Verkehrte Welt

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Amadis

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Verkehrte Welt

An diesem Morgen wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Es war nichts Greifbares, nur ein unbestimmtes Gefühl des ... Andersseins. Während ich noch einige Minuten in meinem Bett vor mich hin döste, sagte ich mir immer wieder, dass sich mein Gefühl wahrscheinlich als Magenverstimmung oder schlimmstenfalls als Migräneanfall erweisen würde.
Endlich raffte ich meine gesamte Willenskraft zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. Bevor ich mich der zweifelhaften Bequemlichkeit der Bettkante und der damit verbundenen Gefahr des erneuten Zurücksinkens in die Wärme des Lagers hingeben konnte, zwang ich mich dazu aufzustehen. In meinen Knien knirschte es verdächtig und auch der Rücken protestierte gegen diese allzu heftige Bewegung. Ich gähnte ausgiebig und schaute aus dem Fenster. Der Tag versprach sonnig und warm zu werden, denn von einigen wenigen Wolkenfetzen abgesehen war der Himmel von einem geradezu berückenden blau, auch wenn ich das in meinem momentanen Zustand noch nicht so recht würdigen konnte.
Ich schleppte mich ins Badezimmer, ließ meinen Pyjama fallen und stellte mich mit Todesverachtung unter die eiskalten Strahlen der Dusche. So fürchterlich diese Prozedur auch war, so war es doch die einzige Möglichkeit für mich, möglichst rasch auf Touren zu kommen und mir bei der späteren Rasur nicht die Kehle durchzuschneiden. Mir war es auch gleichgültig, dass sich meine Nachbarn regelmäßig über mein allmorgendliches Geschrei beschwerten. Ohne diese lautstarke Äußerung des empfundenen Schmerzes hätte ich die Tortur nicht ertragen.
Solcherart erfrischt überstand ich Rasur und Zähneputzen ohne weitere Blessuren. Ich zog mich an und begab mich in die Küche, wo bereits mein Kaffee durch die Maschine lief und einen köstlichen Geruch verbreitete. Ich schaltete das Radio ein, nahm die Kaffeekanne aus der Maschine und schnappte mir zwei Croissants vom Vortag. Dann setzte ich mich an den Tisch und nahm einen Schluck des heißen, starken Gebräus ohne mir die Zunge zu verbrennen. Der Kaffee war jeden Morgen der letzte Schritt zum Wachwerden, bevor ich das Haus verließ.
Es war sieben Uhr und die Morgennachrichten begannen. Als sie fünf Minuten später beendet waren, hatte ich die ersten sicheren Anhaltspunkte, dass wirklich etwas nicht stimmte – dass etwas ganz und gar nicht stimmte! Keine einzige Katastrophenmeldung, kein Krieg, kein Flugzeugabsturz oder Reaktorunfall – nichts!! Das war unmöglich!
Ich spülte den letzten Bissen des zähen Gebäcks mit einem Schluck Kaffee hinunter und verließ hastig meine Wohnung. Im Treppenhaus sah ich noch die Blutflecken an der Stelle, wo der Fünfjährige aus dem siebten Stock gestern über vier Stockwerke abgestürzt war. Das Kind war sofort tot gewesen.
Im Erdgeschoss waren die Wände noch immer geschwärzt. In der linken Erdgeschosswohnung war vorgestern der Mieter – ein alter Mann von über achtzig Jahren – in seinem Bett verbrannt. Der Krematoriumsgeruch würde noch wochenlang das Haus verpesten.
Ich rannte nach draußen. Der Straßenverkehr lief ruhig und ohne Störung. Kein Unfall in Sichtweite! Langsam überkam mich Panik. Ich bemerkte, dass auch die Fußgänger auf den Bürgersteigen ganz offensichtlich irritiert waren. Viele schauten sich ungläubig, fast Hilfe suchend um. In der Mauer, die das angrenzende Grundstück umschloss, sah ich noch die Einschüsse, die von dem Überfall in der letzten Woche kündeten, als eine Bande Jugendlicher mit automatischen Waffen ein junges Pärchen angegriffen und getötet hatte.
Ich erreichte die Tiefgarage ohne Zwischenfall, was für sich genommen schon unglaublich war. Mein Wagen war nicht aufgebrochen und auch nicht angefahren worden. Ich sprang hinein, ließ den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen los. Trotz dieser rasanten Fahrweise überfuhr ich keinen Fußgänger, als ich den Gehweg passierte und obwohl ich weder nach links noch rechts schaute, gab es keinen Unfall, als ich mich in den fließenden Verkehr einordnete.
Ich war getroffen bis ins Mark! Etwas – oder jemand – hatte die Realität – unsere Realität – so sehr verändert, dass sie fast nicht wieder zu erkennen war und ich glaubte auch zu wissen, wer dieser Jemand gewesen war.
Die Trümmer der Tankstelle an der nächsten Ecke, in die gestern Abend ein vollbesetzter Buß gerast war, rauchten noch immer und einige Straßen weiter passierte ich die Ruine des Kaufhauses, in dem vor zwei Wochen mehrere Bomben explodiert waren.
Jetzt hatte ich auch noch eine grüne Welle! Keine Ampel war rot, nirgends ein Stau, trotz Berufsverkehr und noch kein einziger Unfall, nicht einmal ein winziger Blechschaden! Ich fluchte lautlos und biss mir auf die Lippen. Er hatte es wirklich getan! Ich wusste zwar nicht wie, war mir aber inzwischen sicher, dass er es getan hatte!
Mir brach der Schweiß aus und meine Gedanken rasten. Professor Ehminger – mein Boss! – musste das Experiment, an dem wir seit mehreren Monaten zusammen gearbeitet hatten, ohne mein Beisein beendet haben. Und dann hatte er die Maschine gestartet! Es war der reine Wahnsinn, wenn ich mir anschaute, was er – was wir! – angerichtet hatten!
Ich war so abgelenkt, dass ich beinahe in eine Gruppe von Fußgängern gerast wäre, die gerade wie eine Herde kopfloser Schafe einen Überweg passierte. Aber es gelang mir durch eine unglaubliche Reaktion den Wagen an den Menschen vorbei, über den Gehsteig und anschließend wieder auf die Straße zu lenken. Dabei fuhr ich nur ein paar wenige Zentimeter an einem Zeitungskiosk vorbei und verpasste einen Hydranten um Millimeter!
Als die Anspannung zu groß wurde, begann ich zu brüllen, schlug mit der Faust auf das Lenkrad ein, ließ das Steuer sogar für längere Zeit einfach los und gab Gas – nichts!
Als ich in die Straße einbog, die auf direktem Wege zum Campus der Universität führte, sah ich auf dem rechten Gehsteig kurz hinter dem Schaufenster des Sonnenstudios in dem noch die Straßenbahn steckte, die gestern Nachmittag entgleist war, einen Menschenauflauf. Ich hielt den Wagen an, stieg aus und folgte den Blicken der Menschen, die sämtlich nach oben gerichtet waren. Auf dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes stand ein Mann, der offenbar die Absicht hatte, herunter zu springen.
„Das ist der Chef der Feuerwehr“, hörte ich einen Passanten sagen. „Er ist wohl vollkommen verstört, weil es seit Mitternacht noch keinen einzigen Brand gegeben hat.“
Ich fluchte. Gerne hätte ich gewartet, ob dem Mann wirklich etwas passieren würde, falls er sprang, aber ich hatte es jetzt eilig. Ich stieg wieder in meinen Wagen ein und fuhr weiter auf den Parkplatz, der für die Angestellten der Universität reserviert war. Wie erwartet stand der Wagen von Professor Ehminger auf dem für ihn reservierten Platz. Ich stellte mein Fahrzeug daneben ab und rannte zur Eingangstür. Der Pförtner schaute mich mit dem gleichen verstörten Blick an, den ich unterwegs so häufig gesehen hatte.
„Guten Morgen, Doktor Blum. Was ist denn nur los?“ Er klang, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Ich hab jetzt keine Zeit!“
Ich rannte an ihm vorbei und nahm mit riesigen Schritten immer zwei der breiten Steinstufen auf einmal. Im ersten Stock standen einige Studenten beisammen und diskutierten leise. Als sie mich sahen, verstummten sie und schauten mir entgeistert zu, wie ich an ihnen vorbei stürmte, die Schwingtür aufstieß, an der ein Metallschild auf die „Theoretische Physik“ hinwies.
Ehmingers Vorzimmer war zu meinem Erstaunen nicht besetzt und in seinem Büro traf ich den Professor nicht an. Also rannte ich weiter zu den Laboratorien.
In Labor Nummer Zwei wurde ich fündig. Dort saß er, drei Meter von der Maschine entfernt, und blickte wie gebannt auf den kleinen Fernseher, der hier seit einigen Monaten stand. Es lief eine Nachrichtensondersendung, die sich mit den seltsamen Vorkommnissen – oder besser Nicht-Vorkommnissen – des Morgens beschäftigte. Die Reporterin stand mit ihrem Mikrophon in der Mitte einer stark befahrenen Straße, offenbar um zu demonstrieren, dass ihr nichts geschehen konnte. Immer wieder rasten Fahrzeuge dicht an ihr vorbei, aber keines berührte sie. Die junge Frau berichtete von zahllosen Selbstmordversuchen in der ganzen Welt. Kein einziger von ihnen hatte Erfolg gehabt. In einem kleinen Ort in Vermont in den USA war eine Frau vom Dach des Rathauses gesprungen und genau auf einem Anhänger voller Heu gelandet, der gerade zufällig vorbei fuhr. Es wurden noch sicherlich ein Dutzend ähnlicher Vorfälle aufgezählt.
Ehminger saß mit glänzenden Augen in einem Bürostuhl und starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Er bemerkte meine Anwesenheit erst, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn rüttelte.
„Was zum Teufel haben Sie getan, Professor?“
Meine Stimme überschlug sich fast vor Erregung.
„Stefan! Guten Morgen!“ Er war euphorisch. „Können Sie sich das nicht vorstellen? Wir haben es geschafft! Wir haben die Realität verändert!“
„Aber zu welchem Preis? Die Menschen drehen vollkommen durch, finden sich nicht mehr zurecht.“ Mir versagte die Stimme.
„Ich musste es tun. Ich habe gestern Abend noch einmal die letzte Gruppe an Gleichungen durchgerechnet. Sie wissen schon, da hatten wir noch einen Fehler.“ Ich nickte. „Plötzlich wusste ich es. Es konnte gar nicht anders sein!“
Er stand auf und ging hinüber zur Tafel. Dann deutete er auf eine Gruppe von Gleichungen.
„Schauen Sie sich das an!“
Es fiel mir sofort ins Auge und ich konnte nicht umhin, den Professor zu bewundern. Die Lösung war wie so oft genial einfach! Ehminger schaute mich triumphierend an.
„Haben Sie die Nachrichten gesehen? Keine Katastrophen mehr, keine Unfälle, keine Selbstmorde. Es ist eine bessere Welt!“ Missionarischer Eifer sprach aus seiner Stimme.
„Professor, es war ein theoretisches Experiment. Wir wollten die Maschine niemals benutzen! Es ging nur um den Beweis, dass es möglich ist!“
„Herrgott, Stefan! Warum sollten wir es nicht einsetzen? Sehen Sie doch, was ich – was wir geschaffen haben!“ Er deutete auf den Fernseher.
„Sie haben die Menschen nicht gesehen, Professor. Noch ein solcher Tag und wir leben in einer Welt von Wahnsinnigen!“
Ehminger schaute mich verstört an.
„Sie werden sich daran gewöhnen, ich bin sicher, sie werden sich daran gewöhnen!“
Ich sah ihm durchdringend in die Augen.
„Bis dahin wird es zu spät sein!“
Ehminger wandte sich ab und blickte zu Boden. Nach einer Weile hob er den Kopf und drehte sich zu mir um.
„Was schlagen Sie vor?“
„Wir fangen sofort an und machen es rückgängig, das schlage ich vor!“, sagte ich bestimmt.
„Das ist Wahnsinn!“, stammelte er und sein Blick wurde unstet.
„Da gebe ich Ihnen Recht, Professor!“
Er konnte an meiner Stimme hören, wie ich es meinte.
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vor den Computer.
„Helfen Sie mir, Professor. Wir müssen uns beeilen!“
Ehminger schien wie aus einer Trance zu erwachen. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich.
„Ich habe die alten Parameter gesichert.“
Er deutete auf den Bildschirm und zeigte mir eine Datei. Wir arbeiteten wie die Besessenen, kontrollierten alles noch ein Dutzend Mal. Gegen fünfzehn Uhr waren wir dann soweit. Ich übertrug die neue Programmversion zur Maschine hinüber. Dann schaute ich Ehminger fragend an.
„Können wir es riskieren?“
Der Professor nickte langsam.
„Sicher ... sicher können wir das.“
Sein Gesicht spiegelte den Schmerz wieder, den er dabei empfand, sein Werk zunichte zu machen. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm bestätigte ich den Startbefehl. Das Programm lief fehlerfrei durch. Nach vier Minuten war alles vorbei. Es gab keinen Blitz, keinen Knall, es roch nicht – nichts deutete darauf hin, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ehminger saß mit grauem Gesicht auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich vollkommen durchgeschwitzt war. Als ich gerade aufstand, hörte ich von draußen ein Krachen. Ich eilte zum Fenster und schaute hinaus. Dann drehte ich mich grinsend zu Ehminger um.
„Ich fürchte, Sie brauchen einen neuen Kotflügel, Professor“, teilte ich ihm mit. Ich ging zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nehmen Sie es nicht so schwer. Immerhin haben Sie bewiesen, dass es funktioniert!“
Er schaute zu mir auf und nickte matt.
„Sicher, Stefan, und das war ja, was wir ursprünglich wollten.“ Er versuchte ein Lächeln.
„Genau!“ Ich lachte. „Ich gehe mal rüber in den Waschraum und mache mich etwas frisch.“
Mit diesen Worten verließ ich das Labor und betrat den Waschraum, der direkt gegenüber lag. Ich stellte mich vor ein Waschbecken und schaute in den Spiegel. Mein Gesicht war gerötet und mein Haar vom Schweiß verklebt. Ich drehte das Wasser auf und wischte mir mit dem erfrischend kühlen Nass über das erhitzte Gesicht. Dann wickelte ich die Ärmel meines vollkommen durchgeschwitzten Hemdes nach oben und ließ kühles Wasser über meine Unterarme laufen.
Als ich meine Hände abtrocknete, fiel plötzlich ein riesiger Schatten durch das Fenster herein. Ein fürchterliches Dröhnen folgte, danach ein Krachen und Bersten, das immer näher kam. Dann wurde es dunkel ...
*​
„Es ist achtzehn Uhr. Guten Abend, meine Damen und Herren. Die Nachrichten:
Die Menschen können aufatmen. Nach den merkwürdigen Vorkommnissen des Vor- und frühen Nachmittags, über die wir ausführlich live berichteten, haben sich die Geschehnisse im weiteren Verlauf des Tages normalisiert. Es war aufgrund der geschilderten Ereignisse weltweit zu massenhysterieähnlichen Effekten gekommen.
Hier die Meldungen im Einzelnen:
Hamburg. Bei einem Flugzeugabsturz kamen neben den einhundertacht Passagieren und der neunköpfigen Crew auch zwei bekannte Wissenschaftler sowie ein Pförtner und eine bisher unbekannte Anzahl an Studenten der dortigen Universität ums Leben. Sie starben, als der Jet der American Westlines auf das Gebäude der Physikfakultät stürzte. Bei den getöteten Wissenschaftlern handelt es sich um den vielfach ausgezeichneten Physiker Prof. Dr. Heinrich Ehminger und seinen Assistenten Doktor Stefan Blum. Beide befanden sich laut Aussagen von Kollegen in der entscheidenden Phase eines Bahn brechenden Experiments auf dem Gebiet der Quantenmechanik. Über die Ursache des Absturzes konnten die zuständigen Stellen noch keine Auskünfte geben.
Frankfurt am Main. Wir trauern um unsere Berichterstatterin Jeannine Bergner, die heute während einer Reportage aus Frankfurt vor laufender Kamera von einem Auto erfasst und dreißig Meter mitgeschleift wurde. Frau Bergner war sofort tot. Sie hinterlässt einen Mann und eine dreijährige Tochter.
Acapulco, Mexiko. Eine riesige Flutwelle hat am späten Nachmittag deutscher Zeit die mexikanische Hafenstadt Acapulco vollkommen verwüstet. Die Welle wurde offenbar durch ein Seebeben vor der Küste ausgelöst. Auch in Teilen von Kalifornien wurden Schäden in Millionenhöhe angerichtet. In Acapulco spricht man derzeit von mindesten dreihundert Toten, eine Zahl, die man wohl deutlich nach oben wird korrigieren müssen. Unter den Toten befinden sich auch ausländische Touristen. Ob auch deutsche Staatsbürger betroffen sind, versucht das Auswärtige Amt zur Stunde in Erfahrung zu bringen.
New York City, USA. Der berühmte amerikanische Opernsänger Samuel Rosenbaum wurde heute getötet, als der Fahrstuhl, mit dem er zu seiner Hotelsuite im achtundsiebzigsten Stockwerk eines New Yorker Nobelhotels fahren wollte, aus einer Höhe von etwa fünfzig Stockwerken abstürzte. Die Ursache des Unglücks ....
 
T

Thys

Gast
Hi Amadis,

so richtig überzeugend finde ich die Geschichte nicht.
Die Pointe ist vorhersehbar. Außerdem glaube ich kaum, dass in solch einer Welt der Katastrophen so etwas wie eine höhere Zivilisation enstehen könnte. Die Welt würde sich eher stetig auf Steinzeitniveau runterkatastrophieren.

Richtig verstanden habe ich auch nicht, warum die Menschen sich nicht an eine "bessere Welt" gewöhnen können. Konnte ich aus dem Text nicht überzeugend rauslesen.

„Sie werden sich daran gewöhnen, ich bin sicher, sie werden sich daran gewöhnen!“
Ich sah ihm durchdringend in die Augen.
„Bis dahin wird es zu spät sein!“


Hier dreht sich die Geschichte. Der Grund, der scheinbar bevorstehende Wahnsinn der Menschen, kommt mir aber nicht überzeugend rüber. Der Mensch ist ein wahrer Meister der Gewöhnung. Er kann sich an Extremes anpassen, ohne gleich kollektiv wahnsinnig zu werden. Ich würde Deiner Geschichte abkaufen, dass durch die "verdrehte Welt" einige Menschen wahnsinnig werden könnten, nicht aber alle.

Ansonsten finde ich die Idee der "verdrehten Welten" durchaus interessant.

Gruß

Thys
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Als ernst gemeinte Fiktion einer zukünftigen Welt funktioniert es tatsächlich nicht so einfach, aber die Idee, wie alles, was Menschen(!) als "Katastrophe" empfinden, verhindert wird, hält so einer ernsthaften Prüfung (selbs unter SF-Bedigunge) ja auch nicht stand. Es ist eine Satire.
Was die Pointe angeht: Ok, die kommt nicht gänzlich unerwartet. Vor allem scheint mir – und da bin ich schon bei den Details des Textes – es kommt etwas zu viel nach der Pointe. Eigentlich kann man doch den ganzen letzten Abschnitt streichen, oder? Man könnte so aufhören:

Als ich meine Hände abtrocknete, fiel plötzlich ein riesiger Schatten durch das Fenster herein. Ein fürchterliches Dröhnen folgte, danach ein Krachen und Bersten, das immer näher kam. Ich starrte dem Lärm entgegen und dachte noch „Ein Flugzeug?“, dann wurde es dunkel ...



Weitere Details:

Bevor ich mich der zweifelhaften Bequemlichkeit der Bettkante und der damit verbundenen Gefahr des erneuten Zurücksinkens in die Wärme des Lagers hingeben konnte, zwang ich mich dazu aufzustehen.
Der Satz klingt ein bisschen sperrig, ein bisschen zu gewollt. … konnte, zwang ich mich zum Aufstehen. würde es schon entspannen.

Der Tag versprach sonnig und warm zu werden, denn von einigen wenigen Wolkenfetzen abgesehen war der Himmel von einem geradezu berückenden blau, auch wenn ich das in meinem momentanen Zustand noch nicht so recht würdigen konnte.
Blau groß schreiben

Ich schleppte mich ins Badezimmer, ließ meinen Pyjama fallen und stellte mich mit Todesverachtung unter die eiskalten Strahlen der Dusche. So fürchterlich diese Prozedur auch war, so war es doch die einzige Möglichkeit für mich, möglichst rasch auf Touren zu kommen und mir bei der späteren Rasur nicht die Kehle durchzuschneiden. Mir war es auch gleichgültig, dass sich meine Nachbarn regelmäßig über mein allmorgendliches Geschrei beschwerten. Ohne diese lautstarke Äußerung des empfundenen Schmerzes hätte ich die Tortur nicht ertragen.
Das mit dem lauten Geschrei war mir dann doch etwas zu dick aufgetragen. Es ist auch die einzige derart große Überspitzung bezüglich des Protagonisten. Wenn sich dieses Element wiederholen würde, hätte es hier eine Art „künstlerisch-illustrierende“ Berechtigung. (Mein Gott, klingt das hochgestochen, ich hoffe du verstehst, was mein Kauderwelsch.)


Solcherart erfrischt überstand ich Rasur und Zähneputzen ohne weitere Blessuren.
Wieso ohne „weitere“ Blessuren – wo gab’s denn schon welche?

Dann setzte ich mich an den Tisch und nahm einen Schluck des heißen, starken Gebräus ohne mir die Zunge zu verbrennen.
Komma nach „Gebräus“

Der Kaffee war jeden Morgen der letzte Schritt zum Wachwerden, bevor ich das Haus verließ.
* Erbsenzählmodus an:* Das klingt wie: Er setzt sich, nimmt einen Schluck Kaffee und das ist der letzte Schritt vor dem das-Haus-verlassen. Wäre es – da im Folgenden ja kommt, was zwischen dem ersten Schluck und dem Gehen passiert – nicht besser, den Satz einfach zu streichen? Ob er nun vor dem Kaffee oder danach „richtig munter“ ist, spielt doch keine Rolle für die Story. * Erbsenzählmodus aus*

Es war sieben Uhr und die Morgennachrichten begannen. Als sie fünf Minuten später beendet waren, hatte ich die ersten sicheren Anhaltspunkte, dass wirklich etwas nicht stimmte – dass etwas ganz und gar nicht stimmte! Keine einzige Katastrophenmeldung, kein Krieg, kein Flugzeugabsturz oder Reaktorunfall – nichts!! Das war unmöglich!
Er weiß doch, dass es nicht unmöglich ist … Ich würde den Absatz mit … Reaktorunfall – nichts! beenden.


In der Mauer, die das angrenzende Grundstück umschloss, sah ich noch die Einschüsse, die von dem Überfall in der letzten Woche kündeten, als eine Bande Jugendlicher mit automatischen Waffen ein junges Pärchen angegriffen und getötet hatte.
Hier fragte ich mich, warum er mir das erzählt. Die Blutflecke fallen ins Auge, der Brandgeruch steigt in die Nase – was erheischt seine Aufmerksamkeit bei den Einschüssen? Oder wenn er sie eher zufällig sieht – was denkt er da, das ihm die Existenz der Einschüsse erwähnenswert erscheinen lässt? Muss die Entstehung der Löcher so detailiert erklärt werden? Mein Verbesserungsdrang schreit hier nach sowas wie: … Überfall in der letzten Woche kündeten. Irgendwer hatte seit gestern Abend die Namen des Pärchens, das hier ermordet worden war, an die Mauer gesprayt. Evalina und Thorben – sagte mir gar nichts.

Ich sprang hinein, ließ den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen los. Trotz dieser rasanten Fahrweise überfuhr ich keinen Fußgänger, als ich den Gehweg passierte und obwohl ich weder nach links noch rechts schaute, gab es keinen Unfall, als ich mich in den fließenden Verkehr einordnete.
Ich war getroffen bis ins Mark!
Komma nach „passierte“.
* Erbsenzählmodus an * Die Kausalität ist ein wenig(!) verdreht, dadurch fließt der Satz nicht so recht. „Trotz – passiert nicht das – als ich dies tat“ kommt gleich zweimal hintereinander. Flüssiger wäre „obwohl ich – geschah nichts“ oder noch kürzer. Sowas vielleicht … mit quietschenden Reifen los. Obwohl ich mit dieser rasanten Fahrweise auch den Gehweg überquerte, kam kein Fußgänger zu Schaden, und selbst mein rücksichtloses Drängeln in den fließenden Verkehr löste keinen Unfall aus.* Erbsenzählmodus aus *
Wenn man sich „in den fließenden Verkehr einordnet“ passieren auch selten Unfälle – was erschreckt ihn also so? Was anderes wäre es, wenn er sich in den fließen Verkehr hineingedrängt hätte …
An dieser Stelle dachte ich: Er legte es offenbar drauf an, einen Unfall zu erzeugen – die quietschenden Reifen, der Fußweg, dann das „Einordnen“. Bei diesem Gedanken ergaben sich zwei Möglichkeiten: Entweder das Unfälleprovozieren ist das normale Verhalten – das ist aber doch zu unlogisch (was setzt die Angst vorm Verletztwerden derart massiv außer Kraft?) – oder er hat schon eine Idee, die er so testet. Der nächste Satz spricht dafür, aber man sollte es, wegen des Effektes, schon hier andeuten. Einen Augenblick lang starrte ich es an. Dann fasste ich einen Entschluss, sprang ins Auto, ließ …

… als ich mich in den fließenden Verkehr einordnete.
Ich war getroffen bis ins Mark! Etwas – oder jemand – hatte die Realität – unsere Realität – so sehr verändert, dass sie fast nicht wieder zu erkennen war und ich glaubte auch zu wissen, wer dieser Jemand gewesen war.
… was würde ich tun, wenn ich im Auto fahre und plötzlich bis ins Mark erschüttert würde? Ich würde auf die Bremse treten und einen Moment lang um Fassung ringen. … bis ins Mark! Die Erkenntnis erschütterte mich so sehr, dass ich auf die Bremse trat und mitten im Berufsverkehr die Fahrbahn blockierte. Ein, zwei Autos zischten knapp an mir vorbei, der dritte fuhr bereits einen ausreichenden Bogen. Das war alles, was meine Vollbremsung in dem dichten Verkehrsstrom auslöste. Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, hatte ich ihn nun: Etwas – oder besser jemand – hatte unsere Realität verändert und ich glaubte auch zu wissen, wer.

Die Trümmer der Tankstelle an der nächsten Ecke, in die gestern Abend ein vollbesetzter Buß gerast war, rauchten noch immer und einige Straßen weiter passierte ich die Ruine des Kaufhauses, in dem vor zwei Wochen mehrere Bomben explodiert waren.
„Bus“


Jetzt hatte ich auch noch eine grüne Welle!
Moment! „Die Trümmer rauchen noch, ich passierte die Ruine, und jetzt war auch noch grüne Welle.“ – das passt irgendwie nicht.

Keine Ampel war rot, nirgends ein Stau, trotz Berufsverkehr und noch kein einziger Unfall, nicht einmal ein winziger Blechschaden!
Komma nach „Berufsverkehr“ oder kein Komma nach „Stau“

Ich fluchte lautlos und biss mir auf die Lippen. Er hatte es wirklich getan! Ich wusste zwar nicht wie, war mir aber inzwischen sicher, dass er es getan hatte!
Wieso weiß er nicht, wie? Ich denke, er hat die Maschine mit entwickelt. Besser wäre, glaube ich: … wirklich getan. Er hatte nicht nur offenbar die Lösung gefunden, er hatte „es“/ die Maschine auch in Gang gestezt.

Mir brach der Schweiß aus und meine Gedanken rasten. Professor Ehminger – mein Boss! – musste das Experiment, an dem wir seit mehreren Monaten zusammen gearbeitet hatten, ohne mein Beisein beendet haben. Und dann hatte er die Maschine gestartet!
Hier machst du einen Schritt zurück – „Scheiße! Er hat’s getan!“ hast du kurz vorher schon mal geschrieben. Besser wäre meines Erachtens, wenn du jetzt ohne eine zweites Mal „So’n Mist!“ mit der Erklärung, wer was getan hat, fortfahren würdest. Also diese Struktur: Ich fluchte lautlos und biss mir auf die Lippen. Er hatte es wirklich getan! Ich wusste zwar nicht wie, er die Lösung gefunden hatte, aber es hatte sie offenbar gefunden. Professor Ehminger – mein Boss! – musste das Experiment, an dem wir seit mehreren Monaten zusammen gearbeitet hatten, ohne mein Beisein beendet haben. Und dann hatte er die Maschine gestartet! Was für ein Wahnsinn!
PS: Das Ausrufezeichen hinter „mein Boss“ verstehe ich nicht – was ist an dieser Tatsache so erstaunlich oder erschütternd?

Als die Anspannung zu groß wurde, begann ich zu brüllen, schlug mit der Faust auf das Lenkrad ein, ließ das Steuer sogar für längere Zeit einfach los und gab Gas – nichts!
… na wenigstens sollte das Auto beschleunigen, oder? ;)
* Erbensenzählmodus an* Beim genauen lese jetzt, frag ich mich, wie lange er das Experiment „freihändig fahren“ durchgezogen hat … * Erbsenzählmodus aus*

Als ich in die Straße einbog, die auf direktem Wege zum Campus der Universität führte, sah ich auf dem rechten Gehsteig kurz hinter dem Schaufenster des Sonnenstudios in dem noch die Straßenbahn steckte, die gestern Nachmittag entgleist war, einen Menschenauflauf.
Sehr geschachtelt – die Straßenbahn-Episode kannst du einfach streichen, das Prinzip ist längst klar.

„Das ist der Chef der Feuerwehr“, hörte ich einen Passanten sagen. „Er ist wohl vollkommen verstört, weil es seit Mitternacht noch keinen einzigen Brand gegeben hat.“
Das ist zwar „witzig“, aber nicht mal innerhalb einer Satire glaubwürdig. Der Mann würde wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Berufsleben ausgeschlafen haben, sich dann wenigstens ein, zwei Stunden an der herrliche Ruhe erfreuen (oder mal ganz in Ruhe die Technik warten lassen) und dann langsam (mindestens eine weitere Stunde lang) nervös werden. Und von da bis zum Selbstmord sind es auch noch mal „ein paar Minuten“ …


Ich fluchte. Gerne hätte ich gewartet, ob dem Mann wirklich etwas passieren würde, falls er sprang, aber ich hatte es jetzt eilig. Ich stieg wieder in meinen Wagen ein und fuhr weiter auf den Parkplatz, der für die Angestellten der Universität reserviert war. Wie erwartet stand der Wagen von Professor Ehminger auf dem für ihn reservierten Platz.
Ich bin kein Doppel-Moppel-Sensibelchen, aber zweimal „reservierter (Park)Platz“ störte mich doch.


Als sie mich sahen, verstummten sie und schauten mir entgeistert zu, wie ich an ihnen vorbei stürmte, die Schwingtür aufstieß, an der ein Metallschild auf die „Theoretische Physik“ hinwies.
Warum entgeistert? Hat der Typ noch den Pyjama an?

Ehmingers Vorzimmer war zu meinem Erstaunen nicht besetzt und in seinem Büro traf ich den Professor nicht an. Also rannte ich weiter zu den Laboratorien.
In Labor Nummer Zwei wurde ich fündig. Dort saß er, drei Meter von der Maschine entfernt,…
Ich verstehe nicht, wieso erst ins Büro rennt und dann in „fremde Labors“ – er müsste doch den Prof genau dort, an der Maschine suchen, oder?

und blickte wie gebannt … aufgezählt.
Ehminger saß mit glänzenden Augen in einem Bürostuhl und starrte wie gebannt auf den Bildschirm.
Es ist zwar viel Abstand, aber weil es das selbe Bild ist, fällt die Dopplung von „gebannt“ auf.


Es konnte gar nicht anders sein!“
Er stand auf und ging hinüber zur Tafel. Dann deutete er auf eine Gruppe von Gleichungen.
Das „dann“ klingt ein bisschen, als hätten die Gleichungen nichts mit der Tafel zu tun. … Tafel. Er deutete auf die betreffende Gruppe der Gleichungen.

„Haben Sie die Nachrichten gesehen? Keine Katastrophen mehr, keine Unfälle, keine Selbstmorde. Es ist eine bessere Welt!“ Missionarischer Eifer sprach aus seiner Stimme.
Die Eifer hör ich auch, ohne dass du es mir sagen musst.

„Professor, es war ein theoretisches Experiment. Wir wollten die Maschine niemals benutzen! Es ging nur um den Beweis, dass es möglich ist!“
* Erbsenzählmodus an * Es war KEIN theoretisches Experiment – sie haben eine MASCHINE gebaut! Und: Wie hätten die denn die Möglichkeit beweisen wollen, ohne die Maschine in Gang zu setzen? * Erbenszählmodus aus *

„Sie haben die Menschen nicht gesehen, Professor. Noch ein solcher Tag und wir leben in einer Welt von Wahnsinnigen!“
… hier muss ich noch mal auf die Glaubwürdigkeit eingehen: Dieser Dialog findet am Morgen, zumindest aber recht früh am Tage statt. Erstens ist also die Formulierung „noch so ein Tag“ nicht gerechtfertigt. Zweitens dürfte es bei aller Verwirrung den Menschen doch erstmal so gehen, dass sie erleichtert sind, dass kein Unglück mehr passiert. Dann (wahrscheinlich schon ziemlich schnell) würden sie anfangen, austesten, wie weit sie gehen können und erst, wenn sie merken, dass selbst die todsichersten Versuche eben nicht zum Tod, ja nicht mal zu Schrammen führen, würde ihnen das Ungeheuerliche richtig bewusst und Panik käme. Das wäre frühestens am Abend dieses Tages so weit rum, dass es die meisten Menschen erfasst hätte.

„Bis dahin wird es zu spät sein!“
Was genau befürchtet er?

„Das ist Wahnsinn!“, stammelte er und sein Blick wurde unstet.
„Da gebe ich Ihnen Recht, Professor!“
Er konnte an meiner Stimme hören, wie ich es meinte.
Ehrlich gesagt, habe ich keine Vorstellung, wie es klingt, was er meint …

„Sicher, Stefan, und das war ja, was wir ursprünglich wollten.“ Er versuchte ein Lächeln.
* Erbsenzählmodus an * Noch mal ein Motivationsproblem: Wozu wollte sie es beweisen, wenn sie es ums Verrecken nicht anwenden wollten? * Erbsenzählmodus aus *


Zum Rest hab ich oben schon was geschrieben …
 

Amadis

Mitglied
Dank an alle Erbsenzähler für die Mühe ;-)! Werde versuchen, schnellstmöglich eine überarbeitete Version zu präsentieren!

@ jon: lustig finde ich, dass Du ausgerechnet die Stelle mit dem Geschrei unter der Dusche überspitzt findest, denn genau das habe ich mir von einer real existierenden Person abgeschaut, ein früherer Kumpel von mir, der sich immer auf diese Art "zum Leben erweckte": er stellte sich morgens unter die eiskalte Dusche und schrie wie abgestochen. Er meinte dann immer, dass er es sonst nicht aushalten würde ...

Grüße
Mike
 

Amadis

Mitglied
Verkehrte Welt

An diesem Morgen wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Es war nichts Greifbares, nur ein unbestimmtes Gefühl des ... Andersseins. Während ich noch einige Minuten in meinem Bett vor mich hin döste, sagte ich mir immer wieder, dass sich mein Gefühl wahrscheinlich als Magenverstimmung oder schlimmstenfalls als Migräneanfall erweisen würde.
Endlich raffte ich meine gesamte Willenskraft zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. Bevor ich mich der zweifelhaften Bequemlichkeit der Bettkante und der damit verbundenen Gefahr des erneuten Zurücksinkens in die Wärme des Lagers hingeben konnte, zwang ich mich zum Aufstehen. In meinen Knien knirschte es verdächtig und auch der Rücken protestierte gegen diese allzu heftige Bewegung. Ich gähnte ausgiebig und schaute aus dem Fenster. Der Tag versprach sonnig und warm zu werden, denn von einigen wenigen Wolkenfetzen abgesehen war der Himmel von einem geradezu berückenden Blau, auch wenn ich das in meinem momentanen Zustand noch nicht so recht würdigen konnte.
Ich schleppte mich ins Badezimmer, ließ meinen Pyjama fallen und stellte mich mit Todesverachtung unter die eiskalten Strahlen der Dusche. So fürchterlich diese Prozedur auch war, so war es doch die einzige Möglichkeit für mich, möglichst rasch auf Touren zu kommen und mir bei der späteren Rasur nicht die Kehle durchzuschneiden. Mir war es auch gleichgültig, dass sich meine Nachbarn regelmäßig über mein allmorgendliches Geschrei beschwerten. Ohne diese lautstarke Äußerung des empfundenen Schmerzes hätte ich die Tortur nicht ertragen.
Solcherart erfrischt überstand ich Rasur und Zähneputzen ohne Blessuren. Ich zog mich an und begab mich in die Küche, wo bereits mein Kaffee durch die Maschine lief und einen köstlichen Geruch verbreitete. Ich schaltete das Radio ein, nahm die Kaffeekanne aus der Maschine und schnappte mir zwei Croissants vom Vortag. Dann setzte ich mich an den Tisch und nahm einen Schluck des heißen, starken Gebräus, ohne mir die Zunge zu verbrennen.
Es war sieben Uhr und die Morgennachrichten begannen. Als sie fünf Minuten später beendet waren, hatte ich die ersten sicheren Anhaltspunkte, dass wirklich etwas nicht stimmte – dass etwas ganz und gar nicht stimmte! Keine einzige Katastrophenmeldung, kein Krieg, kein Flugzeugabsturz oder Reaktorunfall – nichts!! Ein flaues Gefühl schlich sich in meine Magengegend – und das hatte seinen Ursprung nicht in den alten Croissants!
Ich spülte den letzten Bissen des zähen Gebäcks mit einem Schluck Kaffee hinunter und verließ hastig meine Wohnung. Im Treppenhaus sah ich noch die Blutflecken an der Stelle, wo der Fünfjährige aus dem siebten Stock gestern über vier Stockwerke abgestürzt war. Das Kind war sofort tot gewesen.
Im Erdgeschoss waren die Wände noch immer geschwärzt. In der linken Erdgeschosswohnung war vorgestern der Mieter – ein alter Mann von über achtzig Jahren – in seinem Bett verbrannt. Der Krematoriumsgeruch würde noch wochenlang das Haus verpesten.
Ich rannte nach draußen. Der Straßenverkehr lief ruhig und ohne Störung. Kein Unfall in Sichtweite! Langsam überkam mich Panik. Ich bemerkte, dass auch die Fußgänger auf den Bürgersteigen ganz offensichtlich irritiert waren. Viele schauten sich ungläubig, fast Hilfe suchend um.
In der Mauer, die das angrenzende Grundstück umschloss, sah ich noch die Einschüsse, die von dem Überfall in der letzten Woche kündeten. Jemand hatte hier Blumen abgelegt, um an das Pärchen zu erinnern, das hier ums Leben gekommen war.
Ich erreichte die Tiefgarage ohne Zwischenfall, was für sich genommen schon unglaublich war. Mein Wagen war nicht aufgebrochen und auch nicht angefahren worden. Ich sprang hinein, ließ den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen los. Obwohl ich weder nach links noch rechts schaute, überfuhr ich keinen Fußgänger, als ich den Gehweg passierte und gab es keinen Unfall, als ich mich in den fließenden Verkehr drängte.
Etwas – oder jemand – hatte die Realität – unsere Realität – so sehr verändert, dass sie fast nicht wieder zu erkennen war und ich glaubte auch zu wissen, wer dieser Jemand gewesen war. Ich war so geschockt, dass ich an der nächsten Ampel erst anfuhr, als von hinten wütendes Hupen ertönte.
Die Trümmer der Tankstelle an der nächsten Ecke, in die gestern Abend ein vollbesetzter Bus gerast war, rauchten noch immer und einige Straßen weiter passierte ich die Ruine des Kaufhauses, in dem vor zwei Wochen mehrere Bomben explodiert waren.
Dass ich dann auch noch eine grüne Welle hatte, fiel mir schon fast nicht mehr auf! Keine Ampel war rot, nirgends ein Stau, trotz Berufsverkehr, und noch kein einziger Unfall, nicht einmal ein winziger Blechschaden! Ich fluchte lautlos und biss mir auf die Lippen. Er hatte es wirklich getan! Ich war mir inzwischen sicher, dass er es getan hatte!
Mir brach der Schweiß aus und meine Gedanken rasten. Professor Ehminger – mein Boss – musste das Experiment, an dem wir seit mehreren Monaten zusammen gearbeitet hatten, ohne mein Beisein beendet haben. Und dann hatte er die Maschine gestartet! Es war der reine Wahnsinn, wenn ich mir anschaute, was er – was wir! – angerichtet hatten!
Ich war so abgelenkt, dass ich beinahe in eine Gruppe von Fußgängern gerast wäre, die gerade wie eine Herde kopfloser Schafe einen Überweg passierte. Aber es gelang mir durch eine unglaubliche Reaktion den Wagen an den Menschen vorbei, über den Gehsteig und anschließend wieder auf die Straße zu lenken. Dabei fuhr ich nur ein paar wenige Zentimeter an einem Zeitungskiosk vorbei und verpasste einen Hydranten um Millimeter!
Als die Anspannung zu groß wurde, begann ich zu brüllen, schlug mit der Faust auf das Lenkrad ein, ließ das Steuer sogar für eine Weile einfach los und gab Gas – der Wagen wurde schneller, Gebäude und Menschen rasten wie Schemen an mir vorbei - aber es geschah nichts! Meine schweißnassen Hände griffen zitternd nach dem Lenkrad.
Als ich in die Straße einbog, die auf direktem Wege zum Campus der Universität führte, sah ich auf dem rechten Gehsteig einen Menschenauflauf. Ich hielt den Wagen an, stieg aus und folgte den Blicken der Menschen, die sämtlich nach oben gerichtet waren. Auf dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes stand ein Mann, der offenbar die Absicht hatte, herunter zu springen.
„Na, was meinen Sie, wird er es schaffen, sich umzubringen?“ Der Mann, neben dem ich stehen geblieben war, schaute mich mit einer Mischung aus Sarkasmus und mühsam verborgener Angst fragend an.
Ich ignorierte ihn und fluchte. Gerne hätte ich gewartet, ob dem Mann wirklich etwas passieren würde, falls er sprang, aber ich hatte es jetzt eilig. Ich stieg wieder in meinen Wagen ein und fuhr weiter auf den Parkplatz, der für die Angestellten der Universität reserviert war. Wie erwartet stand der Wagen von Professor Ehminger auf seinem Platz. Ich stellte mein Fahrzeug daneben ab und rannte zur Eingangstür. Der Pförtner schaute mich mit dem gleichen verstörten Blick an, den ich unterwegs so häufig gesehen hatte.
„Guten Morgen, Doktor Blum. Was ist denn nur los?“ Er klang, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Ich hab jetzt keine Zeit!“
Ich rannte an ihm vorbei und nahm mit riesigen Schritten immer zwei der breiten Steinstufen auf einmal. Im ersten Stock standen einige Studenten beisammen und diskutierten leise. Als sie mich sahen, stockte ihre Unterhaltung und sie schauten mir stumm zu, wie ich an ihnen vorbei stürmte, die Schwingtür aufstieß, an der ein Metallschild auf die „Theoretische Physik“ hinwies.
Auf dem Weg kam ich an Ehmingers Büro vorbei, aber ein schneller Blick hinein zeigte mir, dass er wie erwartet nicht dort war.
In unserem Labor wurde ich fündig. Dort saß er, drei Meter von der Maschine entfernt, und blickte wie gebannt auf den kleinen Fernseher, der hier seit einigen Monaten stand. Es lief eine Nachrichtensondersendung, die sich mit den seltsamen Vorkommnissen – oder besser Nicht-Vorkommnissen – des Morgens beschäftigte. Die Reporterin stand mit ihrem Mikrophon in der Mitte einer stark befahrenen Straße, offenbar um zu demonstrieren, dass ihr nichts geschehen konnte. Immer wieder rasten Fahrzeuge dicht an ihr vorbei, aber keines berührte sie. Die junge Frau berichtete von zahllosen Selbstmordversuchen in der ganzen Welt. Kein einziger von ihnen hatte Erfolg gehabt. In einem kleinen Ort in Vermont in den USA war eine Frau vom Dach des Rathauses gesprungen und genau auf einem Anhänger voller Heu gelandet, der gerade zufällig vorbei fuhr. Es wurden noch sicherlich ein Dutzend ähnlicher Vorfälle aufgezählt.
Ehminger saß mit glänzenden Augen in einem Bürostuhl und starrte auf den Bildschirm. Er bemerkte meine Anwesenheit erst, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn rüttelte.
„Was zum Teufel haben Sie getan, Professor?“
Meine Stimme überschlug sich fast vor Erregung.
„Stefan! Guten Morgen!“ Er war euphorisch. „Können Sie sich das nicht vorstellen? Wir haben es geschafft! Wir haben die Realität verändert!“
„Aber zu welchem Preis? Die Menschen drehen vollkommen durch, finden sich nicht mehr zurecht.“ Mir versagte die Stimme.
„Ich musste es tun. Ich habe gestern Abend noch einmal die letzte Gruppe an Gleichungen durchgerechnet. Sie wissen schon, da hatten wir noch einen Fehler.“ Ich nickte. „Plötzlich wusste ich es. Es konnte gar nicht anders sein!“
Er stand auf und ging hinüber zur Tafel und deutete auf eine Gruppe von Gleichungen.
„Schauen Sie sich das an!“
Es fiel mir sofort ins Auge und ich konnte nicht umhin, den Professor zu bewundern. Die Lösung war wie so oft genial einfach! Ehminger schaute mich triumphierend an.
„Haben Sie die Nachrichten gesehen? Keine Katastrophen mehr, keine Unfälle, keine Selbstmorde. Es ist eine bessere Welt!“
„Professor, wir hatten doch abgemacht, die Maschine nur dann einzuschalten, wenn wir beide es für gefahrlos halten!“
„Herrgott, Stefan! Warum sollte ich warten? Sehen Sie doch, was ich – was wir geschaffen haben!“ Er deutete auf den Fernseher.
„Sie haben die Menschen nicht gesehen, Professor. Im Moment sind sie nur verwirrt. Aber was wird in einigen Tagen sein? In einer Woche? Bis dahin leben wir in einer Welt von Wahnsinnigen!“
Ehminger schaute mich verstört an.
„Sie werden sich daran gewöhnen, ich bin sicher, sie werden sich daran gewöhnen!“
Ich sah ihm durchdringend in die Augen.
„Einige, vielleicht, aber die große Masse?! Der Mensch passt sich an vieles an, aber wenn seine gesamte Realität sich ins komplette Gegenteil verkehrt ! Wollen Sie das wirklich riskieren?“
Ehminger wandte sich ab und blickte zu Boden. Nach einer Weile hob er den Kopf und drehte sich zu mir um.
„Was schlagen Sie vor?“
„Wir fangen sofort an und machen es rückgängig, das schlage ich vor!“, sagte ich bestimmt.
„Das ist Wahnsinn!“, stammelte er und sein Blick wurde unstet.
„Das, was im Moment draußen passiert, ist Wahnsinn!“
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vor den Computer.
„Helfen Sie mir, Professor. Wir müssen uns beeilen!“
Ehminger schien wie aus einer Trance zu erwachen. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich.
„Ich habe die alten Parameter gesichert.“
Seine Stimme zitterte. Er deutete auf den Bildschirm und zeigte mir eine Datei. Wir arbeiteten wie die Besessenen, kontrollierten alles noch ein Dutzend Mal. Gegen fünfzehn Uhr waren wir dann soweit. Ich übertrug die neue Programmversion zur Maschine hinüber. Dann schaute ich Ehminger fragend an.
„Können wir es riskieren?“
Der Professor nickte langsam.
„Sicher ... sicher können wir das.“
Sein Gesicht spiegelte den Schmerz wieder, den er dabei empfand, sein Werk zunichte zu machen. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm bestätigte ich den Startbefehl. Das Programm lief fehlerfrei durch. Nach vier Minuten war alles vorbei. Es gab keinen Blitz, keinen Knall, es roch nicht – nichts deutete darauf hin, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ehminger saß mit grauem Gesicht auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich vollkommen durchgeschwitzt war. Als ich gerade aufstand, hörte ich von draußen ein Krachen. Ich eilte zum Fenster und schaute hinaus. Dann drehte ich mich grinsend zu Ehminger um.
„Ich fürchte, Sie brauchen einen neuen Kotflügel, Professor“, teilte ich ihm mit. Ich ging zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nehmen Sie es nicht so schwer. Immerhin haben Sie bewiesen, dass es funktioniert!“
Er schaute zu mir auf und nickte matt.
„Sicher, Stefan, und allein das ist ja schon ein riesiger Schritt.“ Er versuchte ein Lächeln.
„Genau!“ Ich lachte. „Ich gehe mal rüber in den Waschraum und mache mich etwas frisch.“
Mit diesen Worten verließ ich das Labor und betrat den Waschraum, der direkt gegenüber lag. Ich stellte mich vor ein Waschbecken und schaute in den Spiegel. Mein Gesicht war gerötet und mein Haar vom Schweiß verklebt. Ich drehte das Wasser auf und wischte mir mit dem erfrischend kühlen Nass über das erhitzte Gesicht. Dann wickelte ich die Ärmel meines vollkommen durchgeschwitzten Hemdes nach oben und ließ kühles Wasser über meine Unterarme laufen. Fast unterbewusst hörte ich im Hintergrund das Triebwerksgeräusch eines Flugzeugs, das sich wohl im Landeanflug auf den nahen Flughafen befand.
Als ich meine Hände abtrocknete, fiel plötzlich ein riesiger Schatten durch das Fenster herein. Ein fürchterliches Dröhnen folgte, danach ein Krachen und Bersten, das immer näher kam. Dann wurde es dunkel ...
 

Amadis

Mitglied
So, ich habe einige Änderungen gemacht. Ihr könnt ja mal drüberlesen, wenn ihr Lust und Zeit habt.

Grüße
Mike
 



 
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