Verfrühte Lektüre

Das Buffet der Großeltern war ein düster schwarzlackiertes Möbelstück, in dem auf einem Bord Schillers Gesammelte Werke prangten. Allerdings sah man weder Opa noch Oma je in den zehn grünen Halbleinenbänden lesen. Dafür nahm ich als Achtjähriger die verstaubten Bücher nacheinander aus dem Regal. Ich las als Erstes „Die Braut von Messina“ und danach „Don Carlos“. Ich las langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, die ganzen langen Dialoge. Nur verstand ich kaum etwas. Und erst das Demetrius-Fragment …! Worum ging es in diesen verwickelten Angelegenheiten, die da ernsthaft, langatmig besprochen wurden, mit Worten, mir ungewohnt? Keiner von uns sprach so wie diese Personen. Jahrzehnte später hatte ich im Kommunalen Kino in Hamburg ein vergleichbareres Erlebnis. Ich sah einen japanischen Film in Originalfassung ohne Untertitel, in der Samurai-Gesellschaft des 17. Jahrhunderts spielend. Ich verfolgte die Mimik und Gestik der Darsteller, hörte auf ihre Stimmen, nahm Anzeichen von Freude, Trauer, Heiterkeit, Entsetzen, Erwartung und Enttäuschung wahr. Aber alles zusammen ergab keinen Sinn für mich. Ähnlich war es mir mit Schiller ergangen.

Ich ging dann zu den historischen Abhandlungen über, die ich besser verstand. Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und der „Abfall der Niederlande“ regten meine Phantasie stark an. Bald bedauerte ich, dass derart bunte Geschichten sich zu meiner Zeit nicht mehr zutrugen, dass Kurfürsten und Erzherzöge vollkommen und Kaiser und Könige weitgehend ausgestorben waren. Also erfand ich ähnliche Geschichten und schmierte sie auf Notizblöcken nieder. Souverän schaltete ich mit der Staatenwelt des Absolutismus. Koalitionen entstanden, in keinem Geschichtsbuch verzeichnet, der Wissenschaft unbekannte Herrscher saßen auf alten Thronen, Städte wurden neu befestigt und mörderische Kriege ließ ich führen, Kriege vor allem. Hatte ich die Geschichte von Jahrhunderten umgeschrieben, fing ich wieder von vorn an – Tabula rasa. Meine Eltern und Großeltern lasen meine Abhandlungen so wenig wie die Schillers, sie fanden nur, meine Handschrift sei miserabel geworden.

Schillers Werke konnte man durch die dunkel getönten Glasscheiben noch wahrnehmen – doch der bessere Lesestoff, das wusste ich, befand sich unsichtbar hinter einer der kleinen Türen links. Hier lagen immer zwei oder drei Bände, die mein Großvater sich jeweils in der Gemeindebücherei auslieh. Und hier stieß ich, ebenfalls mit acht, auf „Buddenbrooks“. Ich verschlang die siebenhundert Seiten heimlich, vor dem Buffet stehend, mit vielen, mir sehr unwillkommenen Unterbrechungen. Mir war bewusst, für meine Großmutter war Romanlektüre nur eine schlechte Angewohnheit. Worüber sie bei dem Großvater aus gewissen Gründen hinwegsah, mir hätte sie es nicht durchgehen lassen. Wenn ich also Oma von der Küche heranschlurfen hörte, warf ich das Buch schnell in das kleine Fach und setzte die heuchlerische Unschuldsmiene auf, die mir schon zu Gebot stand. Scheinbar kam ich gerade vom Fenster her, hatte die Straße beobachtet. Das Knarren der Schranktür wurde zum Glück vom Quietschen der schlecht geölten Zimmertür übertönt …

Die Geschichte aus Lübeck beschäftigte mich mehr noch als der Dreißigjährige Krieg, Hannos Tod mehr als irgendein Trauerfall in meiner Umgebung. Gerdas Abreise nach Amsterdam und die Lage der verbliebenen alten Frauen in Lübeck waren für mich wirklicher als die banalen Erlebnisse in unserer Verwandtschaft. Wie konnte die teure Familie noch vor dem Aussterben bewahrt werden? Konnte Tony nicht ein drittes Mal heiraten? Es meldeten sich erste Zweifel, ob sie noch im gebärfähigen Alter war. Ich ging nicht so weit, die Geschichte jener Getreidehändler auf meinen Kladden fortzuführen, dafür erzählte ich die Chronik aus Lübeck einzelnen Jungen aus der Nachbarschaft. Und ich fand dabei mindestens so viel Interesse wie später, wenn mich wieder einmal ein Buch wochenlang nicht losließ und ich einen fremden Stoff mit anderen teilen wollte.

Wie viele Zitate aus Manns Roman spuken noch immer in meinem Kopf herum: Assez, Christian, dies interessiert uns durchaus nicht … Tony, deine Haltung ist nicht comme il faut … Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen … Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt … Schöne, schreckliche Bürgerwelt!
 
Das Buffet der Großeltern war ein düster schwarzlackiertes Möbelstück, in dem auf einem Bord Schillers Gesammelte Werke prangten. Allerdings sah man weder Opa noch Oma je in den zehn grünen Halbleinenbänden lesen. Dafür nahm ich als Achtjähriger die verstaubten Bücher nacheinander aus dem Regal. Ich las als Erstes „Die Braut von Messina“ und danach „Don Carlos“. Ich las langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, die ganzen langen Dialoge. Nur verstand ich kaum etwas. Und erst das Demetrius-Fragment …! Worum ging es in diesen verwickelten Angelegenheiten, die da ernsthaft, langatmig besprochen wurden, mit Worten, mir ungewohnt? Keiner von uns sprach so wie diese Personen. Jahrzehnte später hatte ich im Kommunalen Kino in Hamburg ein vergleichbares Erlebnis. Ich sah einen japanischen Film in Originalfassung ohne Untertitel, in der Samurai-Gesellschaft des 17. Jahrhunderts spielend. Ich verfolgte die Mimik und Gestik der Darsteller, hörte auf ihre Stimmen, nahm Anzeichen von Freude, Trauer, Heiterkeit, Entsetzen, Erwartung und Enttäuschung wahr. Aber alles zusammen ergab keinen Sinn für mich. Ähnlich war es mir mit Schiller ergangen.

Ich ging dann zu den historischen Abhandlungen über, die ich besser verstand. Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und der „Abfall der Niederlande“ regten meine Phantasie stark an. Bald bedauerte ich, dass derart bunte Geschichten sich zu meiner Zeit nicht mehr zutrugen, dass Kurfürsten und Erzherzöge vollkommen und Kaiser und Könige weitgehend ausgestorben waren. Also erfand ich ähnliche Geschichten und schmierte sie auf Notizblöcken nieder. Souverän schaltete ich mit der Staatenwelt des Absolutismus. Koalitionen entstanden, in keinem Geschichtsbuch verzeichnet, der Wissenschaft unbekannte Herrscher saßen auf alten Thronen, Städte wurden neu befestigt und mörderische Kriege ließ ich führen, Kriege vor allem. Hatte ich die Geschichte von Jahrhunderten umgeschrieben, fing ich wieder von vorn an – Tabula rasa. Meine Eltern und Großeltern lasen meine Abhandlungen so wenig wie die Schillers, sie fanden nur, meine Handschrift sei miserabel geworden.

Schillers Werke konnte man durch die dunkel getönten Glasscheiben noch wahrnehmen – doch der bessere Lesestoff, das wusste ich, befand sich unsichtbar hinter einer der kleinen Türen links. Hier lagen immer zwei oder drei Bände, die mein Großvater sich jeweils in der Gemeindebücherei auslieh. Und hier stieß ich, ebenfalls mit acht, auf „Buddenbrooks“. Ich verschlang die siebenhundert Seiten heimlich, vor dem Buffet stehend, mit vielen, mir sehr unwillkommenen Unterbrechungen. Mir war bewusst, für meine Großmutter war Romanlektüre nur eine schlechte Angewohnheit. Worüber sie bei dem Großvater aus gewissen Gründen hinwegsah, mir hätte sie es nicht durchgehen lassen. Wenn ich also Oma von der Küche heranschlurfen hörte, warf ich das Buch schnell in das kleine Fach und setzte die heuchlerische Unschuldsmiene auf, die mir schon zu Gebot stand. Scheinbar kam ich gerade vom Fenster her, hatte die Straße beobachtet. Das Knarren der Schranktür wurde zum Glück vom Quietschen der schlecht geölten Zimmertür übertönt …

Die Geschichte aus Lübeck beschäftigte mich mehr noch als der Dreißigjährige Krieg, Hannos Tod mehr als irgendein Trauerfall in meiner Umgebung. Gerdas Abreise nach Amsterdam und die Lage der verbliebenen alten Frauen in Lübeck waren für mich wirklicher als die banalen Erlebnisse in unserer Verwandtschaft. Wie konnte die teure Familie noch vor dem Aussterben bewahrt werden? Konnte Tony nicht ein drittes Mal heiraten? Es meldeten sich erste Zweifel, ob sie noch im gebärfähigen Alter war. Ich ging nicht so weit, die Geschichte jener Getreidehändler auf meinen Kladden fortzuführen, dafür erzählte ich die Chronik aus Lübeck einzelnen Jungen aus der Nachbarschaft. Und ich fand dabei mindestens so viel Interesse wie später, wenn mich wieder einmal ein Buch wochenlang nicht losließ und ich einen fremden Stoff mit anderen teilen wollte.

Wie viele Zitate aus Manns Roman spuken noch immer in meinem Kopf herum: Assez, Christian, dies interessiert uns durchaus nicht … Tony, deine Haltung ist nicht comme il faut … Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen … Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt … Schöne, schreckliche Bürgerwelt!
 



 
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