Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 2

Fredy Daxboeck

Mitglied
Die Abenddämmerung senkte sich allmählich über die Stadt. Auf dem Fluss spiegelten sich die letzten verirrten Sonnenstrahlen und die Luft war kühl und roch nach dem Regen, der bis zum späten Nachmittag gefallen war. Jeremy Gordon und seine Frau Marion saßen beim Abendessen.

»Heimo Börnstein hat mich heute angerufen.«

Marion setzte zu einer Antwort an, starrte dann schweigend an ihm vorbei aus dem Fenster. Sie saß eine Weile still, schaute gedankenverloren vor sich hin. Ihre Augen waren klar, stechend blau, wie das Herz einer Gasflamme, und flackerten arrogant. Endlich wandte sie den Kopf und musterte ihn abwägend.

»War´s das?«

»Er hat mich eingeladen, zu einem Trip in die Berge. Er hat da eine Hütte in den Wäldern von Montenegro. Dort fährt er hin, um auszuspannen, zum Jagen und Angeln.« Wie beiläufig sagte er das und schaute sie an.

Gelangweilt erwiderte sie seinen Blick, legte den Kopf leicht schräg, als hätte sie nicht verstanden, worauf er hinauswollte. »Geht´s ans Meer, zum Segeln?«

Marion Gordon trug ein dreiteiliges Kostüm in dezenten Farben, dass die leichten Rundungen an Hüfte und Busen betonte. Ihr blond gelocktes Haar reichte bis an die Schultern und ihre Fingernägel und Lippen waren rot geschminkt und sahen aus wie geronnenes Blut. In der Öffentlichkeit trug sie stets einen unsichtbaren Mantel des Anstands, den sie aber beim Betreten ihres Hauses ablegte.

»Nein, ich sagte doch, es geht in die Berge. Kein Strom, kein fließendes Wasser, kein Telefon. Dafür werden wir jagen und am Lagerfeuer sitzen. Er hat eine Jagdhütte in den Wäldern von Montenegro. Du hörst mir nicht zu.«

Angewidert verzog sie das Gesicht. Sie hatte Angst vor weitem Wasser und allem, was sich darin tummelte, hasste die Berge und Wälder, selbst ihrer Heimat, und war ein ausgesprochener Stadtmensch.

»Was willst du in den Bergen. Unschuldige Tiere erschießen, dumme Fische aus dem Wasser holen und über einem Feuer braten. Das hört sich schrecklich unzivilisiert an.« Sie rümpfte die Nase. »Hast du gesagt, es gibt keinen Strom und kein Wasser? Nach zwei Tagen stinkt ihr nach Schweiß und Rauch und nennt euch dann Männer. Das ist widerwärtig.«

Jeremy schluckte, stumm, weil es nichts dagegen zu sagen gab und horchte in die folgende Stille, die von ihren Worten durchdrungen war, aus denen Gehässigkeit troff.

Er saß aufrecht auf seinem Stuhl, als wäre er an ein Brett geflochten, schaute auf den Teller vor ihm, ohne zu zwinkern und schluckte den Ärger, der ihn erfasste, hinunter. Mit zusammengebissenen Zähnen säbelte er schließlich ein großes Stück von dem gebratenen Rippenstück ab und schob es in den Mund. Kaute langsam darauf herum, zermalmte den aufkeimenden Zorn zwischen den Kiefern und lächelte sie trocken an.

»Ich will nicht angeln. Dass ich angeln gehe, habe ich nicht gesagt. Das ist Heimos Vergnügen«, schüttelte er den Kopf. »Ich werde auf die Jagd gehen, ein bisschen Spaß haben, am Lagerfeuer Steaks grillen, ein paar Biere trinken und von alten Zeiten quatschen. Wir sind zusammen in die Schule gegangen.«

»Ohne Strom und Wasser bleibt euch auch nichts anderes übrig, als ein Feuer zu machen«, antwortete Marion höhnisch. »Das stelle ich mir richtig spannend vor. Zwei Männer am Lagerfeuer, von Mücken zerfressen, knabbern an angekohlten Steaks, trinken warmes Bier und erzählen sich zotige Geschichten aus der Zeit, als sie noch picklige Teenager waren.« Sie hob ihr Weinglas, drehte es zwischen den Fingern und sah durch das dunkle Rot in die Sonne, die ihre Strahlen über den Tisch warf.

»Davon verstehst du nichts. Dich interessieren ohnehin nur schicke Kleider, die neueste Mode, Rouge und Mascara ... und natürlich Schuhe in allen Farben und Variationen.« Jeremy blickte ins Leere, wischte mit der Hand über die Nase und griff nach seinem Glas.

»Die Annehmlichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts«, lächelte sie süffisant. »Als ob du ein Mann der Wildnis wärst?« Sie musterte ihn abschätzend und setzte nach, weil er nicht reagierte.

»Du schlürfst wie ein Schwein. Trainierst du schon für die Wälder, Indiana Jones auf der Suche nach dem verlorenen Schatz?«

»Jäger«, erwiderte Jeremy, mühsam beherrscht. »Es heißt ›Jäger des verlorenen Schatzes‹ und nicht ›auf der Suche‹.«

»Na meinetwegen, also Jäger, Herr Jones. Ich schaue mir diese blöden Filme nicht an.«

Missmutig runzelte Jeremy die Augenbrauen und versuchte seine Frau keines Blickes zu würdigen. Sie spielte an den Schaltern herum, die ihn zur Weißglut brachten, wollte ihn herausfordern, warum auch immer, und wusste, dass er sich nicht zur Wehr setzen würde.

Er schluckte seinen Stolz hinunter, versuchte die Gedanken zu ordnen und wollte es dabei bewenden lassen.

»Ist dir irgendeine Laus über die Leber gelaufen?«, frage er mit betont unschuldiger Miene, lächelte zwanglos und wirkte ganz und gar nicht wütend.

»Was willst du mir sagen? Warum erzählst du mir nicht die ganze Geschichte? Geht es um Geld? Brauchst du einen Sponsor für deine Expedition in die Wildnis?« Klappernd ließ sie ihr Besteck auf den Teller fallen, schob ihn zur Seite, nahm die Serviette, tupfte mit spitzen Fingern den Mund ab und betrachtete aus dem Augenwinkel seinen Gesichtsausdruck. Sie liebte es, in offenen Wunden zu bohren, auch wenn ihr Mann bereits die Hand darüber hielt.

»Nein, natürlich nicht. Du kannst dein Geld gerne behalten. Der Trip kostet mich nur die Fahrt in den Süden. Ich wollte dir bloß sagen, dass ich demnächst eine Woche weg bin.« Er beugte sich nach vor und senkte die Stimme. »Dann hast du das Haus für dich allein, kannst deine Freundinnen einladen oder wen auch immer, und ihr könnt eure Tee- oder Kosmetikparty oder was auch immer abhalten, ohne dass ich dabei störe.«

Sie schürzte die Lippen und funkelte ihn böse an.

»Hast du mit Tamara darüber gesprochen?«

»Nein. Ich fahre Sonnabend weg, aber sie wird es kaum merken. Sie ist neunzehn, hat eine Studentenbude, und wenn sie vorbeikommt, winkt sie mir nur zu oder rauscht mit einem ›Hallo Dad‹ vorbei. Ich kann sie dann nicht mal fragen, wie es ihr geht. Bevor ich bemerke, dass sie im Haus ist, ist sie auch schon im Zimmer oder wieder weg.«

»Sie ist eine junge Frau und voller Elan, was man von dir nicht behaupten kann. Das muss sie von mir haben. Ich war auch so voller Leben, als ich jung war.«

»Das muss vor meiner Zeit gewesen sein«, murmelte er, und lächelte bitter. Er merkte, wie sich seine Hände um Messer und Gabel verkrampften, legte sie zur Seite, stand auf und ging zum Fenster, schaute hinaus in den Garten, auf die untergehende Sonne, die sich im grünen Wasser des Naturbadeteichs in der Ecke spiegelte und die strohgelben Gräser, die sich im abendlichen Wind wiegten.

»Aber was will ich eigentlich von einem Buchhalter verlangen?«, murrte Marion hinter ihm und starrte ihn an, weil er ihr den Rücken zukehrte.

Jeremy hatte eine breite Brust, einen leichten Bauchansatz und kurz geschnittene Haare. Er trug eine graue Hose, ein schwarzes Hemd und weiche, mattschwarze Sneakers. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Er wischte sie an seinen Hosenbeinen ab und steckte sie in die Taschen, wollte sich nicht anmerken lassen, wie ihre Stiche trafen.

Sie wartete, bis er sich umgedreht hatte und rang sich dann ein bitteres Lächeln ab. »Ich hätte es wissen müssen. Meine Eltern haben mich gewarnt, aber ich wollte nicht auf sie hören.«

»Kommt jetzt die alte Platte auf den Teller?«

»Es stimmt doch, oder etwa nicht?«

Warum konntest du nicht auf sie hören, dachte er, lehnte sich ans Fenster und seufzte widerwillig. Er wollte dem Geplänkel ein Ende bereiten, sie zum Schweigen bringen. Zögerte aber, leckte sich in Gedanken versunken über die Lippen, als ihm klar wurde, dass keines der Worte, die er sagen wollte, etwas an der Situation ändern würde.

Also schwieg er.

Marion hob ihr Glas an den Mund und warf ihm einen boshaften Blick zu.

»Wann soll denn dieses Dschungelcamp losgehen?«

»Das ist kein Dschungelcamp. Das ist ein Jagdausflug.«

»Schlaft ihr nicht in Zelten und müsst euer Essen selbst jagen? Ernährt ihr euch nicht von Käfern und Larven?«

Jeremy kniff die Augen zu einem Spalt. »Herrgott nein. Siehst du dir etwa heimlich das eklige Zeug im Fernsehen an? Heimo hat eine Jagdhütte in den Bergen. Er ist Versicherungsagent. Der schläft nicht in einem Zelt, wie ein jugendlicher Teenie und ernährt sich von Käfern. Ich möchte wetten, er hat sich dort ganz gut eingerichtet.«

»Ich habe von den ersten Ausgaben in der Vorschau einen Ausschnitt gesehen, das hat mir gereicht«, erwiderte sie schnell, und verzog in Erinnerung an das Geschehen in diesem Camp, das Gesicht.

»Vielleicht lebt Heimo dort seine dunkle Seite aus. Haust in einer Höhle oder einem Bretterverschlag und braucht jemand, der ihm bei ein paar Arbeiten zur Hand geht.«

Jeremy schüttelte den Kopf, als müsste er sich ihren Worten entziehen. »Dann hätte er nicht mich gefragt, ob ich Lust habe mitzukommen, als Handwerker bin ich gänzlich ungeeignet.«

Du bist in vielen Dingen gänzlich ungeeignet, dachte Marion, warf den Kopf zurück und schaute an ihm vorbei. Allmählich ödete sie das Spiel an. Er hatte sich unter Kontrolle, ließ sich nicht ärgern und ihre schnippischen Kommentare prallten an ihm ab.

Aus dem Augenwinkel nahm sie seine Gelassenheit wahr, spürte die gönnerhaften Blicke, die er ihr zuwarf und kochte innerlich.

Sie griff nach dem Zigarettenetui, das am Tisch lag, schüttelte eine heraus und zündete sie an, in einem letzten Versuch, ihn aus seinem unerschütterlichen Gleichmut herauszuholen, der sie wieder einmal bis aufs Blut reizte. Sie nahm einen tiefen Zug, legte den Kopf zur Seite, schob sich mit den Fingerspitzen die Locken aus der Stirn und erwiderte seine Blicke mit affektierter Miene. Dann schüttelte sie den Kopf, als sei sie verwundert über die kruden Ideen, mit denen er sich herumschlug, stieß den Rauch aus und wedelte mit der Hand vor ihren Augen, als müsste sie einen Schwarm Mücken verjagen.

»Einen Buchhalter wird er dort nicht brauchen.«

»Er hat mich gefragt, weil wir zusammen in die Schule gegangen sind. Vermutlich will er über alte Zeiten reden.« Jeremy grinste verlegen. »Vielleicht wird er langsam sentimental. Besinnt sich auf alte Werte.«

Er stieß sich vom Fenster ab, kam zum Tisch und begann die Teller abzuräumen.

»Seine Frau geht fremd, wusstest du das?«, sagte sie, und schaute zur Seite. »Sie trifft sich mit dem Direktor meiner Hausbank. Ich habe sie aus seinem Büro kommen gesehen. Sie hat sich den Rock gerichtet und eine Kusshand hinterhergeschickt, bevor sie die Tür geschlossen hat. Ich sollte eigentlich im Foyer warten, hatte es aber eilig und dachte, ich kann auch im Vorzimmer warten. Sie ist ziemlich erschrocken, hat dann verlegen gegrüßt und ist an mir vorbeigerauscht. Mit erhobenem Kopf und einem trotzigen Gesichtsausdruck, als ob sie sagen wollte, es wäre ihr egal, was ich gesehen habe. Vermutlich haben sie ein bisschen gefummelt, zu mehr wird die Zeit nicht gereicht haben.«

»Ist ja ein Ding«, erwiderte Jeremy, drehte seiner Frau den Rücken zu und grinste verschämt. Heimos Frau würde er auch gerne flachlegen. So eine kleine Nummer mit ihr am Schreibtisch, das wäre schon was, dachte er, wollte aber nicht darauf eingehen.

»Vielleicht braucht er jemand zum Reden«, sagte er leichthin, und stellte die Teller in der Spüle ab. »Er kennt zwar alle möglichen Leute, aber mit wem sollte er darüber reden, ohne dass sie sich sofort das Maul zerreißen. Er hat sicher auch von den Gerüchten gehört. Mag sein, dass er es sogar weiß und es loswerden will.«

Marion dachte darüber nach, ob sie weiter darauf herumreiten wollte oder ihn ziehen lassen sollte. Er brauchte ihr Geld nicht, also würde er ohnehin gehen, außerdem wäre sie ihn dann eine Weile los.

Ihre Gedanken wanderten weiter zu diesem Bankdirektor und ihr wurde klar, dass eine kleine außereheliche Beziehung auch für sie eine durchaus interessante Option wäre. Sie blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft, starrte auf die blaue Wolke, die sich unter der Decke sammelte und kam zu dem Schluss, dass damit auch in ihr Leben wieder etwas Schwung kommen würde. Aber nicht durch den Direktor ihrer Bank. Da gäbe es ansehnlichere Männer in der Stadt.

Sie dämpfte die Zigarette im Aschenbecher aus, drehte sich zur Seite, ließ den Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls hängen und begann im Kopf eine Liste zu erstellen, die sie im Lauf der Woche eingrenzen würde.



* * *



Die bewaldeten Höhenzüge über der Tara-Schlucht lagen abends um zehn im Dunklen. Es war kalt. Das Tal, die Felsen und Bäume schimmerten im kühlen Mondlicht. Aus der Lichtung, auf der die Blockhütte von Heimo Börnstein stand, stiegen Nebelschwaden und wanderten langsam nach Norden in Richtung des Flusses. Die Luft roch nach den feuchten Wiesen ringsum, der schwarzen Erde des Waldes und den Kiefern, die sich weit über den Horizont erstreckten. Eine Eule schlüpfte aus einem Loch im Dachfirst, rief in die anbrechende Nacht und schwebte mit ausgebreiteten Schwingen auf einen Ast zu, hoch in den Bäumen. In der Stille danach konnte man den Wind hören, der durch die Äste strich und unter den Sparren seufzte.

Tief unten im Keller schlug Verena Brooks die Augen auf, hustete und spuckte Schleim aus. Sie spürte, wie ihr das Zeug über die Wange lief, blinzelte ein paar Mal, während die Augen versuchten, das finstere Schwarz zu durchdringen, das sie umgab. Ganz still lag sie da und ließ die Geräusche, den Geruch, die Wärme und die Dunkelheit, die sie umgab, auf sich wirken. Die Luft roch nach Schweiß, schmutziger Kleidung und staubigem Holz. Ihr Herz pochte wild, sie fühlte sich schwach, alles drehte sich, ihr war übel und sie hatte Angst.

Behutsam drehte sie den Kopf und stöhnte unter den hämmernden Schmerzen, die sich augenblicklich zwischen ihren Schläfen einstellten. Riss die Augen auf, drückte sie fest wieder zu und öffnete sie erneut.

Nichts.

Das Dunkel um sie herum war undurchdringlich und massiv, wie eine Mauer.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war, doch ihr Verstand spielte nicht mit, alles wirkte verschwommen, in Watte gepackt. Sie wusste nicht einmal sicher, ob sie wachte oder schlief, es fühlte sich an, als ob sie in einem schrecklichen Traum gefangen wäre. Vorsichtig tastete sie mit den Händen über ihren Bauch, die Brüste, den Hals, und merkte, als ihre Finger den Kopf erreichten, dass über ihr Holz war. Es fasste sich an, wie unlackierte Regalbretter. Beinahe konnte sie die feine Maserung spüren, die glatten Stellen, an denen Äste verwachsen waren. Sehr langsam formten sich einzelne Erinnerungen vor ihren Augen. Ein schwarzer Wagen, eine kühle Flasche Wasser, die nach Orangen schmeckte. Ein Boot in Zadar.

Ihre Eltern hatten ein altes Segelboot aus Holz gehabt. Sie waren an den Wochenenden oft am Meer gewesen, zum Segeln, hatten die Nacht über im Boot verbracht. Sie in der Hundekoje, ein enger Schlafplatz, der gerade mal für schlanke Menschen reichte, in der man sich eben noch umdrehen konnte. Ihre Finger tappten über ihr, neben ihr, unter ihr. Sie atmete aus und merkte, dass sie die Luft angehalten hatte.

Ein Boot, dachte sie. Der Mann, zu dem sie in den Wagen gestiegen war, hatte sie in sein Boot gebracht. Deshalb die Enge.

Sie bewegte den Kopf und lauschte. Irgendetwas passte nicht in dieses Bild. Das sanfte Bewegen der Wellen fehlte genauso, wie das Rauschen des Wassers, das Knarren und Ächzen des Holzes.

Die Stille um sie herum war unendlich.

Verena versuchte sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, rutschte nach vorne und stieß nach einer Handbreit Platz auf Widerstand. Sie rutschte nach hinten und stieß ebenfalls an eine Wand. Ihre Hände suchten nach einem Ausstieg über ihr.

Vergeblich.

Ich bin in keinem Boot, ich bin in einer Holzkiste, durchfuhr es sie. Ich stecke in einem Sarg. Ich muss hier raus. Und im selben Moment erfasste sie eine Welle von Panik.

Sie holte tief Luft, versuchte zu schreien, schaffte es aber nicht, mehr als ein Ächzen, gepaart mit dumpfen Lauten hervorzubringen, während sich ihr Bauch anfühlte, als flatterten dort große Vögel. Ihr war klar, dass Panik alles nur noch schlimmer machte. Sie musste jetzt logisch vorgehen, mit dem wenigen arbeiten, was sie wusste. Also befahl sie sich zur Ruhe, konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und atmete tief ein und aus. Nach einer Weile wurde sie tatsächlich ruhiger.

Verena zwang ihren Verstand zum Nachdenken. Versuchte, alles zusammenzutragen, was sie an Informationen hatte. Der Typ war Karl Baur und auf dem Weg nach Zadar, zumindest hatte er ihr das gesagt. Sie hatte eine WhatsApp-Nachricht an ihre Freundin, Susan geschickt, das hatte sie doch, oder nicht? Sie konnte nicht klar denken, sich nicht erinnern, sie weggedrückt zu haben.

Da war das freundliche Gesicht dieses Kerls, die Flasche, der Durst, das Unverständnis, als die Welt begann sich zu verzerren, zu verrinnen. Aber keine Erinnerung mehr, ob sie es geschafft hatte, die Nachricht abzuschicken.

Verena hatte schon so viele Thriller gelesen und gesehen, in denen genau dies mit einfältigen Mädchen geschah, aber niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass ausgerechnet ihr das passieren könnte.

Niemals.

Sie schluckte schwer, atmete hechelnd ein und aus und versuchte, die aufsteigende Woge der Angst zu unterdrücken. Vielleicht war alle Luft, die ihr blieb, hier drinnen und sie musste sparsam damit umgehen. Sie verspürte wahnsinnigen Durst, fühlte sich klein und hilflos, verzweifelte erneut.

Denk nach, befahl sie sich. Denk nach!

Sie war betäubt und in eine Art Holzkiste gesperrt worden. Sie spürte, dass die Kiste offensichtlich lag.

War sie womöglich unter der Erde, in einer Art Sarg lebendig begraben?

Allein die Vorstellung lähmte sie vor Entsetzen. Mit zehn hatte ihre Mutter sie manchmal geschlagen und dann ohne Essen und Trinken in einen Schrank gesperrt. Als Strafe für alle möglichen Dinge.

Die Enge machte ihr keine Angst, aber was war, wenn keiner da war, sie herauszuholen? Musste sie verhungern, verdursten, ersticken, war die Luft irgendwann zu Ende?

In ihrem Bauch erwachten die Vögel aufs Neue und flatterten nervös.

Würde sie überhaupt jemand suchen, wenn niemand wusste, wo sie war?

Sie tastete nach ihrem Handy, der Verbindung nach draußen, rollte sich herum, aber ihre Taschen waren leer. Kein Handy, keine Brieftasche, nicht mal ein Taschentuch hatte er ihr gelassen. Sie trat mit den Füßen gegen das Holz. Es rührte sich keinen Millimeter, als wäre die Kiste von allen Seiten zugenagelt oder unter einer dicken Schicht Erde begraben.

Verena spürte, wie die Panik zurückkam. Sie klopfte mit den Fersen gegen das Holz, hämmerte mit den Fäusten dagegen, wohl wissend, dass sie nichts ausrichten konnte und schrie gellend um Hilfe.

»Hör gefälligst auf, gegen die Kiste zu treten, hier unten hört dich ohnehin keiner.«

Verena erstarrte.

Da war jemand draußen, die Stimme klang dumpf in ihrem hölzernen Gefängnis, also doch nicht vergraben. Ihr Herz fing an zu rasen. Sie versuchte erneut, zu schreien, brachte aber nur einen erstickten Laut hervor.

»Es dauert nicht mehr lange. Ich hole dich sofort da raus.«

Was dauerte nicht mehr lange? Bis sie befreit wurde, bis sie starb? Und was war, wenn er sie rausholte? Würde er sie vergewaltigen, schlagen oder foltern. Die Welt war voll von kranken Typen.

Kalte Schauer der Angst krochen in ihr hoch. Sie spürte, wie ihr übel wurde. Wie sie trotz der kühlen Temperatur in ihrer Kiste am ganzen Körper schwitzte, ein Angstschweiß, der sich wie Morgentau auf ihre Haut legte. Sie rührte sich nicht mehr, hatte Angst sich bemerkbar zu machen.

Ich muss versuchen, mit ihm zu reden, dachte sie. Wenn sie reden könnte, würde sie ihn vielleicht überzeugen können, sie freizulassen. Das konnte sie gut, mit Leuten reden. Sie hatte ein sonniges Gemüt, die meisten Menschen fanden sie sympathisch. Wenn sie nur die Chance zu sprechen bekäme. Wenn sie doch nur reden könnte.

Erneut hämmerte sie mit den Fäusten gegen das Holz, machte noch mehr Lärm. Allmählich breitete sich Hysterie in ihr aus.

»Lass das, das wird dir nicht helfen.«

Verena verharrte, versuchte der Angst, die sie umklammert hielt, Herr zu werden.

Soll ich klopfen oder warten, soll ich mich wehren oder Stille bewahren. Tausend Gedanken stoben in ihrem Kopf durcheinander, wie Funken, die über einem Lagerfeuer tanzten und waren plötzlich verschwunden, der Kopf wie leergefegt, als sie Schritte näherkommen hörte. Im nächsten Moment wurde der Deckel der Kiste hochgehoben und blendend helles Licht stach ihr in die Augen. Sie blinzelte erschrocken und streckte die Hände hoch, um sich zu schützen, und sei es nur vor dem grellen Licht.

Blaue Augen sahen mitleidlos auf sie hinunter. Der Kerl, der sich Peter Baur genannt hatte, packte sie an den Armen, zerrte sie heraus und warf sie wie einen Sack Getreide über die Schulter.

»Komm, lass uns ein bisschen Spaß haben.«



* * *



Am nächsten Morgen stand Heimo Börnstein vor dem hell beleuchteten Spiegel im modern eingerichteten Bad seiner Blockhütte und tupfte mit einem Wattebausch an einer Schramme über dem linken Auge.

Die verdammte Schlampe hat mich gestern gekratzt, fluchte er und drehte den Kopf von links nach rechts und zurück. Er tupfte noch einmal, obwohl längst kein Blut mehr floss und kam zu der Überzeugung, dass es ihn nicht störte. Das war ein Ast, dachte er. Schließlich bin ich im Wald auf der Jagd und streife herum. Dabei habe ich noch Glück gehabt, das hätte auch ins Auge gehen können. Er lachte erheitert, als er die doppelte Bedeutung seiner Gedanken bemerkte, stieg in die Dusche und genoss das heiße Wasser auf seiner Haut. Danach zog er frische Sachen an, schlüpfte in halbhohe Stiefel und ging in die Küche, um sein Frühstück zuzubereiten.

Er schaltete die Kaffeemaschine ein, briet in einer Pfanne Speckstreifen und schlug ein paar Eier hinein. Durch die Fenster konnte er die Bäume sehen, die so hoch waren, als ragten sie in den Himmel. Die Morgenbrise wiegte sie sachte hin und her. Zufrieden säbelte er drei dicke Scheiben Brot ab, strich Butter darauf, setzte sich an den Tisch und begann zu essen.

Die Sonne lugte zwischen den Bäumen hervor, vertrieb die letzten Nebelfetzen und tauchte die Lichtung und die Hütte in weiches Licht. Der Wind legte zu, verblies die Auspuffgase des Dieselaggregats hinter dem Haus und als es stillstand, legte sich wieder die Ruhe des Morgens über den Wald.

Nachdenklich ließ Heimo den Blick durch den Raum schweifen. Er liebte diese Hütte, das Leben hier draußen und alles, was damit einherging. Hier war er ganz er selbst, brauchte sich nicht verstellen, verbiegen, ein anderer sein. Kein Lächeln, kein Danke, nur nehmen, was ihm zustand.

Er wischte mit der letzten Brotkrume seinen Teller sauber, trank den Kaffee aus und räumte das Geschirr in die Spüle.

Eine halbe Stunde später ging er für einen letzten Kontrollgang durch die Hütte, sein ritueller Abschied. Rüttelte an den Fensterläden, stellte ein Buch zurück ins Regal, warf einen Blick in die Bar, stellte Strom und Gas ab und blieb an der Kellertür stehen. Er ertappte sich bei dem Gedanken, vor der Fahrt nach Hause dem Mädchen einen Besuch abzustatten.

Seine Hand schwebte über dem Türgriff. Er wollte sie wegziehen, brachte es aber nicht fertig, und mit einem Mal sah er sein bisheriges Leben, das zu Hause auf ihn wartete, vor sich. Er spürte, wie sein Herz schlug, wie sich seine Brust hob und senkte und richtete sich auf. Er hatte plötzlich einen trockenen Hals, während sich seine Hand feucht anfühlte. Irgendetwas stimmte mit der Schlampe nicht, passte nicht ins Bild. Ihm war, als ob er ein paar Dinge übersehen hätte, die ihm später Kopf und Kragen kosten könnten.

Heimo wischte mit der Hand über sein Gesicht und kam zu dem Schluss, dass es wohl nicht der richtige Zeitpunkt war, um jetzt hinunterzugehen. Er wandte sich ab und fragte sich, was ihn beunruhigt und nachdenklich gestimmt haben könnte.

Sie hat fünf Flaschen Wasser, Brot, Wurstsalat und Käse in Plastikbehälter für fünf Tage, sowie ein paar Bananen, dachte er. Das müsste reichen.

Er hatte vor, in drei Tagen wiederzukommen, aber falls ihm etwas dazwischenkam, sollte sie möglichst noch am Leben sein, wenn er nach ihr sah. Sie würde ihm sonst den Spaß verderben und er seinen Ärger am nächsten Opfer auslassen. Seine dunkle Seite.

Die Suche nach einem geeigneten Mädchen war das Schwierigste an der Sache. Sie sollte möglichst hübsch sein, nicht zu alt und nicht zu jung. Kinder kamen nicht in Frage. Er war kein pädophiles Schwein, der sich mit Kindern vergnügte. Des Weiteren sollte sie freiwillig ins Auto steigen, damit es nicht nach Entführung aussah.

So leicht, wie diese Verena Brooks fielen sie ihnen meist nicht in die Hände. Sie hatten auch schon mal eine Woche nur auf die Jagd gehen können, wie ganz normale Touristen, weil sie kein Mädchen gefunden hatten, das ihren Anforderungen entsprach.

»Holen wir uns doch eine Nutte«, hatte Reinhard vorgeschlagen.

»Besser nicht. Nutten sind organisiert. Du weißt nicht, ob ihr Zuhälter hinter der nächsten Ecke steht und dein Nummernschild notiert. Außerdem beobachtet dich in der Stadt immer irgendjemand. Sie können nicht schlafen, gehen mit ihrem Hund spazieren oder kommen von einem nächtlichen Rendezvous und du übersiehst sie, aber sie sehen dich.«

»Es interessiert sich doch keiner für mich.«

»Und wenn doch? Willst du die Bullen am Hals haben oder schlimmer, ihre Zuhälter? Die sind brutal. Die ziehen dir die Haut vom Leib, weil sie die Mädchen als ihr Eigentum ansehen. Dann landen wir selbst in unserem Keller und sind ihnen ausgeliefert. Danke, das brauche ich nun wirklich nicht.«

»Okay, okay. Also ziehen wir durch die Gegend und schnappen uns eine, die uns über den Weg läuft.«

»Genau. Es darf keine Muster geben, nichts, um die Polizei auf den Plan zu rufen. Jeden Tag verschwindet jemand, wird vermisst. Nie in der gleichen Gegend zuschlagen, nie erwischen lassen, das ist der Plan.«

Er trat hinaus in den Morgen, ging zu seinem Wagen und öffnete die Beifahrertür. Schaute unter den Sitz, fuhr mit der Hand die Seiten entlang und nickte erleichtert. Alles sauber.

Einmal hatte eines der Mädchen ein Päckchen Taschentücher verloren und seine Frau es gefunden. Sie hatte sich gewundert, dass er diese Sorte billiger Taschentücher benutzte.

»Die habe ich an irgendeiner Tankstelle gekauft, um die Scheinwerfer zu putzen«, hatte er geantwortet. »Die waren so grau, dass ich nichts mehr gesehen habe. Habe sie in den Wagen geworfen und vergessen.«

Eine unbedeutende Kleinigkeit, aber Heimo war sich bewusst, dass Kleinigkeiten die Arroganten zu Fall brachten. Seit diesem Tag kontrollierte er den Wagen vor jeder Fahrt von der Hütte weg und sei es nur, weil er in die nächstgelegene Stadt fuhr.

Die Sonne blinzelte zwischen den Bäumen hindurch und warf tanzende Schatten in den Wagen. Er biss sich auf die Lippen. Sein Schädel brummte von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf. Es war gestern spät geworden. Er streckte und dehnte sich, fuhr los, schob eine CD von AnnetteLouisan in den Player, summte die Anfangsmelodie von ›Die Gelegenheit‹ mit und lachte befreit.

Es war trotz allem ein gutes Wochenende, dachte er. Und wie sollte ihm die Kleine auch gefährlich werden? Sie war gut versorgt, hatte keine Chance zu entkommen und würde ihnen noch viel Spaß bereiten.

Heimo war überzeugt, dass die nächste Woche einiges zu bieten hatte.



* * *



Zitternd und zu einer kleinen Kugel zusammengerollt kauerte Verena Brooks unter einer Decke, die nach Moder und Fäulnis roch. Es war dunkel, still und kalt, und sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ihr war schwindlig, übel, jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte, wie nach einem Fieberkrampf und ihre Kehle fühlte sich wund vom Schreien an, als hätte sie Kerosin geschluckt. Dazu kamen die Scham und das Gefühl der Erniedrigung. Ihr Entführer hatte sie in der ersten Nacht mehrmals vergewaltigt. Das war ein paar Tage her, wie viele wusste sie nicht und brannte dennoch wie ein höllisches Feuer in ihr. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie bereits eingesperrt war. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass sie Angst hatte, schreckliche Angst.

Sie fragte sich, ob sie in einer Stadt war oder auf dem Land. Warum sie keiner hörte, ihre Schreie, ihre Angst, und niemand kam, um sie zu befreien. Sie lauschte in die Dunkelheit, aber nur ihr eigenes Keuchen war zu hören.

Allmählich dämmerte sie wieder weg, bis das Zucken der Lampe sie weckte. Der Raum hatte keine Fenster und die schwache Glühbirne an der Decke ihrer Zelle erzeugte mehr Schatten als Licht. Dazu kam, dass sie meist unstet flackerte und immer wieder ausging. Sie ließ ihr gerade mal so viel Zeit, dass sie den Raum untersuchen konnte. Er war klein, drei Mal drei Schritte, hatte nackte Ziegelwände, Betonboden und vorne massive Metallstäbe, wie ein Raubtierkäfig. Hinten stand ein Stahlrohrbett, das am Boden verschraubt war und in der Ecke ein Eimer mit Deckel, der nach Fäkalien stank.

Irgendwann rutschte sie vom Bett und tastete sich durch die Dunkelheit, auf der Suche nach den Schüsseln, die sie vor langen Stunden im spärlichen Aufflackern des Lichts dort gesehen hatte. Ihr Mund war trocken vor Durst, die Zunge pelzig. Sie fühlte, wie sich ihr leerer Magen vor Hunger zusammenzog.

Wenn ich überleben will, muss ich zumindest essen und trinken, dachte sie, und überwand ihren Stolz und den Ekel, vor all den Dingen, die er angefasst hatte. Sie konnte noch seinen Schweiß auf ihrer Haut riechen, sein heiseres Flüstern hören und den Schmerz spüren, den er ihr zugefügt hatte.

Denn sie wollte überleben. Die Tortur überstehen und ihren Peiniger zur Rechenschaft ziehen. Dieser Keller, das Abteil, seine Art, wie sie ihm in die Falle gegangen war, sagten ihr nur zu deutlich, dass sie nicht die Erste war, die er hier eingesperrt hatte.

Ich werde nicht sterben, dachte sie, und merkte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Ich werde leben und dich zur Strecke bringen. Ihre Augen bohrten sich in die Dunkelheit und sie spürte, wie sich die Angst in Hass und Verachtung wandelte. Sie fand die Schüsseln und die Flasche mit Wasser, schnupperte daran und trank gierig daraus. Riss mit fliegenden Fingern den Deckel von der Schüssel und stopfte sich das Essen in den Mund, bis sie würgte. Sie vermeinte ein Geräusch zu hören und hielt den Atem an, aber es war nur das Rasseln ihres Atems. Ihr eigenes Herz, das laut in ihrer Brust schlug und sich anfühlte, wie ein zitterndes Vogelkind, untermalt vom Rauschen ihres Blutes in den Ohren.

Verena kroch auf allen Vieren zum Bett zurück, rollte sich unter der Decke zusammen und betete, aber kein Gott wollte sie hören.





Zwei





Vanessa Harrer trat aus dem Regen, der die letzten Minuten nachgelassen hatte und nur noch in schmalen Rinnsalen von den einheitlich gleichen Balkongeländern rann, das die Häuserfronten entlang der Straße zierten. Eine kleine Wohnung neben der anderen. Für jede Wohnung ein eigener Balkon. Nur die Menschen und Schicksale hinter den Fenstern waren andere. Die Luft war sauber, kühl und roch nach nassen Straßen und feuchter Erde, die sich an den Rändern des Bürgersteigs gesammelt hatte und während sie in den Schutz des Gebäudes trat, konnte sie im Grau der Abenddämmerung die Parkbänke an der Promenade sehen. Der Sturm hatte sich gelegt, die Birken und Kastanienbäume standen tropfend und schwarz entlang des Weges, ein leichter Wind fuhr durch ihre Blätter und rüttelte Wasser auf den kiesgestreuten Weg darunter. Die Kellner hatten vor dem Kaffeehaus gegenüber die Stühle übereinandergestapelt und an die Hauswand gestellt, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Die Fenster dahinter waren dunkel, das Kaffeehaus geschlossen.

Vanessa schüttelte die Tropfen von ihrem Regenschirm, klappte ihn zusammen und lief die Treppe hoch in den dritten Stock. In das alte Haus mit den ausgetretenen Steintreppen, ohne Aufzug, dafür waren die Mieten gering, auch für junge Menschen erschwinglich. Sie trug eine weiche brombeerfarbene Lederjacke, Jeans und schwarze, halbhohe Stiefel. An ihren Handgelenken klimperten schmale goldglänzende Armreifen. Ihre dunklen Locken waren zu einem straff am Kopf sitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden, der von einem einfachen Gummiband zusammengehalten wurde. Sie trug kein Make-up. Ihre grünen Augen strahlten klar und voll Vorfreude. Um ihre Lippen spielte ein feines Lächeln, während sie unwillkürlich den Riemen ihrer ledernen Umhängetasche höher über die Schulter schob.

Zwei Minuten später stand sie etwas atemlos vor der Wohnungstür ihrer Freundin, drückte die Klingel, lauschte auf das Geräusch der Regentropfen, den der Wind an die Fenster des Treppenhauses warf und wartete, bis sich der Schlüssel im Schloss der Tür vor ihr drehte.

»Hallo Katja, Überraschung!«

»Vanessa«, erwiderte diese verdutzt und trat zurück, um ihre Freundin eintreten zu lassen. »Schön dich zu sehen. Was treibt dich bei diesem Wetter aus dem Haus?«

»Unser Urlaub. Ich habe jetzt endlich gebucht«, antwortete Vanessa, schlüpfte aus ihrer Jacke, den Stiefeln und umarmte die Freundin, drückte sie fest an sich und folgte ihr ins Wohnzimmer. Ohne zu zögern, zog sie die Prospekte und Unterlagen aus der Tasche und breitete sie auf dem niedrigen Tischchen vor der Ledercouch aus.

»Nachdem wir uns zuletzt nicht einigen konnten, ob wir ans Meer oder in die Berge fahren, habe ich eine Tour zusammengestellt, bei der für jede von uns etwas dabei ist.« Sie breitete die Arme aus. »Et voilà – hier ist sie.«

Katja Teichmann stand vor dem Tisch und schaute auf die bunten Folder hinab. Vor den gedeckten, kühlen Farben ihrer Wohnung wirkten ihre lavendelfarbene Bluse und der weiße Rock wie ein vornehmes Äquivalent. Sie war eine große, schlanke Frau, die mit ihren dunklen Augen und einer Kurzhaarfrisur reifer anmutete, als sie war. Sie strich sich mit der Hand über den Nacken, beugte leicht den Kopf, um die Bildunterschriften zu lesen, fuhr dann gedankenverloren mit den Fingern die Ränder der schmalen Mappen entlang und schien Vanessa, die abwartend neben ihr stand, überhaupt nicht wahrzunehmen.

»Weiß Nicoletta davon? Hast du schon mit ihr geredet?«

»Ich habe ihr gesagt, dass wir uns bei dir treffen. Das geht doch in Ordnung, oder nicht?«

»Doch, doch«, versicherte Katja und sah hoch. »Ich mache uns inzwischen Kaffee.«

»Danke, du bist ein Schatz. Ich habe übrigens Kapseln mitgebracht.« Vanessa wühlte in ihrer Tasche und reichte Katja zwei längliche Schachteln. »Italienische Mischungen. Venetia und Ristretto.«

»Perfetto«, lächelte Katja und verschwand in der Küche.

Als es wenige Minuten später an der Tür klingelte, sprang Vanessa auf und lief in den Flur. »Ich bin schon da«, rief sie laut, öffnete die Wohnungstür und lachte freudig.

Vor ihr stand Nicoletta Grimm und schaute sie verwundert an. Barfuß. Regentropfen liefen an ihrem neongelben Poncho herunter. Sie war zierlich und auffällig schön, mit dunklem Haar und feinen Gesichtszügen, einzige Tochter einer italienischen Mutter und eines deutschen Vaters. Sie war knapp einssiebzig, ihr schulterlanges, leicht gewelltes Haar, hatte sich aufgrund der Feuchtigkeit etwas gekräuselt.

»Hallo Vanessa. Gibt es irgendetwas Besonderes, das wir feiern müssen? Fährst du jetzt doch mit uns ans Meer? Hast du dich verliebt oder Katja einen neuen Freund? Du klangst so aufgekratzt am Telefon.«

Vanessa schüttelte den Kopf und hob die Brauen. »Nein, nichts von alledem. Ich möchte euch unsere Urlaubspläne präsentieren, die ich etwas eigenmächtig entschieden habe. Ihr müsst sie bloß noch absegnen.« Sie starrte einen Moment auf Nicolettas Füße, um die sich Wasser sammelte, dann bemerkte sie die Sportschuhe, die neben der Türmatte standen und lächelte.

»Ich dachte, du bist barfuß gekommen«, lachte sie. Ihre Hand ging zum Mund und sie streckte ihr ungeachtet der Wassertropfen, die über Nicolettas Poncho liefen, die Arme entgegen und drückte sie herzlich. »Komm herein, ich bin auch erst ein paar Minuten da. Katja macht uns Kaffee.«

»Schön, ich habe ein paar Kapseln mitgebracht.« Nicoletta schlüpfte aus dem Poncho und lief in die Küche, um Katja zu begrüßen. »Die Goldenen«, rief sie, umarmte ihre Freundin und schnupperte mit erhobener Nase.

»Mein Tag ist gerettet. Ich komme wohl gerade rechtzeitig. Mein erster richtiger Kaffee seit dem Frühstück. Bei uns im Büro gibt es zwar eine Maschine und sie nennen die Brühe Kaffee, aber außer bitter und schwarz kann die gar nichts.«

»Klein, stark und heiß.« Katja stellte die dampfenden Tassen auf ein Tablett, neben Milch, Zucker und dunklen Keksen, warf Nicoletta ein verständnisvolles Lächeln zu und brachte alles ins Wohnzimmer.

Vanessa saß am Tisch und blätterte in den Prospekten. Sie hob erfreut den Kopf, als Katja hereinkam und legte die Folder zur Seite.

»Wie ich Katja vorhin gesagt habe, nachdem wir uns bis zuletzt nicht einigen konnten, wo wir dieses Jahr unseren Urlaub verbringen werden und unsere finanzielle Situation ohnehin keine großen Sprünge erlaubt, habe ich mir überlegt, dass wir auf einer Reise beides verbinden könnten. Berge und Meer, Camping und Hotel.« Sie schaute die Freundinnen mit großen Augen an, gab einen halben Löffel Zucker in ihre Tasse und rührte heftig darin.

Katja kippte einen Schluck Milch in den Kaffee, hob die Tasse an die Lippen und sah Vanessa fragend an. »Das heißt, wir fahren jetzt doch gemeinsam auf Urlaub?« Sie warf einen Blick auf die Folder.

»Ja. Erst nach Montenegro und dann Kroatien.«

»Kroatien hört sich auf jeden Fall interessant an. Ich war mit meinen Eltern als Kind dort am Meer, kenne aber nur die Küste und kann mich an die weiten Hochebenen erinnern, die wir entlanggefahren sind, bevor es wieder hinunter an die Küste ging.« Ihre Augen verengten sich. »Eine karge Landschaft. Da oben gibt es nichts als Steine und Hitze.«

»Du denkst an die Plitvicer Seen, nicht wahr«, warf Nicoletta ein. »Die sind doch im Sommer völlig überrannt. Nichts als Touristen, man kann bloß rundherum gehen oder besser sich über die Wege schieben lassen.« Sie zog an einer Haarsträhne und schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich weiß, dass du die Berge liebst und uns unbedingt daran teilhaben lassen willst. Beim Meer bin ich dabei, aber die Seen schlag dir bitte aus dem Kopf. Die sind sicher wunderschön, mit viel Grün und Bergen drum herum, aber langweilig. Das ist Touristenabzocke.«

»Nicht die Plitvicer Seen. Die sind in Kroatien und Familienkram«, erwiderte Vanessa und hob die Hände. »Ich möchte etwas erleben. Spaß und Action. Wir fahren erst nach Montenegro, gehen dort die Tara-Schlucht hoch und befahren anschließend den Fluss mit dem Kanu. Danach geht es nach Kroatien an die Küste, ans Meer.«

»Tara-Schlucht? Nie gehört.« Katja klopfte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an die Lippen. Unentschlossen griff sie nach einem Folder und blätterte ihn durch. Auf schmalen Hochglanzseiten waren schöne Bilder mit türkisgrünem Wasser, weiten Wäldern, tief eingeschnittenen Schluchten und glücklichen Menschen zu sehen und deren Attraktionen und Sportmöglichkeiten in drei verschiedenen Sprachen angepriesen.

»Eine Wanderung diesen Fluss entlang könnte ich mir gut vorstellen, aber ich bin noch nie mit einem Kanu gefahren«, verkündete Nicoletta und unterbrach sich einen Moment. »Da fällt mir ein, mit Kurt, meinem Ex-Freund, bin ich einmal in Tirol mit einem Raftingboot auf einem Fluss gefahren. Das war cool.«

»Ein Kanu ist etwas anderes«, erklärte Vanessa, mit leisem Zögern in der Stimme. »Es ist nicht so wild. Außerdem ist die Tara in diesem Abschnitt gut zu bewältigen, eine ruhige Strecke. Ich kann einigermaßen Kanu fahren. Ich bringe euch gut durch.«

»Einigermaßen?«, warf Katja ein, die das Gespräch mit wachsendem Interesse verfolgt hatte und hob die Augenbrauen. »Wie gut ist einigermaßen? Du musst wissen, ich bin noch nie in einem Kanu oder einem Raftingboot gesessen.« Sie rang sich ein verzagtes Lächeln ab.

»Na ja, ich würde sagen, die Tara ist im Sommer ›Wildwasser 2 - 3‹ und bis ›Wildwasser 4‹ komme ich zurecht.«

»Das sagt mir jetzt gar nichts.« Katjas Lächeln verschwand.

»Das ist eine Einteilung in Schwierigkeitsstufen. Damit sich Kanufahrer ein Bild davon machen können, was sie erwartet. Ein Fluss fährt sich bei Hochwasser anders als bei Niedrigwasser. Deshalb gibt es Wasserkarten, die bestimmte Schwierigkeitsstufen ab einem gewissen Pegelstand ausweisen.«

»Oh, alles klar. Und wie weit geht diese Skala?«

»Bis ›Wildwasser 5‹ kann man fahren, ›Wildwasser 6‹ ist Lebensgefahr.«

»Zwei bis drei also. Gut, ich vertraue dir.« Katja senkte den Blick. »Tragen wir auch Schwimmwesten?«

»Natürlich. Das ist Vorschrift«, beteuerte Nicoletta und schaute Vanessa bedeutungsvoll an. »Zumindest beim Rafting.«

Vanessa nickte bestätigend. »Kein Kanuverleih ohne Sicherheitsausrüstung. Helm, Schwimmweste, Sicherungsleine. Nicht anders, als beim Rafting«, beeilte sie sich hinzuzufügen und spürte, wie die unterschwellige Erkenntnis, dass sie ihre Freundinnen allmählich überzeugen konnte, sie zuversichtlich stimmte.

Nicoletta lachte beruhigt und Katja atmete erleichtert auf. »Dann bin ich dabei.«

»Wir fahren mit dem Auto bis Mocra Gora. Das sind etwas mehr als tausenddreihundert Kilometer. Und wenn wir uns mit dem Fahren abwechseln, können wir die Nacht durchfahren.« Vanessa war in ihrem Element, hob ein wenig die Stimme und beugte sich nach vor.

»Ich kann in der Nacht keine großen Strecken fahren, ich sehe in der Nacht fast nichts. Außerdem dachte ich, wir fahren mit der Bahn«, rief Katja dazwischen.

»Das habe ich mit eingeplant, Katja. Du fährst tagsüber, Nicoletta und ich ab dem Abend und am Morgen. Dann verlieren wir keine Zeit mit der Anreise. Ich habe fliegen oder die Bahn überlegt, aber das wäre zu umständlich und wir wären nicht flexibel«, erklärte Vanessa geduldig. »In Mocra Gora geht ein Bus in die Berge. Da fahren jeden Sommer unzählige Touristen hoch, um zu wandern oder mit dem Kanu die Flüsse hinunterzufahren.« Sie sah von Nicoletta zu Katja und wartete auf einen Einwand, aber die beiden lauschten interessiert ihrer Erläuterung.

»Wir werden drei Tage wandern, die Übernachtungen sind gebucht, wir schlafen nicht im Zelt oder unter freiem Himmel«, lachte sie und versuchte in Katjas Miene zu lesen.

»Auf gar keinen Fall«, schnaubte diese und Nicoletta schmollte.

»Also ich würde lieber im Zelt schlafen.«

Vanessa lächelte sie über ihre Kaffeetasse an und schaute zum Fenster. Der Regen hatte endgültig aufgehört. Aus einem Wolkenfenster sandte die Sonne letzte Strahlen durch die halb zugezogenen Gardinen und malte kleine zitternde Kreise auf Katjas Teppichboden. Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr.

»Das haben wir alles schon einige Male besprochen. Wir haben genug Gepäck zu tragen und ihr wolltet nicht auch noch ein Zelt, Schlafmatte und Schlafsack schleppen.«

»Und die Unmengen an Gelsenspray nicht zu vergessen«, lachte Katja und wurde ernst. »Außerdem möchte ich in der Nacht nicht von einem Wolf überrascht werden.«

»Es gibt keine Wölfe in unseren Wäldern«, erwiderte Vanessa überzeugt.

»Oh doch. Sie haben im Norden von Österreich Wölfe ausgesetzt und die verbreiten sich seitdem überall«, gab Nicoletta zu bedenken. »Sie sind die Alpen entlanggewandert und natürlich in Tschechien und im bayrischen Wald. Da ist viel Gegend und sind wenig Menschen. Das sind ideale Bedingungen für sie. Sie sind sicher auch die Karnischen Alpen hinunter gewandert. Warum sollten sie vor Montenegro haltmachen.«

»Gut, das Problem werden wir nicht haben, unter Tags sind sie scheu und nachts sind wir nicht mehr draußen«, beschwichtigte Vanessa, schloss einen Moment die Augen und fügte rasch hinzu. »Mit der Unterkunft ist auch die Ernährung gesichert. Wir brauchen nicht selbst zu jagen.« Sie sandte ein Lächeln in die kleine Runde und machte übergangslos mit ihrer Tourbeschreibung weiter.

»Nach drei Tagen erreichen wir das Dorf, von dem wir aus starten, chartern ein Kanu und fahren den Fluss hinunter. Sollte der Wasserstand wider Erwarten zu hoch oder zu niedrig sein, wandern wir die restliche Strecke bis ins Tal.«

»Weißt du denn nicht, wie hoch der Wasserstand ist? Warum können wir nicht bei mehr Wasser fahren? Wird der Fluss damit nicht ruhiger«, fragte Katja erstaunt und sah Vanessa in die Augen.

»Wenn der Wasserstand zu niedrig ist, kommen wir nicht durch, wenn er zu hoch ist, ist der Fluss zu schnell. Es gibt dann Strudel, Wasserwalzen und der Fluss darf nur von wirklich erfahrenen Kanuten befahren werden. Das sind wir aber nicht, und ich möchte nicht riskieren zu kentern oder uns in Gefahr zu begeben. Wir tragen zwar Schwimmwesten, aber man kann nie wissen. Außerdem würde die Ausrüstung nass, falls wir ins Wasser fallen oder wir verlieren sie, davon hat keiner etwas.«

»Meine Nikon ist nicht wasserdicht«, bemerkte Katja sorgenvoll.

»Na eben. Wir übernachten in Gasthäusern entlang der Strecke, habe ich das schon erwähnt. Die sind dort für Mountainbiker und Kanuten eingerichtet. Hast du eigentlich einen Reserveakku für deine Kamera Katja. Falls du mehr Bilder schießen willst?«

»Ja, Reserveakku und drei Speicherkarten mit vierundsechzig Gigabyte, das müsste reichen. Eine für den Wald, eine für das Meer und eine als Reserve.«

»Oh, das Meer«, freute sich Nicoletta. »Nach dem kalten Fluss und jede Menge Grün drum herum, nach Bergen und Bäumen, paddeln und schwitzen, das warme Meer und Sand und blaues Wasser.«

Katja schaute in ihre leere Tasse. »Nach Rucksack schleppen, nur noch Bikini. Nach kargem Frühstück aus Müsli und hartem Brot, endlich Buffet mit Schinken, Ei und vielerlei Käse. Zumindest das hört sich gut an.«

»Wir werden sehen, was mehr Eindruck bei euch hinterlässt. Das Meer oder die Berge«, murrte Vanessa.

Ihre Gedanken schweiften ab und wirbelten unkontrolliert in ihrem Kopf herum, so schnell, dass sie den Drang verspürte, an einem einzigen festzuhalten und ihn nicht mehr loszulassen, bis sie ihn ausreichend durchdacht hatte und er einen Sinn ergab. Sie beugte sich vor, faltete die Hände zwischen die Knie und starrte mit gespitzten Lippen in ihre Kaffeetasse.

»Gehen wir in die Küche, ich habe Hunger und mache uns einen Salat mit Thunfisch und Ei. Ich muss noch das Dressing zusammenrühren, dann kann ich über deinen Vorschlag nachdenken«, lenkte Katja ein und erhob sich. »Das kommt alles ein wenig überraschend für mich, weißt du? Und wir müssen die Anfahrt noch einmal besprechen. Ich würde lieber mit der Bahn fahren.«

Vanessa warf ihr einen fragenden Blick zu und folgte ihr. Ein Moment der Stille stellte sich ein.

»Wartet!«, rief Nicoletta. »Wie lange dauert die Fahrt mit dem Kanu? Sitzen wir etwa zwei Tage in diesem Ding, bevor wir an unser Ziel kommen?«

»Ja«, nickte Vanessa, zögerte, leckte sich mit der Zunge über die Lippen. »Wir fahren die halbe Strecke mit dem Bus und wandern den restlichen Weg. Mit dem Kanu sind wir schneller und in zwei Tagen zurück in Mocra Gora, und danach fahren wir ans Meer.« Sie streckte sich, schaute ihre Freundin an und kniff den Mund zusammen.

Nicoletta war die Sorglose, die all die Dinge, die in ihr Leben traten und die sie ohnehin nicht kontrollieren konnte, nicht allzu ernst nahm. Sie lebte in den Tag hinein, genoss ihr Leben und nahm fast alles, wie es kam. Nicoletta war schwer zu beeindrucken, unerschütterlich in ihrer guten Laune. Mit bemerkenswerter Gelassenheit nahm sie die Dinge, die da kamen und versuchte stets das Beste daraus zu machen. Sie hatte ein lautes, ansteckendes Lachen und sie sagte immer, was sie dachte. Zwei Tage im Kanu wären für sie mehr Spaß, als Abenteuer, mehr mit Leben gefüllt, als für Katja oder sie. Denn Katja war die Vorsichtige ihrer Runde. Sie musste ihr Leben planen, berechnen und genau wissen, was kam, bevor sie etwas unternahm. Spontanität war ihr ein Gräuel. Impulsives Handeln so fremd wie eine entfernte Welt. Sie wirkte auf Vanessa stets ein wenig in Gedanken und hatte so eine Angewohnheit, sich verlegen, mit der rechten Hand hinter dem Ohr zu kratzen. Aber wenn sie lächelte, schien sich der Raum mit Licht zu füllen und ihre Miene bekam etwas geradezu Leichtes.

Sie gingen in die Küche, deckten den Tisch, stellten eine Flasche Rotwein, Gläser, Brot und Gebäck dazu, falteten Stoffservietten und setzten sich, während Katja den Salat zubereitete. Sie steckte Weißbrotscheiben in den Toaster, verteilte den Salat auf drei große Schüsseln und brachte alles zu Tisch. Vanessa trank einen Schluck Rotwein und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und sah Katja über ihre zusammengefalteten Hände hinweg an.

»Hast du gewusst, dass wir kommen?«

»Nein, aber ich habe immer ein paar Sachen zu Hause, falls ihr vorbeikommt«, zwinkerte sie lächelnd. »Wie geht es weiter, wenn wir aus den Bergen kommen?«

»Wir geben in Mocra Gora unser Kanu ab. Wie gesagt, die sind dort gut organisiert, setzen uns in den Wagen und fahren hoch nach Zadar.«

»Wie lange hast du daran gearbeitet, bis du alles organisiert hast?«

»Die Vorauswahl hat am meisten Zeit in Anspruch genommen, bis ich wusste, wo wir wandern gehen und Kanu fahren können. Das Ziel am Meer mit Zadar und diesem Club war von Anfang an klar.«

Vanessa spürte, wie die Hektik dieses Tages allmählich von ihr abfiel und sie sich entspannte. Sie saßen mit erhitzten Wangen und in gelöster Stimmung in Katjas Küche und ihre Freundinnen waren von ihrem Reisevorschlag nicht abgeneigt. Die Begeisterung, die sie selbst gefangen hielt, würde bei den anderen später noch kommen, davon war sie überzeugt.

»Warst du schon mal in diesen Wäldern?«

»Dort noch nicht, nein. Ich war mit meinen Eltern im bayrischen Wald, in der Müritz, im Teutoburger Wald und im Schwarzwald unterwegs. Zum Campen, mit Zelt und Schlafsack, aber noch nie in den Alpen oder in Montenegro, das ist ein riesiger Nationalpark. Da freue ich mich besonders darauf.«

»Wie ist das, mitten im Wald in einem Zelt zu schlafen?«

»Meist waren wir auf einem Campingplatz. Da gibt es ein Gasthaus, Duschen und in der Früh frische Brötchen. Das wirklich Spannende war unter freiem Himmel, mitten im Wald zu campieren. Wir haben dann Lagerfeuer gemacht. Du hörst in der Nacht tausend Geräusche, die dir unheimlich vorkommen. Leises Rascheln und Knacken von trockenen Zweigen. Schritte, als ob ein mächtiges Wesen um dein Zelt schleichen würde, das man nie zu Gesicht bekommt. Aber da ist niemand. Du kannst in der Abenddämmerung Rehe sehen und Hirsche, und wenn du Glück hast, auch einen Fuchs oder einen Uhu,« schwärmte Vanessa und wurde ganz leise dabei. Katja und Nicoletta sehen sie mit großen Augen an. »Und ich war mit meinem Papa des Öfteren mit dem Kanu unterwegs. Wir sind viele Flüsse abgefahren, von kleinen schmalen, an denen wir das Kanu umtragen mussten, bis zu den großen, auch den Rhein und die Donau. Wir haben im Zelt oder in trockenen Nächten im Schlafsack unter freiem Himmel übernachtet. Über dir die Sterne und neben dir das Lagerfeuer. Das war die schönste Zeit. Er war dann nur für mich da. Meine Mutter ist bei den Kanutouren nie mitgefahren. Sie hat Angst vor dem Wasser, obwohl sie schwimmen kann. Sie geht nur im Schwimmbad ins Wasser.«

»Ich kenne bloß das Meer und ›All inclusive Clubs‹. So wie du das erzählst, hört es sich ganz anders an, als ich es von meinen Eltern kenne. Für sie ist campen, leben abseits der Zivilisation.« Katja biss ein Stück von dem getoasteten Weißbrot ab, ließ ihren Blick durch die Küche schweifen und verharrte am Fenster. »Nach dem Regen die Sonne«, sagte sie und betrachtete die aschedunklen Wolken, unter denen die Sonne am Horizont versank. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und versuchte zu lächeln.

»Du willst uns also tatsächlich in die Berge entführen, bevor wir ans Meer dürfen.«

»Ich habe alles geplant und für die letzte Juniwoche reserviert«, erwiderte Vanessa und atmete tief ein und aus. »Ihr könnt natürlich absagen, dann fahre ich allein und wir treffen uns am Meer.«

»Ich denke, wir gehen mit dir wandern, nicht wahr Nicoletta? Wir können sie doch nicht allein den Wölfen überlassen«, grinste Katja und Vanessa strahlte.

»Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf diesen Urlaub freue.«



* * *



Susanna Michaelis saß selbstvergessen auf dem Bett in der Ecke, in ihr Handy vertieft und tippte eine Nachricht an eine Freundin. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, wie bunte Herbstblätter. Aus den Kopfhörern, die sie in die Ohren gestöpselt hatte, klang laute Musik. Sie hatte ein freundliches, hübsches Gesicht, lange blonde Haare, war hoch aufgeschossen, hager und sah älter aus, als ihre fünfzehn Jahre. Ihr Mund war geschlossen, ihre Lippen fest aufeinandergepresst, der Dringlichkeit ihrer Konversation geschuldet. Ihre Freundin Barbara war zum ersten Mal verliebt. In einen Kevin, der auch genauso aussah. Ein cooler Typ aus der Klasse über ihr. Er hatte sie letzte Woche nach der Schule in die Eisdiele geladen und sie hatte abgesagt, weil sie für eine Prüfung lernen musste. Ein unverzeihlicher Fehler, wie Susanna fand. Sie waren sich seitdem zweimal über den Weg gelaufen, Kevin und Barbara, aber er war beide Male in Begleitung seiner Freunde, schenkte ihr nur ein vages Lächeln, fand aber offenbar nicht den Mut, sie anzusprechen. Susanna drückte ihren Rücken fest an die Wand, rutschte hin und her, schob ihr Haar zur Seite, schloss die Augen und versuchte die richtigen Worte für die nächste Nachricht zu finden. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Nachdenklichkeit und Überzeugung.

Sie hatte in Sachen Jungs bereits erste Erfahrungen gesammelt, war nicht mehr so unbedarft, wie ihre Freundin. Da war ein Flirt im letzten Jahr mit Robby aus der Nachbarklasse. Er sah unheimlich gut aus, war aber nicht der Klügste und konnte nicht richtig küssen. Als Susanna ihn das erste Mal küsste, waren seine Lippen so sanft und zögernd auf den ihren, so trocken und unbeweglich, dass sie sich fragte, ob das alles war und da nicht noch mehr kommen würde. Sie war eher enttäuscht, als erregt und konnte nicht verstehen, was an Küssen so Besonderes sein sollte. Waren all die Gefühle, die sie von Liebe und Küssen erwartet hatte, von denen sie gelesen, gehört oder die sie mit Freundinnen besprochen hatte, nur anderen vorbehalten. Oder kam da irgendwann mehr? Vielleicht mit anderen Jungs?

Ihr Vater klopfte an die Tür und öffnete sie, als sie nicht antwortete. Sein Blick war zu Boden gerichtet.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

Susanna hörte ihn nicht, sah ihn bloß aus dem Augenwinkel, war ganz auf ihre Gedanken und die Musik aus ihren Kopfhörern konzentriert. Verärgert trat er näher und zupfte an der Bettdecke, auf der sie saß.

»Was ist los mit dir, Mädchen?«

Susanna hob den Kopf, ihre Miene verdüsterte sich. Sie zog in Erwartung des väterlichen Ärgers die Schulter hoch, tippte schnell ein paar Worte in ihr Handy, ›Mein alter Herr ist in mein Reich eingedrungen und macht Stress‹, und schickte sie weg.

»Sue, ich habe dich gefragt, ob du deine Hausaufgaben gemacht hast. Das ist wichtig! Du stehst vor einer entscheidenden Prüfung. Du hast die Letzte verbockt, bitte bemühe dich diesmal. Sue, hörst du mir zu?«

Susanna rappelte sich auf die Knie, rutschte aus dem Bett und wollte aus dem Zimmer gehen, um einen ruhigeren Ort zu suchen. Sie wusste nicht recht, wohin sie sich wenden sollte, war sich allerdings nur allzu bewusst, dass ihr Vater nicht aufgeben würde. Wenn er sich erst einmal an einem Ding festgebissen hatte, ritt er darauf herum, bis auch der allerletzte Zweifel für ihn aus dem Weg geräumt war. Sein Mund war geschlossen, die Lippen fest aufeinandergepresst, als würde er gerade entscheiden, wie lange er ihr Verhalten noch tolerieren sollte. Er stellte sich ihr in den Weg. Sie konnte den getrockneten Schweiß an seinem T-Shirt riechen und den Qualm der gerauchten Zigaretten. Sein Gesicht sah aus, wie ein Stück zerknülltes Papier.

Karl Michaelis war ein hochgewachsener, drahtiger Mann Anfang vierzig, mit tief liegenden, gequält dreinblickenden Augen. Er trug eine verblichene, fleckige Jeans, ein T-Shirt mit dem Aufdruck ›The Crow‹, und keine Schuhe. Die Zehen lugten durch ein Loch in den Socken.

»Sue, verdammt noch mal. Ich habe dich gefragt, was mit deinen Hausaufgaben ist?«

Er sah sie beim Sprechen herausfordernd an, hob beide Hände und wartete darauf, dass sie reagierte. Seine Augen waren hart wie Glas.

Susanna drückte sich an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, starrte unbeirrt auf ihr Handy. Sie war verwirrt, weil er ihre Gedanken unterbrochen hatte, wartete auf die nächste Nachricht von Barbara und war sich bewusst, dass ihre Antwort einen Wutausbruch bei ihm auslösen würde, konnte aber im Moment so gar nichts dagegen tun. In der Ferne hörte sie das heulende Dröhnen eines Motorrads, dessen Fahrer auf der langen Geraden, oben an der Hauptstraße, die Drehzahl hochjagte, bevor er in den nächsten Gang schaltete und außer Hörweite kam. Und für einen Moment wünschte sie sich nichts anderes, als auf diesem Motorrad zu sitzen. Davonzubrausen, den Wind in den Haaren zu spüren und alles hinter sich zu lassen. Weg, einfach nur wegzufahren. Fort aus diesem Zimmer, aus diesem Haus, aus diesem Leben. Sie hatte es verabsäumt, ihre Hausaufgaben zu machen, na und? Dafür war später immer noch Zeit. Sie hatte auch verabsäumt, den Jungen ein weiteres Mal zu treffen. Ihm keine Chance gegeben, sie zu küssen, um zu sehen, ob es besser würde.

Susanna fragte sich, warum Erwachsene so unausstehlich sein mussten, warum sie nicht verstehen konnten, dass es Wichtigeres im Leben gab, als Hausaufgaben und Schule? An manchen Tagen hatte sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, die Schule zu schwänzen, traute sich dann aber doch nicht.

»Gib mir das Handy!« Ihr Vater streckte fordernd die Hand aus. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, ließ sie spüren, wie er in ihr Herz fuhr, ließ sie zaudern und dann trotzig stehen. Ein Funken gewalttätiger Energie flackerte in ihr auf und sorgte dafür, dass sich ihre Finger zur Faust ballten. Sie war sich bewusst, dass sie nicht gewinnen konnte, aber das machte sie erst recht verbissen und bockig, weil sie wie er war, von seinem Blut und Genen. Mit zusammengebissenen Zähnen umklammerte sie das kleine Telefon, um es gegen den Willen des Vaters zu verteidigen und versuchte sich an ihm vorbeizudrücken.

Seine Mundwinkel zuckten verärgert.

»Susanna, verdammt! Rück das Handy heraus!«

Sie schaute ihm in die Augen und schüttelte den Kopf, stieß seine Hand fort und schrie: »Nein!«

Doch er riss ihr das Ding so heftig aus den Fingern, dass sie vor Schmerz aufschrie.

»Was soll das? Du hast kein Recht! Das ist mein Handy! Ich schreibe grade mit Barbara, meiner Freundin.«

»Du hängst den ganzen verfluchten Tag am Handy oder vor dem Computer. Du vernachlässigst die Schule. Du hilfst mir nicht im Haushalt. Du hast den Kopf nicht bei der Sache. Das kann so nicht weitergehen!«, schimpfte er, und wurde lauter als beabsichtigt.

»Gib mir das Handy zurück. Das ist wichtig!«, schrie Susanna. Ihre Stimme überschlug sich in hilflosem Zorn.

»Nein! Du machst deine Hausaufgaben. Jetzt! Danach räumst du dein Zimmer auf. Du bekommst dein Handy zurück, sobald du deine Jobs erledigt und das Chaos in deinem Zimmer beseitigt hast.«

Einen langen Augenblick stand Susanna still, starrte ihn mit einem Ausdruck von Endgültigkeit an und ballte in hilflosem Zorn die Fäuste.

»Mach! Sonst ist im nächsten Moment auch der Computer weg und du bist für die nächsten zwei Wochen offline.«

»Du bist wirklich das größte Arschloch, das ich kenne! Ich hasse dich, ich hasse dich! Bei der nächsten Gelegenheit bin ich weg, dann kannst du sehen, wie du allein mit dir zurechtkommst.« Sie wandte sich um und spürte plötzlich, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wütend über sich selbst, weil sie nicht gegen ihren Vater ankam, seine Ungerechtigkeit und ihre Schwäche, knallte sie die Tür hinter sich zu und ließ ihn vor ihrem Zimmer stehen. Warf sich aufgelöst und in völliger Verzweiflung auf ihr Bett und heulte. Im Kopf nur atemlose Stille.

»Susanna bitte! Was soll der Schwachsinn?« Seine Stimme klang gedämpft hinter der Tür, entweder, weil er leiser oder mit aufeinandergepressten Zähnen sprach, sich auch beruhigt hatte. Aber sie steckte den Kopf unter das Kissen und drückte die Hände auf die Ohren, um ihn wegzuschalten. Aus dem Haus, aus dem Herz und aus dem Leben.

Nach einer Weile registrierte sie, dass vor der Tür nun Schweigen herrschte und hoffte, ihr Vater würde gehen. Wohin, war ihr völlig gleichgültig, er sollte bloß lange wegbleiben.

Warum nur habe ausgerechnet ich den blödesten und schlimmsten aller Väter zugeteilt bekommen, dachte sie. Warum wurde ich nicht in eine andere Familie geboren. Warum kann ich nicht in einem Dorf leben, wo es Wälder gibt und Flüsse, wie meine Tante. Wo nicht alles so öde ist.

In diesem Moment hasste Susanna ihren Heimatort. Sie hasste ihr Dasein. Sie hasste ihren Vater.



* * *



Karl Michaelis setzte sich in der Küche zum Tisch, ein Bein ausgestreckt, den Rücken gegen die Lehne gedrückt und legte die Hände vor sein Gesicht. Er hob den Kopf, ließ die Hände auf die Tischplatte fallen und schaute zum Fenster. Seine Miene war besorgt, irritiert und nachdenklich. Er betrachtete die vernachlässigten Topfpflanzen am Fensterbrett, deren Blätter sich gelb und braun verfärbt hatten, ohne sie richtig zu sehen und fragte sich, wie es so weit kommen konnte. Wann hatten sie sich so sehr voneinander entfernt?

Susanna hasste ihn.

Vielleicht nicht immer, vielleicht war es nur der jugendlichen Intuitivität und der besonderen Situation geschuldet, vielleicht bereute sie ihre Worte bereits.

Mit einer tiefen Traurigkeit in den Augen starrte er auf die Landschaft hinaus, auf die Sonne hinter den Wolken, die keinen Regen bringen würden und die Staubfahne, die der Wind durch die Straße jagte.

Seine Frau hatte die kleine Familie vor drei Jahren für einen anderen Mann verlassen und war auf dem Weg zu ihm verunglückt. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie sehen, wie sie hinausging, mit gesenktem Kopf, die Hand zum letzten Gruß erhoben. Sie hatte kurz gezögert, einen Lidschlag nur, und war dann weitergegangen, ihrem Schicksal entgegen. Möglicherweise wollte sie noch etwas sagen. Irgendetwas, das ihm zeigte, dass nicht alles vorbei war. Möglicherweise wartete sie auf ein Wort von ihm, dass sie zurückhielt. Ein Wort, das ihr zeigte, dass da noch etwas war, aber er sollte es nie erfahren.

Dafür gab er sich die Schuld, die wie hässliche Raupen an seinem Herz nagten. Dass er zum nötigen Zeitpunkt nie die richtigen Worte fand. Dass er lieber schwieg, statt auszusprechen, was ihm am Herzen lag.

Deswegen hatte sie die Familie verlassen. Weil er keine Worte fand, weil er sie nicht halten konnte. Allenfalls mit ein Grund, warum Susanna ihn hasste.

Irgendwann stand er auf, legte ihr Handy auf den Tisch, kramte die Brieftasche aus einer Lade, in der er alles Persönliche verstaut hielt und ging zur Treppe.

»Ich gehe einkaufen!«, rief er in das obere Stockwerk. In einem Anflug von Pflichtbewusstsein, um seine Tochter wissen zu lassen, dass er außer Haus war. Dann griff er nach der alten Lederjacke, die neben der Haustür an einem Haken hing, ging hinaus in den Nachmittag und ließ die Tür hinter sich zuschlagen.



Susanna hob in ihrem Zimmer den Kopf, als sie ihn rufen und die Haustür ins Schloss fallen hörte. Ihr Vater ging weg, das war gut. Sie schaute aus dem Fenster, sah ihn in den Wagen steigen und lief in die Küche, um das Telefon zu holen.

»Hallo Barbara, entschuldige, dass ich mich vorhin nicht mehr gemeldet habe. Mein Vater hat mir das Handy abgenommen. Aber das war das letzte Mal. Das macht er nicht mehr mit mir. Ich habe beschlossen, zu meiner Tante nach Mocra Gora zu fahren.«

»Wie willst du das anstellen. Du kannst doch nicht einfach in dieses Dorf in Montenegro fahren. Außerdem wird er dich nicht lassen. Eltern erfinden immer irgendetwas, um ihre Meinungen und Ansichten durchzusetzen.«

»Ich verschwinde eben. Ich setze mich in den Bus oder ich nehme die Bahn und fahre zu ihr.«

»Du bist fünfzehn, das wird nicht so leicht gehen.«

Susanna warf den Kopf zurück und schnaubte trotzig. »Ich sehe aus wie achtzehn und ich bin mit Mama oft genug nach Mocra Gora gefahren. Schon vergessen? Ich bin eine halbe Montenegrinerin.«

»Du willst aber nicht dortbleiben, nicht wahr? Sag, dass du wieder zurückkommst. Du bist meine Freundin. Du kannst nicht für immer dortbleiben!«

»Ich komme doch wieder. Ich möchte nur jetzt einmal weg. Meinem Vater eine Lektion erteilen. Er ist so fies, benimmt sich wie ein Tyrann. Er versteht mich nicht, weiß nicht, was mich bewegt und es ist ihm egal. Das ist mir heute wieder klar geworden.«

Und wer weiß, dachte sie. Vielleicht gefällt es mir doch so gut bei Tante Anna, dass ich bleibe. Aber das wollte sie Barbara nicht sagen. Das würde sie früh genug herausfinden, wenn es tatsächlich dazu kommen sollte.

Sie dachte an das große Haus, das ihre Tante ganz allein bewohnte. Ein altes aus Backstein erbautes Herrenhaus, mit riesiger Terrasse und einem von Sträuchern und Bäumen überwucherten Garten, der ihr stets wie ein eigenes Reich vorgekommen war. Sie hatte als Kind dort mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft gespielt. Sie waren im Schutz und Schatten der Bäume Zauberer, Elfen und Könige.

Ein freudiges Lächeln huschte über Susannas Gesicht. Ihre Tante hatte sich immer gefreut, wenn sie kam und es war in dem großen Haus genug Platz für beide.

Eilig packte sie ein paar Sachen in ihren Rucksack. Jeans, T-Shirts, Unterwäsche und die Zahnputzsachen. Alles andere, das sie brauchte, ließ sich bei ihrer Tante besorgen. Sie war überzeugt, dass die sich freuen würde. Tante Anna selbst war kinderlos und liebte ihre Nichte über alles. Seit ihre Schwester bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, war sie nicht gut auf den Vater zu sprechen. Auch deshalb war Susanna der Meinung, in ihr eine Verbündete zu finden. Sie sann darüber nach, ob sie die Schule in Montenegro zum Abschluss bringen könnte und kam zu dem Schluss, dass es ihr gleichgültig war.

Ich kann mir dort einen Job suchen, dachte sie selbstgefällig und presste die Lippen aufeinander. Immerhin sprach sie fließend Serbo-Kroatisch. Ihre Mutter hatte stets Wert daraufgelegt, dass sie zweisprachig aufwuchs, um mit ihren Verwandten reden zu können und sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Am nächsten Morgen ging sie aus dem Haus in Richtung Schule. Sie wusste, dass ihr Vater kurz nach ihr zur Arbeit fahren würde. Zwei Straßenzüge später bog sie ab und kehrte auf Umwegen wieder zurück. Auf ihrem Gesicht waren rote Flecken zu sehen. Sie lief hinauf in ihr Zimmer, schnappte den Rucksack und brach mit pochendem Herzen auf in ihr neues Leben.

Ihr Plan war, zur Bushaltestelle zu gehen, um nach Klagenfurt zu kommen. Von dort konnte sie mit der Bahn weiter nach Montenegro fahren. Sie hatte diese Reise früher oft mit ihrer Mutter unternommen, kannte die wichtigsten Stationen und wusste, dass sie bis zum Abend bei ihrer Tante eintreffen würde.



Der Morgenhimmel hatte sich seltsam verfärbt, der Wind trieb Staubwolken durch die Luft und peitschte die Bäume neben der Straße. Sie konnte den Regen riechen, der wie grauer Dunst über die Stadt hereinzog. Susanna zog die Schultern hoch und schauderte. Sie hatte den Regenmantel zu Hause vergessen. Falls sie der Sturm einholte, bevor sie im Bus saß, musste sie in nasser Kleidung in den Süden fahren. Keine schöne Aussicht. Im Gehen nahm sie den Rucksack ab und zerrte eine dünne, zerknüllte Jeansjacke heraus, zog sie über und lief die restliche Strecke bis zur Haltestelle.

Dort stellte sie sich unter das Glasdach und wartete. Vor ihren Füßen wirbelte Laub im Kreis. Der Wind warf klickend Sand und kleine Zweige gegen die Wände. Sie schaute besorgt zu den Wolkenfetzen, die knapp über den Hausdächern dahinfegten. Ein Kleinbus fuhr an der Haltestelle vorbei und dahinter ein Streifenwagen. Susanna drehte sich um und betrachtete andächtig den Fahrplan. Sie streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger die Zeilen nach unten, leise die Abfahrtszeiten vor sich hinmurmelnd. Überrascht warf sie einen Blick auf ihre Uhr.

»Oh Scheiße!«, ärgerte sie sich und schaute die Straße hinauf und hinunter. Der Streifenwagen war weg, aber es war auch kein Bus zu sehen. Den Letzten hatte sie um keine zehn Minuten versäumt. Die zehn Minuten, die sie ihrem Vater gegeben hatte, um ungesehen aus dem Haus zu kommen. Wieder ein Punkt gegen ihn, und der nächste Bus fuhr erst gegen Mittag.

Das war zu spät.

So lange wollte und konnte sie nicht warten.

»Verdammt! Jetzt hab ich das verbockt!« Für einen Moment überlegte sie, in die Schule zu gehen oder nach Hause und die Schule zu schwänzen. Aber dann würde sie am Nachmittag ihrem Vater über den Weg laufen und er ihren schönen Plan durchkreuzen und er wäre zu Ende, bevor sie aus der Stadt war.

Sie starrte ins Leere.

Man muss alle Optionen sehen, erinnerte sie sich an einen Spruch ihres Vaters. Wieso sollte man sich auf eine oder zwei Möglichkeiten beschränken. Ihre Augen wanderten die Straße entlang. Die ersten Tropfen landeten auf dem Glasdach. Sie wich einen Schritt zurück unter das schützende Dach. Am liebsten hätte sie sich in einen großen Vogel verwandelt, der vom Wind getragen losfliegen könnte, über alle Grenzen hinaus. Dann wäre sie nicht auf Bus oder Bahn angewiesen und könnte sich jederzeit in die Luft erheben, ihr Ziel zu erreichen.

Wenn du dir bei einer Entscheidung nicht sicher bist, lass es bleiben. Aber wenn du dir sicher bist, gibt es keinen Grund, zu zaudern und zögern. Auch ein Spruch ihres Vaters, der ihr in den Sinn kam.

Sie schaute nach links und nach rechts und ging dann rasch die Straße hinunter. Über ihr wölbte sich ein schwarzer Himmel, der Wind hatte weiter abgekühlt und zerrte an ihrer Jacke. An der nächsten Kreuzung wandte sie sich nach rechts und blieb ein paar Schritte nach einer Tankstelle stehen. Schaudernd zog sie den Kopf ein und hielt Ausschau nach einem Wagen, der sie in die nächste Stadt mitnahm. Von dort hoffte sie auf eine schnelle Verbindung nach Klagenfurt. Sie hob den Daumen und setzte bei jedem Wagen, der vorbeikam ein zaghaftes Lächeln auf. Nach einer Viertelstunde wollte sie schon aufgeben und als traurige Verliererin nach Hause zurückgehen, als ein weißer Audi vor ihr stehen blieb.

Ein älterer Mann öffnete das Beifahrerfenster und schaute sie durch dicke Brillengläser an. »Wohin soll es denn gehen, junge Frau?«

»Ich will nach Klagenfurt, zum Hauptbahnhof. Fahren sie in diese Richtung?«

»Ja. Ich fahre nach Klagenfurt.« Er schaute sie an und runzelte die Stirn. »Weißt du was? Es ist kein bedeutender Umweg, ich bringe dich dorthin.«

Am Bahnhof fuhr er an den Straßenrand und ließ sie aussteigen. »Danke für die nette Unterhaltung«, sagte er und senkte die Stimme. »Hier trennen sich unsere Wege. Ich wünsche dir alles Gute und viel Spaß bei deiner Tante.«

»Danke fürs Mitnehmen«, erwiderte Susanna und hob winkend die Hand. Sie überlegte, ob sie ihre Tante anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie würde einfach losfahren und heute Abend bei ihr vor der Tür stehen. Dann konnte sie Tante Anna auch nicht abweisen oder zurückschicken.



* * *



Heimo Börnstein schüttelte den Kopf, im Gesicht ein fröhliches Lächeln. Er war erleichtert, endlich wegzukommen. Durch das offene Fenster seines Wagens drang das Surren der Räder auf grauem Asphalt und ein Wind, der ihm warm, wie ein Föhn ins Gesicht blies. Eine weiche Brise, duftend nach frischem Heu, lilafarbenen Wiesenlupinen und einer lichtdurchfluteten Landschaft, die Frieden versprach.

Der Tag war so ganz anders als die letzte Woche, in der die Luft kühl war und nach nassen Bäumen und zerfetzten Blättern roch, die im Wind herumgewirbelt waren. Er hatte jeden Tag von früh bis spät gearbeitet, um nicht zu Hause sein zu müssen. Hatte Kunden besucht, Versicherungsfälle erledigt, war im Büro und auf der Straße. Nun fühlte er sich allein, aber zugleich auch gelöst und fragte sich, ob dieses Gefühl von Selbstsicherheit und Zufriedenheit nicht nur eine illusorische Täuschung oder dem Umstand geschuldet war, dass er auf dem Weg in seine ganz eigene Freiheit war. Vielleicht war es auch so etwas wie Hochmut. Er war immer noch kräftig, durchtrainiert und im besten Alter. Sein Haar war schwarz wie Tinte und er redete sich jeden Morgen vor dem Spiegel ein, dass er ein erfolgreicher Kerl war.

Im Rückspiegel sah er die Stadt hinter sich verschwinden und fummelte am Autoradio herum. Bei den Carpenters, die eben ›Top of the World‹ anstimmten, hielt er inne und lauschte der Musik.

›Such a feelin`s comin` over me

There is wonder in `most everything I see

Not a cloud in the sky, got the sun in my eyes

And I won`t be surprise difit`s a dream‹

Passender ging es nun wirklich nicht.

Die Gedanken wanderten zurück und im Kopf tauchte das Bild seiner Frau auf, ihre bescheuerte Miene, als er losfuhr. Heimo verzog angewidert das Gesicht und lachte bellend. Beinahe hätte sie ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber nur beinahe.

Sie hatte gemerkt, dass er sich für einen Trip nach Montenegro vorbereitete, oh ja, dafür hatte sie eine Nase und wollte ihm die Kids anhängen. Für irgendein blödsinniges Unternehmen. Fast hätte das auch funktioniert. Aber die Kids waren so gar nicht begeistert und hatten sich gesträubt. Jetzt hatte sie die beiden selbst an der Backe.

Er grinste und in seinen Augen glomm ein finsteres Licht.

Sie hatte die Kids gegen ihn aufgehetzt, ihn heruntergemacht und verleumdet. Mit der Zeit verabscheuten sie ihn und wollten immer weniger mit ihrem Vater zu tun haben. Er wischte mit der Hand über den Mund, versuchte seine Gereiztheit zurückzudrängen und atmete schwer. Dies war nicht der Moment an seine Frau, seine Probleme und den Ärger mit ihr, zu denken. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er musste sich zusammenreißen, wollte vorausschauen, sich freuen. Schließlich war er auf dem Weg nach Montenegro. Dort wartete Spaß, Abwechslung und ein besonderes Abenteuer auf ihn. Er schaute nach links und dann nach rechts in die Sonne, lachte in sich hinein und drückte das Gaspedal durch, um schneller an sein Ziel zu kommen. Plötzlich klingelte das Handy, er warf einen Blick auf das Display und warf es auf den Beifahrersitz.

»Heute nicht mehr«, knurrte er und versuchte das aufdringliche Geräusch zu ignorieren. Seine Gedanken gingen zu dem Mädchen, das seit fünf Tagen allein im Keller der Hütte war.

Hoffentlich hat sie keine Sauerei gemacht oder eine Möglichkeit gefunden, sich selbst das Leben zu nehmen, dachte er. Heimo hasste es, wenn sie ihm Ärger machten, weil sie den Eimer auf den Boden leerten, nicht essen und trinken wollten oder sich selbst verletzten und so unbrauchbar wurden.

Mit dem Rufton des Büros meldete sich das Handy ein weiteres Mal, aber es kümmerte ihn nicht. Er griff zur Seite und stellte es ab, ohne das Display zu beachten.



Es war an einem der letzten Tage im Herbst, bevor der Schnee kam und er die Hütte einwintern musste, für einen langen Winter, in dem er weder die Zeit noch die Lust fand, in diese kalte, unwirtliche Gegend zu fahren.

Der Tag war wärmer geworden als die Tage davor und der Himmel in einem verwaschenen Grau. Es sollte ein wunderbarer Abschluss werden. Sie hatten nach einem langweiligen Sommer ein Mädchen aufgegabelt, das offenbar keine Angst kannte. Sie wehrte sich, sobald sie aus der Betäubung erwacht war, strampelte und kämpfte, wie ein wildes Tier, bis sie ihre Arme und Beine ans Bett fesselten und beschimpfte sie dann in unflätigen Worten.

»Ich habe keine Angst vor euch, ihr Scheißkerle. Macht, was ihr wollt. Bringt es hinter euch, aber danach müsst ihr mich töten, sonst werde ich euch kriegen und dann seid ihr dran. Ich werde euch die Haut abziehen, ihr verfickten Hurensöhne und Hundefutter aus euch machen. Meine Brüder werden euch finden und über dem offenen Feuer grillen, bis ihr jammert und schreit und ich werde rund um euch tanzen und die Peitsche schwingen.« Ein irres Lachen brach aus ihrem Mund, dann spuckte sie Reinhard ins Gesicht.

Beinahe hätte er sie freigelassen. Erst ein paar kräftige Ohrfeigen und ein Panzerklebeband auf ihrem Mund brachten sie zum Schweigen.

Anschließend waren sie nach oben gegangen, um sie schmoren zu lassen, hatten eine Menge getrunken und sich dann so lange mit der Wildkatze vergnügt, bis sie ihren Willen gebrochen hatten und sie am Morgen leblos, wie ein Sack Kartoffel im Käfig lag.

Daraufhin waren sie nach Hause gefahren, um sich und ihr ein paar Tage Ruhe zu gönnen, bevor sie Jagd auf sie machen wollten. Als sie drei Tage später wieder kamen, war der halbe Keller mit Fäkalien und Essensresten verunreinigt und das Mädchen lag tot im Käfig, ohne dass sie je herausfinden sollten, woran sie gestorben war.

»Oh verdammt! Sieh dir mal diese Sauerei an. Hier stinkt es wie in einer öffentlichen Latrine«, knurrte Reinhard, als sie nach unten kamen und hielt sich ein Papiertaschentuch vor die Nase, das den Geruch keineswegs linderte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, schrie Heimo. Seine Augen wurden groß wie Wagenräder und starrten ins Unendliche. Er fühlte sich betrogen und ausgetrickst. Seine Schläfen hämmerten und seine Kopfhaut spannte sich bis zu den Mundwinkeln. Er öffnete den Mund, um die Spannung wegzubekommen, schloss ihn wieder, sein Unterkiefer klappte nach unten. Aus seinem Rachen kam ein tierisches Grunzen, als hätte man einen Schalter im Kopf umgelegt und alles rationale Denken in ihm ausgeknipst. Er war in den Käfig und hatte sich auf das leblose Mädchen gestürzt.

Was danach passierte, wusste er nicht mehr. Es war in einem finsteren schwarzen Loch verschwunden. Reinhard hatte ihn zu seiner eigenen Sicherheit in ein anderes Abteil der Käfige eingesperrt, bis er wieder bei Sinnen war und müde, leer und still mit dem Aufräumen begann.

Sie hatten nie wieder darüber gesprochen und er hatte sich seitdem im Griff.

Sein Blick ging über die Straße vor ihm und wanderte von links nach rechts, während seine Gedanken ihre eigenen Wege einschlugen.

Im Frühjahr, wenn der Wald nach einem langen Winter zum Leben erwachte, zog ihn die Abenteuerlust und sein Jagdtrieb in den Süden. Er war dieses Jahr ohnehin erst das dritte Mal hier, warum also sollte er sich den Spaß verderben lassen?

Der Verkehr schleppte sich dahin. Allmählich wanderte die Sonne über den Himmel und das Licht wechselte in ein schleiriges Grau. Vor ihm hingen einzelne Wolken, ein großer schwarzer Vogel querte sein Sichtfeld.

Er war schon länger auf der Suche nach einem geeigneten Objekt gewesen, obwohl er nicht gewusst hatte, wonach er Ausschau hielt. Ein Wochenendhaus im Grünen, vielleicht in der Toskana, ein Boot am Meer, auf dem es sich wohnen ließ oder eine Blockhütte im Wald. Auf jeden Fall sollte es etwas sein, dass er ohne die Familie nutzen würde. Dann fand er im Internet die Jagdhütte.

Sardonisch grinsend erinnerte er sich an die Euphorie und die vielfältigen Möglichkeiten, die sich mit einem Mal auftaten.

Er richtete die Hütte gänzlich neu ein, ging auf die Jagd, verbrachte viele Wochenenden allein und genoss seine Freiheit. Wie lange war es her, dass er sich Zeit für diese einfachen Dinge genommen hatte? Es waren schöne Tage in den Wäldern von Montenegro, einem Land, das er bis dahin keine Beachtung geschenkt hatte, wo binnen Wochen alle vier Jahreszeiten zu Besuch kommen konnten.

»Unsere Aufgabe besteht darin, das Leben zu genießen. Sorgen rauben uns die Zuversicht und die Freude und geben uns im Gegenzug nichts zurück«, erklärte er seinem Freund Reinhard, als er ihn das erste Mal zur Jagd in die Hütte eingeladen hatte.

Das war der Beginn einer ebenso fruchtbaren wie furchtbaren Zusammenarbeit.

Er ließ sein Fenster hinunter und saugte die warme Luft ein, überwältigt von einem Gefühl, das er nicht genau benennen konnte, dass seine Bedenken und Vorahnungen, die ihn manchmal einholten, dahinschwinden ließ und ihn mit etwas erfüllten, das er seit langer Zeit nicht empfunden hatte.

Er dachte an die Anhalterin, bei der er Gänsehaut bekommen hatte, als er sie sah und die sein und Reinhards Leben auf den Kopf stellen sollte, wie er es nicht für möglich gehalten hätte. Plötzlich wurden geheime Träume wahr, die er sich bis dahin nicht einmal selbst eingestehen wollte.

Dummerweise war sie später im Keller verdurstet. Reinhard kam danach auf die Idee, im Keller Gitterkäfige einzurichten. Seitdem hatten sie ein paar Mädchen und auch mal einen Jungen dort unten festgehalten. Der Junge war enttäuschend. Er hatte seiner Freundin nicht geholfen, bloß geheult und sie konnten mit ihm nichts anfangen, außer ihn ein bisschen herumzuschubsen. Reinhard hatte ihn dann verprügelt, aber auch das war kein richtiger Spaß.



Heimo war nicht nur gewandt, er wirkte durchaus sympathisch. Menschen, wie er besaßen die Gabe, ihrem Gegenüber Vertrauen einzuflößen. Wie ein Banner trugen sie ihre Aufrichtigkeit, ihren Glauben und ihre Liebe zur Familie vor sich her. Man kam sich fast wie ein Verräter vor, einem solchen Mann zu misstrauen. Heimo Börnstein fand immer die passenden Worte, wenn es darum ging, seine Kunden zu überzeugen und jeden Preis dafür zu rechtfertigen. Seine Ausdrucksweise war klangvoll, sein Blick klar, seine Prinzipien in jeder Geste sichtbar. Er führte bei jeder Fahrt in den Süden eine Kühlbox mit und darin zwei Flaschen Mineralwasser mit Orangengeschmack und aufgelöstem Rohypnol. Man konnte nie wissen, wann es eine Gelegenheit gab. Sie fuhren stets allein auf die Suche nach Opfern.

»Kein Mädchen vertraut zwei Kerlen. Einer allein ist unverdächtig.«

Sie hatten ihr Vorgehen in langen Nächten geplant, abgesprochen und nach Schwachstellen abgeklopft. Er hatte auch schon ein Mädchen, das nicht aus der Flasche trinken wollte, abgesetzt und gehen lassen. Bloß kein Risiko eingehen, war der Grundsatz. Er wollte in der Öffentlichkeit mit keinem Mädchen kämpfen und das Ding mit einem Taser durchziehen, schien ihm auch zu gefährlich.

»Irgendwann beobachtet dich irgendjemand. Solange sie ins Auto steigen, als ob sie gute Freunde wären, achtet niemand auf dich. Die Menschen reagieren auf ungewöhnliche Sachen, wenn überhaupt. In diesen Tagen schauen sie ohnehin eher weg, als sie dich beachten«, war Reinhard überzeugt.

Zwei Stunden später verließ Heimo die Autobahn. Über ihm wölbte sich ein makellos blauer Himmel, die Wiesen in tiefem Grün, teils schon mit Klee bewachsen, die Luft war erfüllt vom Geruch frisch aufgeblühter Blumen und fremdartigen Gräsern. Heimo fuhr langsamer, ließ sich Zeit und beobachtete die Gegend. Er setzte ein freundliches Strahlen auf. Fröhlichen Menschen vertraut man, das war eines der Dinge, die er in seinem Job als Erstes gelernt hatte.



* * *



Susanna stieg aus dem Zug, schaute in den Himmel und lächelte.

Ich bin in Montenegro, dachte sie verzückt, warf ihren Rucksack auf den Rücken und wandte sich Richtung Ausgang. Von hier aus musste sie zum Busbahnhof und dort die richtige Verbindung finden. Sie überlegte für einen Moment, ihre Tante jetzt anzurufen, verwarf aber den Gedanken wieder. Dazu war es immer noch zu früh.

Besser sie kam gegen Abend. Überraschend. Dann konnte ihre Tante eine Nacht darüber schlafen, sie würden miteinander essen, lachen, im Garten sitzen und quatschen, bis die Müdigkeit sie in die Betten schickte.

Ihre Blicke wanderten über den Vorplatz, während sie versuchte, sich zu orientieren. Autos fuhren kreuz und quer, suchten Plätze zum Parken. Menschen stiegen ein und aus, einige führten kleine, herumspringende Kinder über die Straße zu den großen Kaufhäusern gegenüber dem Bahnhof, andere hasteten scheinbar ziellos umher, auf der Suche nach Verbindungen, Freunden oder Verwandten. Ein paar wenige schlenderten gemächlich dahin. Für sie schien Zeit keine Bedeutung zu haben.

Susanna setzte sich auf eine niedrige Mauer am Straßenrand, ließ die Beine hängen, schaute in das Laub der Bäume über ihr, die Schatten spendeten und knabberte an einem Sandwich, das sie in die Schule mitbekommen hatte. Tastete gedankenverloren mit der Hand nach ein paar Münzen in der Hosentasche, die sie hervorholte und zählte.

»Viel ist das nicht«, murmelte sie, überdachte ihre Möglichkeiten und beobachtete die Busse und Autos, die den Busbahnhof rechts von ihr ansteuerten. Eine Viertelstunde später stand sie an Ausfallstraße, schaute in den azurblauen Himmel über ihr, atmete tief den herben Geruch der Stadt ein und hob den Daumen. Auf ihren Wangen leuchteten rote Flecken. Ihre Augen schienen erfüllt von Freude, weil ihr Ausflug bis jetzt problemlos gelaufen war. Nachdem sie eine ganze Weile in der Sonne gestanden hatte und ihr die Beine allmählich wehtaten, versuchte sie ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken und überlegte, ob sie nicht doch ihre Tante anrufen sollte. Ihr Geld würde nicht reichen, um mit dem Bus weiter bis nach Mocra Gora zu fahren. Das hatte sie nicht bedacht. Sie setzte sich an den Straßenrand und sprang auf, als ein Wagen langsamer wurde und anhielt.

Der Wind strich warm über ihr Gesicht. Sie starrte auf den schwarzen Wagen, der das Kennzeichen ihrer Stadt trug und spürte, wie sich ihr Magen zusammenschnürte.

»Hallo, wohin soll es denn gehen?« Der Fahrer hatte das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen und musterte lächelnd ihr Gesicht. Dann blinzelte er und schaute die Straße hinunter und auf den Staub, den die Reifen beim Abbremsen aufgewirbelt hatten und der sich allmählich legte.

»Kenne ich dich nicht? Du bist doch eine Michaelis. Was machst du hier in Montenegro auf der Straße? Bist du etwa per Anhalter unterwegs?«

»Nein. Eigentlich nicht. Doch.« Susannas Mundwinkel zuckten nervös und sie fühlte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.

Scheiße, der Versicherungsmensch, dachte sie und erinnerte sich daran, ihn ein paar Mal bei ihrem Vater zu Hause gesehen zu haben. Als sie merkte, dass er auf eine Antwort wartete, liefen ihre Wangen rot an und eine ungewöhnliche Verletzlichkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. Mit der Rückseite ihres Handgelenks wischte sie sich eine Haarsträhne aus den Augen.

»Ich bin auf dem Weg zu meiner Tante, die lebt hier«, sagte sie und kniff die Lippen zusammen. »Blöderweise habe ich den Bus versäumt, also dachte ich, ich versuch es mal per Anhalter.«

»Wo wohnt denn deine Tante?«

»In Mocra Gora, das ist am Rande des Tara-Nationalparks«

»Hm, das kenne ich, eine kleine Stadt in den Bergen. Es liegt beinahe auf meiner Strecke. Ich fahre für ein paar Tage runter nach Kroatien, ein Freund hat da ein Boot liegen. Aber zuvor muss ich noch in die Berge, ich habe dort eine Jagdhütte und will ein paar Sachen holen. Ein guter Tag für dich, ich kann dich mitnehmen, wenn du magst. Es ist eigentlich kein Umweg, ich bringe dich zu deiner Tante und kaufe im Ort ein.«

»Ja, danke. Das wäre nett«, erwiderte Susanna, und war froh, dass sie ihr Glück doch nicht verlassen hatte. Sie hatte Hunger und Durst und freute sich auf ihre Tante und das große kühle Haus, wo sie sicher war, sofort nach ihrer Ankunft versorgt zu werden. Sie warf ihren Rucksack in den Fond des Wagens und stieg ein.

»Ich bin Heimo«, sagte er, und fuhr an.

»Ich bin Susanna«, antwortete sie und betrachtete bewundernd die Inneneinrichtung des großen Audis. Den Bildschirm mit Navi, Radio und all seinen Möglichkeiten.

»Kann man damit auch Filme ansehen?«

»Ja natürlich«, erwiderte der Versicherungsmensch und setzte sich eine Sonnenbrille auf. »Von DVD, Karte, Stick oder wenn du guten Empfang am Handy hast, sogar Fernsehen.«

Susanna war beeindruckt und dachte darüber nach, ob Heimo, der Versicherungsmann beim Fahren Filme schaute. Sie sah ihn mit ausdrucksloser Miene von der Seite an, während die Sonne auf seiner Brille tanzte.

»Du siehst ziemlich geschafft aus, wenn ich das so sagen darf. Bist wohl schon eine Weile unterwegs«, meinte er.

»Seit heute Morgen, ja«, erwiderte sie. Im Wagen war es angenehm kühl.

»Die Welt ist doch klein«, sagte Heimo und kratzte sich unter dem rechten Auge. »Wenn ich gewusst hätte, dass wir annähernd denselben Weg haben, hätte ich dich auch von zu Hause aus mitnehmen können, nicht wahr?«

Ganz sicher nicht, dachte Susanna. Vor ihren Augen tauchte für einen Moment das Bild ihres zornigen Vaters auf, aber sie wischte es sofort beiseite und schenkte Heimo ein dankbares Lächeln.

»Ich fahre gerne mit dem Zug und die Strecke ist mir vertraut.«

Er mustert sie interessiert und nickte. »Stimmt, deine Mutter kam aus Montenegro, nicht wahr?. Das habe ich vergessen. Sprichst du auch ihre Sprache?«

»Mhm.« Schweigend und mit einem schmerzlichen Blick starrte sie auf die Bäume am Straßenrand, die an ihnen vorbeihuschten, während der Wind ihr die Haare ins Gesicht wehte. Erwachsene reden manchmal, ohne darüber nachzudenken, was sie mit ihren Worten anrichten, dachte Susanna, aber zumindest fragte er nicht nach der Schule.

Die nächste halbe Stunde schwiegen sie. Susanna warf ab und an einen Blick auf ihr Handy und dann auf die Berge, die zu beiden Seiten der Straße hoch aufragten.

»Kein Empfang?«, fragte Heimo und sie schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick über Felsen und Wälder wandern. Vor einer Weile waren sie durch ein kleines Dorf gekommen.

»Hast du Durst?« Heimo räusperte sich, wischte mit dem Ärmel die Stirn ab und lächelte freundlich.

»Oh ja, ich habe vergessen, mir etwas zu trinken einzupacken.«

»Da hinten war eine Gaststätte. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich stehen geblieben«, sagte er und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Aber anderseits haben wir noch eine Weile zu fahren, ich hab hinten im Kofferraum ein paar eisgekühlte Flaschen Mineralwasser mit Orangengeschmack.«

Er setzte den Blinker und fuhr rechts an den Straßenrand. »Zu Essen habe ich leider nichts dabei. Ich hole dir zumindest das Wasser, man muss immer genug trinken bei dieser Hitze.«

Heimo stieg aus, ging zum Kofferraum, öffnete den Deckel und kramte darin herum.

Susanna öffnete die Tür, stieg auch aus dem Wagen und stellte sich an den Straßenrand. Sie nahm ihr Handy und schaute nach, ob Anrufe oder Nachrichten gekommen waren. Zwei Anfragen von Barbara, aber keine von ihrem Vater. Das war gut. Ein Autobus fuhr vorbei. In einem Anflug von Einsamkeit winkte sie, wie Kinder dies gerne machten und ihr war, als ob eine Frau zurück gewunken hätte. Sie lächelte und fragte sich einen Moment, ob das der Bus war, der sie zu ihrer Tante gebracht hätte.

»Es geht weiter.« Heimo stieg in den Wagen, beugte sich zur Seite, als schaute er auf jemanden, die neben ihr stand und hielt ihr die Flasche hin. Susanna setzte sich und nahm sie dankbar an, während er langsam losfuhr.

Das Mineralwasser war nicht zu kalt und schmeckte köstlich.



* * *




Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 3
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten