatte, gebar Jacinta unsere Kinder. Ich stand fiebrig vor Nervosität im Krankenhaus, neben einem Bett mit grünen Laken, auf dem sie lag, die Beine gespreizt und schrie. In diesem Moment erkannte ich, dass es der Schmerz war, der alles verschluckt hatte, und sie schrie ihn schrill und pur in die Welt, sie gebar den Schmerz und erlöste sich davon, in mir war er gefangen und konnte nicht hinaus.
Ich wartete, bis sie unsere beiden Töchter in den Armen hielt, kleine Lebewesen, eines neben jeder Brust, eine so stolze Mutter, ihre Augen sanken erschöpft zu, und ich schlich mich davon, rannte aus dem Gebäude, feige wie ein Hund, rannte, bis meine Waden brannten und meine Lungen rasselten, dass ich hoffte, bald ersticken zu können. Wieder bei Atem schwor ich mir, mich von meinen Töchtern fernzuhalten, denn ich fürchtete, ich könnte ihnen irgendwann dasselbe antun, was der Schatten mir damals angetan hatte.

Ich bin niemals weggezogen. Oft gehe ich am Strand entlang, blicke auf das Wasser hinaus, suche nach den Fischerbooten, deren Rufe längst verstummt sind, nur ich bin noch da, streiche auf müden Füßen durch die Gegend, die Spuren im Sand sind alle von mir.
Der Morgen dämmert und ich bemerke eine junge Frau, die mit einem Hund über den verlassenen Strand auf mich zugelaufen kommt, ich habe sie noch nie gesehen, doch ihre Züge wirken so vertraut, das ich innehalte. Die Lefzen des schwarzen Hundes schlackern und sie dreht mir den Kopf beim Vorbeirennen zu. Die Kinder, die nur meiner Frau Jacinta gehören dürfen, der Hund, die Familie, der Halbbruder und sein Schatten, die Parties bei Großmutter, all das wird angeschwemmt wie Treibholz nach einem schlimmen Sturm.
Ich nehme das Messer in meine alt gewordenen Hände, habe es selbst aus einer dicken Scherbe und Absperrband gebaut, will es an die Kehle führen, doch ich bringe es nicht übers Herz, schleudere es von mir, in die Wellen hinaus.
Ich vergebe euch, sage ich, lauter, bis meine Stimme über das Meer schallt, und ich weiß nicht, ob ich meinen Mund überhaupt bewege, ich vergebe euch, vergebt mir, laut in meinem Kopf, immer wieder, und es ist mein Leben, das schreit, weil es endlich aus mir herausbricht, sich aus dem Loch befreit, weil es endlich das tun kann, wofür ein Leben so gemacht ist. Warme Sandkörner sind unter meinen Knien und die Wellen rauschen über den Strand.
Die Frau dreht sich noch einmal um, bevor sie im Palmenwäldchen verschwindet, wo ich am Abend wieder unter den Sternen schlafe, und dieser letzte Blick gibt mir Zuversicht, in ihm liegt eine Ehrlichkeit, die nur das wahre Leben kennt.
 



 
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