Verkrampft, ferdinandmäßig

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Willibald

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Schwärmen

Ist schon länger her, das Verliebtsein in Ulla, aber ich brauch bloß „Eisbären müssen nie weinen“ zu hören und schon bin ich wieder Walter aus der 10a und schaue nach rechts, wo Ulla sitzt.

schiller und ulla

Verbissen musterte er auf dem Papier seine zwei letzten Sätze:

In Ferdinands Ausruf "O, es muß reizender sein, mit diesem Mädchen zu buhlen als mit andern noch so himmlisch zu schwärmen" fallen zunächst einmal die zwei Verben auf, die nicht gleich zu verstehen sind: "Buhlen" bedeutet hier wohl "intensiven, körperlichen Kontakt haben". Mit "schwärmen" dagegen ist ein Verliebtsein gemeint, das sich auf "Anbetung aus der Ferne" beschränken kann und mit "Phantasieren" zu tun hat ...

Er lehnte sich zurück, zog die Luft durch die Nase ein und schnaufte aus: Pu! Es schweißelte in der 10a, von vier Schul-Stunden Arbeitszeit waren zwei vorüber und die Szene, die er analysieren musste - sie stammte aus Schillers „Kabale und Liebe“ - kostete ihn wirklich Nerven. Er hing fest, auch wenn er die Passage noch ein paarmal lesen würde.

Also legte Walter den Füller parallel neben den Bogen Papier, schnipste leise mit den Fingern und verzichtete darauf, an ihnen zu zerren, bis sie knackten. Erstens verzog Erwin dann immer gequält den Mund und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, zweitens ließ er danach die Hände fallen und holte mitten im Abschwung zu einem Boxhieb aus, der drittens nicht abzuwehren war und viertens ganz schön weh tat.

Walter schaute nach rechts, wo Ulla saß und schrieb. Sie hatte das linke Bein über das rechte Bein gelegt, der Rock war zurückgeschlagen, der Oberschenkel ruhte auf der Stuhlfläche, auf der braunen Haut erschien der weiße Slip. Gott, war sie schön, ihr Gesicht war schön, ihre Beine waren toll. Man musste einfach hingucken und kam nicht los von dem Bild.

villa, fernrohr, brüderhorde

Klar war sie etwas Besonderes, sie war die Arzttochter aus der Grauberg-Villa, sie war klug, sie war umschwärmt von den Jungs, beim Fußball nach der Schule spielte sie mit. Sie war schnell mit dem Ball und verzauberte alle. Und man wollte ihr nahe sein, aber man traute sich nicht. Sollte sich jemand an sie ranmachen, dann hatte er es mit allen zu tun. Irgendwie war sie eine Schwester in einer Gruppe von Brüdern.

Und ein Mitglied der Brüderhorde, das sollte besser mit den Mädchen aus der unteren Klasse flirten. Und wehe, jemand von außen wollte etwas von Ulla. Nein, man verehrte Ulla und passte auf: Dass ihr keiner zu nahe kam. Ein Kuss, ein bisschen Knutschen, das Kichern auf dem Schulhof? Sicher. Mit den Girlies aus der 10. oder 9. Klasse. Mit Ulla nicht. Das war nicht drin.

„Ulla sonnt sich zusammen mit ihrem Bruder auf dem Hochbalkon. Ganz oben auf dem Dach“, hatte Fritz vor drei Tagen telefonisch verkündet. Und Walter hatte sofort das Haus von Ullas Eltern per Rad angesteuert, eine dreistöckige Villa. Der Hochbalkon auf dem Dach, an der Fassade drei Spukfratzen, ein „Mit Gott tritt ein“ über der Haustür. Walter hatte kurz zum dritten Stock hochgeschaut, wo Ullas Zimmer lag. Nicht auffallen, nicht stehen bleiben, den Grauberg weiter hochfahren, dorthin, wo Fritz im Turm wohnte, drei Zimmer, seine Tante, seine Mutter, ein Erker. Das Fernglas aus der Schublade holen, unter Schulbüchern tarnen, warten, bis Tante und Mutter zu beschäftigt waren, um vorbeizukommen, das Fernglas nehmen und rübergucken. Fritz wollte auch das Fernglas haben. „Später“, sagte Walter, „jetzt erst mal ich.“

Das Fernglas: Zwei kreisrunde, durchsichtig geschliffene Wasseropale, darin die Oberstadt, schwarze Silhouetten vor blauem Horizont. Zwei, drei Hausdächer flogen nah vorbei, da - Ullas Balkon. Schärfeneinstellung. Nah, sehr nah, das Mädchen. Im hellblauen Badeanzug. Daneben ihr Bruder. Mundbewegungen wie im Film, wenn der Ton ausfällt, sie redet. Jetzt nimmt sie die Sonnenbrille ab, öffnet die Flasche mit der Sonnenmilch, gießt sich ein wenig in die rechte Hand, klemmt die Flasche zwischen die Schenkel, schließt die Flasche mit der Linken, cremt die Nase und die Stirn ein, dann bewegt sich ihre Hand nach rechts, wo der Bruder sitzt. Sie sagt etwas. Der Bruder beugt sich lächelnd nach vorn, sie zieht zwei Finger langsam über seinen Rücken. Zwei Streifen auf seiner Haut, milchig, fett, glänzend.

odenwald

Ach! Und im Bus vor zwei Monaten beim Schulausflug in den Odenwald hatte sie sich für zwei Minuten neben Walter gesetzt, ihre Knie hatten ganz kurz seinen Schenkel gestreift. Dann schmiegte sie das Knie für zwei Sekunden an seines, ganz ruhig, als ob sie ihm die Berührung schenken wollte. Die Wirkung hatte Walter überrascht. Ein zartes Feuer zuckte über seine Haut, dann sprühte es freudige Funken, ein Gefühl, wie wenn man in die helle Sonne blickt, die Augen schließt und gleich nießen und dann lachen muss....

Ulla hatte ihn von der Seite angeschaut, war aufgestanden und balancierte im schlingernden Bus durch die Sitzreihen davon. Vorne im Buss setzte sie sich hin. Walter drehte sich zum Fenster, sein Gesicht erschien in der Scheibe. Dahinter die rollenden Bäume. Er schloss die Augen und sah Ulla. Das war es. Dieses Mädchen war der Wahnsinn, Mann war das gut, dass es diesen Wahnsinn, dass es dieses Mädchen gab.

Überhaupt war alles gut, man brauchte bloß im Bus sitzen, auf das Brummen des Motors hören, die Scheiben anblicken, in den gleichmäßig schnellen Bildern auf der Scheibe versinken, das war gut. Man konnte sein Gesicht sehen und wie sich dahinter die Zweige und Blätter und Bäume vorüberbewegten. Sie zogen nach hinten oben, verschwanden dort und von vorne kamen andere. Auch das war gut.

Und das beste: Ulla war im Bus. Vorne rechts. Sie konnte im Spiegel erkennen, wer nach vorne kam. Irgendwann würde man aufstehen und schauen, was sie für ein Gesicht machte, wenn man sich zu ihr bewegte. O ja. Irgendwann würde man nach vorne tappen, ein paar Witze versuchen. Sie würde lachen.

da toni

„Menschenskind, Ulla“, sagte Studiendirektor Betz. Walter öffnete die Augen: Der Bus war verschwunden, er saß im schweißelnden Klassenzimmer der 10a und Betz stand neben Ulla. "So setzt man sich nicht hin, setz dich gscheit hin.&#8220 Ein missbilligender Blick auf die Schülerin, dann drehte Betz den Kopf weg und marschierte zum Pult, als brauchte man das weitere gar nicht abzuwarten.

Tatsächlich: Ulla, die selbstsichere Ulla, errötete ein wenig und blieb einen Moment so sitzen wie bisher. Aber nun stellte sie den Fuß mit dem Ballen auf den Boden, krümmte die Zehen nach oben, dann nach unten, schlüpfte rasch in ihre Sandale. Keine bloße Haut mehr über dem Knie zu sehen, der Rock - wie würde bei Schiller stehen? - „züchtig“ über die Knie geschlagen.

Ihr Blick streifte ihn, sie sah, dass er die Szene verfolgt hatte, schob ein wenig die Unterlippe vor, senkte den Kopf in Richtung Betz, drehte ihn dann kurz zu Walter und grinste. Er wurde ein wenig rot, lächelte auch, machte mit dem Finger in Adamsapfelhöhe eine Kreisbewegung in Richtung Lehrer, man müsste Betz die Kehle durchschneiden, hieß das.

Dann wandte er sich seiner Arbeit zu, strich mit der flachen Hand von oben nach unten über die Vorlage, strich über die Signale, die der Vierfarbenstift hinterlassen hatte – Pfeile, Kreuze, Verbindungslinien, die Kabale von Wurm, das Schwärmen Ferdinands, seine Enttäuschung, seine Wut, seine ..., die Worte passten nicht so recht ....... ganz gewiss ging es bei Ferdinand um gnadenlose Verzweiflung über die fremde Freude. Ein Blick auf die Uhr. Noch siebzig Minuten für die Analyse des Textes, noch siebzig Minuten.

Er ließ den Füller über das Papier laufen, suchte und fand die Worte, es war mühsam, aber es funktionierte. Er war zehn Minuten vor der Zeit fertig, gab die Blätter ab, nickte Ulla zu, die kurz den Kopf gehoben hatte, und ging nach draußen. Die Luft tat ihm gut. Das Kopfsteinpflaster gleich neben der Schule ließ ihn kleine Schritte machen. Er setzte sich auf die Terrasse von „Da Toni“, aus dem Lautsprecher kam „Eisbären müssen nie weinen“, er orderte eine große Cola und wartete.

Das Colaglas war kühl, wenn man die Hand darauf legte. Und schloss man die Augen, so war Ulla da. Sie berührte sein Knie. Und sie lächelte. Wenn man nur intensiv genug an sie dachte, würde sie in fünf Minuten vorbeikommen. Sie würde lächeln, er würde lächeln. Sie würde sich neben ihn setzen. Und sie würde wissen, wie sehr sie ihm gefiel. Dann würde er etwas sagen, zum Beispiel: „Mensch, siehst du gut aus.“

Und wahrscheinlich wäre das ein wenig doof, also würde eine Pause entstehen, er würde sich wahrscheinlich räuspern müssen, wenn die Pause gar zu lange dauerte - ein Räuspern aus Anspannung und so ganz und gar und überhaupt nicht locker - er war einfach verkrampft, so verdammt ferdinandmäßig verkrampft.

Aber vielleicht würde sie dann nochmal lächeln. Und alles würde leicht sein.
 

Rainer

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hallo willibald,

herzlich willkommen in lupianien.
auch ich bin begeistert von deinem text, wobei ich gestehen muß, daß ich zu beginn schlimmes befürchtete.
aber nun fühle ich mich in meine eigene jugend zurückversetzt - danke.

einzige anmerkung:
das bild der opale beim fernglas will sich mir einfach nicht vollständig erschließen. ich glaube zu wissen worauf du hinauswillst (eben das unbeständige, ungreifbare opaliszieren als metapher für die verwirrenden blicke die es ermöglicht), aber dummerweise sehe ich immer einen milchigen stein vor mir, durch den ich nichts erblicken kann.
aber vielleicht geht das auch nur mir so, weil ich bisher nur undurchsichtige opale gesehen habe.
unbeholfener vorschlag. vielleicht einfach kristalle oder quarze (ich weiß, die meisten quarze sind auch nicht transparent, aber wenn du an einen bergkristall denkst: der ist durchsichtig und trotzdem ergibt sich kein scharfes bild beim hindurchsehen).

ist aber auch egal - auf jeden fall volle punktzahl.

viele grüße + bitte mehr davon

rainer
 

Willibald

Mitglied
Thanks to Doro and Rainer

Danke für die aufmerksame, liebevolle Lektüre.

Der Schreiber erinnert sich noch sehr gut an Walters Schulaufgabe und Ulla.

Das intensive Erleben und die Perspektive des jungen Protagonisten heraufzuholen, macht Spaß und Arbeit. Aber das braucht man Euch nicht zu erzählen.

Den mikrostrukturellen Hinweis zur "Opal-Semantik" nehme ich gern auf. Auch die etwas dröge, rationale Exposition mit der Schiller-Analyse ist nun etwas entschärft und noch stärker auf das Motiv "Schwärmen" (und die Reflexion darüber) fokussiert.

Großen Dank

ww
 

Aneirin

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Hallo Willibald,

vielen Dank für diese wunderbare Geschichte über erste Liebe. Deine Sprache ist so schön poetisch, dass ich mich glattweg darin vrlieren kann. Es hakt und holpert nirgends, alle Bilder sind wunderstimmig und auch "Kabale und Liebe" passt wunderbar dazu.

Viele liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Aneirin
 

Willibald

Mitglied
Thanks

Carissima!

Großen Dank für deine wärmenden Worte. Als Kind versuchte ich gerne in Geschichten zu leben und dabei im Fremden das Eigene zu sehen und überhöht zu genießen.

Ich denke, dass literatur manchmal mit der Feier des Lebens und seiner Möglichkkeiten zu tun hat. Solche magischen Momente suchen wir im leben und finden sie öfters in der Poesie.

Das "Buhlen-Schwärmen"-Thema ist ein bisschen verkopft, andererseits muss ein Schüler ja wirklich über solche Passagen sich analytisch auslassen. Wenn unseren Walter also die Realität des Schwärmens und die nahe Realisierung des "Buhlens" trifft, dann hat das seine komisch-feierlichen Momente.

Wenn es Dir Spaß gemacht hat, die angebotenen Imaginationsräume zu betreten und die Bewusstseinprozesse eines Jungen zu genießen und dwenn Du gütig über uns Männchen-Menschen denkst, dann sei besonders

herzhaft gegrüßt

von
w
 



 
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