Vergangen, vergessen, vorüber: Piratensender

Hagen

Mitglied
Vergangen, vergessen, vorüber: Piratensender

Als ich den Speicher meines Elternhauses aufräumte, fiel mir ein Stapel alter Spiegelexemplare in die Hand. Irgendwie konnte ich nicht umhin etwas zu schmökern, und stieß dabei auf einen Artikel über die ‘Festungen des Wahnsinns‘. Der Artikel befasste sich damit, dass eine dieser Seefestungen, ehemals Flakinseln, kurzzeitig von einem ‘Piratensender‘ besetzt worden war.
Daraufhin fiel mir mein Onkel Frans ein, und dass er mir zur Konfirmation einen Weltempfänger schenkte, mit dem Anfang der 70ger der Piratensender ‘Radio Veronica‘ in meiner Heimatstadt Bremen relativ störungsfrei zu empfangen war.
Damals, lang, lang ist es her, waren wir alle ganz heiß auf ‘Veronica‘, ‘Radio Nordsee International‘ und natürlich ‘Caroline‘. Wir fühlten uns ein ganz kleinwenig wie Rebellen, wenn wir Piratensender hörten. Es war einfach super den Sound auf Mittelwellen oder im 49Meter Band auf Kurzwelle zu hören. Das Pfeifen und das Fading gehörte einfach dazu. Er war nicht störend, sondern er war Ausdruck der Exklusivität des Genusses.
Die Piratensender trafen damals nicht nur den Geschmack der jungen Zuhörer, sondern füllten auch eine absolute Marktlücke in Europa. Die ‘Piratensender‘, offiziell ‘See-Sender‘, befriedigten auch das Bedürfnis der meist jugendlichen Zuhörer wie mich, nach moderner Beat-Musik und sendeten von den Schiffen vor der Küste Hollands den ganzen Tag lang, nur von Plattenansagen, ohne Politik, kurzen Nachrichten zur vollen Stunde und natürlich Werbung, die Songs der Stones, Beatles, Yardbirds, Troggs, Animals, Doors, Monkeys, Beach Boys usw., einfach alles, die Hitparaden rauf und runter. Aber auch solche Platten wie die von Petula Clark (deren absoluter Fan ich damals war), Roy Orbison, den Platters etc.
Nicht nur die Werbung im Radio war neu, es gab etwas, was mich faszinierte: Die Piratensender hatten ganz neue, ungewöhnliche Senderkennungen. Nicht wie Big Ben für BBC oder die ‘Tam Tam Töne‘ von Radio Moskau zu Beginn oder zum Sendeschluss, nein, es gab immer mal zwischendurch mehr oder weniger pfiffig gemachte Senderkennungen mit Musikuntermalung, mal mit Gesang oder Sprache, oder auch kombiniert. Es waren die Jingles der Sender und die Erkennungsmelodien von Radio Caroline oder von Radio Nordsee International "Man of Action", die ich neben der Musik so toll fand. Ein Grund in Erinnerungen zu schwelgen und zu recherchieren.
Bei günstigen Wetterbedingungen waren sogar Radio London in der Themsemündung und Britain Radio, installiert auf einer alten ‘Flakinsel‘ oder offiziell ‘Seefestung‘ in der Nordsee zu empfangen. Diese Seefestung sollte ein paar Jahre später einmal kurzzeitig als selbständiger Staat ‘Sealand‘ weltberühmt werden, mit eigenen Briefmarken, Währung und so, wurde aber nicht anerkannt.
Während meines Gegenbesuchs bei Onkel Frans und Tante Ruud in Scheveningen während eines Sommerurlaubs, konnte ich die Sendeschiffe von der Pier, den Dünen aus oder dem Boulevard mit bloßem Auge sehen. Wenn man die dort aufgestellten Teleskope oder ein eigenes Fernglas nutzte, konnte man sogar Einzelheiten der Deckaufbauten erkennen. In der Hochzeit der Piratensender lagen dort die Sendeschiffe von Radio Veronica, Radio Nordsee International und Radio MiAmigo vor der Küste Scheveningens knapp außerhalb der Dreimeilenzone wie die Perlen auf einer Kette aufgeschnürt. Ab dem Scheveninger Hafen wurden sogar Ausflugsfahrten zu den Piratensendern neben Hochseeangeln angeboten. Daran habe ich allerdings nicht teilgenommen, weil man nicht an Bord der Sendeschiffe durfte. Zudem war nichtsahnende Fische aus dem Wasser ziehen und anschließend totschlagen nie mein Ding.
Zurück zu den Piratensendern: Als “Radio Nordsee International“ 1970 ‘on air‘ ging, hatte ich bereits die erste Ausbildung und die Bundeswehr absolviert, einen recht guten Job und eine feste Freundin. In unserem Arbeitszimmer hatten wir meistens RNI laufen, vorwiegend wegen der Musik, und weil dort deutsch gesprochen wurde.
“Radio Nordsee International“ wurde von den beiden Schweizern Erwin Meister und Edwin Bollier gegründet und startete am 23. Januar 1970 mit Testsendungen auf UKW von einem ehemaligen Frachtschiff, der „Silvretta“ (570 BRT), welches auf den Namen „Mebo 2“ (nach den Inhabern Meister und Bollier) umgetauft wurde. Die ursprünglich vorgesehene „Mebo 1“, ein umgebautes norwegisches Küstenwachschiff (ehem. Bjarkoy), erwies sich für die stürmische Nordsee als zu klein und diente zukünftig als Tender.
Am 22. Januar 1970 verließ die „Mebo 2“ den Hafen von Rotterdam und ankerte außerhalb der Drei-Meilenzone vor der Küste von Noordwijk. Am 28. Februar 1970 startete Radio Nordsee International mit der Erkennungsmelodie: „Man of Action“ von Les Reed den Sendebetrieb in Deutsch und Englisch auf MW, 1610 KHz und UKW, 102 MHz. RNI sendete 18 Stunden am Tag aktuelle Pop- und Rockmusik. Dank des starken MW-Senders (105 kW) erreichte man nicht nur die ganzen Niederlande und Belgien, sondern auch weite Teile Norddeutschlands und Südenglands. Innerhalb einer Woche erhielt das Zürcher Hauptquartier ca. 50.000 Briefe von begeisterten Hörern. Ende März 1970 verließ die Mebo 2 die niederländische Küste und ankerte vor der englischen Küste in internationalen Gewässern bei Clacton-on-Sea.
Im April 1970 begann die Labour-Regierung, die - wie zahlreiche andere Staaten - das „Anti-Pirate-Law“ unterzeichnet hatte, die Frequenzen von RNI massiv mit Störsendern zu belegen. RNI unterstützte daraufhin die Konservativen im Wahlkampf. Die ‘Tories‘ gewannen die Wahl, aber die Störsender, die sogenannten ‘Jammings‘, blieben und hörten erst auf, als die Mebo 2 im Juli 1970 wieder vor der holländischen Küste vor Scheveningen vor Anker ging. Es folgten Brandanschläge durch einen holländischen Nachtklubbesitzer und mehrere Frequenzwechsel aufgrund angeblicher Störmeldungen staatlicher Sender.
Gegen ein „Schweigegeld“ von einer Million Gulden durch den Konkurrenten ‘Radio Veronica‘ verstummte RNI im Oktober 1970.
Nach Rückzahlung des Betrages an ‘Radio Veronica‘ wurden die Sendungen im Februar 1971 mit einem holländisch-englischen Programm wieder aufgenommen. Ein Bombenanschlag am 15. Mai 1971 auf die Mebo 2 – der Sender und die Mebo 2 konnten gerade noch gerettet werden – veranlasste die niederländische Regierung, ebenfalls das „Anti-Pirate-Law“ (Marine Offence-Act) zu ratifizieren. Ankerbrüche und schwere Beschädigungen am 52 Meter hohen Sendemasten durch Nordseestürme führten ab 1973 zu häufigen Sendeausfällen.
Zusätzlich belasteten RNI Vorwürfe, nach Sendeschluss im Auftrag des MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, der DDR verschlüsselte Botschaften zu vermitteln. In Anbetracht der drohenden Schließung durch die niederländische Regierung startete RNI im Juli 1973 eine Legalisierungskampagne – jedoch vergebens:
In der Nacht zum 1. September 1974 musste der Sendebetrieb (wie auch bei Radio Veronica) endgültig eingestellt werden. Nach einer gründlichen Restaurierung 1976 sollte das Sendeschiff 1977 nach Italien verkauft werden und vor der italienischen Küste bei Genua als Radio Nova wieder auf Sendung gehen. Diese Pläne scheiterten und beide Schiffe, die Mebo 1 und die Mebo 2, mittlerweile in ‘Almasira‘ und ‘El Fatah‘ umbenannt, wurden an Libyen verkauft und sendeten von 1978 bis 1983 religiöse Programme für die Revolutionäre Volksarmee von Muammar al-Gaddafi.
1984 wurden die beiden Schiffe im Golf von Sidra von der libyschen Marine versenkt.

Wenn heute der eine oder andere Nachfolger von Caroline, Veronica etc. oder gar Radio Northsea International (Radio Northsea International | Livestream per Webradio) oder über Astra in einwandfreier Tonqualität reinkommt, also, das ist nicht mehr das Gleiche wie früher, finde ich. Irgendwie vermisse ich das leise Knistern und Rauschen, und das Gefühl ein Rebell zu sein, weil ich einen Piratensender höre.
Aus rein sentimentalen Gründen habe ich wieder angefangen, den bekannten Piratensender Radio Northsea International beim Schreiben zu hören. Hier läuft der ‘Sound der guten alten Zeit‘!

Zumindest die älteren Leser dürften, wie ich, ihre helle Freude daran haben.
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Hagen,

An die Zeit der Piratensender habe ich nur noch graue Erinnerung. Ich erinnere mich mehr daran, was über die Piratensender berichtet wurde als an das, was diese selbst gesendet haben. Überhaupt scheint mir der Begriff des "Piratensenders" eine Wortbildung zu sein, die für die gesellschaftlichen Verhältnisse der späten 1960er und 70er Jahre spezifisch ist, im Wandel von Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Biederkeitsideal zum Fundamentalkritisch-idividualistischen-Alternativbewustsein. Politische Diskussion nutzen halt eingängliche Klischees.

Ein Pirat impliziert ja einen bösen Verbrecher, der sich selbst außerhalb des Gesetzes stellt und brave Bürger mit Gewalt bedroht. Piratensender dagegen waren aber, im Prinzip zumindest, überhaupt nicht illegal. Sie nutzten nur den Freiraum, der in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft an und für sich jedermann zusteht, der aber damals nicht in die Lesart des Ancien Regimes gepasst hat.

Oft hat der Staat daher versucht, das Piratensendertum mit dem Telekomunikationsgesetz zu bekämpfen. Für die Straftat Schwarzsenden konnte man damals bis zu fünf Jahre Knast bekommen (heute übrigens nur noch eine Ordnungswidrigkeit).

Ich stelle mit vor, echte Piraten senden nicht, sie schießen. Mein Fazit, der Piratensender ist ein rhetorisches Foul, um in der öffentlichen Diskussion die Vertreter eines bestimmten Standpunkts zu diskreditieren. O.k., ein damals recht harmloses Allerweltsfoul. Auch Weltklassefußballer wachsen erst durch ihre Fouls zu dem, was sie dann sind. Kleinere Fouls gibt es ja auch heute noch, z.B. bei unseren Automobilkonzernen, wenn die Abgaswerte beschummelt wurden, Peanuts!

Ungefähr ab 1995 gab es in Berlin das vom Senat ganz offiziell geförderte Pi-Radio, eine Netz von sich selbst organisierenden Stadtteilsendern auf UKW, mit einer wunderbaren Anleitung zum illegalen Schwarzfunken. Die URL: kulturserver-berlin.de/home/piradio/funkleh1.htm. Keine Sorge, da hat ein Jurist drübergeschaut. Man sieht dort, was alles geht, rein rechtlich. Seit 2008 schein aber wenig los zu sein. Vermutlich ist das alles jetzt digital. Das Pi steht übrigens für Pilot, nicht für Pirat.

Grüße

Hans
 

Hagen

Mitglied
Hallo Hans,

obwohl ich mich stets bemühe, die Antwort auf eine Antwort meiner Texte so ausführlich wie die Antwort zu schreiben, sehe ich diesmal davon ab, da Du mir größtenteils das von mir zeitaufwändig recherchierte Material für meinen Beitrag wiederholt hast.

Warum?

Der Begriff „Piratensender“ ist ein mittlerweile gängiger Begriff im deutschen Sprachgebrauch, obwohl er eine Wortbildung wie „Handy“ ist. „Piratensender“ ist allgemein weitaus häufiger anzutreffen als das Wort „Schwarzsender“ und ist in Fachkreisen (Funkamateure, Assoziation Deutschsprachiger Kurzwellenhörer) sowohl unstrittig als auch in deren Veröffentlichungen eine eigenständige Rubrik.

(Piraten tun mehr als nur Schießen!)

‘Pi‘ steht übrigens nicht für Pilot im Logo dieser ominösen Seite, sondern für die Zahl π, die Kreiszahl, auch Ludolphsche Zahl, oder Archimedes-Konstante, abgekürzt mit dem griechischen Kleinbuchstaben π. Pi, ist eine mathematische Konstante, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser angibt. Ich sehe da zwar keinen Zusammenhang aber

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert sowie negativ getestet, guten Willens, moralisch einwandfrei und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen
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Die, die das richtige Wort beherrschen, beleidigen niemanden.
Und sprechen trotzdem die Wahrheit.
Ihre Worte sind klar, aber niemals gewaltsam ....
Sie lassen sich nicht demütigen und demütigen niemanden.
 



 
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