Verirrte Leidenschaft

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Michele.S

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Ich will euch aus einer Episode meines Lebens erzählen, als ich etwa 13 Jahre alt war. Ein sympathisches Alter ist das sicherlich nicht. Mit 13 ist man meist undankbar, leicht zu reizen, pseudo-rebellisch und dabei doch so angepasst an seine entsprechende peer-group wie sonst nie zuvor und nie danach. Vielleicht hilft es, wenn ich berichte, dass ich kein ganz gewöhnlicher 13 Jähriger war. Ich las mit Leidenschaft Hermann Hesse und Thomas Mann, Eichendorff und sonstige Romantiker und schrieb selbst kleine, natürlich höchst stümperhafte Kurzgeschichten. Ich träumte davon, eines Tages ein großer Schriftsteller zu werden. Meinem Freundeskreis erzählte ich davon nie. Ich ahnte, dass ich dadurch keine Sympathien bei meinen Kameraden erwecken würde.

Der einzige, mit dem ich damals über meine Ambitionen sprach, war der Mann meiner Tante, ein angeheirateter Onkel, von Beruf Altenpfler, dabei aber sehr belesen und gebildet und nebenbei ein glühender Anhänger Jesu Christi. Eine doch seltene Kombination, die mich faszinierte.
Dieser Mann, der Christian hieß, hatte bei Tisch davon gesprochen, gerade ein Buch zu schreiben. Dieser Umstand begeisterte mich grenzenlos. Mit einiger Überwindung las ich ihm einige meiner eigenen Geschichten vor, und Christian fand dafür lobende, aber keinesfalls übertrieben enthusiastische Worte. Ich glaubte also, seine Kritik erst nehmen zu können und war äußerst stolz, da er wohl eine Spur von Talent bei mir zu entdecken meinte.
Von da an besuchte ich Christian, der eine ebenfalls 13 jährige Tochter hatte, beinahe jedes Wochenende und wir lasen uns gegenseitig Text vor, die wir geschrieben hatten. Die seinen fand ich einfach großartig und hoffte nur, die Übung würde aus mir einen ähnlichen Meister machen.

Manchmal, während wir beisammensaßen, kam meine Tante herein und brachte uns etwas zu trinken oder kleine Snacks. Was mir damals unheimlich auffiel, war das Fehlen jeder Spannung zwischen ihr und ihrem Mann. Sie verhielten sich wie Fremde, behandelten sich höflich und unverbindlich. Meine Tante war eine schlanke Frau mit kurzen Haaren und einem übermütigem Wesen. Dies lies sie oft wie einen Jungen wirken.

Ich begann, meine Onkel kindlich zu verehren. Ich lies mir sogar von Gott und Jesus erzählen, auch wenn ich bei mir selbst beschlossen hatte, Agnostiker zu sein. Mein Onkel jedoch wahrte immer Distanz. Einmal, als ich begeistert einen seiner Texte lobte, antwortete er schroff: "Genug jetzt, was verstehst du schon davon?". Solche Bemerkungen trafen meine kindliche Unsicherheit ins Mark. "Warum ist er immer so kalt zu mir, warum stößt er mich zurück, wo ich ihn doch so liebe?", fragte ich mich verzweifelt.
Meine Tante nahm mich dann manchmal beiseite und redete sanft auf mich ein "Lass dich von ihm nicht verletzen. Er verdient deine Verehrung nicht." Solche Aussagen verwirrten mich noch mehr.

Einmal, als ich ihn besuchte, war er nicht da, hatte noch irgend etwas zu erledigen. Ich traf nur seine Tochter, die in meinem Alter war. Zu meinem Erstaunen begann das Mädchen, heftig mit mir zu flirten. Ich, jugendlich übermütig und eingebildet, lies mich voll darauf ein. Das ganze entwickelte sich so weit, dass ich zu ihr hintrat und sie auf den Mund küsste.
In diesem Moment merkte ich aber, dass mein Onkel mit hochrotem Kopf hinter mir stand. Meine Cousine verschwand schnell und peinlich berührt von der Bildfläche. Christian blickte mich ernst, mit hochrotem Kopf an. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt wie in diesem Moment. Ich stammelte eine Entschuldigung. "Wir haben nur Scherze gemacht". Mein Onkel hob beide Hände, um mich zum Schweigen zu bringen.
"Ist ja gut", fuhr er mich an. "Ihr seid beide jung. Du siehst gut aus. Wie sollte meine Tochter sich auch nicht in dich verlieben? Ich..." er begann zu flüstern, "ich liebe dich doch auch".

Ich meinte mich verhört zu haben. Hochrot stand ich vor ihm und wusste nicht, was ich sagen sollte.
"Wir wollen uns heute mal wie Männer unterhalten", sagte Christian ernst.

Da erzählte er mir sein ganzes Leben. Ich sah einen scheuen Jugendlichen auf dem Pausenhof stehen, der die kleinen Jungen heimlich beim Spielen beobachtete. Einen jungen Erwachsenen, der sich streng verbat, einen Beruf auszuwählen, der ihn mit Knaben in Verbindung brachte und daher Altenpfleger wurde. Einen Mann, der am Wochenende ins Freibad ging und verschämt die jugendlichen Körper betrachtete. Dann traf er eine Frau, die aufgrund ihres knabenhaften Äußeren und ihres Wesens seine Leidenschaft kurz zu täuschen vermochte. Welch grenzenlose Erleichterung! Aber der Spuk hielt nur kurz. Bald langweilte sie ihn und er sah sich im Supermarkt wieder nach den Jungen um. Und dann war da ein 13 jähriger, hübscher Junge in sein Leben getreten und zum ersten mal hatte seine Leidenschaft ein echtes Objekt gefunden. Mit Erschrecken erkannte ich, dass er damit ja mich selbst meinte. Ein unendliches Mitleid mit ihm durchströmte mich, aber mir fiel nichts ein, was ich ihm erwidern konnte. Schließlich schwieg mein Onkel, und sein Gesicht wirkte müde wie eine erloschene Fackel.
"Verachtest du mich jetzt?", fragte er leise und schüchtern wie ein Kind.
Wieder stockten mir die Worte in der Kehle. Ich schüttelte nur den Kopf.
"Ich möchte, dass du jetzt gehst und nicht mehr wiederkommst", flüsterte Christian.
Ich erhob mich wie im Traum und schloss die Tür hinter mir, den alten Mann alleine zurücklassend.

Seitdem traf ich ihn nur noch halbjährlich zu Familienfeiern und nur selten redeten wir ein privates Wort miteinander. Mit 62 starb mein Onkel an Darmkrebs. Am offenen Sarg sah ich ihn noch einmal an. Sein Gesicht strahlte großen Frieden aus, als hätte er nach langem Kampf die Schlacht gewonnen.
 
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petrasmiles

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Lieber Michele,

eine anrührende Geschichte.
Man meint, noch die Augen und Ohren des Dreizehnjährigen zu vernehmen.
Aus erwachsener Sicht fallen mir zwei Sachen auf.
Das eine ist, dass zu einer Eheschließung mehr gehört als Leidenschaft - das mindeste sind Respekt und und ein gewisses Gernhaben.
Und das Zweite: Das Erkalten einer Leidenschaft führt nicht zwangsläufig dazu, dass der Onkel die Tante 'links liegen' lässt und in all ihren Bedürfnissen ignoriert, oder die Tante den Onkel nicht mehr für einen guten Menschen hält.
Aber vielleicht erwarte ich da zuviel an menschlicher Reife.

Der Schluss ist nicht ganz richtig, denn er nahm ja sein Geheimnis nicht mit ins Grab, sondern macht einen Dreizehnjährigen zu seinem Zeugen. Man könnte statt dessen in den Raum stellen, dass er nie seine Neigung auslebte, oder dass er zeitlebens bei den Alten und dem Schreiben blieb.

Wenn man erführe, wie der Junge mit diesem Wissen umgegangen ist, und wie es seine weitere Entwicklung beeinflusst hat, wäre noch die Kirsche auf der Sahne.

Liebe Grüße
Petra
 

Michele.S

Mitglied
Hallo petra

Danke für die Beschäftigung mit der Geschichte. Du hast Recht, der letzte Satz ist falsch. Wie dieses Wissen den Jungen beeinflusst hat, wollte ich im Unklaren lassen.

Viele Grüße
Michele
 

texxxter

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Hallo Michele

Das ist eine tolle Geschichte mit wichtigem Thema! Der Schreibstil gefällt mir sehr gut. Nur den Anfang hätte ich abgeändert, wir alle wissen, wie 13 jährige sind, es wirkt etwas altklug das so auszufühen. Ansonsten sehr gut!

Gruß
texxxter
 

Michele.S

Mitglied
Hallo texxxter

Vielen Dank für den Kommentar und die Sterne. Mit dem Anfang hast du vielleicht recht. Ist etwas klischeehaft

Grüße
Michele
 



 
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