Vergittert für immer

Mag ihn der eine oder andere wiedererkennen, ich werde hier nur von W. reden. Ich bin ihm bloß wenige Male begegnet und will mich nicht für einen Intimus oder Spezialisten ausgeben. Wir haben, ausgenommen ein einziges Mal, immer nur kurz miteinander gesprochen, und ich weiß kaum noch worüber. Nur der allgemeine Eindruck von ihm hat sich bei mir erhalten. W. hatte etwas von einem freundlichen, gutartigen Kobold.

In Salzburg war ich mal in einer Bar mit ihm ins Gespräch gekommen. In den Jahren darauf sah ich ihn gelegentlich in München wieder und wir wechselten jeweils ein paar Worte. Beim letzten Mal verlief es anders. Wir hatten uns nun viel mehr zu sagen – wenn ich nur wüsste, was eigentlich … Das ging fast bis zur Sperrstunde so, wir gehörten schon zu den Letzten in der Kneipe. Ich wollte nicht mit ihm schlafen, dafür fand ich ihn amüsant und sehr geistreich, auf seine leicht verdrehte Art - nein, so kann ich das nicht stehen lassen. Er war kein Sonderling, nur auf eine mutwillig-ernsthafte Art verspielt. Inzwischen habe ich auch ein Bild von ihm aus jener Zeit entdeckt, da wirkt er zugleich kultiviert und zerzaust. Er glaubte vielleicht damals etwas wie Seelenverwandtschaft wahrzunehmen und mochte sich gar nicht mehr von mir trennen. Als ich aufbrach, bot er an, mich zu meiner Pension zu begleiten; sie lag ganz in der Nähe. Dabei hatte ich längst klargemacht, dass ich nicht allein reiste und dort im Doppelzimmer schon einer schlief. Es war halb vier am Morgen, zur Mittagszeit würden wir die Rückfahrt antreten.

Ich stand im Vorhof der Pension, schob das gut mannshohe Gitter vor und schloss ab. Er blieb draußen und wollte noch immer nicht weggehen, musste weiter mit mir reden. Er streckte die Arme zwischen die Gitterstäbe und hielt sich an ihnen fest. „Das ist hier ein bisschen wie im Zoo, sehr unbefriedigend“, meinte er, „wann kommst du wieder nach München?“ – „Anfang Mai wahrscheinlich.“ – „Zu dumm, gerade da bin ich mit einer Reisegruppe in Burgund, alles wohlhabende ältere Damen.“ Er war Kunsthistoriker und professioneller Cicerone, das wusste ich schon. Jetzt gab es nichts weiter zu verabreden, kurzer Abschied und jeder ging seines Weges.

Ich bin ihm nie mehr begegnet. Heute krame ich in alten Papieren, stoße dabei unvermutet auf seinen Namen und finde im Netz schnell heraus, er ist schon fünf Jahre tot. Ich trauere also ein wenig um einen, den ich kaum gekannt habe. Vielleicht kann ich posthum doch noch vertrauter mit ihm werden. Ein Spezialgebiet von ihm war alte Malerei, darüber hat er in jenen Jahren ein Buch verfasst, das erfahre ich erst jetzt. Damals in einem großen Verlag erschienen, ist es heute gebraucht leicht zu beschaffen - es ist schon bestellt. Was erwartet mich? Vielleicht die Fortsetzung eines Dialogs durch Gitterstäbe. Und finde ich in Stil und Gedanken seinen Geist wieder, den ich auf Anhieb so sehr bewunderte?
 
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Ofterdingen

Mitglied
Hallo Arno,

Im Gegensatz zu manchen anderen Kurztexten, die scharf gebündelt und sprachlich auf die Spitze getrieben sind, ist dein Stück Prosa ruhig und mit langem Atem erzählt, gerade so, als sei es ein Ausschnitt aus einer längeren Erzählung, die "Begegnungen" heißen könnte. Deine Sprache ist wie gewohnt glatt und fließt schön, außer an einer Stelle:
" Als ich aufbrach, bot er Begleitung zu meiner Pension an; es war ganz in der Nähe. "
Der Satz verliert durch das leidige Abstraktum "Begleitung" an Farbe und Lebendigkeit. Besser wäre es gewesen, den Verbalstil durchzuhalten, auch wäre "sie" sinnvoller als "es". Ein Vorschlag:
`Als ich aufbrach, bot er mir an, mich zu meiner Pension zu begleiten; sie war ganz in der Nähe.´

Gruß,
Ofterdingen
 
Danke, Ofterdingen. Dein Vorschlag leuchtete mir sogleich ein und ich habe die Stelle schon geändert. Dabei habe ich auf das "mir" in der ersten Satzhälfte verzichtet.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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