J. H. Berg
Mitglied
„Was ein Scheißtag. Was ein Scheißtag! Wie sie mir nicht in die Augen sehen konnte! Scheiß Schlampe!“ Oli nahm zwei große Schlucke seines Vodka-Eistees aus einem billigen Ikea-Glas. Beim Hinstellen schwappte die klebrige Flüssigkeit auf den Tisch, auf dem noch sein einziges Geburtstagsgeschenk lag. „Scheiße!“, schrie er. Er packte einen Lappen, wischte den Tisch und nahm den noch geschlossenen Umschlag, den er von seiner Schwester bekommen hat, beiseite. Heute war kein guter Tag für ihn. Auf der Arbeit war wieder der Teufel los. Oli ist Kleinbusfahrer für Menschen mit Behinderung. Eigentlich liebt er den Job, wären da nicht die schlechten Arbeitsverhältnisse und der kümmerliche Mindestlohn. 12,00 Euro bekommt er auf die Stunde! Oli ist der festen Überzeugung, dass ihm der Chef weitaus weniger zahlen würde, wenn er dürfte. Jeden Tag fährt er die Menschen von ihren Wohnheimen zu ihren Werkstätten und zurück. Mitten durch die Stadt und immer im Berufsverkehr. Der Fahrplan ist streng getaktet. Er hat nur wenige Minuten, um einen Fahrgast mit seinem Rollstuhl zu verladen. Sobald etwas dazwischen kommt, ist die ganze Tour im Arsch. Werkstätten beschweren sich, warum ihre Mitarbeiter zu spät kommen und Heimleiter regen sich auf, wenn Oli die Leute zu früh wieder abliefert. Und immer ist Oli schuld. Er ist das aber gewohnt, – er kann einstecken. Vor wenigen Monaten noch gab ihm Cindy, seine damalige Freundin Rückhalt. Sie half ihm, den Stress zu vergessen und das Leben von der Guten Seite zu betrachten. Doch seitdem sie ihn betrogen hat, muss er selbst mit sich und seinen Problemen klar kommen. Vor gut einer Stunde war er bei ihr und ihrem neuen Liebhaber Mark. Er brachte ihr die letzten Sachen, die noch in Olis Wohnung standen. Zwei Frotteehandtücher, ein paar pinke Crocs und die gute Kapsel-Kaffeemaschine, die Oli ihr 2020 zu Weihnachten geschenkt hatte. Letztere zu verlieren tat ihm weh. Oli hasste Filterkaffee.
Cindy ist mit Mark zusammengezogen. Mark ist Elektroniker und hat in einem Anbau eines Behinderten-Wohnheims die Technik gemacht. Oli hat ihn dort des Öfteren gesehen und ihn eines Tages gefragt, ob er nach seiner kaputten Spülmaschine schauen kann. Als Oli auf der Arbeit war, kam Mark vorbei, um sich den Sachverhalt anzusehen. Am selben Tag hat Mark noch mit Cindy gefickt. Seitdem hasst Oli alle Elektroniker. Beim heutigen Widersehen hätte er Cindy gerne seine Meinung über sie gesagt, doch von Gesicht zu Gesicht traute er sich nicht.
Nachdem Oli das halbe Glas des Vodka-Eistees getrunken hatte, zogen sich seine Mundwinkel leicht nach oben. Er sah sich um und nahm den geschlossenen Umschlag seiner Schwester noch einmal in die Hand. Er öffnete ihn und zog eine Karte und drei Lose aus dem Kuvert. In der Karte stand: „Liebster Oli, wir wünschen dir alles alles Gute zu deinem 39. Geburtstag. Wir wissen, dass du gerade eine schlimme Zeit durchmachen musst. Lass dich trotzdem feiern und vergess heute alle Sorgen. Fühl die gedrückt! Liebe Grüße Peter & deine Schwester Dani. PS: Wann können wir dich wieder einmal besuchen kommen? Ich hoffe, wir müssen nicht auf deinen 40. warten.“ Er legte die Karte weg und betrachtete die drei Lose. „Wie kommt sie darauf, dass ich so was cool finden würde?“, fragte sich Olli. Auf dem Jahrmarkt mochte er die Preise nicht, für Fußballwetten mochte er Fußball zu wenig und Lotto fand er einfach langweilig. Er nahm das Erste und rubbelte die grau-silberne Fläche mit seinem Schlüssel auf. Niete! Er nahm das Zweite. Schon wieder Niete! Er nahm das Dritte. Und… er machte es nicht auf. Ihm drückte die Blase und er ging auf die Toilette.
Oli lag auf seinem viel zu kleinen Sofa und schaute auf seinem viel zu großen Fernseher eine Quizshow. Die junge Studentin im Studio war schon bei der 64 000 Euro Frage, die wie folgt lautete „Welches Land grenzt nicht nur an EU-Mitgliedstaaten?“ A:Tschechien, B:Schweiz, C
ortugal, D:Tschechien. Ohne auch nur einen Moment zu überlegen, loggte die Kandidatin B ein. Oli war verwirrt, da er zu D tendierte. Bevor die richtige Antwort verkündet wurde, änderte sich die Frage zu einem Gewinnspiel, bei dem genau die Frage den Zuschauern zuhause gestellt wurde. Dann kam erst einmal Werbung. Oli, der sich immer noch die Europakarte vor dem geistigen Auge vorstellte, nahm sein Glück in die Hand und schrieb eine SMS mit seiner Antwort „Tschechien“ an die Gewinnspielnummer.
Einige Minuten belangloser Werbespots später erschien wieder das Logo der Quizshow auf dem Bildschirm. Die Frage wurde noch einmal vorgelesen. Oli kniff sich vor Aufregung in die Haut zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. Dann plötzlich erklang der typische Sound einer richtigen Frage und die Frau strahlte. Sie war eine Runde weiter. „Das hätte ich wirklich nicht gedacht.“, murmelte Oli vor sich her. „Wäre ich so schlau wie die Studentin, dann könnte ich da auch locker Geld machen. Die Beifahrertür vom Auto könnte ich reparieren lassen und eine Kapsel-Kaffeemaschine wäre auch toll.“
Enttäuscht von seiner Fehleinschätzung der Frage schaute er sich im Raum um. Durch den Türrahmen hindurch konnte er auf den Küchentisch sehen. Dort lag noch das Letzte der drei Lose. Er ging zum Tisch und nahm es in seine Hände. „Wie viel Pech kann man an einem Tag haben, bevor man einmal Glück hat?“, fragte er sich. Er nahm wieder seinen Schlüssel und rubbelte das grau-silberne Feld auf. Oli las: „Glückwunsch! Sie haben einen von zehn Plätzen einer Live-Verlosung gewonnen!“ Er saß kopfschüttelnd da „Sie haben die Chance auf einen Gewinn von 250.000 €. Registrieren Sie sich unter www.deutschesglueckslos.de/Gewinnrad, um eine offizielle Einladung zu erhalten.“ Oli musste sich am Tisch abstützen und schmiss dabei fast die Vodka-Flasche herunter.
Sofort setzte er sich an seinen viel zu dicken Laptop und drückte auf die Starttaste. Das Hochfahren des PCs fühlte sich in diesen Momenten noch länger an, als es ohnehin schon war. Mit zittrigen Fingern navigierte er auf die Webseite der Verlosung und gab dort seine Daten ein. Der Bildschirm zeigte folgende Nachricht an: „Vielen Dank, dass Sie sich mit Ihrem Glückslos registriert haben. Genauere Hinweise zu Ihrem Gewinn erhalten Sie per E-Mail!“ Er machte einen neuen Tab im Browser auf und navigierte zu seinem Postfach. Dort war die E-Mail an oberster Stelle. In pixeligen Buchstaben stand schwarz auf weiß eine Einladung in die Freitagabendshow, bei der jeder Teilnehmer einmal am Glücksrad drehen darf. Der kleinstmögliche Gewinn ist dabei 5000 € und der größte 250.000 €. Oli liefen Tränen über sein Gesicht. Es fühlte sich an, als würden die Wolken vor der Sonne in seiner Brust davon fliegen und die warmen Strahlen den ganzen Körper erleuchten. Nach Wochen der Traurigkeit spürte er zum ersten Mal wieder richtige Freude. Freude, die nicht durch Alkohol, Kippen oder Kaffee ausgelöst wurde.
35 Tage später, an einem Freitag war es so weit. Olis großer Tag im Fernsehen war gekommen. Da er keine Zeit haben würde, nach seiner Schicht nach Hause zu kommen, zog er seine schicksten Klamotten bereits in die Arbeit an. Er trug ein schwarzes Hemd, das um die Bauchgegend bereits etwas spannte, eine recht neue Jeans und Anzugsschuhe, die er bereits seit 15 Jahren besaß. Zusätzlich trug er an diesem besonderen Anlass ausnahmsweise keine Truckercappi. Olis Nachmittagsschicht als Kleinbusfahrer für Menschen mit Behinderung begann um 14 Uhr. Heute war er besonders früh am Gelände der Behindertenwerkstätte, um unter keinen Umständen Zeit zu verlieren. Laut seinen Berechnungen hatte Oli nur einen kleinen Puffer für Ausfälle, um Abends pünktlich am Fernsehstudio anzukommen.
An diesem Freitag musste Oli insgesamt drei Touren fahren. Zunächst holte er Emil ab. Emil war ein kleiner, zierlicher Junge, der leider zu epileptischen Anfällen neigte, die auch des Öfteren während der Fahrt stattfanden. Aus diesem Grund musste er immer alleine gefahren werden. Oli hatte bei ihm am meisten Angst, Zeit zu verlieren. Doch er schaffte die erste Fahrt des Nachmittags sogar mit einem Zeitgewinn von drei Minuten. In der zweiten Tour fuhr er die laute Brigitte und den schüchternen Franz. Beide waren dürre Menschen mit modernen Rollstühlen, die Oli ganz sauber und schnell in der Ladefläche befestigen konnte. Brigitte und Franz wohnten in einer WG, die nicht weit von der Werkstätte lag. Sie war gut zu erreichen und die Pflegerin wohnte dort ebenfalls, weshalb es hier nie zu Zeitverlusten kam. Auch hier konnte Oli drei Minuten gutmachen. Anschließend kam der Endgegner. Die dritte und letzte Tour bestand aus der kettenrauchenden Tanja, ihrem Freund Tilo, der kleinen Linda und dem besonders neugierigen Peter. Alle waren sie auf den Rollstuhl angewiesen und somit war die Ladefläche des Transporters voll. Mit dem Wohnheim der Vier stand Oli auf Kriegsfuß. Nie war er pünktlich genug. Immer kam die Beschwerde, dass etwas nicht passt. Auf der Fahrt fragte Peter: „Oli, wieso bist du heute so schick?“ „Weißt du, Peter, ich gehe heute ins Fernsehen, da musste ich mich hübsch machen.“, antwortete Oli. „Aber warum hast du dann keine Mütze auf, so kann jeder dein Haarausfall sehen.“, entgegnete Peter. Oli schmunzelte und gab auf die seine Antworten erklären zu müssen.
Oli war sehr früh am Wohnheim angekommen. Es war 16:15 Uhr und die Pfleger durften aus versicherungsrechtlichen Gründen erst zu ihrem Schichtbeginn um 16:30 Uhr die Bewohner aus dem Auto holen. Das hat die Heimleiterin Oli schon oft eingetrichtert. Ihn nervte das, da er wusste, dass die Pfleger bereits da waren und er somit früher Feierabend hätte machen können. Vor allem nervte ihn das heute. Laut seinem Navigationssystem brauchte er genau eine halbe Stunde zum Fernsehstudio und vorher musste er noch den Geschäftstransporter gegen sein Privatauto tauschen. Oli tippte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum. Er sah, dass im Wohnheim schon einige Leute zu Werke waren. Die Uhr zeigte 16:20 Uhr und er hielt es nicht mehr aus. Oli begann die Insassen auszuladen. Einem nach dem anderen. Um 16:25 Uhr saßen Peter, Linda, Tanja und Tilo abholbereit in ihren Rollstühlen vor dem Wohnheim. Die Heimleiterin schaute grimmig auf die Uhr und anschließend auf Oli. Die Pfleger, die im Begriff waren die Leute abzuholen, wurden von ihr zurückgehalten. Oli starrte sie an. „Fick dich! Wie penibel kann ein Mensch sein?“, dachte er sich. Aus Angst, Ärger von seinem Chef zu bekommen, würde er sich nie trauen, der Hexe die Meinung zu sagen. Um Punkt 16:30 Uhr wurden die vier Mitfahrer liebevoll von den Pflegern empfangen. Oli gab Vollgas – er hat schon zu viel Zeit verloren. Peter rief ihm noch hinterher: „Ich seh dich heute im Fernsehen!“
An der dritten Kreuzung musste er sich entscheiden. „Fahre ich noch heim, um den Twingo zu nehmen oder soll ich direkt zum Studio?“ Er schaute auf die Uhr und schlug den direkten Weg mit seinem Transporter ein. Sein Fokus war nicht auf der Straße, sondern voll auf dem Ziel. Seine Hände krallten sich in das Lenkrad und sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von der Scheibe entfernt. Dass ihm die Sonne so noch mehr in die Augen schien, machte Oli in diesen Momenten nichts aus. Eine Welle von fünf roten Ampeln brachte ihn fast zum Ausrasten. Es war mittlerweile 16:50 Uhr und in zehn Minuten musste er vor Ort sein. Auf einer geraden Straße, die zu einer Kreuzung führte, sah er eine grüne Ampel auf sich zukommen. Sie war erst 100 Meter, dann 50 Meter und anschließend 25 Meter von ihm entfernt. Als er kurz davor war, schlug die Ampel auf Gelb, Oli gab Gas. Innerlich lächelte er, dass er die Ampel erwischt hat. Doch dann spürte er den heftigsten Schlag seines Lebens. Ein lauter Knall! Er verlor die Kontrolle, die Lenkversuche brachten nichts mehr. Der Sprinter drehte sich zweimal. Er kam zum Stehen und Oli starrte nach vorne. Er legte seine Hände auf den Kopf und bemerkte, dass sie rot und nass waren. Nach Momenten, die sich ewig anfühlten, stieg er mit zittrigen Beinen aus. Eine junge Frau kam auf ihn zu und brüllte: „Wie geht es Ihnen? Bleiben Sie sitzen! Ich habe schon den Krankenwagen und die Polizei gerufen!“ „Aber ich muss doch zum Glücksrad!“, stotterte Oli. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde.
Als Oli auf der Liege eines Krankenwagens saß und ein Sanitäter ihn seinen Kopf verband, schaute er auf den Wagen, der in ihn hineingefahren war. Es war ein roter Schrottknäuel, der nur durch das Logo eines schwarzen Pferds auf gelben Grund als Ferrari zu identifizieren war. Der Fahrer war ein junger Mann mit Skinny Jeans, einem weiten T-Shirt mit der Aufschrift Off-White und einer großen Sonnenbrille auf der Nase. Der Mann wurde ebenfalls in einem Krankenwagen behandelt, als er schrie: „Ey, du fette Sau! Das wird richtig teuer für dich man! Du hörst von meinem Anwalt!“ Oli hatte keine Worte, um darauf zu antworten.
Am folgenden Montag wurde Oli vom Krankenhaus entlassen. Er hatte einen geprellten Arm und eine Gehirnerschütterung erlitten. Er nahm den Bus nach Hause. Als er an seiner Heimatstation ausstiegt, kam er an einem Zeitungsautomat vorbei. Die Zeitung titelte „Ferrari platt und Rückspiel verpasst: Fußballprofi fällt aus“ weiter, hieß es: „Das Nachwuchsjuwel des Aufsteigers geriet am Freitag gegen 17 Uhr in einen Autounfall. Dabei ist laut Eigenaussage ein Mann mit seinem Sprinter erst über Rot und dann über in eine Kreuzung gefahren und hat dabei den roten Ferrari erwischt. Der junge Hoffnungsträger wird aufgrund seiner Verletzungen wohl die weitere Saison komplett verpassen.“ Oli schüttelte den Kopf und kaufte sich eine Zeitung. Zu Hause angekommen las er den kompletten Artikel. Schnell googelte er nach anderen Nachrichten, doch immer wieder wurde geschildert, dass er schuld gewesen sei. Den gesamten Vormittag verbrachte er damit, die Redaktionen anzurufen, um seine Meinung zu schildern. Doch die Journalisten am Telefon sagten alle: „Das Thema ist jetzt schon draußen. Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Es geht nur um einen Spieler der zweiten Bundesliga. Das interessiert morgen keinen mehr.“
Oli schämte sich. Erst gegen Abend fiel ihm auf, dass er sich bei seinem Chef melden sollte. Er rief im Busunternehmen an und eine männliche Stimme ging an den Hörer: „Hallo Oli, ich hoffe, es geht dir gut. Ich wollte dich erst einmal ausruhen lassen, bevor ich dich anrufe. Es ist echt schwierig, aber ich muss das tun. Du warst immer einer unserer besten Fahrer. Es hat uns Freude bereitet, mit dir zu arbeiten. Aber, dass du zum wiederholten Male Kunden vor ihrem Wohnheim abgestellt hast und weggefahren bist geht ist alleine schon ein Grund. Aber dass du obendrein noch privat mit einem Firmenwagen einen waghalsigen Autounfall gebaut hast, ist zu viel. Ich muss dich aus diesen Gründen leider entlassen. Falls du…“ Oli legte auf. Er hatte keine Kraft mehr darauf zu antworten. Aus seinen Augen kullerten einzelne Tränen und er schluchzte zu sich selbst: „Heute ist wieder so ein Scheißtag.“
Cindy ist mit Mark zusammengezogen. Mark ist Elektroniker und hat in einem Anbau eines Behinderten-Wohnheims die Technik gemacht. Oli hat ihn dort des Öfteren gesehen und ihn eines Tages gefragt, ob er nach seiner kaputten Spülmaschine schauen kann. Als Oli auf der Arbeit war, kam Mark vorbei, um sich den Sachverhalt anzusehen. Am selben Tag hat Mark noch mit Cindy gefickt. Seitdem hasst Oli alle Elektroniker. Beim heutigen Widersehen hätte er Cindy gerne seine Meinung über sie gesagt, doch von Gesicht zu Gesicht traute er sich nicht.
Nachdem Oli das halbe Glas des Vodka-Eistees getrunken hatte, zogen sich seine Mundwinkel leicht nach oben. Er sah sich um und nahm den geschlossenen Umschlag seiner Schwester noch einmal in die Hand. Er öffnete ihn und zog eine Karte und drei Lose aus dem Kuvert. In der Karte stand: „Liebster Oli, wir wünschen dir alles alles Gute zu deinem 39. Geburtstag. Wir wissen, dass du gerade eine schlimme Zeit durchmachen musst. Lass dich trotzdem feiern und vergess heute alle Sorgen. Fühl die gedrückt! Liebe Grüße Peter & deine Schwester Dani. PS: Wann können wir dich wieder einmal besuchen kommen? Ich hoffe, wir müssen nicht auf deinen 40. warten.“ Er legte die Karte weg und betrachtete die drei Lose. „Wie kommt sie darauf, dass ich so was cool finden würde?“, fragte sich Olli. Auf dem Jahrmarkt mochte er die Preise nicht, für Fußballwetten mochte er Fußball zu wenig und Lotto fand er einfach langweilig. Er nahm das Erste und rubbelte die grau-silberne Fläche mit seinem Schlüssel auf. Niete! Er nahm das Zweite. Schon wieder Niete! Er nahm das Dritte. Und… er machte es nicht auf. Ihm drückte die Blase und er ging auf die Toilette.
Oli lag auf seinem viel zu kleinen Sofa und schaute auf seinem viel zu großen Fernseher eine Quizshow. Die junge Studentin im Studio war schon bei der 64 000 Euro Frage, die wie folgt lautete „Welches Land grenzt nicht nur an EU-Mitgliedstaaten?“ A:Tschechien, B:Schweiz, C
Einige Minuten belangloser Werbespots später erschien wieder das Logo der Quizshow auf dem Bildschirm. Die Frage wurde noch einmal vorgelesen. Oli kniff sich vor Aufregung in die Haut zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. Dann plötzlich erklang der typische Sound einer richtigen Frage und die Frau strahlte. Sie war eine Runde weiter. „Das hätte ich wirklich nicht gedacht.“, murmelte Oli vor sich her. „Wäre ich so schlau wie die Studentin, dann könnte ich da auch locker Geld machen. Die Beifahrertür vom Auto könnte ich reparieren lassen und eine Kapsel-Kaffeemaschine wäre auch toll.“
Enttäuscht von seiner Fehleinschätzung der Frage schaute er sich im Raum um. Durch den Türrahmen hindurch konnte er auf den Küchentisch sehen. Dort lag noch das Letzte der drei Lose. Er ging zum Tisch und nahm es in seine Hände. „Wie viel Pech kann man an einem Tag haben, bevor man einmal Glück hat?“, fragte er sich. Er nahm wieder seinen Schlüssel und rubbelte das grau-silberne Feld auf. Oli las: „Glückwunsch! Sie haben einen von zehn Plätzen einer Live-Verlosung gewonnen!“ Er saß kopfschüttelnd da „Sie haben die Chance auf einen Gewinn von 250.000 €. Registrieren Sie sich unter www.deutschesglueckslos.de/Gewinnrad, um eine offizielle Einladung zu erhalten.“ Oli musste sich am Tisch abstützen und schmiss dabei fast die Vodka-Flasche herunter.
Sofort setzte er sich an seinen viel zu dicken Laptop und drückte auf die Starttaste. Das Hochfahren des PCs fühlte sich in diesen Momenten noch länger an, als es ohnehin schon war. Mit zittrigen Fingern navigierte er auf die Webseite der Verlosung und gab dort seine Daten ein. Der Bildschirm zeigte folgende Nachricht an: „Vielen Dank, dass Sie sich mit Ihrem Glückslos registriert haben. Genauere Hinweise zu Ihrem Gewinn erhalten Sie per E-Mail!“ Er machte einen neuen Tab im Browser auf und navigierte zu seinem Postfach. Dort war die E-Mail an oberster Stelle. In pixeligen Buchstaben stand schwarz auf weiß eine Einladung in die Freitagabendshow, bei der jeder Teilnehmer einmal am Glücksrad drehen darf. Der kleinstmögliche Gewinn ist dabei 5000 € und der größte 250.000 €. Oli liefen Tränen über sein Gesicht. Es fühlte sich an, als würden die Wolken vor der Sonne in seiner Brust davon fliegen und die warmen Strahlen den ganzen Körper erleuchten. Nach Wochen der Traurigkeit spürte er zum ersten Mal wieder richtige Freude. Freude, die nicht durch Alkohol, Kippen oder Kaffee ausgelöst wurde.
35 Tage später, an einem Freitag war es so weit. Olis großer Tag im Fernsehen war gekommen. Da er keine Zeit haben würde, nach seiner Schicht nach Hause zu kommen, zog er seine schicksten Klamotten bereits in die Arbeit an. Er trug ein schwarzes Hemd, das um die Bauchgegend bereits etwas spannte, eine recht neue Jeans und Anzugsschuhe, die er bereits seit 15 Jahren besaß. Zusätzlich trug er an diesem besonderen Anlass ausnahmsweise keine Truckercappi. Olis Nachmittagsschicht als Kleinbusfahrer für Menschen mit Behinderung begann um 14 Uhr. Heute war er besonders früh am Gelände der Behindertenwerkstätte, um unter keinen Umständen Zeit zu verlieren. Laut seinen Berechnungen hatte Oli nur einen kleinen Puffer für Ausfälle, um Abends pünktlich am Fernsehstudio anzukommen.
An diesem Freitag musste Oli insgesamt drei Touren fahren. Zunächst holte er Emil ab. Emil war ein kleiner, zierlicher Junge, der leider zu epileptischen Anfällen neigte, die auch des Öfteren während der Fahrt stattfanden. Aus diesem Grund musste er immer alleine gefahren werden. Oli hatte bei ihm am meisten Angst, Zeit zu verlieren. Doch er schaffte die erste Fahrt des Nachmittags sogar mit einem Zeitgewinn von drei Minuten. In der zweiten Tour fuhr er die laute Brigitte und den schüchternen Franz. Beide waren dürre Menschen mit modernen Rollstühlen, die Oli ganz sauber und schnell in der Ladefläche befestigen konnte. Brigitte und Franz wohnten in einer WG, die nicht weit von der Werkstätte lag. Sie war gut zu erreichen und die Pflegerin wohnte dort ebenfalls, weshalb es hier nie zu Zeitverlusten kam. Auch hier konnte Oli drei Minuten gutmachen. Anschließend kam der Endgegner. Die dritte und letzte Tour bestand aus der kettenrauchenden Tanja, ihrem Freund Tilo, der kleinen Linda und dem besonders neugierigen Peter. Alle waren sie auf den Rollstuhl angewiesen und somit war die Ladefläche des Transporters voll. Mit dem Wohnheim der Vier stand Oli auf Kriegsfuß. Nie war er pünktlich genug. Immer kam die Beschwerde, dass etwas nicht passt. Auf der Fahrt fragte Peter: „Oli, wieso bist du heute so schick?“ „Weißt du, Peter, ich gehe heute ins Fernsehen, da musste ich mich hübsch machen.“, antwortete Oli. „Aber warum hast du dann keine Mütze auf, so kann jeder dein Haarausfall sehen.“, entgegnete Peter. Oli schmunzelte und gab auf die seine Antworten erklären zu müssen.
Oli war sehr früh am Wohnheim angekommen. Es war 16:15 Uhr und die Pfleger durften aus versicherungsrechtlichen Gründen erst zu ihrem Schichtbeginn um 16:30 Uhr die Bewohner aus dem Auto holen. Das hat die Heimleiterin Oli schon oft eingetrichtert. Ihn nervte das, da er wusste, dass die Pfleger bereits da waren und er somit früher Feierabend hätte machen können. Vor allem nervte ihn das heute. Laut seinem Navigationssystem brauchte er genau eine halbe Stunde zum Fernsehstudio und vorher musste er noch den Geschäftstransporter gegen sein Privatauto tauschen. Oli tippte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum. Er sah, dass im Wohnheim schon einige Leute zu Werke waren. Die Uhr zeigte 16:20 Uhr und er hielt es nicht mehr aus. Oli begann die Insassen auszuladen. Einem nach dem anderen. Um 16:25 Uhr saßen Peter, Linda, Tanja und Tilo abholbereit in ihren Rollstühlen vor dem Wohnheim. Die Heimleiterin schaute grimmig auf die Uhr und anschließend auf Oli. Die Pfleger, die im Begriff waren die Leute abzuholen, wurden von ihr zurückgehalten. Oli starrte sie an. „Fick dich! Wie penibel kann ein Mensch sein?“, dachte er sich. Aus Angst, Ärger von seinem Chef zu bekommen, würde er sich nie trauen, der Hexe die Meinung zu sagen. Um Punkt 16:30 Uhr wurden die vier Mitfahrer liebevoll von den Pflegern empfangen. Oli gab Vollgas – er hat schon zu viel Zeit verloren. Peter rief ihm noch hinterher: „Ich seh dich heute im Fernsehen!“
An der dritten Kreuzung musste er sich entscheiden. „Fahre ich noch heim, um den Twingo zu nehmen oder soll ich direkt zum Studio?“ Er schaute auf die Uhr und schlug den direkten Weg mit seinem Transporter ein. Sein Fokus war nicht auf der Straße, sondern voll auf dem Ziel. Seine Hände krallten sich in das Lenkrad und sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von der Scheibe entfernt. Dass ihm die Sonne so noch mehr in die Augen schien, machte Oli in diesen Momenten nichts aus. Eine Welle von fünf roten Ampeln brachte ihn fast zum Ausrasten. Es war mittlerweile 16:50 Uhr und in zehn Minuten musste er vor Ort sein. Auf einer geraden Straße, die zu einer Kreuzung führte, sah er eine grüne Ampel auf sich zukommen. Sie war erst 100 Meter, dann 50 Meter und anschließend 25 Meter von ihm entfernt. Als er kurz davor war, schlug die Ampel auf Gelb, Oli gab Gas. Innerlich lächelte er, dass er die Ampel erwischt hat. Doch dann spürte er den heftigsten Schlag seines Lebens. Ein lauter Knall! Er verlor die Kontrolle, die Lenkversuche brachten nichts mehr. Der Sprinter drehte sich zweimal. Er kam zum Stehen und Oli starrte nach vorne. Er legte seine Hände auf den Kopf und bemerkte, dass sie rot und nass waren. Nach Momenten, die sich ewig anfühlten, stieg er mit zittrigen Beinen aus. Eine junge Frau kam auf ihn zu und brüllte: „Wie geht es Ihnen? Bleiben Sie sitzen! Ich habe schon den Krankenwagen und die Polizei gerufen!“ „Aber ich muss doch zum Glücksrad!“, stotterte Oli. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde.
Als Oli auf der Liege eines Krankenwagens saß und ein Sanitäter ihn seinen Kopf verband, schaute er auf den Wagen, der in ihn hineingefahren war. Es war ein roter Schrottknäuel, der nur durch das Logo eines schwarzen Pferds auf gelben Grund als Ferrari zu identifizieren war. Der Fahrer war ein junger Mann mit Skinny Jeans, einem weiten T-Shirt mit der Aufschrift Off-White und einer großen Sonnenbrille auf der Nase. Der Mann wurde ebenfalls in einem Krankenwagen behandelt, als er schrie: „Ey, du fette Sau! Das wird richtig teuer für dich man! Du hörst von meinem Anwalt!“ Oli hatte keine Worte, um darauf zu antworten.
Am folgenden Montag wurde Oli vom Krankenhaus entlassen. Er hatte einen geprellten Arm und eine Gehirnerschütterung erlitten. Er nahm den Bus nach Hause. Als er an seiner Heimatstation ausstiegt, kam er an einem Zeitungsautomat vorbei. Die Zeitung titelte „Ferrari platt und Rückspiel verpasst: Fußballprofi fällt aus“ weiter, hieß es: „Das Nachwuchsjuwel des Aufsteigers geriet am Freitag gegen 17 Uhr in einen Autounfall. Dabei ist laut Eigenaussage ein Mann mit seinem Sprinter erst über Rot und dann über in eine Kreuzung gefahren und hat dabei den roten Ferrari erwischt. Der junge Hoffnungsträger wird aufgrund seiner Verletzungen wohl die weitere Saison komplett verpassen.“ Oli schüttelte den Kopf und kaufte sich eine Zeitung. Zu Hause angekommen las er den kompletten Artikel. Schnell googelte er nach anderen Nachrichten, doch immer wieder wurde geschildert, dass er schuld gewesen sei. Den gesamten Vormittag verbrachte er damit, die Redaktionen anzurufen, um seine Meinung zu schildern. Doch die Journalisten am Telefon sagten alle: „Das Thema ist jetzt schon draußen. Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Es geht nur um einen Spieler der zweiten Bundesliga. Das interessiert morgen keinen mehr.“
Oli schämte sich. Erst gegen Abend fiel ihm auf, dass er sich bei seinem Chef melden sollte. Er rief im Busunternehmen an und eine männliche Stimme ging an den Hörer: „Hallo Oli, ich hoffe, es geht dir gut. Ich wollte dich erst einmal ausruhen lassen, bevor ich dich anrufe. Es ist echt schwierig, aber ich muss das tun. Du warst immer einer unserer besten Fahrer. Es hat uns Freude bereitet, mit dir zu arbeiten. Aber, dass du zum wiederholten Male Kunden vor ihrem Wohnheim abgestellt hast und weggefahren bist geht ist alleine schon ein Grund. Aber dass du obendrein noch privat mit einem Firmenwagen einen waghalsigen Autounfall gebaut hast, ist zu viel. Ich muss dich aus diesen Gründen leider entlassen. Falls du…“ Oli legte auf. Er hatte keine Kraft mehr darauf zu antworten. Aus seinen Augen kullerten einzelne Tränen und er schluchzte zu sich selbst: „Heute ist wieder so ein Scheißtag.“