Fredy Daxboeck
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Myra Baranova blinzelte in den Sonnenschein, der durch die Fenster des Busses fiel, mit dem sie unterwegs war. Lächelte leicht, in Gedanken versunken, die allesamt angenehm waren. Dann richtete sie den Blick wieder nach draußen, verharrte für einen Moment an dem verschwommenen Spiegelbild im Glas neben ihr und schaute nach oben. Sie fuhren den Pass hinauf durch Canyons, die noch in tiefem Schatten lagen, der Salbei an den Hängen silbrig glänzend vom Tau. Zu ihrer Linken hoch oben auf einem Grat, eine Kirche ohne Dach, die zwischen den Ruinen der vom Krieg zerstörten Häuser lag. Ein Bussard segelte im Aufwind der Berge, die sich links und rechts der Straße erhoben und zeichnete seine Konturen in den blauen Himmel.
Es gibt Erinnerungen, die man niemals aufgibt. Sie bleiben eingebrannt in das Gedächtnis. Wie in die Luft gemalt tauchen sie auf. In einem Lied, das man lange nicht gehört hat, im Sonnenuntergang über den Bergen oder beim Anblick eines Raubvogels, der majestätisch seine Kreise zieht.
Myra schloss die Augen, öffnete sie wieder und schaute hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft. Auf die Straße, den Fluss, der die Straße begleitete und die Berghänge, die sich von dichten Wäldern bedeckt, bis zum Horizont dahinstreckten. Ihr Blick war auf die Dächer der Häuser und vom Krieg zerstörten Villen entlang der Straße und auf die über den Gärten kreisenden Vögel gerichtet, sie dachte an ihren Vater.
Sie trug verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißen Lettern ›Born To Be Wild‹ prangte. Neben ihr am Sitz lag ihre khakifarbene Jacke mit vielen Taschen. Ihr Haar war schwarz wie Krähenfedern und wurde von einem roten Stirnband gehalten. Mit ihrem dunklen Teint, den hohen Wangenknochen und dem langen Haaren hätte sie auch als Model arbeiten können.
Auf die Frage nach ihrer Kindheit hätte Myra sicherlich mit einem Bild anstatt mit langen Erklärungen geantwortet. Sie hätte einen Samstagmorgen beschrieben, einen Ausflug in die Berge, um gemeinsam mit ihrem Vater auf die Jagd zu gehen.
Nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben war, als sie gerade mit der Schule begann, hatte er sich fürsorglich um sie gekümmert. Er hatte in Spätschichten hart gearbeitet, um für sie da zu sein. Immer in Sorge, dass eines Tages Leute von der Behörde vor der Tür stehen könnten, um sie mitzunehmen und sie in eine Pflegefamilie zu stecken. Seine Angst, bis sie sechzehn war.
Er war Jäger und eines der vielen Dinge, die er ihr beigebracht hatte, war das Überleben in der Natur. Sie waren in allen Jahreszeiten im Wald unterwegs. Für Stunden oder wochenends auch für die Nacht. Hatten sich vom Wald ernährt, unter Bäumen im selbst gebauten Unterschlupf geschlafen und beim Lagerfeuer dem Wind und seinen Geschichten gelauscht. Sie hatte die Lektionen ihres Vaters verinnerlicht, auch wenn sie sich dessen nie bewusst gewesen war.
Als sie sechzehn Jahre alt wurde, hatte sie ihr Vater in die Werkstatt hinter der Garage gebeten. Hier hatte er in einem verschließbaren Schrank seine Gewehre aufbewahrt. Normalerweise jagte er mit der Springfield, Kaliber 30-06 oder einer Krag-Jørgensen, Kaliber.30–40. Beide Waffen lagen auf der Werkbank, dazu eine Winchester Wildcat Kaliber.22. Sie hatte ihm schon oft beim Zerlegen, Reinigen und Ölen der Waffen zugesehen. War stumm danebengesessen und hatte ihn beobachtet, wie behutsam er mit den Teilen umging, sie auseinandernahm und zusammenfügte. An anderen Tagen wieder hatte sie ihm plappernd von der Schule erzählt, von Lehrern und Unterrichtsstoff, den sie nicht verstanden hatte. Er hatte zugehört, nachgedacht und ihr geduldig seine Sicht der Dinge erklärt, während sie schweigend gelauscht und er mit den Waffen hantiert hatte.
»Es wird Zeit, dass du lernst, mit einem Gewehr umzugehen.«
»Darf ich sie zerlegen oder zusammenbauen?«
»Ja, auch. Aber vor allem sollst du schießen lernen, um auf die Jagd zu gehen.«
»Ich möchte aber nicht mit dem Gewehr auf Tiere schießen.«
»Willst du sie lebendig fangen und essen?«
»Papa«, erwiderte Myra und verdrehte die Augen, wie das nur Teenager können. »Gewehre sind laut und unfair. Das Wild hat keine Chance gegen eine Kugel aus dreihundert Metern Entfernung. Ich muss sie jagen, um zu essen. Das ist mir klar, aber es muss doch eine andere Möglichkeit geben.« Sie sann eine Weile über eine Alternative nach, roch den süßlichen Duft des Waffenöls, den metallischen Geruch der Gewehre, die durch die Tür hereinströmende Luft des beginnenden Frühlings und wusste mit einem Mal, was sie wollte.
»Wir könnten Fallen stellen oder mit dem Bogen jagen, was meinst du?«
»Fallen stellen ist eine Frage der Geduld und der verfügbaren Zeit.« Ihr Vater machte eine zweifelnde Miene, stützte die Hände auf der Werkbank ab und blickte in den Staub, der im goldenen Balken eines Sonnenstrahls vor ihm tanzte. »Aber mit dem Bogen jagen hört sich interessant an.« Das Licht warf Schatten auf sein Gesicht, die wie kleine Schluchten, Täler und Einschnitte auf sie wirkten. Ihre braungrünen Augen wichen nicht von dem Anblick.
»Merida, die Legende der Highlands. Deine Heldin aus Kindertagen«, grinste er dann, und Myra war sich in diesem Augenblick bewusst, warum sie sich so gut verstanden und sie ihn dafür liebte.
»Merida, ja«, nickte sie, drehte ihr Gesicht ins Licht und strahlte ihn an.
»Ich möchte aber, dass du trotzdem lernst, mit einem Gewehr umzugehen. Du musst nicht damit auf die Jagd gehen. Du kannst auch am Schießstand üben.«
Die nächsten Tage und die Tage darauf gingen sie zum Schießstand, schrieben sich im Bogenclub ein und lernten ihre Waffen zu handhaben. Myra machte ihre ersten Schritte im 3D-Parcour und im Herbst gingen sie heimlich auf die Jagd. Myra mit Pfeil und Bogen und ihr Vater mit der Springfield.
»Falls du nicht sauber triffst, muss ich es mit dem Gewehr erlegen«, sagte ihr Vater und schaute zu Boden. Sie runzelte die Stirn.
»Wieso sollte ich nicht treffen? Der Bogen liegt mir mehr als das Gewehr. Im Parcours habe ich fast keinen Fehlschuss.«
»Die Bogenjagd ist bei uns genauso verboten, wie die Jagd mit Fallen, das weißt du. Ich möchte kein verwundetes Reh mit einem Pfeil im Körper im Revier haben. Wenn sie uns erwischen, kann ich meinen Jagdschein verlieren. Deswegen müssen wir vorsichtig sein und gehen mit dem Gewehr auf die Jagd.«
»Ich schieße nicht daneben«, versicherte Myra ihrem Vater und schaute ihn ernst und trotzig an.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Aber ich weiß nicht, wie durchschlagskräftig ein Pfeil, selbst mit Jagdspitze, ist. Ich weiß nicht, wie genau du treffen musst und ich weiß nicht, wie das Wild reagiert. Wir töten, um zu essen. Das Tier soll aber nicht mehr leiden als unbedingt nötig.«
»Verstehe.« Myra hob den Kopf und schaute ihrem Vater fest in die Augen. »Ich schieße nur, wenn ich sicher bin.«
»Das ist in Ordnung.«
Sie jagten unter größter Sorgfalt, nicht entdeckt zu werden und Myra wurde immer besser. Sie legten ihre Fallen in unwirtlichem Gelände aus, dort wo keine Wanderer gingen und überwachten sie gut. Stets auf der Hut vor Entdeckung.
Als sie siebzehn war, setzte ihr Vater sie im Wald aus.
»Du hast deinen Bogen, zwei Dutzend Pfeile, dein Jagdmesser, Leatherman, Feldspaten, Schlafsack, eine Plane, Taschenlampe mit Kurbel, Feuerzeug, Notproviant, eine Trillerpfeife und das Handy, das du nur im Notfall benutzt. Zusätzlich hast du ein GPS, das du immer am Körper trägst, ist das klar.«
»Ja Papa, wir haben das geübt, ich schaffe das.«
»Ich habe dir auf der Karte einen Ort markiert, den du finden musst. Dort findest du die Karte und die Anweisung für den jeweils nächsten Tag. Die Natur kann dein bester Freund, sie kann aber auch dein schlimmster Feind sein. Respektiere und achte sie, aber zeige keine Schwäche, mach keine Fehler und lass dich nicht von einem Jäger erwischen, ich vertraue dir.«
Zehn Tage später hatte er sie am vereinbarten Treffpunkt abgeholt, etwas dünner, aber bis auf ein paar Kratzer unverletzt und guter Dinge. Myra war damals unheimlich stolz, diese Tage allein überstanden zu haben. Einen Monat später erfuhr sie, dass ihr Vater, so wie die Mutter an Krebs erkrankt war. Er sollte noch drei Jahre leben, bis er den Kampf gegen seinen schlimmsten Feind verlor.
Es war ein strahlend schöner Tag, der Himmel war makellos blau, das Sonnenlicht glitzerte auf den Blättern der Bäume und der Fluss schlängelte sich neben der Straße dahin. Das Wasser war so klar, dass man die glitschigen Steine am Grund sah und die dunklen Schatten der Felsbrocken, deren moosüberwucherte Höcker in der Strömung aufragten.
Der Fluss kommt aus den Bergen, dachte sie. Aber die unbändige Erwartung und Freude, die sie heute Morgen erfasst hatte, als sie losgezogen war, wollte sich jetzt nicht einstellen. Sie schaute zur Straße, auf eines der wenigen Autos, die ihnen begegneten. Der Bus kam an einem Wagen mit österreichischem Kennzeichen vorbei, der in einer Parkbucht stand. Myra sah ein Mädchen danebenstehen und winken. Sie wirkte fröhlich und Myra hatte nicht die Absicht, ihr den Spaß zu verderben. Lächelnd hob sie ihren Arm, um den Gruß zu erwidern. Ein Mann, vermutlich ihr Vater hantierte im Kofferraum. Sie beneidete das Mädchen, das mit ihrem Vater unterwegs in den Urlaub war. Was sollten sie auch sonst hier machen?
In gewisser Weise erinnerte sie der Anblick an ihre eigene Teenagerzeit. Als sie mit ihrem Vater Ausflüge machte. Zum Kanu fahren, zum Campen oder zur Jagd. Oft verbanden sie das Eine mit dem Anderen und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie hatte ihn vor sechs Wochen begraben und war noch lange nicht darüber hinweg. Auch wenn sie viele Freunde hatte, die ihr zur Seite standen, in diesen dunklen Tagen, in denen sie sich am Boden zerstört fühlte, getrieben wie ein welkes Blatt im Wind.
»Ich brauche eine Auszeit. Ich kann nicht mehr. Ich funktioniere wie eine Maschine, die stereotyp ihre einprogrammierten Arbeiten erledigt, ohne darauf zu achten, ob alle Elemente vorhanden oder passend sind. Ich liefere keine gute Arbeit ab, die Kollegen decken mich, weil sie sehen, dass es mir dreckig geht. Das ist zwar furchtbar nett von ihnen, aber das kann so nicht weitergehen.« Myra schaute Frank, ihren Chef an, über sein aufgeklapptes Notebook, das vor ihm stand und ihre Schultern sanken müde nach vorne. Sie hatte an diesem Tag all ihren Mut zusammengenommen, war in sein Büro gekommen, um ihm ihren Entschluss mitzuteilen und saß ihm nun am Schreibtisch gegenüber.
»Ich brauche eine Auszeit«, wiederholte sie sich und nickte, schüttelte den Kopf und nickte wieder. »Deshalb werde ich meinen Job aufgeben. Versteh mich bitte nicht falsch, Frank. Aber ich kann nicht anders. Ich gehe für eine Zeit ins Ausland.«
Frank Meyers, Abteilungsleiter des Marketingbüros einer großen Möbelhandelskette sah sie nur an, keineswegs überrascht. Eher wie jemand, der auf eine Reaktion gewartet hatte, die nun eingetreten war. Er kniff die Lippen zusammen und blickte an ihr vorbei, als müsste er seine Gedanken sammeln. Dann schaute er sie wieder an.
»Okay, Myra. Ich verliere dich nur sehr ungern an den Mitbewerb, selbst wenn sie im Ausland sitzen. Wo immer du dich entschieden hast, hinzugehen. Du bist kreativ, bringst gute neue Ideen, hast stets rechtzeitig geliefert. So eine Mitarbeiterin verliert man nicht gerne.« Er versuchte ein Lächeln, das ein wenig unglücklich wirkte. »Außerdem sind wir fast wie eine Familie hier. Eine eingeschworene Gemeinschaft. Kann ich dich mit irgendetwas überzeugen, zu bleiben.«
»Danke nein. Es ist wegen meines Vaters«, erwiderte sie. »Ich bin in ein Loch gefallen, aus dem ich nicht wieder herauskomme. Ich brauche Abstand, um mich selbst zu finden.«
Frank stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch, drückte die Stirn gegen beide Fäuste, hob den Kopf und legte das Kinn auf die verschränkten Hände. Eine Geste, die sie kannte.
»Du brauchst professionelle Hilfe«, sagte er. »Ich kenne einen Psychologen, der sich mit Trauerbegleitung auskennt. Ich gebe dir seine Adresse. Sag ihm, dass ich dich vermittelt habe, dann bekommst du früher einen Termin.« Frank runzelte die Stirn. »Er ist gut und wird dir helfen.«
»Nein. Danke«, erwiderte Myra und schüttelte den Kopf. »Ich will keine Trauerbegleitung, keine Aufarbeitung oder dergleichen. Ich will auch niemand, der mir sagt, wie ich denken, was ich fühlen soll. Ich kenne mich selbst gut genug. Ich weiß, was ich brauche und wie ich durch dieses Tal der Tränen herauskomme.« Sie atmete tief durch, drückte die Schultern zurück. »Ich gehe nicht für einen anderen Job ins Ausland oder wechsle die Firma, weil ich mein Umfeld nicht mehr ertrage. Ich gehe, um zu wandern. Ich brauche eine Auszeit von meinem Job, von meinem Leben.«
»Wie jetzt, du hast keinen anderen Job in Aussicht?«
»Nein, ich fahre nach Montenegro in einen Nationalpark, um dort für sechs Wochen in den Wäldern zu leben. Wandern, Kanu fahren, jagen, ausspannen.«
»Nach Montenegro? Wieso fährst du nicht nach Kroatien ans Meer? Kein Mensch fährt nach Montenegro in die Wälder. Du weißt, dass es dort wilde Tiere gibt, Wölfe, Bären und Schlangen, die dich mit einem Biss töten können.«
»Ja, das weiß ich. Ich habe vor in die Wälder zu gehen, um dort sechs Wochen in und von der Natur zu leben. Ich habe mich vorbereitet.« Sie streckte den Rücken durch und schaute ihren Chef in die Augen. »Ich wollte ursprünglich in die USA und den Appalachian Trail gehen, aber der ist zu ausgetreten, zu viele Leute, die dort unterwegs sind. Also habe ich mich für Montenegro entschieden.«
»Um in der Natur zu leben? Sechs Wochen? Du bist verrückt. In sechs Wochen bist du verdurstet, verhungert, von Wölfen aufgefressen. Myra, das wird nichts.« Frank sah sie entgeistert an. Er musterte sie, wie sie vor ihm saß, mit ihrem kurzen Rock, der dünnen, enganliegenden, orangefarbenen Bluse, den unverantwortlich schmalen Highheels, mit denen er nicht einmal durch den Park gehen könnte, ohne sich die Knöchel zu brechen, ihr stets gepflegtes Äußeres.
»Du bist ein Stadtkind. Was willst du in einem Wald?« Er streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus und warf ihr einen fragenden Blick zu.
Sie lächelte milde. »Ich bin im Wald aufgewachsen. Ich kann mit dem Bogen jagen, Fallen stellen, Tiere häuten, über dem Lagerfeuer braten und in der Natur überleben.«
Verdutzt riss er die Augen auf. »Du meinst sowie einer dieser Prepper. Sag bloß, du bist ein Prepper, Myra. Ich fasse es nicht.«
»Nein«, lachte sie. »Ich bin keine Verrückte, die denkt, die Jagd ist ein Spiel und die Regierung hat sich gegen mich verschworen oder so etwas in der Art. Ich kann wirklich in der Natur überleben.«
Frank schüttelte den Kopf. »Ich werde die Frauen nie verstehen. Eine Tatsache, die mir schon mit fünfzehn klar war. Eine Erkenntnis übrigens, die Teil meines beruflichen Erfolges ist.« Er stand auf und ging eine Runde im Büro. Myra konnte seine Schritte hinter sich hören, schaute zum Fenster und betrachtete die Häuser der Stadt, die von Autos verstopften Straßen und die wenigen Bäume, die von hier aus zu sehen waren. Sie fragte sich, ob ihre Entscheidung richtig war und die kommenden Tage mehr für sie bereithielten als nur ein Abenteuer.
»Myra ...«
»Ich habe mir das gut überlegt und lasse mich nicht davon abbringen, Frank. Es tut mir leid.«
Seine Schritte verstummten hinter ihr. Sie hörte ihn tief Luft holen. Dann kam er zum Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen.
»Na gut. Ich halte dir den Job die nächsten acht Wochen frei. In der Zwischenzeit hole ich mir jemand aus der Verwaltung oder von den EDV-Leuten. Irgendjemand wird sich finden. Innerhalb der acht Wochen kannst du jederzeit zurück. Kommst du früher, freut mich das. Kommst du später, musst du eventuell warten und hast erst wieder eine Chance, wenn jemand anderer aus dem Team geht, das ist dir doch klar?«
Myra nickte.
»Wie hört sich das für dich an?«
»Gut. Danke. Ich danke dir.«
»Du bist eine meiner besten Mitarbeiterinnen. Wir werden dich vermissen.« Frank stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er wirkte unsicher, streckte sich.
»Wann soll es denn losgehen?«
»So bald wie möglich, am besten nächste Woche. Ich habe alle meine Unterlagen für eine Übergabe geordnet. Sylvia kann jederzeit übernehmen.«
»Mhm, gut. Ich muss morgen für eine Woche nach New York. Wir werden uns nicht mehr sehen.«
Frank zögerte einen Augenblick, dann trat er spontan einen Schritt vor, umarmte sie linkisch und trat sofort wieder zurück. »Lass dich nicht fressen und komm heil zurück.«
»Versprochen!«, lächelte Myra, und blinzelte eine Träne weg.
Am Freitag darauf hatte sie die Nägel kurz geschnitten, den Lack entfernt, hatte die Wanderschuhe mit Bienenwachs eingefettet und ihre Liste ein letztes Mal gecheckt. Sie hatte ihr Gepäck gewogen, fünfzehn Kilo. Es war Sommer, das erleichterte einiges. Sie war überzeugt, genug zu essen zu finden. Wahrscheinlich würde ihre größte Sorge sein, sich von den Touristen und Jägern fernzuhalten, die in diesen Wäldern unterwegs waren. Aber das Problem konnte sie umgehen, indem sie die begehbaren Wege meiden würde.
Ich war lange nicht mehr im Wald, Papa, aber ich schaffe das, dachte sie und spürte die Vorfreude, die sich wie früher vor einem Trip in die Wälder eingestellt hatte und das leichte Herzklopfen dazu.
Vor ihren Augen sah sie das unendliche Grün, Bäume, Felsen, einsame Nächte am Lagerfeuer und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, während der Bus über die Straßen Montenegros fuhr und sie höher und höher in die Berge brachte.
* * *
Arno Daniels fuhr durch den dichten Wald, nur mäßig von einem Blätterdach geschützt gegen die Sonne, die hoch am Himmel stand und sich an diesem Frühsommertag heiß und drückend über das Land legte, die Straße in helles Licht tauchte und die Luft darüber zum Flimmern brachte. Trotz des Waldes gab es keine Abkühlung, nur blitzende Schatten. Der Wald hielt den Wind ab, vom Asphalt stieg die Hitze des Tages auf. Arno wischte sich über die Stirn und betrachtete seine feucht glänzende Hand. Seine braunen, fast leblosen Augen wirkten leicht verstört, so als leide er gerade unter einem seelischen Tief. Er drehte die Klimaanlage auf zwanzig Grad herunter und schaltete den Ventilator höher.
Er war müde, sein Nacken steif, seine Muskeln verspannt, sein Kopf dröhnte. Er war die Strecke in endlosen Stunden durchgefahren, mit Countrymusik aus einem USB-Stick in immerwährenden Schleifen wiederholt und hatte zuletzt eine gleichgültige Gelassenheit gespürt. Die grimmige Befriedigung, seiner Mutter entkommen zu sein, hatte einige hundert Kilometer angehalten, war aber allmählich einer gewissen Beklommenheit gewichen. Schließlich hatte er sie ohne Scham und Gewissen allein gelassen. Nachdem er die erste Grenze passiert hatte, ließ er auch dieses Gefühl zurück.
Er fuhr langsamer und hielt Ausschau nach der nächsten Abzweigung. Zwei Versuche zuvor hatten ihn ins Nichts geführt. Er musste mit dem Wagen zurückstoßen, weil es auch keine Umkehrmöglichkeit gab. Zum Glück hatte er eine Kamera im Heck, unmöglich für ihn sonst den ganzen Weg im Rückwärtsgang zu fahren. Mit gespreizten Fingern tastete er genervt nach dem Navi und schaltete es ein, ohne die kurvige Straße aus den Augen zu lassen. Das Bankett war schmal und es gab keine Leitschienen, nur ab und an zerschrammte Baumstämme, die den wagemutigen Fahrer mahnten.
»Bitte wenden. Bitte wenden sie jetzt!«, verlangte die Stimme von Gerti, die für ihn von all den voreingestellten Stimmen am sympathischsten war, in befehlendem Ton, sowie ihn der Satellit gefunden hatte, ohne ihm allerdings zu verraten, wo er denn wenden könnte.
Das blöde Ding will mich in die nächste Stadt leiten, dachte er. Die kennt die Wege hier draußen genauso wenig, wie ich. Für sie ist das alles weißes Land, das ins Nirgendwo führt.
Denk nach, schalt er sich, voller Ärger, weil er nicht besser aufgepasst hatte, als ihm Reinhard Frost den Weg erklärt hatte und erinnerte sich an die Notiz in seiner Hosentasche. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, hielt an, schaltete die Warnblinkanlage ein und holte den Zettel heraus. Mit gerunzelter Stirn strich er ihn glatt und las die Anweisungen. Ging einen Punkt nach dem anderen durch, die er alle befolgt hatte, bis auf das Ding mit der verkrüppelten Eiche, hinter der die letzte Abzweigung sein sollte.
Hier waren jede Menge Bäume und viele davon verkrüppelt, von Wind und Wetter gebeugt, von Schneelasten gebrochen und Blitzen gespalten. Wie sollte er da die Richtige finden? Arno warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte keinen Empfang, kein einziger Strich war auf dem Display.
»Was für eine Scheiße!«, fluchte er. »Kein Empfang und keine Menschenseele, die man fragen könnte.« Er schaute sich um, starrte in die Bäume und seine Mundwinkel kräuselten sich gereizt. Der Wald schien unendlich zu sein. Verunsichert fuhr er wieder an, blickte nach links und nach rechts und fühlte, wie sein Blut unter den Handflächen pulsierte.
Endlich fand er eine versteckte Schneise zwischen alten Bäumen, die er beinahe übersehen hätte und bog ein. Sie war offenbar wenig genutzt, niedere Äste schleiften über das Dach. Er zögerte. Hinter seinen Augenlidern schwebten graue Schatten und er meinte für einen Moment, ein Mädchen inmitten der Bäume zu sehen. Wie ein zarter Nebelschleier war sie vor ihm aufgetaucht und schüttelte warnend den Kopf. Er trat auf die Bremse und kniff die Augen zusammen, aber da war nichts. Nur wirbelnde Blätter, Licht und Schatten und die fast verwachsenen Spuren eines Fahrweges. Arno musste schlucken und spürte plötzlich ein seltsames Gefühl, so als habe sich eine Spinnwebe über sein Gesicht gelegt. Er wischte mit der Hand darüber, blinzelte heftig und fuhr langsam zwischen mächtigen Kiefern und dichtem Gestrüpp auf einem unbefestigten Weg den Berg weiter hinauf.
Ich fürchte, ich brauche bald eine Pause, dachte er, fuhr aber weiter, weil er endlich ankommen wollte.
Der Wald wurde allmählich lichter, der Weg zum Teil mit grobem Kies bestreut. Dann kam er auf eine Hügelkuppe und konnte das Gebiet in seiner ganzen Dimension überblicken, dass sich von einem Horizont zum anderen erstreckte. Er stieg aus und schaute sich um. Auf der Lichtung herrschte nach dem klimatisierten Wagen eine geradezu betäubende Hitze. Sie trieb ihm den Schweiß aus allen Poren.
»Verdammt Reinhard!«, fluchte er und kickte mit dem Fuß einen Stein zur Seite. »Du hast mich da ganz schön in die Scheiße geritten. So wie es aussieht, bin ich hier am Ende der Welt gelandet.« Dann fiel ihm ein, dass sie eigentlich für morgen verabredet waren. Heimo Börnstein sollte schon da sein, aber der wiederum wusste nicht, dass er kam. Er saugte die heiße Luft zwischen die Zähne, lauschte auf das schlürfende Geräusch und überlegte angestrengt, was er als Nächstes tun könnte.
In die Stadt zurückfahren war eine Idee, aber das war eine Fahrt von einer guten Stunde auf diesen Straßen und dann war es nicht sicher, ob er dort ein Quartier bekam. Arno Daniels verfluchte die Idee, hier seinen Urlaub zu verbringen. Warum musste er auch allein fahren? Er hätte doch Reinhard begleiten können, dann würde er jetzt nicht hier stehen und nach dem richtigen Weg suchen. Er ging eine Runde um den Wagen, holte das Handy heraus und an den Rand der Hügelkuppe, die in einen mit Geröll bedeckten Abhang überging. Vereinzelt wuchsen kleine Inseln von Beifuß auf der Halde. Tief unter ihm glitzerte der Fluss in der Nachmittagssonne. Vorsichtig trat er zurück. Wenn er hier ausrutschte, würde er an die hundert Meter in die Tiefe stürzen, bevor er sich in den Bäumen weiter unten wiederfand.
Er holte Reinhards Nummer auf sein Display und rief ihn an, aber die Verbindung konnte nicht hergestellt werden. Missmutig starrte er auf das Telefon und unterdrückte den Drang, das Ding den Hang hinunterzuwerfen und sei es nur, um zu sehen, wie es auf den Steinen aufprallte und welches Geräusch es dabei machte. Gab es denn an diesem gottverdammten Ort keinen funktionierenden Sendemast?
Er ging zurück zum Wagen, stieg ein, drückte sich in die Lehne und genoss für einen Augenblick die kühle, trockene Luft im Schatten unter den Bäumen. Im Süden waren die Hänge über dem Fluss mit Wald bedeckt, nur ab und an schimmerten weiße Felsen im endlosen Grün. Vögel tanzten in den Ästen über ihm und die Zikaden sirrten in den Büschen. Er startete den Wagen und folgte dem Weg, der ihn wieder in den Wald führte.
»Noch eine halbe Stunde«, sagte er zu sich selbst. »Wenn ich die verdammte Hütte dann nicht finde, kehre ich um und fahre in die Stadt zurück.« Gedankenverloren lauschte er dem Nachhall seiner eigenen Stimme, während ein Ast am Dach des Wagens entlangschrammte, aber niemand antwortete ihm, nur der Wind, der durch die Bäume fuhr, war zu hören. Langsam rollte er über Sand- und Feldwege an Weggabelungen und Abzweigungen vorbei. Allmählich brach die Dämmerung an und eine unbestimmte Ahnung, wie das mulmige Gefühl, das er nach seinem Aufbruch heute Morgen empfunden hatte, machte ihm zu schaffen. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass er im Dunklen den Weg durch den Wald zurückfahren musste, sollte er die Hütte nicht finden. Sein zunehmender Hunger und Durst verschlechterten auch die Laune und er staunte nicht schlecht, als plötzlich auf einer weitläufigen Lichtung vor ihm ein, von Eichen beschattetes Blockhaus auftauchte. Mit dem überraschten Gesichtsausdruck eines Mannes, dessen vermeintliches Wissen sich immer wieder als falsch erwies, stoppte er den Wagen und starrte auf das Gebäude, das sich unter die Bäume duckte. Im Schatten der Dämmerung war nicht zu erkennen, ob es bewohnt war.
»Das ist keine Hütte«, rief er überrascht aus. »Das ist ein richtiges Haus.« Zumindest konnte er hier fragen oder den Wagen wenden, falls er wieder falsch war.
Er ließ den Wagen auf die Lichtung rollen, stieg aus und betrachtete neugierig das Gebäude. Das Haus wirkte neu und war mit Schindeln gedeckt. Seine Blicke wanderten über Tür und Fenster, er schaute in den Wald daneben und suchte nach einem Anhaltspunkt, ob jemand anwesend war. Es war ein Moment, in dem er nicht über sein Leben nachdachte und was aus ihm geworden war, im Vergleich zu seinem Schulfreund Heimo Börnstein. Was ihm wirklich durch den Kopf ging, war viel simpler. Da war ein abgeschiedener Ort in einem Land, in dem ihn keiner kannte. Hier könnte er ganz er selbst sein. Ohne seine Mutter im Rücken, ohne Vorbehalte und Verpflichtungen.
Kein weiterer Wagen und kein Mensch waren zu sehen. Auf der Veranda standen zwei Holzstühle und ein kleiner Tisch. Arno ging hoch und klopfte an die Tür. Das Haus war abgesperrt. Er sah sich um. Die Wiese und die Bäume glänzten im Abendlicht, über den Büschen am Rande der Lichtung schwebten brummend dicke Käfer, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er kniff die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Vor jedem Fenster waren Läden und diese geschlossen. Er versuchte, durch die schmalen Lamellen einen Blick in das Innere zu werfen. Bis auf die Geräusche des Waldes war alles still.
Unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte, ging er zum Verandageländer, drückte sich dagegen und schaute auf die Lichtung und den Wald vor ihm. Seine Hände strichen über das glatt geschliffene Holz. Das Problem war nicht nur, dass er durchgefahren war, ohne irgendwo Halt zu machen, um zu essen. Er war einen ganzen Tag zu früh, weil er seiner Mama und ihren Querelen entkommen wollte. Und nun wusste er nicht, wo er war, wem das Haus gehörte und wie er in der Dunkelheit den Weg zurückfinden sollte.
Zumindest in diesem Punkt konnte ihm sein Navi helfen, fiel ihm ein. Er konnte ein Ziel eingeben und so lange herumfahren, bis es eine Straße fand. Er hatte keine Lust sich hier draußen in der Wildnis zu verirren.
Als er über die Wiese ging, knirschten trockene Blätter, kleine Äste und die Rückenpanzer großer Käfer unter seinen Schritten. Seine Zuversicht und seine freudige Erwartung beim Anblick der Jagdhütte waren einer nervösen Unruhe gewichen. Er langte durchs offene Wagenfenster, griff nach dem letzten Rest Mineralwasser, das in der Ablage an der Tür steckte, lau und abgestanden, leerte sie endgültig und schaute auf die Uhr. Fragte sich, ob er warten sollte oder doch sofort zurückfahren?
Plötzlich fiel ihm ein, dass er auch aufs Tanken vergessen hatte.
»Heilige Scheiße!« Sein Blick wurde leer. Er kniff die Augen zusammen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Die Benzinuhr stand praktisch auf null. Durch die Klimaanlage hatte er mehr verbraucht als gedacht und auch nicht darauf geachtet. Resigniert schloss er die Augen, senkte den Kopf, aus seiner Brust kam ein Ächzen. Er hatte niemand erzählt, wohin er fuhr und wusste nicht, ob Wanderer in diesem Gebiet unterwegs waren oder dies ein Stück Wildnis ohne Zivilisation war.
Das hieß, er durfte auf keinen Fall in die falsche Richtung fahren oder vom Weg abkommen, sonst war er verloren. Er war zwar Jäger und mit dem Wald vertraut, aber nur in seinem Revier. Dort bewegte er sich auf vertrauten Wegen. Wütend über seine Ungeschicklichkeit trommelte er auf das Lenkrad, spürte, wie seine Zähne knirschten und fragte sich, wie lange er in diesem Wald ausharren konnte, bis er entweder hinausgefunden hatte oder ihn jemand aufspürte. Bei diesem Gedanken lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
Arno Daniels verfluchte Gott und die Welt. Warum konnte er auch nicht warten bis morgen. Sie waren für Sonntag verabredet. Sie hätten sich abreden können, dann würde er jetzt nicht hier sitzen. Allmählich knurrte ihm der Magen und im Bauch flatterte ein Anflug von Panik, die er sofort energisch zu unterdrücken versuchte.
»Ich kann jetzt fahren und zusehen, dass ich eine Straße finde oder bis morgen abwarten«, sagte er laut vor sich hin, weil er damit das Gefühl hatte, nicht völlig allein zu sein. »Wenn das seine Hütte ist, kommt er morgen, und wenn nicht, kann ich auch morgen fahren, bei Tageslicht. Aber verdammt, wie viele Jagdhütten stehen denn in diesem bescheuerten Wald? Vermutlich zwei, und ich bin an der Falschen.«
Unschlüssig ging er noch einmal zum Haus und klopfte an die Tür. Lauschte eine Weile und hämmerte dann mit der Faust dagegen. Vielleicht war doch jemand hier, einen Versuch war es wert.
Drinnen war kein Laut zu hören.
»Hallo! Ist jemand zu Hause?«, rief er und wartete. Aber nur das vielfache Zwitschern, Zirpen, Brummen und Kreischen des Waldes antwortete ihm. Mehr verwirrt als wütend trat er gegen die Tür, wandte sich um und lief zum Wagen zurück. Gerade als er den Motor anließ, bildete er sich ein, ein Geräusch zu hören. Er stellte den Motor wieder ab und stieg aus. Obwohl die Sonne im Westen bereits hinter den Bäumen verschwand und die Luft merkbar abkühlte, war ihm heiß. In der jähen Stille konnte er deutlich einen Wagen hören, der den Weg entlangkam. Rasch ging er zum Haus zurück, setzte sich auf die Verandastufen, legte vornübergebeugt seine Arme auf die Schenkel und schaute mit unbeteiligter Miene auf den schwarzen Wagen, der auf die Lichtung einbog.
* * *
Voller Zuversicht fuhr Heimo Börnstein durch den Wald. Schaute nach links und nach rechts in die Bäume ringsum, auf das Spiel von Licht und Schatten und atmete tief die sonnendurchflutete Luft ein.
Jeder neue Tag bringt neue Chancen und Möglichkeiten, die man zuvor vielleicht gar nicht geahnt hatte, dachte er, und lächelte in freudiger Erwartung. Ihm schien, es war an der Zeit, nicht länger darüber nachzudenken, was zu tun war, sondern es einfach laufen zu lassen. Warum sollte er auch grübeln? Das Schicksal hatte ihm ein Glückslos in die Hand gespielt und er hatte zugegriffen. In aufgeräumter Stimmung fuhr er den Fahrweg entlang, malte sich das überraschte Gesicht seines Freundes aus und grinste übermütig.
Reinhard würde morgen ankommen und sich, geschäftig, wie er war, sofort damit auseinandersetzen, wo sie beginnen sollten, wo die beste Gelegenheit wäre, ein Mädchen aufzugabeln, wo sie ohne Umstände und Risiko zuschlagen könnten. Vermutlich hatte er schon Pläne und Plätze im Kopf. Dabei warteten bereits zwei dieser Dinger im Keller auf sie. Heimo lachte lauthals auf, als hätte er sich gerade an ein besonders lustiges Detail erinnert. Die beiden waren ihm praktisch in den Schoß gefallen, er hatte eigentlich nichts dazu tun müssen. Er hatte sie bloß aufgesammelt.
Über dem Weg tanzte ein dichter Schwarm Mücken. Von der Sonne war jetzt nur noch ein schwacher Rest über den Bäumen zu sehen. Die Luft hatte merklich abgekühlt, als er unbedarft und fröhlich in Erwartung des bevorstehenden Abends aus dem Wald kam. Ein Fischreiher kreiste über der Lichtung und drehte gelassen ab, als er ihn bemerkte. Sein Schatten huschte über ihn hinweg. Plötzlich stutzte er und trat unbewusst auf die Bremse. Auf der Lichtung stand ein fremder Wagen.
»Heilige Scheiße, was will der da?«, murmelte er, während er blitzschnell seine Optionen durchging. Ein unbekannter Wagen war erst mal eine unbekannte Gefahr, danach ein Risiko. Auch wenn es nur ein verirrter Tourist war, den er wegschicken konnte und anschließend nie wieder sah.
Wie ein Polizist aus der Gegend sah der nicht aus, dachte er, auch wenn er keine Ahnung hatte, welche Wagen die Polizisten hier fuhren. Zum Zurückfahren war es ohnehin zu spät. Dazu müsste er umdrehen, aber jede Flucht wäre ein Schuldeingeständnis. Der Unbekannte hatte ihn sicher längst entdeckt.
Heimo fluchte in sich hinein und wünschte er hätte einen Revolver im Wagen. Geladen und entsichert. Jeder verdammte Gangster im Film hatte so ein Ding unter dem Sitz oder im Handschuhfach. Er war bloß zu feige, das Ding mit sich herumzuführen, weil er damit bei einer Verkehrskontrolle Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Als ob irgendwann einmal ein Polizist unter seinem Sitz nachgesehen hätte.
Das Mädchen im Keller war kein Problem, das fanden sie nicht. Die Tür zum Keller war gut versteckt, der Raum gedämmt. Die konnten sie nicht hören. Aber die Kleine im Kofferraum machte ihm Sorgen. Sie würde bald aufwachen. Sie hatte zwar jede Menge von dem Zeug getrunken, aber er wusste nur zu gut, dass alle von ihnen anders darauf reagierten. Es gab keinen gültigen Richtwert. Und wenn sie zu früh aufwachte und kotzen musste, hatte er bis in die Nacht zu tun, um den Wagen wieder sauber zu bekommen.
Abgesehen davon, dass ihm davor ekelte.
Er versuchte nachzudenken, durfte jetzt nichts falsch machen. Plötzlich war alles anders. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt und sein Herzschlag ging zu schnell. Langsam rollte er auf die Lichtung. Seine Augen rasterten die Umgebung, suchten nach einem Anhaltspunkt, nach einer Person, die am Waldrand herumstrich, nach einer möglichen Gefahr. Dann erkannte er an der Nummerntafel des Wagens, dass der aus demselben Bezirk kam, wie er. Sein Unterkiefer klappte herab, seine Gesichtshaut straffte sich. Hatte Reinhard einen anderen Wagen? Der wollte doch erst morgen kommen. Sie hatten telefoniert.
Heimo hob den Kopf, blickte sich um und schaute auf die Veranda der Jagdhütte, seine Miene von Verwirrung gezeichnet. Da saß ein Kerl im Schatten der Dämmerung auf den Stufen und stierte auf den Wagen. Fassungslos starrte er mit zusammengekniffenen Augen in dessen Gesicht.
»Oh Scheiße. Das ist Arno Daniels. Den muss Reinhard eingeladen haben«, keuchte er. Deswegen hatte er also gefragt. Er konnte es gar nicht erwarten, einen Freund einzuladen. Das warf natürlich auch seinen Plan über den Haufen, den ausgesuchten Kandidaten erst auszuhorchen, ob er auch gewillt und vor allem geeignet für ihr Tun war.
Heimo rieb sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, rief alles ab, was er über den Mann wusste. Er war nicht vorbereitet. Das gefiel ihm gar nicht.
Den Rücken angespannt vor Wut und Ärger stieg er aus dem Wagen, blieb danebenstehen und legte einen Arm auf das Wagendach. In den Bäumen ringsum hallte das Gezwitscher von Amseln, Finken und Drosseln wider. Er wartete, bis Arno sich erhob und von der Hütte herüberkam, dann setzte er ein geschäftsmäßig freundliches Lächeln auf.
»Arno, schön dich zu sehen. Was treibt dich in diese abgeschiedene Ecke der Welt.« Seine Augen glitzerten, als starre er in eine Streichholzflamme.
Arno Daniels trat verlegen grinsend näher und reichte ihm die Hand zum Gruß.
»Ich weiß, ich bin früh dran. Reinhard hat mich eingeladen, ein paar Tage mit euch zu verbringen und ich konnte es nicht erwarten, eure Hütte zu sehen und in die Berge abzutauchen.« Er trat von einem Fuß auf den anderen, drehte sich um und beschrieb mit der Hand einen Bogen, in dem er die Hütte und den Wald drum herum einschloss. »Das Ding ist ein Haus. Das ist ein echtes Blockhaus mitten im Wald.« Seine Hand ging hinter den Kopf und er kratzte sich im Nacken, riss die Augen auf und sah sich wieder um.
»Ein richtiges Schmuckstück.«
Heimo winkte ab, hob die Augenbrauen und antwortete ihm nicht.
Ich kann ihn nicht bitten, ›Hilf mir mal, ich habe da ein Mädchen im Kofferraum‹, dachte er. ›Sie ist zufällig auch aus unserer Stadt. Ich kenne ihren Vater und werde sie heute Abend oder morgen ein paar Mal vögeln und in den nächsten Tagen durch den Wald jagen, um sie zu töten.‹ Er wandte den Blick ab und als er sprach, war seine Stimme leise.
»Sieht größer aus, als es ist. Das sind die dicken Stämme. Ich habe die Hütte nicht selbst gebaut. Ich habe sie vor ein paar Jahren gekauft und nach und nach eingerichtet. Ist mit der Zeit ganz wohnlich geworden.« Er musterte Arno, sah die Beschämung in seinen Augen. Doch dann blickte er ihn herausfordernd an, als habe er eine übergreifende Gewissheit gefunden, die dem Chaos in seinem Kopf ein Ende bereitete.
»Hattest wohl Ärger mit deiner Mutter, nicht wahr?«
Arno Daniels senkte den Kopf. Sein Blick wanderte über die Lichtung und blieb irgendwo am Waldrand, in den Schatten zwischen den Bäumen hängen, seine Wangen färbten sich leicht. Manchmal hatte er das Gefühl, jeder in der Stadt kannte seine Mutter und ihrer beider Verhältnis.
»So ist sie eben, macht sich Sorgen, redet mir ins Gewissen, will mein Leben bestimmen. Ich kenne sie nicht anders und ich werde sie nicht mehr ändern. Nicht in diesem Leben, was soll´s?« Seine Schulter zuckte nervös und Heimo konnte ihm ansehen, wie peinlich ihm die Sache war. Er spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, ihn noch eine Weile zappeln zu lassen, überlegte dann aber, wann und wie weit er Arno einweihen konnte. Er musste Susanna in den Keller bringen, bevor sie aufwachte, wollte er keinen Ärger. Die Mädchen waren friedlicher, wenn sie eine Weile in die Kiste gesperrt waren.
»Komm erst mal ins Haus«, meinte er in versöhnlichem Ton, klopfte ihm kurz auf die Schulter, führte ihn zur Hütte und ließ ihn eintreten.
Damit war zumindest die Gefahr gebannt, dass er die Kleine im Kofferraum schreien oder klopfen hörte.
Heimo Börnstein war stolz auf das Anwesen. Das Blockhaus war groß und dennoch gemütlich eingerichtet. Nach einem geräumigen Flur kam man in das große Zimmer, eingerichtet im Stil der alten Tiroler Bauernhöfe, mit massiven Holzbänken, einem riesigen Tisch, an dem eine gesellige Runde feiern konnte. An der gegenüberliegenden Wand war ein offener Kamin aus groben Flusssteinen, über dem zahlreiche Äxte in den verschiedenen Formen und Größen hingen. Daneben stand ein zerschlissenes Chesterfieldsofa, an den restlichen Wänden waren Felle aufgespannt und allerlei präparierte Reh- und Hirschköpfe. Auf dem Boden vor dem Kamin lag ein Bärenfell. In der Ecke stand ein mit grünem Filz bespannter Billardtisch, dazu die Glasvitrinen, in denen er seine Jagdgewehre aufbewahrte und in der anderen Ecke eine gut bestückte Bar mit Vinothek. Am Boden davor eine Kiste tschechisches Bier.
Staunend betrachtete Arno die Einrichtung, während Heimo die Läden öffnete und frische Luft hereinließ. Er schaltete die Beleuchtung ein, die behagliche Lichtinseln schuf. Im Haus war es angenehm kühl.
Arno tastete den Raum mit seinen Blicken ab. »Wow, hier lässt es sich aber aushalten, würde ich meinen.«
»Willst du etwas essen oder trinken? Wie lange bist du gefahren? Mach dir´s bequem.« Heimo fuhr sich nervös mit den Fingern über die Stirn. Er senkte den Blick und spielte leise klappernd mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche herum, die Fragen nur hingeworfen, um selbst nachdenken zu können.
»Gibt es hier eine Toilette? Damit wäre mir schon geholfen«, antwortete Arno und setzte wieder ein verlegenes Grinsen auf.
»Na klar. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert und immer noch in Europa«, feixte Heimo und ging voraus. »Strom kommt vom Dach. Ich habe Photovoltaik, einen Wind- und einen Dieselgenerator. Fließend Wasser von einer Quelle mit Speicher in der Nähe. Reines Gebirgswasser. So gut kennst du es nicht von zu Hause. Die Toilette geht über ein Reinigungssystem und wird der Natur zugeführt.« Er lachte über Arnos verblüfftes Gesicht. »Die zweite Tür. Die Dritte ist das Bad, gegenüber liegt die Küche. Ich hab draußen noch zu tun, muss ein paar Vorräte in den Keller schaffen. Wenn du hungrig bist, mach dir schon was zu essen, der Kühlschrank ist gut gefüllt und im Schrank daneben findest du alles andere. Ich bin in zehn Minuten wieder da.«
* * *
Verena Brooks hockte in ihrem Käfig, ihr Gesicht grau und leblos und stierte im schwachen Lichtschein der Glühbirne, die mehr Schatten als Licht erschuf, auf die Gitterstäbe vor ihr, ohne sie auch nur wahrzunehmen.
Sie hatte vor zwei Tagen die letzten Reste von dem Zeug in der Schüssel zusammengekratzt und gegessen, dass ihr der Kerl, der sie entführt hatte, durch die Luke geschoben hatte. In ihrem Bauch wühlte bohrender Hunger. Eine halbe Flasche Wasser war noch da. Dann würde der Durst zu ihr kommen. Sie fragte sich, ob der auch so unerbittlich war, wie sein nagender Bruder, der Hunger. Ihr Hals war wund vom Schreien, das sie längst aufgegeben hatte. Bei jedem Atemzug, den sie machte, lief ein Zucken über ihr Gesicht. Sie fühlte sich schmutzig, hilflos und war sich seit geraumer Zeit bewusst, dass sie in diesem Keller sterben würde. Doch irgendwo tief in ihrem Inneren war ihr klar geworden, dass ihre Furcht vor dem Tod mit jedem Tag, den sie überlebte, kleiner wurde.
Wir können uns die Stunde unserer Geburt genauso wenig aussuchen wie die Zeit und die Art unseres Todes, dachte sie verbittert, außer wir nehmen es selbst in die Hand. Wenigstens hätte dann die Angst ein Ende. Die Angst, dass er zurückkommen und sie schlagen und vergewaltigen und die Angst, dass er nicht mehr kommen und sie ihrem Schicksal überlassen würde. Den Tod, bis vor Kurzem etwas völlig Abstraktes für sie, das nur anderen passierte und niemals Einfluss auf ihr eigenes Leben hatte, betrachtete sie nun als willkommenen Freund, der zu ihr kam, sie zu befreien.
Als sie den Schlüssel hörte, der sich im Schloss drehte, hob sie den Kopf und war verwundert, dass der Tod für so etwas Simples, wie eine Tür, einen Schlüssel brauchte.
»Ich bin hier, habe auf dich gewartet«, krächzte sie, und strich mit den Fingern über den Betonboden, aber nur ein heiseres Flüstern kam über ihre aufgesprungenen Lippen.
Mit schweren Schritten stapfte die dunkle Gestalt an ihr vorbei, ohne sie zu beachten und warf einen Sack in die Kiste am Ende des Flurs. Verena starrte auf die kleinen Staubfahnen, die seine Füße aufwirbelten. Sie tanzten wie graue Schleier vor ihren Augen und ihr wurde klar, dass es nicht der Tod persönlich war, der sie besuchen kam. Es war sein niederträchtiger Vertreter.
Das Böse lebt in der Seele mancher Menschen und schlüpft in vielerlei Verkleidungen, um die Unschuld anderer zu rauben und ihr Glück zu zerstören. In ihrem Fall war es ein Mensch, der aussah wir der nette Nachbar von nebenan, dem sie vertraut hatte, und zu dem sie in den Wagen gestiegen war.
»Um dich kümmere ich mich später. Essen und Trinken bringe ich auch.«
Der Kerl, der sich Peter Baur nannte, klopfte mit einem metallenen Gegenstand an die Gitterstäbe, wie ein kleines Kind, das nicht am Affenkäfig vorbeigehen konnte, ohne daran zu rütteln, um die Aufmerksamkeit der Tiere zu fordern, die dort eingesperrt waren.
»Nein, bitte nicht. Bitte nicht gehen«, wisperte Verena. Sie stieß die Worte durch ihre geschundene Kehle, um sich Gehör zu verschaffen und hasste sich zugleich für ihre Schwäche, für ihr Betteln. Ihre Stimme war heiser vor Tränen. »Lass mich nicht allein.«
»Du bist nicht mehr allein. Du hast jetzt Gesellschaft und in ein paar Tagen lasse ich euch ohnehin laufen. Dann ist der Spaß vorbei.« Er rümpfte die Nase. »Ich werde dich waschen müssen. Du stinkst wie ein Rudel Schweine. Machst mir bloß Arbeit.«
Er blieb neben der Kellertür stehen, steckte einen Schlüssel in eine versenkte Klappe, drückte Knöpfe und schon hörte Verena das leise Surren eines Ventilators und spürte den warmen Luftzug, der durch den Raum ging, wie ein wiedererwachtes Lebenszeichen.
Seine Worte klangen in ihrem Kopf nach.
›Du bist nicht mehr allein‹, hatte er gesagt, und ›... ich lasse euch frei.‹ Die Gedanken taumelten in ihrem Kopf herum. Da war ein anderes Mädchen in der Kiste. Das war kein Sack, den er gebracht hatte, das war ein weiteres Entführungsopfer. Ein tiefes Raunen grollte in ihrer Brust und ihre Schultern sackten nach unten. Sie konnte die Angst des Mädchens spüren, die sie beim Aufwachen empfinden würde, wie ihre eigene, kroch nach vorne ans Gitter und streckte die Hände hinaus.
Ich muss ihn hinhalten, dachte sie. Er muss bleiben, bis sie aufwacht, damit er sie aus der Kiste holt. Sie wird vor Angst halb wahnsinnig sein.
»Bitte nicht gehen. Bitte geh nicht. Ich will mich waschen.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich die ganze Erschöpfung, die Augen waren stumpf und blicklos, als seien sie auf einen einzigen Gedanken gerichtet, den sie tief in sich trug.
»Du kannst es wohl nicht mehr erwarten, dass ich zu dir komme«, grinste er dreckig und musterte sie von oben bis unten. »Erst muss ich dich sauber bekommen, dann können wir spielen.«
Verena versuchte ein Lächeln aufzusetzen, die Haut um ihre Mundwinkel verzog sich zur Grimasse. Er wandte sich ab und ging durch die Tür hinaus. »Bis später!«
Enttäuscht ließ Verena die Arme sinken. In ihrer Miene lag das Entsetzen der Erkenntnis, dass sie wieder allein war. Sie ließ sich nach vorne fallen, drückte die Stirn an die Käfigstäbe und wartete auf das Knirschen des Schlüssels.
Am Ende des dunklen Flurs, dort wo die Schatten sich zur tiefen Dunkelheit sammelten, hörte sie gleich darauf das Kratzen von tastenden Fingern auf Holz.
Das Mädchen in der Kiste war aufgewacht. Ihre Füße scharrten über das Holz, sie atmete schwer und schniefte laut. Verena hielt den Atem an und lauschte auf das lang gezogene Stöhnen und dem dumpfen Schrei, dem das Trommeln von Fersen auf Holz folgte.
»Hilfe! Ich bin eingeschlossen. Wo bin ich? Daddy, ich habe Angst!« Ihre Stimme klang, als schleife sie über trockenes Laub.
»Ist okay. Er lässt dich raus, aber es wird eine Weile dauern«, antwortete Verena mit verschleiertem Blick. Sie versuchte, sich auf das Mädchen zu konzentrieren. Denn da war gar nichts okay. Wenn er sie herausließ ging der Alptraum erst richtig los. Aber wie sollte sie ihr das sagen, wie darauf vorbereiten?
»Lass mich raus! Wo bin ich? Ich bekomme keine Luft!«
»Du musst ruhig atmen, hörst du? Da sind Luftlöcher in der Kiste. Du kannst sie nicht sehen, weil es zu dunkel ist, aber du wirst nicht ersticken.«
Das Mädchen hämmerte mit den Fäusten gegen die Wände, die sie gefangen hielten. Verena drehte sich herum, drückte ihren Rücken an die Stäbe, kauerte sich hin und wartete, bis es sich ausgetobt hatte. In der folgenden Stille konnte sie das Summen des Ventilators und das Weinen des Mädchens hören.
»Ich kann dir nicht helfen. Ich bin auch eingesperrt. Es wird eine Weile dauern, aber er kommt und holt dich da raus«, wiederholte sie und richtete ihren Blick in die hinterste Ecke des Kellers, dort wo die Spinnen und Käfer wohnten, die ab und an über den Boden ihres Abteils huschten.
»Wer bist du?«
Ihr Mund öffnete sich und sie gab ein trockenes Geräusch von sich.
»Mein Name ist Verena und ich wurde vor ein paar Tagen entführt. Was haben wir heute für ein Datum, ich weiß nicht, wie lange ich hier bin?«
»Heute ist der fünfundzwanzigste Juni.«
»Oh Scheiße, dann sitze ich seit einer Woche hier. Ich wurde am Achtzehnten entführt. Wie ist dein Name?«
»Susanna.«
»Wie alt bist du Susanna, du hörst dich jung an.«
»Sechzehn.«
»Oh Gott, dieser Scheißkerl.«
»Ich kenne ihn. Er ist Versicherungsagent in unserer Stadt«, schluchzte Susanna.
»Auch das noch«, flüsterte Verena und ihr Bauch flatterte plötzlich vor Angst. Er würde sie nicht laufen lassen, nicht am Leben lassen. Unmöglich. Es sein denn, er wusste nicht, dass sie ihn kannte. Sie wagte nicht zu fragen, fürchtete die Antwort. In dem einsetzenden Schweigen war nur das Rasseln ihres Atems zu hören. Das Licht der Glühbirne flackerte unruhig.
»Er kennt meinen Vater, warum macht er das?«
Damit waren ihre Chancen zu überleben, auf null gesunken. Verena sank zu Boden, ihre Schultern bebten und sie weinte mit Susanna.
* * *
»Es war eine blöde Idee.«
»Was war eine blöde Idee? Sag mir, was war eine blöde Idee? Dass ich dieses Hotel gebucht habe?« Mary-Ann Koller starrte ihren Freund Kyle Barber für einen langen Moment mit herausfordernder Miene an, dann wandte sie ihren Blick wieder der Straße zu, die in der Hitze zu zerfließen schien. Mary-Ann war dunkelhaarig, Ende zwanzig, trug weiße Levis, eine rostrote Bluse und Ohrringe mit goldenen Reifen. Unter ihren Achseln breiteten sich dunkle Schweißflecken aus. Die über die Hügel brechenden Strahlen der Sonne überzogen das karge Land, durch das sie fuhren, mit einem orange-gelben Schleier aus Staub. Es schien nur aus Geröll und kurzem Gras zu bestehen. Vom Meer trieben blendend weiße Wolken heran und einen Moment dachte Kyle Barber Salzwasser in der Luft zu schmecken, aber dann klarte der Himmel wieder auf und der Spuk war vorbei.
»Das Kroatiending. Ans Meer zu fahren. In diesen Club«, sagte er und streckte das Kinn nach vor. »Das war eine blöde Idee von dir.«
Er war groß und kräftig. Sein Gesicht tief gebräunt. Seine Augenbrauen und sein Haar so blond, dass es fast weiß wirkte und seine Augen hatten das intensive Blau eines Alpensees, tief und unergründlich. Er trug Jeans, cremefarbene Boots und ein ausgebleichtes T-Shirt. Mit einem schnellen Blick auf den Tacho vergewisserte er sich, dass er die Höchstgeschwindigkeit einhielt. Er neigte dazu, bei Frust oder Ärger schneller zu fahren, als erlaubt war und wollte sich in einem fremden Land keinen unnötigen Ärger aufhalsen. »Ich hasse Club-Urlaube. Den ganzen Tag am Strand sitzen und in der Sonne braten. Am Abend in der Bar herumhängen und mit Typen quatschen, die dir von ihrem Job erzählen und sich für den Mittelpunkt der Welt halten.«
»Das sind völlig normale Menschen, wie du und ich. Sie halten sich nicht für den Mittelpunkt der Welt. Sie gehen ihren Jobs nach, haben Familie, Kinder, im Sommer Urlaub und wollen sich unterhalten. Small Talk, verstehst du? Was hast du gegen diese Leute?«
»Das sind die gleichen Leute, die ich das ganze Jahr um mich habe. Das ist kein Urlaub für mich! Das ist keine Erholung, kein Ausspannen, kein ›Ich bin dann mal weg vom Alltag‹. Das ist eine Verlagerung meines Büros in einen Club, nicht mehr. Wir hatten abgesprochen, dass wir dieses Jahr in die Berge zum Wandern fahren. Warum hast du meine Buchung storniert? Das hast du doch, oder nicht? Was sollte das? Du weißt, dass ich Überraschungen hasse und ganz besonders diese Art von Überraschung.« In Kyles Kopf war ein Geräusch, wie das weiße Rauschen des Meeres in einer Muschelschale. Er presste die Augen fest zusammen und riss sie weit auf. Mary-Ann hatte ihm vor etwa einer halben Stunde gestanden, dass sie ihr gemeinsames Urlaubsziel geändert und umgebucht hatte. Sie hatten die Grenze von Slowenien zu Kroatien passiert und er hatte eine Bemerkung über die Wanderroute gemacht, als sie ihn davon informiert hatte. Die nächste halbe Stunde hatte er kein Wort mehr gesagt.
»Wir haben diesen Urlaub in den Bergen gemeinsam geplant, warum hast du jetzt alles verworfen?«
»Du weißt, dass ich die Berge und das Wandern hasse«, herrschte sie ihn an, beleidigt von seiner Reaktion. »Ich laufe doch nicht in der Hitze durch irgendwelche Urwälder, lasse mir von Moskitos das Blut aussaugen und mich von Wölfen fressen. Ich will auch nicht wie ein Höhlenmensch in einem Zelt am Boden schlafen, wenn ich ans Meer und die Sonne und die Annehmlichkeiten eines Hotels genießen kann, und das weißt du.«
»Aber wir haben das doch alles besprochen. Du wolltest mir eine Chance geben, ein paar Tage den Urlaub intensiv zu leben. In der Natur unterwegs, nur du und ich.«
»Ah, haben wir? Ein paar Tage außerhalb der Zivilisation und ich werde zum Tier. Wie soll ich mich in einem Zelt schminken? Wovon soll ich leben? Soll ich auf allen Vieren herumkriechen und Erde unter den Fingernägeln herauskratzen?«
»Du hast keine Ahnung vom richtigen Leben. Du kennst nur das Urbane, das Unnatürliche, das Künstliche. Für dich zählt nur das Oberflächliche.«
»Komm mir doch nicht mit oberflächlich.« Sie warf ihm von der Seite einen verächtlichen Blick zu, und wandte sich schnell wieder ab. »Sieh dich doch nur an. Ohne mich würdest du wie ein Neandertaler in Felle gehüllt daherkommen und Wildschweine vor der Höhle grillen.«
Kyle Barber lachte laut auf. »In Felle gehüllt? Was soll der Blödsinn nun wieder. Bloß weil ich Anzug und Krawatte hasse. Ich stecke den ganzen Tag in dieser albernen Verkleidung, ich will nach Feierabend wenigstens ein kleines bisschen ich selbst sein. Was hast du gegen Jeans und T-Shirts.«
Die graue Autobahn schlängelte sich endlos in der weiß flimmernden Sonne von Istriens Hochland. Kyle war, als ob der Wind vom Meer, der in immer mächtigeren Böen heranjagte, sie von der Straße blasen wollte. Staubwolken tanzten neben und über der Straße, wie verrückte Geister und lösten sich sofort wieder ins Nichts auf. Vor ihnen fuhr ein vollgepackter alter Golf mit Dachbox und schien alle Zeit der Welt zu haben.
»Scheiße! Pass doch auf, wo du hinfährst. Fahr nicht so knapp an den Vordermann. Willst du uns umbringen?« Aus Mary-Anns sonnengebräuntem Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Musst du mir immer sagen, was ich tun und lassen soll? Ich bin alt genug, auf mich selbst aufzupassen. Ich sollte dich in deinem Club abliefern und allein wandern gehen. Dann kann ich wenigstens tun und lassen, was ich will und muss nicht ans Meer.«
»Dann verziehst du dich am Abend eben ins Zimmer oder gehst am Strand oder meinetwegen im Dorf spazieren, wenn du nicht im Hotel bleiben willst. Und wenn wir schon beim Thema sind, was hast du eigentlich gegen das Meer?«
»Danke für die Erlaubnis alleine rausgehen zu dürfen. Du verstehst gar nichts, nicht wahr? Du hörst mir nicht zu. Du lebst nur dein Leben und willst mich da reinzwängen, willst mich in deine Schablone pressen und in deine Schublade stecken, damit ich dir und den Leuten, mit denen du dich umgibst, gerecht werde.«
»Fahr auf die erste Spur zurück, da will einer vorbei und gib acht, lass erst den schwarzen Audi vorbei.«
»Fahren sie rechts ab, biegen sie links ein, bitte wenden«, murrte Kyle. »Bist du mein Fahrlehrer, mein Navi oder meine Aufpasserin? Ich fahre, also lass das Ständige reinquatschen.«
»Fahr bei der nächsten Ausfahrt raus, ja. Du brauchst etwas zu essen. Dein Blutzuckerspiegel liegt am Boden, das macht dich übellaunig. Das nächste Autobahnrestaurant ist vierzig Kilometer weiter, bis dahin habe ich dich erwürgt oder du krachst in einen anderen Wagen. Dort ist eine Ausfahrt. Na los, fahr rechts und dort raus! Wir suchen uns ein Restaurant und gehen essen.« Ihr Gesicht war gerötet, an der Schläfe pochte eine blau-grüne Ader.
Kyle blickte in den Himmel, ließ seine Augen über die Straße vor ihm wandern und biss die Zähne aufeinander.
»Lass diesen Blödsinn!«, knurrte er endlich.
»Das ist kein Blödsinn, fahr diese verdammte Ausfahrt raus! Kannst du nicht hören?«
»Du sollst mich nicht immerzu bevormunden und mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe!« Ungehalten unterstrich er jedes Wort, indem er mit der Faust auf das Lenkrad hämmerte.
»Das ist mein Wagen! Würdest du bitte etwas vorsichtiger damit umgehen. Fahr jetzt rechts raus!« Mary-Anns Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.
Kyle spürte, wie die Wut in seinem Kopf pulsierte und sich eine dunkle Wolke in sein Sichtfeld schob. Eigentlich wurde er nur selten ärgerlich, dieses Mal jedoch hatte sie den Punkt getroffen, wo es wehtat. Zitternd vor Spannung bog er in die halbkreisförmig angelegte Abfahrt ein und verließ die Autobahn. Der Wind trieb Staubwolken die Straße entlang und rüttelte an den Pinien, die sie daneben gepflanzt hatten. Er schaltete die Klimaanlage aus, öffnete sein Fenster und ließ die heiße Luft ins Wageninnere strömen.
»Na bitte, geht doch. Da vorne ist eine Ortschaft, da fährst du langsamer, damit ich mich umsehen kann. Und mach das Fenster zu und die Klima wieder an. Bei den Temperaturen komme ich sonst um.«
Kyle biss die Zähne zusammen, versuchte seinen Ärger hinunterzuschlucken und fuhr schweigend weiter.
»Du musst nichts sagen. Wir besprechen das, wenn du gegessen hast, dann wird auch das Meer für dich wieder passen. Vorsicht, ein Radfahrer! Warum hältst du an?«
»Das ist dein Wagen, also fahr gefälligst selbst. Du kannst es ohnehin besser.« Die Sonne stand weiß am Horizont und die Luft über der Straße flimmerte in der Hitze. Seine Miene schien völlig unbewegt, während er aus dem Wagen stieg. Die Haut auf seiner Stirn und an den Wangen glänzte vor Schweiß. Mary-Ann richtete sich in ihrem Sitz gerade auf, sah hinauf in den ausgewaschenen blauen Himmel und zwinkerte mit den Augen.
»Du weißt doch, dass ich so weite Strecken nicht gerne fahre, also steig wieder ein.«
Ohne auf ihre Worte einzugehen, ging Kyle zum Kofferraum, öffnete den Koffer und die Sporttasche, die sie für ihn gepackt hatte und räumte ein paar Sachen aus.
Sie stieß ihre Tür weit auf und rief ihn in genervtem Ton, als ob sie es mit einem pubertierenden Kind zu tun hätte, aber er antwortete nicht.
»Wenn Männer sich etwas einbilden, dann aber richtig! Können wir bitte wieder weiterfahren?«, mahnte sie ihn, und in ihrer Stimme klang dieser leise, gereizte Ton mit, den Kyle nur allzu gut kannte. Er ließ den Blick noch einmal über die verstreuten Kleidungsstücke wandern, schloss die Sporttasche und warf den Kofferraumdeckel zu.
»Alles klar. Du kannst fahren. Wir sehen uns nach dem Urlaub. Wirf meine Sachen in einen Koffer und gib sie der Nachbarin. Ich hole sie dort ab, wenn ich mal in der Stadt bin.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen, hob winkend den Arm und ging die Straße entlang. Das Sonnenlicht schien wie heller Nebel in den Bäumen über ihm, die Luft roch nach südländischen Kräutern, Rosmarin, Thymian, zwischen den Häusern pickten magere Hühner unter den üppigen Sträuchern. Die Vorgärten hallten wider vom Sirren der Zikaden.
Verdutzt blickte ihm Mary-Ann hinterher.
»Sag mal, was soll das? Spielst du jetzt auf beleidigt?« Mehr verblüfft, als verärgert sprang sie aus dem Wagen und rief ihm nach. »Kyle!« Sie hatte die Arme ausgestreckt und das Kinn in die Höhe gereckt, mit wild flackernden Augen, aber er war bereits zu weit weg und konnte sie nicht mehr hören.
»Wie ich diesen Männerschwachsinn hasse!« Hin und hergerissen zwischen Frust und Ärger blickte sie ihm nach, ihre Augen wurden schmal vor Zorn, der in ihrer Brust hochstieg. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, ging um den Wagen herum, stieg ein und ließ ihn langsam im ersten Gang anrollen.
»Komm schon, Kyle, steig ein und lass den Quatsch!«, stieß sie beherrscht hervor, als sie auf seiner Höhe war und blickte konzentriert auf die Straße vor ihr, aber er reagierte nicht.
»Hör auf dich wie ein trotziger Teenager zu benehmen und steig ein!«
Kyle wechselte die Sporttasche in die andere Hand und wandte sich, in Gedanken schon weit weg, für einen Moment ihr zu, ließ den Blick über die Häuser und Sträucher wandern und ging weiter, ohne sie noch einmal zu beachten.
Mary-Ann hupte. An ihrem Hals traten die Muskeln und Sehnen wie straff gespannte Seile hervor.
»Okay, okay, du hast gewonnen. Wir fahren ein paar Tage in die Berge und dann ans Meer. Steig ein, ich möchte essen fahren.«
Kyle blieb stehen, sah gelangweilt in die andere Richtung, als ob sie gar nicht existieren würde, drehte abrupt um, ging hinter ihrem Wagen vorbei über die Straße und verschwand in einer schmalen Gasse zwischen alten Häusern.
Ihre Hände verkrampften sich um das Lenkrad, bis sie wehtaten. Sie starrte unverwandt auf die Straße, die vor ihr in der Hitze flimmerte. Dann trat sie auf die Bremse, schrie all ihren Frust und Ärger, der in ihr tobte hinaus und wartete, dass er zurückkam. Eine Alternative kam für sie nicht in Frage. Nach Minuten, in denen sie fast hysterisch wurde, nahm sie das Handy und klopfte verbissen darauf herum. Am liebsten hätte sie es ihm hinterhergeworfen oder besser noch, in den Rachen gestopft.
»Kannst du dann endlich hier antanzen, damit wir weiterfahren können ...«, bellte sie in den kleinen Lautsprecher und atmete schnaubend aus.
Doch nur die Stille eines toten Telefons antwortete ihr. Kyle hatte sie sofort weggedrückt. Entgeistert betrachtete sie das Telefon in ihrer Hand und wählte noch einmal seine Nummer, wurde aber sofort auf die Mailbox verwiesen. Sie versuchte vergeblich einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ich hasse dich, du Scheißkerl.« Mary-Anns Gesicht brannte im Zorn, in dem sie gefangen war.
Er wird kommen, sagte sie sich. Immer wieder. Was sollte er auch sonst tun? Sie hatte die Hoteladresse und Buchungsbestätigung in ihrer Tasche. Er musste also kommen.
Nach zehn Minuten wischte sie mit den Händen über ihr Gesicht, das sich glitschig und fiebrig anfühlte. Der Gestank von Deo und Schweiß strömte aus ihren Achselhöhlen. Sie startete den Wagen, schloss das Fenster und fuhr los, in den Augen jetzt ein schmerzhaftes Zucken.
Kyle ging den Weg zwischen den alten, schlicht verputzten Häusern entlang. Die Straße kaum mehr als ein grober Kiesweg. Vereinzelt standen Bäume in winzigen Vorgärten. Vor einem Lebensmittelladen waren Obst und Gemüse in Kisten neben dem Eingang gestapelt. Die behagliche Stille eines heißen Nachmittags legte sich über ihn. Die Luft roch nach Staub, Ozon, nach gebratenem Fisch und nasser Wäsche, die auf den Leinen zwischen den Häusern trocknete.
Ich kann nicht mehr, dachte er. Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe alles für sie gegeben. Was ist bloß aus dem netten Mädchen geworden, das ich vor einem Jahr kennengelernt habe. Wir haben uns verliebt und alles war gut. Aber allmählich wurde sie beherrschender, mäkelte an seiner Kleidung, seinem Aussehen, seinem Verhalten herum. Nichts war mehr in Ordnung. So lange, bis er ein anderer Mensch war, nicht mehr er selbst, nur noch ein Klon, den er gelegentlich von außen betrachtete und nicht mehr erkannte. Er fühlte sich immer öfter ausgesetzt, ausgegrenzt und völlig fremd. Sie sah in ihm nicht den Menschen, der er war, sondern einen, den sie haben wollte. Er begann sich zu fragen, ob er sie noch liebte, auf die eine oder andere Art, aber da war nichts. Sie war ihm so fremd geworden, wie eine Frau, die er zufällig in der Stadt getroffen hatte, um ein paar belanglose Worte über das Wetter mit ihr zu wechseln.
Er zuckte mit den Schultern, versuchte die Gedanken abzuschütteln und wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen, während er weiterging, ohne auf seine Schritte zu achten. Bloß ein Jahr, um wegzuschauen, das Lächeln dieses hübschen Mädchens nicht sehen, das ihm damals den Kopf verdreht hatte.
In Gedanken verloren schaute er die Straße entlang, versuchte sich zu orientieren und hatte mit einem Mal das Gefühl, als wäre er an einem magischen Ort angelangt, der losgelöst von seiner Welt war. Irgendwie war er in einen Teil der Stadt gekommen, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Sogar die Zikaden verharrten in der Mittagshitze mit ihrem Sirren. Kyle ging langsam weiter, als würde jeder schnelle Schritt den Zauber zerstören, nicht sofort, nur mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Nach fünfzehn Minuten durch enge Gassen, die er wahllos links oder rechts liegen ließ, kam er an eine breitere Straße. Er stellte die Sporttasche ab, hockte sich daneben und drückte den Rücken gegen die Wand. Eine leichte Brise wehte von Osten heran und wirbelte den Staub vor seinen Füßen hoch. Zwei Kinder liefen am Rand eines Grabens entlang und bewarfen sich gegenseitig mit matschigen Früchten. Ihre ausgebeulten Hosen hingen am Gesäß nach unten und ihr unbeschwertes Lachen hallte zwischen den Häusern wider. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das erste seit langer Zeit und er bemerkte überrascht, dass er sich so wohl fühlte, wie schon lange nicht.
Bald darauf hielt ein klappriger Bus am Straßenrand, die Tür ging auf und der Fahrer schaute ihn fragend an. Kyle erhob sich mit knarzenden Knien und stieg ein.
»Kamotrebaici?«, fragte der Chauffeur.
Kyle dachte nach. »Ich weiß es nicht genau. Wohin fährst du?«
»Willst du nach Mocra Gora? Dort wollen alle Touristen hin, um mit dem Kanu die Tara hinunterzufahren.«
»Nein. Ich will in die Berge. Hoch hinauf.«
»Du siehst nicht wie ein Jäger oder Wanderer aus, bist du sicher, dass du dorthin willst?«
»Wie sehe ich denn aus?«, nickte Kyle zu dem Fahrer hoch.
»Wie ein verlorener Tourist«, erwiderte der Buschauffeur. »Hat dich eine Frau versetzt?«
»Bring mich in die Berge.«
Drei Stunden und viele Haltestellen später hielt der Bus in einem der Dörfer an, in denen sie vorbeikamen und der Fahrer winkte Kyle. »Wir sind da. Ich hoffe, du findest, was du suchst.«
Sie waren immer höher hinauf in die Berge gefahren, die Straßen gesäumt von dichten Wäldern, vorbei an tiefen Abgründen, entlang eines türkisfarbenen Flusses. Die Luft, die durch die offenen Fenster hereinströmte, war allmählich kühler geworden und der Himmel über ihnen hatte ein intensives Blau angenommen.
Kyle kletterte aus dem Bus und sah sich um. Das Dorf war klein und wirkte verschlafen. Die meisten Häuser aus Feldsteinen gebaut und roh verputzt.
Die Straßen lagen im Schatten alter Bäume. Das Gras zwischen den Häusern war blassgrün, in den Beeten davor wuchsen Rosmarin, Thymian, Oregano und andere Kräuter, die Zufahrten kaum mehr als ein Streifen aus grobem Kies, wie eine altertümliche Straße, die aus der nackten Erde hervortrat. Über den Wiesen am Waldrand dahinter verstreut lagen abgebrochene Äste, die der letzte Sturm von den Bäumen gerissen hatte.
Er schaute nach rechts und nach links und ein tiefes, zufriedenes Lächeln legte sich über sein Gesicht.
Der erste Augenblick beim Ankommen, das erste Mal durchatmen, der erste Eindruck nach einer langen Anfahrt war für ihn stets wie eine Begrüßung. Sie konnte abweisend, unfreundlich oder gleichgültig sein. Sie konnte aber auch herzlich, willkommen oder einladend sein.
Eine junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Schatten der Häuser eintauchte, blickte zu ihm herüber und lächelte freundlich. Kyle hob die linke Hand zu einem Winken und die Frau straffte unwillkürlich die Schultern, sah aber zu seinem Bedauern nicht zurück. Er wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn die Straße zurückwandern.
Ja, hier gefällt es mir, dachte er, und zog los, ein Gasthaus zu finden. Er hatte Hunger und Durst. Unwillkürlich tastete seine Hand nach der Brieftasche und ihm fiel ein, dass er all ihr Geld bei sich hatte. Ihr gesamtes Urlaubsbudget, das sie gewechselt hatten, hatte er in der Tasche. Seine Freundin Mary-Ann hatte nur ihre Kreditkarte dabei. Kyle dachte einen Augenblick darüber nach und lächelte dann in sich hinein. Froh, die Entscheidung getroffen zu haben, die ihm schon eine ganze Weile zugesetzt hatte.
Nach dem Essen wanderte er durch das Dorf, um eine Bleibe für die Nacht zu finden. Die Straßen waren mittlerweile voll mit Touristen. Familien, Wanderer, Jäger und Straßenvolk. Ausgespuckt von drei Reisebussen, die am Dorfrand im Schatten der Bäume geparkt waren. Missbilligend betrachtete er das bunte, laute Treiben, dass mit einem Male das kleine Dorf erfüllte. Er wich einer Gruppe junger Männer aus, entdeckte ein Geschäft für Sportsachen und ging hinein.
»Wollen sie wandern, angeln oder jagen?«
Kyle drehte sich um, schaute über die von der Sonne beschienen Regale und entdeckte in einer Ecke ein paar Bögen, Pfeile und daneben Rucksäcke.
»Jagen«, antwortete er, und ließ seinen Blick über die Bögen wandern. Sie waren sauber gefertigt, vermutlich koreanische Qualitätsarbeit, in verschiedenen Stärken. Ein Mann trat hinter einem hohen Regal hervor, in dem sich Schlafsäcke, Matten und Zelte stapelten, blieb stehen und stützte die Hände in die Hüfte. Er hatte eine Baskenmütze schräg auf dem Kopf sitzen und grinste vergnügt.
»Wollen sie auf die Jagd? Bei uns darf man mit dem Bogen jagen.«
»Ja?«, antwortete Kyle und nickte, zufrieden mit sich und der Welt.
Als er wieder herauskam, war er umgezogen, hatte das halbe Budget für ihren Urlaub drinnen gelassen und war gerüstet für ein paar Wochen in den Bergen, mit Rucksack, Schlafsack, Zelt, Seilen, Axt, Messer, einem Bogen und zwei Dutzend Pfeilen mit Jagdspitzen.
Gut gelaunt setzte er sich auf eine Bank unter einem Baum, sortierte seine Sachen aus dem Koffer und steckte einiges in den Rucksack. Den weitaus größeren Teil, Hemden, Schuhe und zwei Anzüge stopfte er in den Koffer zurück und schenkte ihn einem Jungen, der in der Nähe stand und ihn verblüfft betrachtete.
Es war ein herrlicher Spätnachmittag, als Kyle aufstand und seine nächsten Schritte überlegte. Der Himmel über den Hügeln war lavendelfarben, mit feurigen Streifen durchsetzt und die Sonne glühte orangerot zwischen den Bergen. Sein Blick war auf die Dächer der Häuser und vom Krieg zerstörten Villen entlang der Straße und auf die über den Gärten kreisenden Vögel gerichtet, als hielten sie die Antwort auf eine Frage bereit, die er sich bislang nicht gestellt hatte.
Er ging hinaus aus dem Dorf, durch stille Gassen, in denen Kästen mit reifem Obst und Gemüse auf dem Bürgersteig standen und folgte dem Fluss, der daneben her floss. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Luft war trocken und warm, in der Dunkelheit tanzten die kleinen gelben Lichter der Glühwürmchen. Kyle wusste genau, wo er heute nächtigen würde. Irgendwo höher oben, unter den Sternen, mit dem Rauschen des Wassers, das ihn in den Schlaf wiegen würde.
* * *
»Oh nein, das war unser Bus!« Die Stirn leicht gerunzelt, hob Vanessa Harrer die Hand, wie um den Bus hinterherzuwinken, ein zaghafter Versuch, ihn anzuhalten. Doch der beschleunigte, ohne Anstalten zu machen, an der Haltestelle stehen zu bleiben. Qualmend und nach verschnittenem Diesel stinkend verschwand er bereits zwischen all den anderen Autos, Kleinlastern, Wohnmobilen und Gespannen, die an diesem späten Nachmittag die Straßen der kleinen Stadt am Fuße des Tara-Gebirges verstopften. Sie dachte noch daran, ihm nachzulaufen, auch wenn es keinen Sinn machte, ließ es dann aber bleiben.
»Unser Bus?«
»Ja. Der uns in die Berge bringen sollte. Der jetzt ohne uns dort hinauffährt. Mit einer Handvoll Touristen an Bord. Der Bus war bloß halb besetzt, soweit ich gesehen hab. Was soll das? Warum hat er nicht angehalten? Der muss uns doch gesehen haben?«
»Nehmen wir eben den Nächsten.« Nicoletta Grimm zuckte mit der Schulter und sah die Straße zurück, als ob sie einen nachfolgenden Bus erwarten würde. Die Sonne stand zwei Handbreit über den Wäldern am Horizont, die Luft über dem Asphalt war getrübt von den Abgasen der Fahrzeuge und flimmerte in der Hitze. Reglos hingen die von Staub überzogenen Blätter an den Bäumen am Straßenrand, das Laubdach warf gesprenkelte Schatten auf den Gehweg. Alte Männer mit sonnenverbrannten Gesichtern, weißen Hemden und schwarzen Hosen saßen auf ausgeblichenen Bänken unter den Bäumen und schauten mit reglosen Mienen dem Treiben zu.
»Der fährt vermutlich erst am Abend. Wenn überhaupt heute noch einer fährt.« Katja wandte sich von der Anzeigentafel ab und musterte die Menschen, die sich als winzige Miniaturwesen in ihrer Sonnenbrille spiegelten, als sie an ihr vorbeigingen. »So genau ist das nicht ersichtlich. Hier stehen ein paar Zeiten und seltsame Zeichnungen dahinter.«
»Das sind Abkürzungen. Du musst die Abkürzungen und Erklärungen unten nachlesen.« Frustriert schüttelte Vanessa den Kopf und trat zu der Anzeigentafel, der Freundin zu helfen und die Geheimnisse des Plans zu entziffern.
»Abkürzungen? Da wäre ich jetzt nicht draufgekommen«, erwiderte Katja genervt und strich mit der Hand über ihren Nacken. »Soweit kann ich auch einen Busplan lesen. Es gibt hier kein ›Unten‹. Die Erklärungen fehlen.«
»Das kann doch nicht sein.«
»Ist es aber. Wir sind nicht in Österreich. Die ticken hier anders. Der Bus sollte auch viel später losfahren. Wir waren früh genug hier.«
»Was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung. Wir improvisieren. Da vorne ist eine Tankstelle, da fragen wir. An der Tankstelle wissen sie sicher, ob und wann der nächste Bus geht«, unterbrach Nicoletta die beiden beschwichtigend.
Sie liefen über die Straße, ohne auf den stockenden Verkehr zu achten, zwischen Urlaubern und heimischem Volk, das den Andrang der Touristen gelassen hinnahm und gingen in den angrenzenden Laden.
»Heute fährt kein Bus mehr in die Berge«, antwortete der Betreiber auf ihre Frage. Er furchte die Stirn, wirkte einen Moment lang in sich gekehrt, als sinne er über einen Gedanken nach. »Heute nicht mehr. Ihr seid zu spät. Heute fährt er nur noch zurück.«
»Gibt es in der Stadt eine Möglichkeit zu übernachten?«
»Habe ich grade drüber nachgedacht. Das wird schwierig. Die Hochsaison hat bereits begonnen. Wenn ihr nicht reserviert habt, werdet ihr nix finden.«
»Wir könnten uns doch einen Park suchen und dort die Zelte aufschlagen, wir schlafen im Wagen oder Campieren neben der Straße am Stadtrand«, schlug Nicoletta vor, als sie aus dem Laden traten.
Vanessa schüttelte den Kopf und hob einen Arm über die Augen, fast entsetzt über den Vorschlag.
»Im Wagen schlafen? Zu dritt? Oder neben der Straße? Bist du verrückt. Bei all den Freaks, die herumlaufen, willst du neben der Straße campieren. Nicht mit mir!«
»Im Wald, wo du mutterseelenallein bist, ist das Okay, und hier nicht?«
»Im Wald laufen auch Freaks herum, aber die verschleppen dich nicht in ihren Autos, vergewaltigen und werfen dich irgendwo raus. Das ist der Unterschied.«
»Was machen wir also?«
»Wir gehen in die Stadt und versuchen dort unser Glück.«
»Wir könnten auch selbst in dieses Dorf fahren und den Wagen später holen.«
»Das wollte ich eigentlich vermeiden. Die Tour wird anstrengend und wir wollten danach ans Meer. So verlieren wir wegen des Hin- und Herfahrens zumindest einen halben Tag.«
Hinter ihnen kam ein Wagen von der Tankstelle und blieb stehen. Das von der Windschutzscheibe reflektierende Sonnenlicht war blendend hell. Ein Mann stieg aus, legte lässig eine Hand auf das Autodach und schaute zu ihnen herüber.
»Ihr wollt entweder den Berg hinauf oder in die Stadt und habt den Bus verpasst, nicht wahr?« Er hatte langes, zotteliges Haar, einen Bart, ein Stirnband und trug verspiegelte Sonnenbrillen, hinter denen man seine Augen nicht sehen konnte. Vanessa und Katja starrten ihn misstrauisch an.
»Ja genau. Wir wollten in die Berge zum Wandern, haben aber den Bus verpasst und wissen im Moment nicht, wo wir übernachten können«, antwortete Nicoletta. »Kennen sie vielleicht ein Hotel oder etwas Ähnliches in der Nähe.« Sie trat einen Schritt nach vorn und hob die Hand, um sein Gesicht in dem blendenden Licht zu sehen. Entgeistert schauten Vanessa und Katja erst einander und dann sie an.
»Die Hotels sind alle ausgebucht. Ist immer so, um diese Zeit.« Der Mann schaute in den Himmel und trommelte mit den Fingern auf das Autodach. Es war ein uralter Opel in der Farbe dunkler Regenwolken.
»Ihr könntet es bei einem Privatvermieter versuchen. Dazu müsstet ihr durch die Stadt gehen und auf Schilder achten, wo Zimmer vermietet werden und noch frei sind.« Er legte den Kopf schief. Ein Windstoß fegte ihm die Haare vor den Mund. »Ich bin auf dem Weg nach Mocra Gora, das liegt am Ausgangspunkt der Tara-Schlucht. Ich könnte euch mitnehmen und vor Ort einen Schlafplatz organisieren.«
Nicoletta war bereits am Losgehen, als ihr Katja die Hand auf die Schultern legte und sie zurückhielt.
»Nein!«, zischte sie. »Bist du verrückt? Das ist zu gefährlich. Da stehen drei Mädchen mit einem Berg an Gepäck am Straßenrand und plötzlich kommt jemand daher, fragt, wohin wir wollen und fährt zufällig in die gleiche Richtung. Hättest du gesagt, du willst in die nächste Stadt, wäre er dorthin unterwegs gewesen.«
Sie schaute an Nicoletta vorbei und lächelte verlegen.
»Wir gehen in die Stadt und fragen nach einem Zimmer.«
Stefan Kovacic nickte und blickte zur Seite. Seine Augen wanderten über die Rucksäcke, die Matten, Decken und Schlafrollen.
»Wie ihr wollt. Viel Glück bei der Suche und einen schönen Tag.« Er stieg in den Wagen und winkte im Wegfahren aus dem offenen Fenster, Katja konnte seine Hand sehen und war erleichtert.
»Das war beinahe zu offensichtlich«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Nicoletta. »Der hatte nichts Gutes im Sinn, und sei es nur, dass er den Abend mit uns verbringen wollte und wir später nicht wissen, wie wir ihn wieder loswerden.«
»Du bist zu misstrauisch«, meinte Nicoletta.
»Und du bist zu leichtgläubig«, erwiderte Katja.
»Wie auch immer. Wir müssen los und ein Zimmer suchen.« Vanessa warf einen Blick auf das durcheinandergewürfelte Gepäck und kramte ihren Rucksack heraus, sie konnte es kaum glauben.
»Ich möchte nicht neben der Straße oder in einem Park in der Stadt übernachten«, schnaubte sie. »Ich bin weder eine mittellose Studentin noch eine Obdachlose.« So hatte sie sich ihren Aktivurlaub nicht vorgestellt. Da waren überhaupt keine Alternativen angedacht, fiel ihr jetzt ein. Kein Plan, falls etwas nicht funktionieren sollte, der Bus sie einfach stehen ließ oder sie kein Zimmer fanden.
»So eine Scheiße aber auch«, murrte sie. Das Dilemma mit dem Bus kam in ihrer Welt nicht vor, das war nicht geplant, das hatte sie nicht einmal in Betracht gezogen. Busse fuhren nicht grundlos an wartenden Fahrgästen vorbei.
»Irgendetwas wird sich finden.« Nicoletta nahm ihren Rucksack auf, packte die Matten und den Schlafsack darauf und steckte die Daumen unter die Gurte, um ihn auszubalancieren. »Wir klappern einfach alles ab, bis wir etwas finden oder sich jemand erbarmt und uns aufnimmt«, sagte sie, und ließ ihren Blick die Straße entlangwandern. Auf der Suche nach ersten Hinweisen, einem Halt für die Verlorenen, bis er sich selbst verlor, in den Bäumen neben der Straße. Wind kam auf, spielte in den Blättern über den Köpfen der alten Männer auf den Bänken und wirbelte Staub und welkes Laub unter ihren Füßen durcheinander.
»Und wenn wir nichts finden, fahren wir selbst und haben eben einen Tag weniger am Meer.«
Übellaunig folgten sie ihr, die kaum beunruhigt war, die wieder einmal nichts aus der Ruhe bringen konnte. Vanessa schaute zu Katja, die ihren Rucksack samt allen angeschnallten Zubehör hinterherzog, wie einen Koffer auf Rollen, obwohl der Rucksack keine Rollen hatte, nur über die heiße Straße schabte.
Plötzlich verharrte sie, beinahe erstaunt ob der seltsamen Zufälle, die das Leben manchmal bereithielt und Katja lief auf sie auf. Sie hatte nicht achtgegeben, schubste Vanessa einen Schritt weiter. Die starrte auf einen Mann, der aus einem großen schwarzen Wagen stieg, der eben auf die Tankstelle gefahren war, um den Wagen herumging und den Zapfhahn in die Tanköffnung steckte.
»Den kenne ich doch«, rief Vanessa halblaut. »Das ist Reinhard Frost. Was macht der in diesem Nest?«
»Wer ist Reinhard Frost?«
»Der Politiker. Kennst du den nicht? Er ist in den Zeitungen, war sogar schon mal im Fernsehen und lacht bei Wahlen an jeder passenden und unpassenden Ecke von Plakaten.«
»Die Welt ist klein. Vielleicht will er wandern, hier Urlaub machen. Wenn man bekannt ist, sucht man abgeschiedene Orte, um auszuspannen.«
»Ich frage ihn!«
Spontan setzte sich Vanessa in Bewegung, mit einer Bemerkung über die Schulter. »Mehr als ein ›Nein‹ kann er nicht sagen.« Nicoletta und Katja blieben stehen und warteten darauf, was passierte. Unruhig starrten sie ihr hinterher. Wortlos.
Weil Worte sie ohnehin nicht erreicht hätten.
Sie stand bereits neben dem Wagen, schüttelte ihre dunklen Locken aus und redete mit ihm. Sie konnten ihre Worte, die vom Lärm der Straße überlagert waren, nicht verstehen. Vanessa zeigte in ihre Richtung, die Straße entlang, auch die Mimik nicht zu verstehen, obwohl es um sie ging. Der Mann sah sie an, zögerte, schaute wie beiläufig in die Bäume neben der Straße, als Ruhepol gegen den Verkehr, dort machten einige Autofahrer laut hupend ihrer Unmut Luft und blinzelte verwirrt.
Er sah wieder Vanessa an, mehr ein Mustern von Kopf bis Fuß, vielleicht wartete er auf eine Antwort und sie sagte etwas, das ihn das Gesicht verziehen ließ. Dann nickte er und zuckte mit den Schultern, offenbar hatte sie ihn doch noch überredet. Sie winkte hektisch und lachte ihnen entgegen. »Wir haben Glück, er nimmt uns mit!«
Nicoletta strahlte Katja an, beugte sich zu ihr und zog sie am Arm. »Komm schon!« Ihr kleiner, aber klarer Befehl. Sie gingen zur Tankstelle zurück und begrüßten den Politiker, den nur Vanessa erkannt hatte.
»Ich kann euch doch nicht mit dem ganzen Zeug hier stehen lassen, wenn heute kein Bus mehr fährt. Also steigt ein.«
Er zeigte ein sonniges Lächeln, eingeübt in vielen Stunden vor dem Spiegel, gewinnend, so nimmt man sein Publikum ein, und ging zum Kofferraum. Da drinnen lagen Rucksack, Wanderschuhe, ein kleiner Koffer, ein länglicher, schmaler Koffer, zwei Kisten Bier und eine Schachtel Lebensmittel. Alles Dinge, die bei ihnen in den Rucksack passen mussten. Er folgte Katjas Blick hinunter zu dem länglichen Koffer, der ganz hinten, fast im Verborgenem, lag.
»Ich bin zur Jagd hier«, erklärte er, und Katja fragte sich, ob das eine Rechtfertigung für ihn war oder Geprotze. »Ein Freund hat eine Jagdhütte in den Bergen.« Mit ein paar Griffen machte er Platz für ihre Rucksäcke und hob auch schon Katjas hoch, bevor sie noch etwas sagen konnte. Ihr blieb nur zurückzutreten, um selbst Platz zu machen.
»Ihr wollt nach Mocra Gora zum Wandern, ein reizvolles Ziel. Wilde Gegend, aber traumhaft schön«, und verharrte einen Moment, als würde er Bilder in seinem Kopf abrufen. Sein Gesicht glänzte, wirkte straff, wie eine Maske und er schaute sie an, als wüsste er Bescheid, über die Schwäche der Menschen.
»Ich müsste zuvor bei der Hütte vorbeischauen und die Sachen abgeben, sonst tauen die Tiefkühlsachen auf, ist das in Ordnung? Danach fahre ich euch ins Dorf. Ich muss ohnehin da rauf und Munition kaufen. Ich will nicht die ganze Strecke mit Gewehr und Munition herumfahren, deswegen kaufe ich sie immer erst hier.«
»Wenn es keine Umstände macht?« Katjas Blick ging unbeabsichtigt zu dem länglichen Koffer, der jetzt völlig verdeckt unter ihren Rucksäcken lag. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit ostentativ auf den Mann, der ihren Rucksack in den Wagen gehoben hatte, als wäre es ein leerer Wäschesack.
»Nein. Wie gesagt, ich muss ohnehin ins Dorf. Ich wäre sonst erst morgen früh gefahren, aber wenn ich das heute erledige, kann ich morgen ausschlafen«, lachte Reinhard Frost, der Politiker aus ihrer Stadt und die Freundinnen, etwas verlegen mit ihm.
Sie fuhren los, die Mädchen plapperten fröhlich. Erleichtert, jetzt doch noch eine sichere Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben. Sie fuhren hinaus aus der Stadt, überholten ein Wohnmobil und ließen die letzten Häuser hinter sich. Staubwirbel tanzten auf den frisch geeggten Feldern neben der Straße und in der Ferne sahen sie Schwarzstörche, die über ein Tannenwäldchen flogen, wie verstreute Blütenblätter.
* * *
Heimo Börnstein trat ans Fenster seiner Blockhütte, mit der Hand schon am Vorhang, warf einen Blick hinaus auf die Lichtung und schaute auf Reinhard Frosts Wagen, der auf dem holprigen Weg schaukelnd bis vor die Veranda fuhr. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
»Bin gleich wieder da!«, rief er Arno Daniels zu, der mit einem Glas Bier seine Waffen in den Glasvitrinen bewunderte. Besonders die Winchester Model 70 Extreme Weather hatte es ihm allen Anschein nach angetan. Er konnte kaum die Augen davon abwenden. Mit ein paar Schritten war Heimo bei der Tür, nur mit Mühe den Wunsch unterdrückend, dem Gast ein ›Die Gewehre bitte nicht anfassen!‹ zuzurufen. Es gab da ein paar Dinge zu klären, bevor Reinhard ins Haus kam und sie nicht mehr offen sprechen konnten. Er sprang die drei Stufen von der Terrasse hinunter, blieb vor seinem Freund stehen, der aus dem Wagen stieg und schaute entgeistert auf die drei jungen Frauen, die darin saßen. Reinhard sah zum Himmel hinauf, zerfaserte weiße Wolken zogen von den Hügeln im Osten herüber. Der Wind, der vom Tal heraufkam, war voller Blütenstaub von unzähligen Blumen, die dort an den Hängen wuchsen.
Heimo winkte den Mädchen in einer freudlosen Geste zu und blaffte Reinhard mit verhaltener Stimme an.
»Was soll der Scheiß? Wieso nimmst du die mit? Sie sind zu dritt. Was ist mit unserer Abmachung?«
»Sie haben mich an der Tankstelle erkannt und angesprochen. Hätte ich sie stehen lassen sollen? So eine Gelegenheit bietet sich nicht oft.«
»Du musst sie loswerden, es sind zu viele.« Heimo unterbrach sich und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Was heißt das, sie haben dich erkannt?«
»Zumindest eine, die mit den dunklen Locken, weiß, wer ich bin. Sie ist aus unserer Stadt, verdammt! Sie sind zum Wandern hier, haben den Bus versäumt und mich an der Tankstelle angesprochen. Ein blöder Zufall. Ich konnte sie unmöglich stehen lassen. Wenn dir die Sache zu heiß ist, laden wir die Getränke und die Lebensmittel aus und ich bringe sie in die Stadt. Sie haben dort ein Zimmer gebucht.«
»Scheiße! Das ist nicht gut. Niemand! Absolut niemand sollte erfahren, dass ich hier ein Jagdhaus habe. Hier verschwinden junge Mädchen.« Heimo wandte seinen Blick ab und schaute zum Haus, wo die klimpernden Geräusche eines Windspieles herüberklangen. »Sie werden sich an dich erinnern. Irgendwann. Sie werden etwas in den Nachrichten hören oder lesen und sich erinnern. Sie waren hier im Urlaub. Da liest man schon nach, sieht ein zweites Mal hin, wenn es um verschwundene Mädchen geht. Das ist nicht gut.«
»Willst du sie nun hierbehalten, oder nicht?« Reinhard zog die Augenbrauen hoch, legte eine Hand auf das Wagendach und grinste, dann zwinkerte er Heimo voller Selbstvertrauen zu. »Oder hast du Sorge, sie nicht zu schaffen, dann sind zwei für mich und eine für dich.« Er ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen und erstarrte plötzlich.
»Wem gehört eigentlich der Wagen dort hinten. Du bist doch nicht mit zwei Autos hier?«
»Das ist die nächste Sache, die ich mit dir besprechen muss. Der Wagen gehört Arno Daniels. Der Typ vom Baumarkt.«
»Ich kenne Arno«, unterbrach ihn Reinhard. Er senkte verlegen den Kopf.
Heimo bückte sich und sah nach den Mädchen im Wagen, sein Gesicht verkniffen, die Augenwinkel von kleinen Fältchen zerfurcht. Dann lächelte er, fast so, als freute er sich, während seine Gedanken im Kreis rasten. Er hatte sich mit Reinhard nicht abgesprochen und jetzt ein mittleres Chaos. Kein Großes. Nein! So schlimm war es auch wieder nicht. Er hatte alles im Griff. Es gab keinen Ärger, bloß ein paar Punkte zum Klären.
Da unten sind vier Käfige, dachte er. Zwei an jeder Seite des Raumes. Die Drei mussten sie trennen, also blieb die Kleine in der Kiste. Das würde ihr nicht gefallen, war aber nicht zu ändern.
»Die Woche wird turbulent«, murmelte er, nur hörbar für Reinhard und kratzte sich an der Nase. »Wir müssen sie auch entsorgen, können nicht alle in den Fluss werfen, andererseits bei einem Bootsunfall müssen die Drei auf jeden Fall zusammenbleiben. Dazu kommt, dass wir keine in Reserve behalten können, der Anfahrtsweg ist zu weit und ich kann eine Weile nicht hierherfahren. Das wird sonst langsam riskant und ich will keinen Unmut zu Hause.« Er schaute in das Zwielicht am Rande der Lichtung, legte seine Hand in den Nacken und spürte, wie das Blut unter den Fingern pochte.
Sie hatten zehn Tage, fünf Mädchen und Arno am Hals. Sein Blick ging zum Haus und zur hell erleuchteten Veranda, als müsste er noch entscheiden, wie sie weiter verfahren sollten.
Dort stand Arno am Fenster und winkte freundlich. Seine Schritte hallten auf der Veranda wider, als er aus dem Haus trat. Er beugte sich nach vor, stützte sich mit einer Hand aufs Geländer und hob die andere mit dem halb vollen Glas in ihre Richtung.
»Hallo Reinhard«, rief er halblaut in die Dämmerung. »Du hast die Mädchen gleich mitgebracht, wie ich sehe.«
Heimo erstarrte und sah seinen Freund an, beinahe bedauernd, als ob er nicht recht bei Trost wäre.
»Was meint er damit?«
»Ich weiß nicht«, zischte Reinhard, und schaute von Heimo zu Arno, der jetzt die Stufen herunterkam. »Ich habe ihm bloß erzählt, dass du eine Jagdhütte hast. Von einer Einladung war nicht die Rede, und von Mädchen schon gar nicht, verdammt!«
»Freut mich dich zu sehen«, strahlte Arno und neigte den Kopf, um einen Blick in den Wagen zu werfen. »Ich bin einen Tag früher gekommen als geplant. Konnt´s nicht mehr erwarten.« Er trank einen Schluck von seinem Bier und zwinkerte Heimo über den Glasrand zu. »Und es gefällt mir immer besser hier. Ihr habt euch in diesem Wald ein richtiges Männerparadies geschaffen.« Er hob seinen Arm, um einen Halbkreis anzudeuten, schaute zum Haus und zögerte, als er Heimos verwunderte Miene bemerkte.
»Das geht doch in Ordnung, dass ich einen Tag früher gekommen bin?« Er stockte einen Moment, drückte die Hand an den Mund und schluckte. Sein Blick ging zu den Mädchen im Wagen.
»Ich zahle natürlich meinen Anteil.«
»Oh Mann! Das sind keine Nutten«, knurrte Heimo und schaute weg, um seine Erleichterung zu verbergen. »Das sind Anhalterinnen, die Reinhard im Tal aufgegabelt hat. Ich weiß nicht, warum er sie hierhergebracht und nicht gleich ins Dorf gefahren hat.«
Er musterte Reinhard, der zum Haus sah, als hätte er dort ein neues Detail entdeckt, dass ihm bis jetzt nie aufgefallen war.
»Das sollte kein Vorwurf sein, nur eine Frage.«
»Gibt es ein Problem?«
Vanessa Harrer stieg aus dem Wagen, schüttelte ihre dunklen Locken und schaute unwillkürlich die unbefestigte Auffahrt auf und ab. Dann betrachtete sie misstrauisch die Männer im Abendlicht. »Wir wollten uns nicht aufdrängen. Wir waren nur planlos, das heißt, ich war planlos, nachdem uns der Bus nicht mitgenommen hatte. Der blöde Kerl fuhr einfach an uns vorbei.« Sie zuckte mit den Schultern und kratzte sich am Oberarm.
»Nein, nein. Kein Problem«, winkte Reinhard ab. »Wusste nicht, dass die beiden auch schon da sind. Und jetzt überlegen wir wegen des Einkaufs. Bis wir in die Stadt kommen, haben die Geschäfte vermutlich geschlossen. Das heißt, ich könnte noch einen Kaffee trinken, bevor ich euch ins Dorf bringe. Es wird spät werden, bis ich zurück bin.«
»Könnten sie uns trotzdem sofort dorthin fahren? Wir sind müde und müssen morgen früh raus.« Heimo sah, wie ein fragender Ausdruck auf ihr Gesicht trat.
»Ja klar, wie ihr wollt. Ich lade nur meine Sachen aus und checke den Bestand wegen des Einkaufs. Vielleicht bekomme ich ja doch die paar Kleinigkeiten, die wir brauchen und erspare mir morgen den Ausflug.«
Er ging zum Kofferraum, nahm zwei Rucksäcke aus dem Wagen, die er neben sich stellte, hob eine große Kühlbox heraus und trug diese zum Haus. Vanessa schaute ihm nach. Sie wirkte ruhig, wenn auch mit Gedanken beschäftigt, die sie an ihrer Unterlippe kauen ließen.
Das Mädchen mit der Kurzhaarfrisur rutschte vom Sitz, stieg aus dem Wagen und sah ihm nach, ohne die geöffnete Wagentür loszulassen.
»Er bringt ein paar Sachen ins Haus und fährt uns dann ins Dorf«, erklärte Vanessa unaufgefordert.
Heimo holte ein Säckchen Nüsse aus seiner Tasche, warf sich eine Handvoll in den Mund und zermahlte sie mit dem Kiefer. Er zuckte mit den Schultern und schaute Arno an, der etwas verlegen mit seinem Bierglas am Wagen stand und versuchte, die Mädchen nicht anzustarren.
Noch gäbe es die Chance, sie bei gutem Wind loszuwerden, dachte Heimo. Andererseits kannten sie jetzt die Hütte, den Standort, wussten, dass da drei Männer waren und sie kannten ihre Gesichter. Sie könnten im Dorf über sie reden. Obwohl, wer würde im Dorf auf sie hören. Sie waren Touristen wie viele, die kamen und gingen.
Ein lang gezogener Schrei, dumpf und quälend, zog über die Lichtung und ließ ihn aufhorchen. Er hatte die Entlüftungsklappen hinter dem Haus geöffnet, fiel ihm plötzlich ein und merkte, wie ihm Schweißperlen über den Rücken liefen.
»Was war das?« Katja hob den Kopf und lauschte. Doch das Sirren der Zikaden in den Bäumen, die für einen Augenblick ausgesetzt hatten und das Gezwitscher der zahlreichen Vögel übertönte wieder alle anderen Geräusche. Eine leichte Brise wehte über die Lichtung und bog das hohe Gras entlang des Weges.
»Das kam von hinter dem Haus«, erklärte Heimo achselzuckend. »Das ist der Windgenerator. Der steht hinter dem Haus und ich habe ihn dieses Jahr noch nicht gewartet. Hatte noch keine Zeit.«
Das Mädchen ließ ihre Augen über das Haus und den Wald wandern und musterte ihn mit forschend abweisender Miene, die Hand immer noch an der Wagentür.
»Kommt rein, ich hab was zu trinken und drinnen ist es kühler«, winkte Reinhard von der Veranda. »Ich werde noch zehn Minuten brauchen, dann können wir fahren. Ihr habt doch noch zehn Minuten Zeit?«
Vanessa Harrer und Nicoletta Grimm wandten sich dem Haus zu, stiegen die Stufen der Veranda hoch, um Reinhard zu folgen.
»Ich warte hier draußen!«, rief Katja mit starr nach vorn gerichtetem Blick und blieb mit verschränkten Armen neben dem Wagen stehen.
»Auch gut, ich kann euch die Getränke herausbringen«, sagte Reinhard und zeigte auf den grob gezimmerten Tisch in der Ecke der Veranda, die von einer riesigen Eiche beschattet war.
Katja zögerte, dann ging sie mit hölzernen Schritten durch das kniehohe Gras um das Haus und betrachtete das Windrad, das sich müde in der leichten Brise drehte. Zwischen den Gräsern flogen Hummeln und Schmetterlinge umher. Am Rande der Lichtung schwang sich ein grauer Reiher in den Himmel und schwebte auf weiten Flügeln über den Wald. Sie sah ihm nach, bis sein Kreischen verhallte.
Heimo ging ins Haus, holte Gläser, stellte sie auf das Tablett zu den drei Flaschen Mineralwasser, die Reinhard aus der Kühlbox genommen hatte und brachte alles auf die Veranda.
»Ich helfe Reinhard, dann kommt ihr rascher ins Dorf. Er hätte den Umweg fahren und euch zuerst absetzen sollen, will ich meinen. Ich war heute einkaufen, aber das wusste er natürlich nicht.«
»Es war wegen der Tiefkühlsachen«, rief Nicoletta Heimo nach, aber er ging durch die Tür, als ob er sie nicht mehr gehört hatte.
»Seid ihr aus Kärnten?« Arno hatte sein leeres Bierglas auf ein Fensterbrett gestellt und sich aus Reinhards Kühlbox die letzte Flasche Wasser geholt. Unschlüssig blickte er auf einen freien Stuhl am Tisch, trank einen langen Schluck aus der Flasche und lehnte sich an die Hauswand. Seine Wangen färbten sich leicht.
»Ja, wir sind zum Wandern hier«, erwiderte Nicoletta und griff nach dem Mineralwasser. Sie füllte ihr Glas und trank es zur Hälfte leer.
»Hier trink!«, Vanessa reichte Katja ein Glas über das Geländer. »Es ist herrlich kalt.«
»Wir wollen die nächsten Tage mit Jagen und Abhängen verbringen. Die Hütte gehört Heimo. Reinhard, der Typ mit dem ihr gekommen seid, ist ein Freund. Ich bin das erste Mal hier.« Arno trat zum Geländer und versuchte sich darauf zu setzen, aber es war zu hoch, um bequem zu sein. Er drehte sich um und schaute in den Wald, in den Schatten der Bäume, lauschte den Zikaden und trank aus der Flasche.
Vanessa musterte die Vorhänge, die sich im offenen Fenster im Wind wiegten, die Einrichtung, die toten Tiere, die als Dekoration an den Wänden hingen und ins Nichts starrten, die aufgespannten Felle und schauderte, als hätte ihr jemand mit dem Finger über den Rücken gestrichen. Sie nahm ihr Glas und trank daraus, als müsste sie einen schalen Geschmack im Mund loswerden. Irgendwo im Haus polterten die Männer auf einer Treppe, hinauf oder hinunter, das ließ sich nicht feststellen. Gesprächsfetzen drangen auf die Veranda, ohne dass sie einen Zusammenhang in ihrer Unterhaltung feststellen konnte. Es klang wie ein Brummen und Knacken, als ob sie mit dem Handy telefonieren würden und der Empfang schlecht war. Ihr Kopf wurde seltsam schwer und sie wurde sich bewusst, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatten. Der Kreislauf machte ihr zu schaffen. Sie richtete ihr Augenmerk auf Katja, die neben der Veranda auf die Knie gesunken war, vom hohen Gras umschlungen, und angestrengt in ihr Glas glotzte. Ein Bild wie gemalt. Die Ränder ihres Sichtfeldes begannen zu verschwimmen.
»Da stimmt etwas nicht«, sagte sie, und versuchte die Zusammenhänge zu erfassen. Ihre Worte kamen schwer und unverständlich über ihre Lippen.
* * *
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 4
Es gibt Erinnerungen, die man niemals aufgibt. Sie bleiben eingebrannt in das Gedächtnis. Wie in die Luft gemalt tauchen sie auf. In einem Lied, das man lange nicht gehört hat, im Sonnenuntergang über den Bergen oder beim Anblick eines Raubvogels, der majestätisch seine Kreise zieht.
Myra schloss die Augen, öffnete sie wieder und schaute hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft. Auf die Straße, den Fluss, der die Straße begleitete und die Berghänge, die sich von dichten Wäldern bedeckt, bis zum Horizont dahinstreckten. Ihr Blick war auf die Dächer der Häuser und vom Krieg zerstörten Villen entlang der Straße und auf die über den Gärten kreisenden Vögel gerichtet, sie dachte an ihren Vater.
Sie trug verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißen Lettern ›Born To Be Wild‹ prangte. Neben ihr am Sitz lag ihre khakifarbene Jacke mit vielen Taschen. Ihr Haar war schwarz wie Krähenfedern und wurde von einem roten Stirnband gehalten. Mit ihrem dunklen Teint, den hohen Wangenknochen und dem langen Haaren hätte sie auch als Model arbeiten können.
Auf die Frage nach ihrer Kindheit hätte Myra sicherlich mit einem Bild anstatt mit langen Erklärungen geantwortet. Sie hätte einen Samstagmorgen beschrieben, einen Ausflug in die Berge, um gemeinsam mit ihrem Vater auf die Jagd zu gehen.
Nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben war, als sie gerade mit der Schule begann, hatte er sich fürsorglich um sie gekümmert. Er hatte in Spätschichten hart gearbeitet, um für sie da zu sein. Immer in Sorge, dass eines Tages Leute von der Behörde vor der Tür stehen könnten, um sie mitzunehmen und sie in eine Pflegefamilie zu stecken. Seine Angst, bis sie sechzehn war.
Er war Jäger und eines der vielen Dinge, die er ihr beigebracht hatte, war das Überleben in der Natur. Sie waren in allen Jahreszeiten im Wald unterwegs. Für Stunden oder wochenends auch für die Nacht. Hatten sich vom Wald ernährt, unter Bäumen im selbst gebauten Unterschlupf geschlafen und beim Lagerfeuer dem Wind und seinen Geschichten gelauscht. Sie hatte die Lektionen ihres Vaters verinnerlicht, auch wenn sie sich dessen nie bewusst gewesen war.
Als sie sechzehn Jahre alt wurde, hatte sie ihr Vater in die Werkstatt hinter der Garage gebeten. Hier hatte er in einem verschließbaren Schrank seine Gewehre aufbewahrt. Normalerweise jagte er mit der Springfield, Kaliber 30-06 oder einer Krag-Jørgensen, Kaliber.30–40. Beide Waffen lagen auf der Werkbank, dazu eine Winchester Wildcat Kaliber.22. Sie hatte ihm schon oft beim Zerlegen, Reinigen und Ölen der Waffen zugesehen. War stumm danebengesessen und hatte ihn beobachtet, wie behutsam er mit den Teilen umging, sie auseinandernahm und zusammenfügte. An anderen Tagen wieder hatte sie ihm plappernd von der Schule erzählt, von Lehrern und Unterrichtsstoff, den sie nicht verstanden hatte. Er hatte zugehört, nachgedacht und ihr geduldig seine Sicht der Dinge erklärt, während sie schweigend gelauscht und er mit den Waffen hantiert hatte.
»Es wird Zeit, dass du lernst, mit einem Gewehr umzugehen.«
»Darf ich sie zerlegen oder zusammenbauen?«
»Ja, auch. Aber vor allem sollst du schießen lernen, um auf die Jagd zu gehen.«
»Ich möchte aber nicht mit dem Gewehr auf Tiere schießen.«
»Willst du sie lebendig fangen und essen?«
»Papa«, erwiderte Myra und verdrehte die Augen, wie das nur Teenager können. »Gewehre sind laut und unfair. Das Wild hat keine Chance gegen eine Kugel aus dreihundert Metern Entfernung. Ich muss sie jagen, um zu essen. Das ist mir klar, aber es muss doch eine andere Möglichkeit geben.« Sie sann eine Weile über eine Alternative nach, roch den süßlichen Duft des Waffenöls, den metallischen Geruch der Gewehre, die durch die Tür hereinströmende Luft des beginnenden Frühlings und wusste mit einem Mal, was sie wollte.
»Wir könnten Fallen stellen oder mit dem Bogen jagen, was meinst du?«
»Fallen stellen ist eine Frage der Geduld und der verfügbaren Zeit.« Ihr Vater machte eine zweifelnde Miene, stützte die Hände auf der Werkbank ab und blickte in den Staub, der im goldenen Balken eines Sonnenstrahls vor ihm tanzte. »Aber mit dem Bogen jagen hört sich interessant an.« Das Licht warf Schatten auf sein Gesicht, die wie kleine Schluchten, Täler und Einschnitte auf sie wirkten. Ihre braungrünen Augen wichen nicht von dem Anblick.
»Merida, die Legende der Highlands. Deine Heldin aus Kindertagen«, grinste er dann, und Myra war sich in diesem Augenblick bewusst, warum sie sich so gut verstanden und sie ihn dafür liebte.
»Merida, ja«, nickte sie, drehte ihr Gesicht ins Licht und strahlte ihn an.
»Ich möchte aber, dass du trotzdem lernst, mit einem Gewehr umzugehen. Du musst nicht damit auf die Jagd gehen. Du kannst auch am Schießstand üben.«
Die nächsten Tage und die Tage darauf gingen sie zum Schießstand, schrieben sich im Bogenclub ein und lernten ihre Waffen zu handhaben. Myra machte ihre ersten Schritte im 3D-Parcour und im Herbst gingen sie heimlich auf die Jagd. Myra mit Pfeil und Bogen und ihr Vater mit der Springfield.
»Falls du nicht sauber triffst, muss ich es mit dem Gewehr erlegen«, sagte ihr Vater und schaute zu Boden. Sie runzelte die Stirn.
»Wieso sollte ich nicht treffen? Der Bogen liegt mir mehr als das Gewehr. Im Parcours habe ich fast keinen Fehlschuss.«
»Die Bogenjagd ist bei uns genauso verboten, wie die Jagd mit Fallen, das weißt du. Ich möchte kein verwundetes Reh mit einem Pfeil im Körper im Revier haben. Wenn sie uns erwischen, kann ich meinen Jagdschein verlieren. Deswegen müssen wir vorsichtig sein und gehen mit dem Gewehr auf die Jagd.«
»Ich schieße nicht daneben«, versicherte Myra ihrem Vater und schaute ihn ernst und trotzig an.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Aber ich weiß nicht, wie durchschlagskräftig ein Pfeil, selbst mit Jagdspitze, ist. Ich weiß nicht, wie genau du treffen musst und ich weiß nicht, wie das Wild reagiert. Wir töten, um zu essen. Das Tier soll aber nicht mehr leiden als unbedingt nötig.«
»Verstehe.« Myra hob den Kopf und schaute ihrem Vater fest in die Augen. »Ich schieße nur, wenn ich sicher bin.«
»Das ist in Ordnung.«
Sie jagten unter größter Sorgfalt, nicht entdeckt zu werden und Myra wurde immer besser. Sie legten ihre Fallen in unwirtlichem Gelände aus, dort wo keine Wanderer gingen und überwachten sie gut. Stets auf der Hut vor Entdeckung.
Als sie siebzehn war, setzte ihr Vater sie im Wald aus.
»Du hast deinen Bogen, zwei Dutzend Pfeile, dein Jagdmesser, Leatherman, Feldspaten, Schlafsack, eine Plane, Taschenlampe mit Kurbel, Feuerzeug, Notproviant, eine Trillerpfeife und das Handy, das du nur im Notfall benutzt. Zusätzlich hast du ein GPS, das du immer am Körper trägst, ist das klar.«
»Ja Papa, wir haben das geübt, ich schaffe das.«
»Ich habe dir auf der Karte einen Ort markiert, den du finden musst. Dort findest du die Karte und die Anweisung für den jeweils nächsten Tag. Die Natur kann dein bester Freund, sie kann aber auch dein schlimmster Feind sein. Respektiere und achte sie, aber zeige keine Schwäche, mach keine Fehler und lass dich nicht von einem Jäger erwischen, ich vertraue dir.«
Zehn Tage später hatte er sie am vereinbarten Treffpunkt abgeholt, etwas dünner, aber bis auf ein paar Kratzer unverletzt und guter Dinge. Myra war damals unheimlich stolz, diese Tage allein überstanden zu haben. Einen Monat später erfuhr sie, dass ihr Vater, so wie die Mutter an Krebs erkrankt war. Er sollte noch drei Jahre leben, bis er den Kampf gegen seinen schlimmsten Feind verlor.
Es war ein strahlend schöner Tag, der Himmel war makellos blau, das Sonnenlicht glitzerte auf den Blättern der Bäume und der Fluss schlängelte sich neben der Straße dahin. Das Wasser war so klar, dass man die glitschigen Steine am Grund sah und die dunklen Schatten der Felsbrocken, deren moosüberwucherte Höcker in der Strömung aufragten.
Der Fluss kommt aus den Bergen, dachte sie. Aber die unbändige Erwartung und Freude, die sie heute Morgen erfasst hatte, als sie losgezogen war, wollte sich jetzt nicht einstellen. Sie schaute zur Straße, auf eines der wenigen Autos, die ihnen begegneten. Der Bus kam an einem Wagen mit österreichischem Kennzeichen vorbei, der in einer Parkbucht stand. Myra sah ein Mädchen danebenstehen und winken. Sie wirkte fröhlich und Myra hatte nicht die Absicht, ihr den Spaß zu verderben. Lächelnd hob sie ihren Arm, um den Gruß zu erwidern. Ein Mann, vermutlich ihr Vater hantierte im Kofferraum. Sie beneidete das Mädchen, das mit ihrem Vater unterwegs in den Urlaub war. Was sollten sie auch sonst hier machen?
In gewisser Weise erinnerte sie der Anblick an ihre eigene Teenagerzeit. Als sie mit ihrem Vater Ausflüge machte. Zum Kanu fahren, zum Campen oder zur Jagd. Oft verbanden sie das Eine mit dem Anderen und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie hatte ihn vor sechs Wochen begraben und war noch lange nicht darüber hinweg. Auch wenn sie viele Freunde hatte, die ihr zur Seite standen, in diesen dunklen Tagen, in denen sie sich am Boden zerstört fühlte, getrieben wie ein welkes Blatt im Wind.
»Ich brauche eine Auszeit. Ich kann nicht mehr. Ich funktioniere wie eine Maschine, die stereotyp ihre einprogrammierten Arbeiten erledigt, ohne darauf zu achten, ob alle Elemente vorhanden oder passend sind. Ich liefere keine gute Arbeit ab, die Kollegen decken mich, weil sie sehen, dass es mir dreckig geht. Das ist zwar furchtbar nett von ihnen, aber das kann so nicht weitergehen.« Myra schaute Frank, ihren Chef an, über sein aufgeklapptes Notebook, das vor ihm stand und ihre Schultern sanken müde nach vorne. Sie hatte an diesem Tag all ihren Mut zusammengenommen, war in sein Büro gekommen, um ihm ihren Entschluss mitzuteilen und saß ihm nun am Schreibtisch gegenüber.
»Ich brauche eine Auszeit«, wiederholte sie sich und nickte, schüttelte den Kopf und nickte wieder. »Deshalb werde ich meinen Job aufgeben. Versteh mich bitte nicht falsch, Frank. Aber ich kann nicht anders. Ich gehe für eine Zeit ins Ausland.«
Frank Meyers, Abteilungsleiter des Marketingbüros einer großen Möbelhandelskette sah sie nur an, keineswegs überrascht. Eher wie jemand, der auf eine Reaktion gewartet hatte, die nun eingetreten war. Er kniff die Lippen zusammen und blickte an ihr vorbei, als müsste er seine Gedanken sammeln. Dann schaute er sie wieder an.
»Okay, Myra. Ich verliere dich nur sehr ungern an den Mitbewerb, selbst wenn sie im Ausland sitzen. Wo immer du dich entschieden hast, hinzugehen. Du bist kreativ, bringst gute neue Ideen, hast stets rechtzeitig geliefert. So eine Mitarbeiterin verliert man nicht gerne.« Er versuchte ein Lächeln, das ein wenig unglücklich wirkte. »Außerdem sind wir fast wie eine Familie hier. Eine eingeschworene Gemeinschaft. Kann ich dich mit irgendetwas überzeugen, zu bleiben.«
»Danke nein. Es ist wegen meines Vaters«, erwiderte sie. »Ich bin in ein Loch gefallen, aus dem ich nicht wieder herauskomme. Ich brauche Abstand, um mich selbst zu finden.«
Frank stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch, drückte die Stirn gegen beide Fäuste, hob den Kopf und legte das Kinn auf die verschränkten Hände. Eine Geste, die sie kannte.
»Du brauchst professionelle Hilfe«, sagte er. »Ich kenne einen Psychologen, der sich mit Trauerbegleitung auskennt. Ich gebe dir seine Adresse. Sag ihm, dass ich dich vermittelt habe, dann bekommst du früher einen Termin.« Frank runzelte die Stirn. »Er ist gut und wird dir helfen.«
»Nein. Danke«, erwiderte Myra und schüttelte den Kopf. »Ich will keine Trauerbegleitung, keine Aufarbeitung oder dergleichen. Ich will auch niemand, der mir sagt, wie ich denken, was ich fühlen soll. Ich kenne mich selbst gut genug. Ich weiß, was ich brauche und wie ich durch dieses Tal der Tränen herauskomme.« Sie atmete tief durch, drückte die Schultern zurück. »Ich gehe nicht für einen anderen Job ins Ausland oder wechsle die Firma, weil ich mein Umfeld nicht mehr ertrage. Ich gehe, um zu wandern. Ich brauche eine Auszeit von meinem Job, von meinem Leben.«
»Wie jetzt, du hast keinen anderen Job in Aussicht?«
»Nein, ich fahre nach Montenegro in einen Nationalpark, um dort für sechs Wochen in den Wäldern zu leben. Wandern, Kanu fahren, jagen, ausspannen.«
»Nach Montenegro? Wieso fährst du nicht nach Kroatien ans Meer? Kein Mensch fährt nach Montenegro in die Wälder. Du weißt, dass es dort wilde Tiere gibt, Wölfe, Bären und Schlangen, die dich mit einem Biss töten können.«
»Ja, das weiß ich. Ich habe vor in die Wälder zu gehen, um dort sechs Wochen in und von der Natur zu leben. Ich habe mich vorbereitet.« Sie streckte den Rücken durch und schaute ihren Chef in die Augen. »Ich wollte ursprünglich in die USA und den Appalachian Trail gehen, aber der ist zu ausgetreten, zu viele Leute, die dort unterwegs sind. Also habe ich mich für Montenegro entschieden.«
»Um in der Natur zu leben? Sechs Wochen? Du bist verrückt. In sechs Wochen bist du verdurstet, verhungert, von Wölfen aufgefressen. Myra, das wird nichts.« Frank sah sie entgeistert an. Er musterte sie, wie sie vor ihm saß, mit ihrem kurzen Rock, der dünnen, enganliegenden, orangefarbenen Bluse, den unverantwortlich schmalen Highheels, mit denen er nicht einmal durch den Park gehen könnte, ohne sich die Knöchel zu brechen, ihr stets gepflegtes Äußeres.
»Du bist ein Stadtkind. Was willst du in einem Wald?« Er streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus und warf ihr einen fragenden Blick zu.
Sie lächelte milde. »Ich bin im Wald aufgewachsen. Ich kann mit dem Bogen jagen, Fallen stellen, Tiere häuten, über dem Lagerfeuer braten und in der Natur überleben.«
Verdutzt riss er die Augen auf. »Du meinst sowie einer dieser Prepper. Sag bloß, du bist ein Prepper, Myra. Ich fasse es nicht.«
»Nein«, lachte sie. »Ich bin keine Verrückte, die denkt, die Jagd ist ein Spiel und die Regierung hat sich gegen mich verschworen oder so etwas in der Art. Ich kann wirklich in der Natur überleben.«
Frank schüttelte den Kopf. »Ich werde die Frauen nie verstehen. Eine Tatsache, die mir schon mit fünfzehn klar war. Eine Erkenntnis übrigens, die Teil meines beruflichen Erfolges ist.« Er stand auf und ging eine Runde im Büro. Myra konnte seine Schritte hinter sich hören, schaute zum Fenster und betrachtete die Häuser der Stadt, die von Autos verstopften Straßen und die wenigen Bäume, die von hier aus zu sehen waren. Sie fragte sich, ob ihre Entscheidung richtig war und die kommenden Tage mehr für sie bereithielten als nur ein Abenteuer.
»Myra ...«
»Ich habe mir das gut überlegt und lasse mich nicht davon abbringen, Frank. Es tut mir leid.«
Seine Schritte verstummten hinter ihr. Sie hörte ihn tief Luft holen. Dann kam er zum Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen.
»Na gut. Ich halte dir den Job die nächsten acht Wochen frei. In der Zwischenzeit hole ich mir jemand aus der Verwaltung oder von den EDV-Leuten. Irgendjemand wird sich finden. Innerhalb der acht Wochen kannst du jederzeit zurück. Kommst du früher, freut mich das. Kommst du später, musst du eventuell warten und hast erst wieder eine Chance, wenn jemand anderer aus dem Team geht, das ist dir doch klar?«
Myra nickte.
»Wie hört sich das für dich an?«
»Gut. Danke. Ich danke dir.«
»Du bist eine meiner besten Mitarbeiterinnen. Wir werden dich vermissen.« Frank stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er wirkte unsicher, streckte sich.
»Wann soll es denn losgehen?«
»So bald wie möglich, am besten nächste Woche. Ich habe alle meine Unterlagen für eine Übergabe geordnet. Sylvia kann jederzeit übernehmen.«
»Mhm, gut. Ich muss morgen für eine Woche nach New York. Wir werden uns nicht mehr sehen.«
Frank zögerte einen Augenblick, dann trat er spontan einen Schritt vor, umarmte sie linkisch und trat sofort wieder zurück. »Lass dich nicht fressen und komm heil zurück.«
»Versprochen!«, lächelte Myra, und blinzelte eine Träne weg.
Am Freitag darauf hatte sie die Nägel kurz geschnitten, den Lack entfernt, hatte die Wanderschuhe mit Bienenwachs eingefettet und ihre Liste ein letztes Mal gecheckt. Sie hatte ihr Gepäck gewogen, fünfzehn Kilo. Es war Sommer, das erleichterte einiges. Sie war überzeugt, genug zu essen zu finden. Wahrscheinlich würde ihre größte Sorge sein, sich von den Touristen und Jägern fernzuhalten, die in diesen Wäldern unterwegs waren. Aber das Problem konnte sie umgehen, indem sie die begehbaren Wege meiden würde.
Ich war lange nicht mehr im Wald, Papa, aber ich schaffe das, dachte sie und spürte die Vorfreude, die sich wie früher vor einem Trip in die Wälder eingestellt hatte und das leichte Herzklopfen dazu.
Vor ihren Augen sah sie das unendliche Grün, Bäume, Felsen, einsame Nächte am Lagerfeuer und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, während der Bus über die Straßen Montenegros fuhr und sie höher und höher in die Berge brachte.
* * *
Arno Daniels fuhr durch den dichten Wald, nur mäßig von einem Blätterdach geschützt gegen die Sonne, die hoch am Himmel stand und sich an diesem Frühsommertag heiß und drückend über das Land legte, die Straße in helles Licht tauchte und die Luft darüber zum Flimmern brachte. Trotz des Waldes gab es keine Abkühlung, nur blitzende Schatten. Der Wald hielt den Wind ab, vom Asphalt stieg die Hitze des Tages auf. Arno wischte sich über die Stirn und betrachtete seine feucht glänzende Hand. Seine braunen, fast leblosen Augen wirkten leicht verstört, so als leide er gerade unter einem seelischen Tief. Er drehte die Klimaanlage auf zwanzig Grad herunter und schaltete den Ventilator höher.
Er war müde, sein Nacken steif, seine Muskeln verspannt, sein Kopf dröhnte. Er war die Strecke in endlosen Stunden durchgefahren, mit Countrymusik aus einem USB-Stick in immerwährenden Schleifen wiederholt und hatte zuletzt eine gleichgültige Gelassenheit gespürt. Die grimmige Befriedigung, seiner Mutter entkommen zu sein, hatte einige hundert Kilometer angehalten, war aber allmählich einer gewissen Beklommenheit gewichen. Schließlich hatte er sie ohne Scham und Gewissen allein gelassen. Nachdem er die erste Grenze passiert hatte, ließ er auch dieses Gefühl zurück.
Er fuhr langsamer und hielt Ausschau nach der nächsten Abzweigung. Zwei Versuche zuvor hatten ihn ins Nichts geführt. Er musste mit dem Wagen zurückstoßen, weil es auch keine Umkehrmöglichkeit gab. Zum Glück hatte er eine Kamera im Heck, unmöglich für ihn sonst den ganzen Weg im Rückwärtsgang zu fahren. Mit gespreizten Fingern tastete er genervt nach dem Navi und schaltete es ein, ohne die kurvige Straße aus den Augen zu lassen. Das Bankett war schmal und es gab keine Leitschienen, nur ab und an zerschrammte Baumstämme, die den wagemutigen Fahrer mahnten.
»Bitte wenden. Bitte wenden sie jetzt!«, verlangte die Stimme von Gerti, die für ihn von all den voreingestellten Stimmen am sympathischsten war, in befehlendem Ton, sowie ihn der Satellit gefunden hatte, ohne ihm allerdings zu verraten, wo er denn wenden könnte.
Das blöde Ding will mich in die nächste Stadt leiten, dachte er. Die kennt die Wege hier draußen genauso wenig, wie ich. Für sie ist das alles weißes Land, das ins Nirgendwo führt.
Denk nach, schalt er sich, voller Ärger, weil er nicht besser aufgepasst hatte, als ihm Reinhard Frost den Weg erklärt hatte und erinnerte sich an die Notiz in seiner Hosentasche. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, hielt an, schaltete die Warnblinkanlage ein und holte den Zettel heraus. Mit gerunzelter Stirn strich er ihn glatt und las die Anweisungen. Ging einen Punkt nach dem anderen durch, die er alle befolgt hatte, bis auf das Ding mit der verkrüppelten Eiche, hinter der die letzte Abzweigung sein sollte.
Hier waren jede Menge Bäume und viele davon verkrüppelt, von Wind und Wetter gebeugt, von Schneelasten gebrochen und Blitzen gespalten. Wie sollte er da die Richtige finden? Arno warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte keinen Empfang, kein einziger Strich war auf dem Display.
»Was für eine Scheiße!«, fluchte er. »Kein Empfang und keine Menschenseele, die man fragen könnte.« Er schaute sich um, starrte in die Bäume und seine Mundwinkel kräuselten sich gereizt. Der Wald schien unendlich zu sein. Verunsichert fuhr er wieder an, blickte nach links und nach rechts und fühlte, wie sein Blut unter den Handflächen pulsierte.
Endlich fand er eine versteckte Schneise zwischen alten Bäumen, die er beinahe übersehen hätte und bog ein. Sie war offenbar wenig genutzt, niedere Äste schleiften über das Dach. Er zögerte. Hinter seinen Augenlidern schwebten graue Schatten und er meinte für einen Moment, ein Mädchen inmitten der Bäume zu sehen. Wie ein zarter Nebelschleier war sie vor ihm aufgetaucht und schüttelte warnend den Kopf. Er trat auf die Bremse und kniff die Augen zusammen, aber da war nichts. Nur wirbelnde Blätter, Licht und Schatten und die fast verwachsenen Spuren eines Fahrweges. Arno musste schlucken und spürte plötzlich ein seltsames Gefühl, so als habe sich eine Spinnwebe über sein Gesicht gelegt. Er wischte mit der Hand darüber, blinzelte heftig und fuhr langsam zwischen mächtigen Kiefern und dichtem Gestrüpp auf einem unbefestigten Weg den Berg weiter hinauf.
Ich fürchte, ich brauche bald eine Pause, dachte er, fuhr aber weiter, weil er endlich ankommen wollte.
Der Wald wurde allmählich lichter, der Weg zum Teil mit grobem Kies bestreut. Dann kam er auf eine Hügelkuppe und konnte das Gebiet in seiner ganzen Dimension überblicken, dass sich von einem Horizont zum anderen erstreckte. Er stieg aus und schaute sich um. Auf der Lichtung herrschte nach dem klimatisierten Wagen eine geradezu betäubende Hitze. Sie trieb ihm den Schweiß aus allen Poren.
»Verdammt Reinhard!«, fluchte er und kickte mit dem Fuß einen Stein zur Seite. »Du hast mich da ganz schön in die Scheiße geritten. So wie es aussieht, bin ich hier am Ende der Welt gelandet.« Dann fiel ihm ein, dass sie eigentlich für morgen verabredet waren. Heimo Börnstein sollte schon da sein, aber der wiederum wusste nicht, dass er kam. Er saugte die heiße Luft zwischen die Zähne, lauschte auf das schlürfende Geräusch und überlegte angestrengt, was er als Nächstes tun könnte.
In die Stadt zurückfahren war eine Idee, aber das war eine Fahrt von einer guten Stunde auf diesen Straßen und dann war es nicht sicher, ob er dort ein Quartier bekam. Arno Daniels verfluchte die Idee, hier seinen Urlaub zu verbringen. Warum musste er auch allein fahren? Er hätte doch Reinhard begleiten können, dann würde er jetzt nicht hier stehen und nach dem richtigen Weg suchen. Er ging eine Runde um den Wagen, holte das Handy heraus und an den Rand der Hügelkuppe, die in einen mit Geröll bedeckten Abhang überging. Vereinzelt wuchsen kleine Inseln von Beifuß auf der Halde. Tief unter ihm glitzerte der Fluss in der Nachmittagssonne. Vorsichtig trat er zurück. Wenn er hier ausrutschte, würde er an die hundert Meter in die Tiefe stürzen, bevor er sich in den Bäumen weiter unten wiederfand.
Er holte Reinhards Nummer auf sein Display und rief ihn an, aber die Verbindung konnte nicht hergestellt werden. Missmutig starrte er auf das Telefon und unterdrückte den Drang, das Ding den Hang hinunterzuwerfen und sei es nur, um zu sehen, wie es auf den Steinen aufprallte und welches Geräusch es dabei machte. Gab es denn an diesem gottverdammten Ort keinen funktionierenden Sendemast?
Er ging zurück zum Wagen, stieg ein, drückte sich in die Lehne und genoss für einen Augenblick die kühle, trockene Luft im Schatten unter den Bäumen. Im Süden waren die Hänge über dem Fluss mit Wald bedeckt, nur ab und an schimmerten weiße Felsen im endlosen Grün. Vögel tanzten in den Ästen über ihm und die Zikaden sirrten in den Büschen. Er startete den Wagen und folgte dem Weg, der ihn wieder in den Wald führte.
»Noch eine halbe Stunde«, sagte er zu sich selbst. »Wenn ich die verdammte Hütte dann nicht finde, kehre ich um und fahre in die Stadt zurück.« Gedankenverloren lauschte er dem Nachhall seiner eigenen Stimme, während ein Ast am Dach des Wagens entlangschrammte, aber niemand antwortete ihm, nur der Wind, der durch die Bäume fuhr, war zu hören. Langsam rollte er über Sand- und Feldwege an Weggabelungen und Abzweigungen vorbei. Allmählich brach die Dämmerung an und eine unbestimmte Ahnung, wie das mulmige Gefühl, das er nach seinem Aufbruch heute Morgen empfunden hatte, machte ihm zu schaffen. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass er im Dunklen den Weg durch den Wald zurückfahren musste, sollte er die Hütte nicht finden. Sein zunehmender Hunger und Durst verschlechterten auch die Laune und er staunte nicht schlecht, als plötzlich auf einer weitläufigen Lichtung vor ihm ein, von Eichen beschattetes Blockhaus auftauchte. Mit dem überraschten Gesichtsausdruck eines Mannes, dessen vermeintliches Wissen sich immer wieder als falsch erwies, stoppte er den Wagen und starrte auf das Gebäude, das sich unter die Bäume duckte. Im Schatten der Dämmerung war nicht zu erkennen, ob es bewohnt war.
»Das ist keine Hütte«, rief er überrascht aus. »Das ist ein richtiges Haus.« Zumindest konnte er hier fragen oder den Wagen wenden, falls er wieder falsch war.
Er ließ den Wagen auf die Lichtung rollen, stieg aus und betrachtete neugierig das Gebäude. Das Haus wirkte neu und war mit Schindeln gedeckt. Seine Blicke wanderten über Tür und Fenster, er schaute in den Wald daneben und suchte nach einem Anhaltspunkt, ob jemand anwesend war. Es war ein Moment, in dem er nicht über sein Leben nachdachte und was aus ihm geworden war, im Vergleich zu seinem Schulfreund Heimo Börnstein. Was ihm wirklich durch den Kopf ging, war viel simpler. Da war ein abgeschiedener Ort in einem Land, in dem ihn keiner kannte. Hier könnte er ganz er selbst sein. Ohne seine Mutter im Rücken, ohne Vorbehalte und Verpflichtungen.
Kein weiterer Wagen und kein Mensch waren zu sehen. Auf der Veranda standen zwei Holzstühle und ein kleiner Tisch. Arno ging hoch und klopfte an die Tür. Das Haus war abgesperrt. Er sah sich um. Die Wiese und die Bäume glänzten im Abendlicht, über den Büschen am Rande der Lichtung schwebten brummend dicke Käfer, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er kniff die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Vor jedem Fenster waren Läden und diese geschlossen. Er versuchte, durch die schmalen Lamellen einen Blick in das Innere zu werfen. Bis auf die Geräusche des Waldes war alles still.
Unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte, ging er zum Verandageländer, drückte sich dagegen und schaute auf die Lichtung und den Wald vor ihm. Seine Hände strichen über das glatt geschliffene Holz. Das Problem war nicht nur, dass er durchgefahren war, ohne irgendwo Halt zu machen, um zu essen. Er war einen ganzen Tag zu früh, weil er seiner Mama und ihren Querelen entkommen wollte. Und nun wusste er nicht, wo er war, wem das Haus gehörte und wie er in der Dunkelheit den Weg zurückfinden sollte.
Zumindest in diesem Punkt konnte ihm sein Navi helfen, fiel ihm ein. Er konnte ein Ziel eingeben und so lange herumfahren, bis es eine Straße fand. Er hatte keine Lust sich hier draußen in der Wildnis zu verirren.
Als er über die Wiese ging, knirschten trockene Blätter, kleine Äste und die Rückenpanzer großer Käfer unter seinen Schritten. Seine Zuversicht und seine freudige Erwartung beim Anblick der Jagdhütte waren einer nervösen Unruhe gewichen. Er langte durchs offene Wagenfenster, griff nach dem letzten Rest Mineralwasser, das in der Ablage an der Tür steckte, lau und abgestanden, leerte sie endgültig und schaute auf die Uhr. Fragte sich, ob er warten sollte oder doch sofort zurückfahren?
Plötzlich fiel ihm ein, dass er auch aufs Tanken vergessen hatte.
»Heilige Scheiße!« Sein Blick wurde leer. Er kniff die Augen zusammen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Die Benzinuhr stand praktisch auf null. Durch die Klimaanlage hatte er mehr verbraucht als gedacht und auch nicht darauf geachtet. Resigniert schloss er die Augen, senkte den Kopf, aus seiner Brust kam ein Ächzen. Er hatte niemand erzählt, wohin er fuhr und wusste nicht, ob Wanderer in diesem Gebiet unterwegs waren oder dies ein Stück Wildnis ohne Zivilisation war.
Das hieß, er durfte auf keinen Fall in die falsche Richtung fahren oder vom Weg abkommen, sonst war er verloren. Er war zwar Jäger und mit dem Wald vertraut, aber nur in seinem Revier. Dort bewegte er sich auf vertrauten Wegen. Wütend über seine Ungeschicklichkeit trommelte er auf das Lenkrad, spürte, wie seine Zähne knirschten und fragte sich, wie lange er in diesem Wald ausharren konnte, bis er entweder hinausgefunden hatte oder ihn jemand aufspürte. Bei diesem Gedanken lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
Arno Daniels verfluchte Gott und die Welt. Warum konnte er auch nicht warten bis morgen. Sie waren für Sonntag verabredet. Sie hätten sich abreden können, dann würde er jetzt nicht hier sitzen. Allmählich knurrte ihm der Magen und im Bauch flatterte ein Anflug von Panik, die er sofort energisch zu unterdrücken versuchte.
»Ich kann jetzt fahren und zusehen, dass ich eine Straße finde oder bis morgen abwarten«, sagte er laut vor sich hin, weil er damit das Gefühl hatte, nicht völlig allein zu sein. »Wenn das seine Hütte ist, kommt er morgen, und wenn nicht, kann ich auch morgen fahren, bei Tageslicht. Aber verdammt, wie viele Jagdhütten stehen denn in diesem bescheuerten Wald? Vermutlich zwei, und ich bin an der Falschen.«
Unschlüssig ging er noch einmal zum Haus und klopfte an die Tür. Lauschte eine Weile und hämmerte dann mit der Faust dagegen. Vielleicht war doch jemand hier, einen Versuch war es wert.
Drinnen war kein Laut zu hören.
»Hallo! Ist jemand zu Hause?«, rief er und wartete. Aber nur das vielfache Zwitschern, Zirpen, Brummen und Kreischen des Waldes antwortete ihm. Mehr verwirrt als wütend trat er gegen die Tür, wandte sich um und lief zum Wagen zurück. Gerade als er den Motor anließ, bildete er sich ein, ein Geräusch zu hören. Er stellte den Motor wieder ab und stieg aus. Obwohl die Sonne im Westen bereits hinter den Bäumen verschwand und die Luft merkbar abkühlte, war ihm heiß. In der jähen Stille konnte er deutlich einen Wagen hören, der den Weg entlangkam. Rasch ging er zum Haus zurück, setzte sich auf die Verandastufen, legte vornübergebeugt seine Arme auf die Schenkel und schaute mit unbeteiligter Miene auf den schwarzen Wagen, der auf die Lichtung einbog.
* * *
Voller Zuversicht fuhr Heimo Börnstein durch den Wald. Schaute nach links und nach rechts in die Bäume ringsum, auf das Spiel von Licht und Schatten und atmete tief die sonnendurchflutete Luft ein.
Jeder neue Tag bringt neue Chancen und Möglichkeiten, die man zuvor vielleicht gar nicht geahnt hatte, dachte er, und lächelte in freudiger Erwartung. Ihm schien, es war an der Zeit, nicht länger darüber nachzudenken, was zu tun war, sondern es einfach laufen zu lassen. Warum sollte er auch grübeln? Das Schicksal hatte ihm ein Glückslos in die Hand gespielt und er hatte zugegriffen. In aufgeräumter Stimmung fuhr er den Fahrweg entlang, malte sich das überraschte Gesicht seines Freundes aus und grinste übermütig.
Reinhard würde morgen ankommen und sich, geschäftig, wie er war, sofort damit auseinandersetzen, wo sie beginnen sollten, wo die beste Gelegenheit wäre, ein Mädchen aufzugabeln, wo sie ohne Umstände und Risiko zuschlagen könnten. Vermutlich hatte er schon Pläne und Plätze im Kopf. Dabei warteten bereits zwei dieser Dinger im Keller auf sie. Heimo lachte lauthals auf, als hätte er sich gerade an ein besonders lustiges Detail erinnert. Die beiden waren ihm praktisch in den Schoß gefallen, er hatte eigentlich nichts dazu tun müssen. Er hatte sie bloß aufgesammelt.
Über dem Weg tanzte ein dichter Schwarm Mücken. Von der Sonne war jetzt nur noch ein schwacher Rest über den Bäumen zu sehen. Die Luft hatte merklich abgekühlt, als er unbedarft und fröhlich in Erwartung des bevorstehenden Abends aus dem Wald kam. Ein Fischreiher kreiste über der Lichtung und drehte gelassen ab, als er ihn bemerkte. Sein Schatten huschte über ihn hinweg. Plötzlich stutzte er und trat unbewusst auf die Bremse. Auf der Lichtung stand ein fremder Wagen.
»Heilige Scheiße, was will der da?«, murmelte er, während er blitzschnell seine Optionen durchging. Ein unbekannter Wagen war erst mal eine unbekannte Gefahr, danach ein Risiko. Auch wenn es nur ein verirrter Tourist war, den er wegschicken konnte und anschließend nie wieder sah.
Wie ein Polizist aus der Gegend sah der nicht aus, dachte er, auch wenn er keine Ahnung hatte, welche Wagen die Polizisten hier fuhren. Zum Zurückfahren war es ohnehin zu spät. Dazu müsste er umdrehen, aber jede Flucht wäre ein Schuldeingeständnis. Der Unbekannte hatte ihn sicher längst entdeckt.
Heimo fluchte in sich hinein und wünschte er hätte einen Revolver im Wagen. Geladen und entsichert. Jeder verdammte Gangster im Film hatte so ein Ding unter dem Sitz oder im Handschuhfach. Er war bloß zu feige, das Ding mit sich herumzuführen, weil er damit bei einer Verkehrskontrolle Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Als ob irgendwann einmal ein Polizist unter seinem Sitz nachgesehen hätte.
Das Mädchen im Keller war kein Problem, das fanden sie nicht. Die Tür zum Keller war gut versteckt, der Raum gedämmt. Die konnten sie nicht hören. Aber die Kleine im Kofferraum machte ihm Sorgen. Sie würde bald aufwachen. Sie hatte zwar jede Menge von dem Zeug getrunken, aber er wusste nur zu gut, dass alle von ihnen anders darauf reagierten. Es gab keinen gültigen Richtwert. Und wenn sie zu früh aufwachte und kotzen musste, hatte er bis in die Nacht zu tun, um den Wagen wieder sauber zu bekommen.
Abgesehen davon, dass ihm davor ekelte.
Er versuchte nachzudenken, durfte jetzt nichts falsch machen. Plötzlich war alles anders. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt und sein Herzschlag ging zu schnell. Langsam rollte er auf die Lichtung. Seine Augen rasterten die Umgebung, suchten nach einem Anhaltspunkt, nach einer Person, die am Waldrand herumstrich, nach einer möglichen Gefahr. Dann erkannte er an der Nummerntafel des Wagens, dass der aus demselben Bezirk kam, wie er. Sein Unterkiefer klappte herab, seine Gesichtshaut straffte sich. Hatte Reinhard einen anderen Wagen? Der wollte doch erst morgen kommen. Sie hatten telefoniert.
Heimo hob den Kopf, blickte sich um und schaute auf die Veranda der Jagdhütte, seine Miene von Verwirrung gezeichnet. Da saß ein Kerl im Schatten der Dämmerung auf den Stufen und stierte auf den Wagen. Fassungslos starrte er mit zusammengekniffenen Augen in dessen Gesicht.
»Oh Scheiße. Das ist Arno Daniels. Den muss Reinhard eingeladen haben«, keuchte er. Deswegen hatte er also gefragt. Er konnte es gar nicht erwarten, einen Freund einzuladen. Das warf natürlich auch seinen Plan über den Haufen, den ausgesuchten Kandidaten erst auszuhorchen, ob er auch gewillt und vor allem geeignet für ihr Tun war.
Heimo rieb sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, rief alles ab, was er über den Mann wusste. Er war nicht vorbereitet. Das gefiel ihm gar nicht.
Den Rücken angespannt vor Wut und Ärger stieg er aus dem Wagen, blieb danebenstehen und legte einen Arm auf das Wagendach. In den Bäumen ringsum hallte das Gezwitscher von Amseln, Finken und Drosseln wider. Er wartete, bis Arno sich erhob und von der Hütte herüberkam, dann setzte er ein geschäftsmäßig freundliches Lächeln auf.
»Arno, schön dich zu sehen. Was treibt dich in diese abgeschiedene Ecke der Welt.« Seine Augen glitzerten, als starre er in eine Streichholzflamme.
Arno Daniels trat verlegen grinsend näher und reichte ihm die Hand zum Gruß.
»Ich weiß, ich bin früh dran. Reinhard hat mich eingeladen, ein paar Tage mit euch zu verbringen und ich konnte es nicht erwarten, eure Hütte zu sehen und in die Berge abzutauchen.« Er trat von einem Fuß auf den anderen, drehte sich um und beschrieb mit der Hand einen Bogen, in dem er die Hütte und den Wald drum herum einschloss. »Das Ding ist ein Haus. Das ist ein echtes Blockhaus mitten im Wald.« Seine Hand ging hinter den Kopf und er kratzte sich im Nacken, riss die Augen auf und sah sich wieder um.
»Ein richtiges Schmuckstück.«
Heimo winkte ab, hob die Augenbrauen und antwortete ihm nicht.
Ich kann ihn nicht bitten, ›Hilf mir mal, ich habe da ein Mädchen im Kofferraum‹, dachte er. ›Sie ist zufällig auch aus unserer Stadt. Ich kenne ihren Vater und werde sie heute Abend oder morgen ein paar Mal vögeln und in den nächsten Tagen durch den Wald jagen, um sie zu töten.‹ Er wandte den Blick ab und als er sprach, war seine Stimme leise.
»Sieht größer aus, als es ist. Das sind die dicken Stämme. Ich habe die Hütte nicht selbst gebaut. Ich habe sie vor ein paar Jahren gekauft und nach und nach eingerichtet. Ist mit der Zeit ganz wohnlich geworden.« Er musterte Arno, sah die Beschämung in seinen Augen. Doch dann blickte er ihn herausfordernd an, als habe er eine übergreifende Gewissheit gefunden, die dem Chaos in seinem Kopf ein Ende bereitete.
»Hattest wohl Ärger mit deiner Mutter, nicht wahr?«
Arno Daniels senkte den Kopf. Sein Blick wanderte über die Lichtung und blieb irgendwo am Waldrand, in den Schatten zwischen den Bäumen hängen, seine Wangen färbten sich leicht. Manchmal hatte er das Gefühl, jeder in der Stadt kannte seine Mutter und ihrer beider Verhältnis.
»So ist sie eben, macht sich Sorgen, redet mir ins Gewissen, will mein Leben bestimmen. Ich kenne sie nicht anders und ich werde sie nicht mehr ändern. Nicht in diesem Leben, was soll´s?« Seine Schulter zuckte nervös und Heimo konnte ihm ansehen, wie peinlich ihm die Sache war. Er spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, ihn noch eine Weile zappeln zu lassen, überlegte dann aber, wann und wie weit er Arno einweihen konnte. Er musste Susanna in den Keller bringen, bevor sie aufwachte, wollte er keinen Ärger. Die Mädchen waren friedlicher, wenn sie eine Weile in die Kiste gesperrt waren.
»Komm erst mal ins Haus«, meinte er in versöhnlichem Ton, klopfte ihm kurz auf die Schulter, führte ihn zur Hütte und ließ ihn eintreten.
Damit war zumindest die Gefahr gebannt, dass er die Kleine im Kofferraum schreien oder klopfen hörte.
Heimo Börnstein war stolz auf das Anwesen. Das Blockhaus war groß und dennoch gemütlich eingerichtet. Nach einem geräumigen Flur kam man in das große Zimmer, eingerichtet im Stil der alten Tiroler Bauernhöfe, mit massiven Holzbänken, einem riesigen Tisch, an dem eine gesellige Runde feiern konnte. An der gegenüberliegenden Wand war ein offener Kamin aus groben Flusssteinen, über dem zahlreiche Äxte in den verschiedenen Formen und Größen hingen. Daneben stand ein zerschlissenes Chesterfieldsofa, an den restlichen Wänden waren Felle aufgespannt und allerlei präparierte Reh- und Hirschköpfe. Auf dem Boden vor dem Kamin lag ein Bärenfell. In der Ecke stand ein mit grünem Filz bespannter Billardtisch, dazu die Glasvitrinen, in denen er seine Jagdgewehre aufbewahrte und in der anderen Ecke eine gut bestückte Bar mit Vinothek. Am Boden davor eine Kiste tschechisches Bier.
Staunend betrachtete Arno die Einrichtung, während Heimo die Läden öffnete und frische Luft hereinließ. Er schaltete die Beleuchtung ein, die behagliche Lichtinseln schuf. Im Haus war es angenehm kühl.
Arno tastete den Raum mit seinen Blicken ab. »Wow, hier lässt es sich aber aushalten, würde ich meinen.«
»Willst du etwas essen oder trinken? Wie lange bist du gefahren? Mach dir´s bequem.« Heimo fuhr sich nervös mit den Fingern über die Stirn. Er senkte den Blick und spielte leise klappernd mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche herum, die Fragen nur hingeworfen, um selbst nachdenken zu können.
»Gibt es hier eine Toilette? Damit wäre mir schon geholfen«, antwortete Arno und setzte wieder ein verlegenes Grinsen auf.
»Na klar. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert und immer noch in Europa«, feixte Heimo und ging voraus. »Strom kommt vom Dach. Ich habe Photovoltaik, einen Wind- und einen Dieselgenerator. Fließend Wasser von einer Quelle mit Speicher in der Nähe. Reines Gebirgswasser. So gut kennst du es nicht von zu Hause. Die Toilette geht über ein Reinigungssystem und wird der Natur zugeführt.« Er lachte über Arnos verblüfftes Gesicht. »Die zweite Tür. Die Dritte ist das Bad, gegenüber liegt die Küche. Ich hab draußen noch zu tun, muss ein paar Vorräte in den Keller schaffen. Wenn du hungrig bist, mach dir schon was zu essen, der Kühlschrank ist gut gefüllt und im Schrank daneben findest du alles andere. Ich bin in zehn Minuten wieder da.«
* * *
Verena Brooks hockte in ihrem Käfig, ihr Gesicht grau und leblos und stierte im schwachen Lichtschein der Glühbirne, die mehr Schatten als Licht erschuf, auf die Gitterstäbe vor ihr, ohne sie auch nur wahrzunehmen.
Sie hatte vor zwei Tagen die letzten Reste von dem Zeug in der Schüssel zusammengekratzt und gegessen, dass ihr der Kerl, der sie entführt hatte, durch die Luke geschoben hatte. In ihrem Bauch wühlte bohrender Hunger. Eine halbe Flasche Wasser war noch da. Dann würde der Durst zu ihr kommen. Sie fragte sich, ob der auch so unerbittlich war, wie sein nagender Bruder, der Hunger. Ihr Hals war wund vom Schreien, das sie längst aufgegeben hatte. Bei jedem Atemzug, den sie machte, lief ein Zucken über ihr Gesicht. Sie fühlte sich schmutzig, hilflos und war sich seit geraumer Zeit bewusst, dass sie in diesem Keller sterben würde. Doch irgendwo tief in ihrem Inneren war ihr klar geworden, dass ihre Furcht vor dem Tod mit jedem Tag, den sie überlebte, kleiner wurde.
Wir können uns die Stunde unserer Geburt genauso wenig aussuchen wie die Zeit und die Art unseres Todes, dachte sie verbittert, außer wir nehmen es selbst in die Hand. Wenigstens hätte dann die Angst ein Ende. Die Angst, dass er zurückkommen und sie schlagen und vergewaltigen und die Angst, dass er nicht mehr kommen und sie ihrem Schicksal überlassen würde. Den Tod, bis vor Kurzem etwas völlig Abstraktes für sie, das nur anderen passierte und niemals Einfluss auf ihr eigenes Leben hatte, betrachtete sie nun als willkommenen Freund, der zu ihr kam, sie zu befreien.
Als sie den Schlüssel hörte, der sich im Schloss drehte, hob sie den Kopf und war verwundert, dass der Tod für so etwas Simples, wie eine Tür, einen Schlüssel brauchte.
»Ich bin hier, habe auf dich gewartet«, krächzte sie, und strich mit den Fingern über den Betonboden, aber nur ein heiseres Flüstern kam über ihre aufgesprungenen Lippen.
Mit schweren Schritten stapfte die dunkle Gestalt an ihr vorbei, ohne sie zu beachten und warf einen Sack in die Kiste am Ende des Flurs. Verena starrte auf die kleinen Staubfahnen, die seine Füße aufwirbelten. Sie tanzten wie graue Schleier vor ihren Augen und ihr wurde klar, dass es nicht der Tod persönlich war, der sie besuchen kam. Es war sein niederträchtiger Vertreter.
Das Böse lebt in der Seele mancher Menschen und schlüpft in vielerlei Verkleidungen, um die Unschuld anderer zu rauben und ihr Glück zu zerstören. In ihrem Fall war es ein Mensch, der aussah wir der nette Nachbar von nebenan, dem sie vertraut hatte, und zu dem sie in den Wagen gestiegen war.
»Um dich kümmere ich mich später. Essen und Trinken bringe ich auch.«
Der Kerl, der sich Peter Baur nannte, klopfte mit einem metallenen Gegenstand an die Gitterstäbe, wie ein kleines Kind, das nicht am Affenkäfig vorbeigehen konnte, ohne daran zu rütteln, um die Aufmerksamkeit der Tiere zu fordern, die dort eingesperrt waren.
»Nein, bitte nicht. Bitte nicht gehen«, wisperte Verena. Sie stieß die Worte durch ihre geschundene Kehle, um sich Gehör zu verschaffen und hasste sich zugleich für ihre Schwäche, für ihr Betteln. Ihre Stimme war heiser vor Tränen. »Lass mich nicht allein.«
»Du bist nicht mehr allein. Du hast jetzt Gesellschaft und in ein paar Tagen lasse ich euch ohnehin laufen. Dann ist der Spaß vorbei.« Er rümpfte die Nase. »Ich werde dich waschen müssen. Du stinkst wie ein Rudel Schweine. Machst mir bloß Arbeit.«
Er blieb neben der Kellertür stehen, steckte einen Schlüssel in eine versenkte Klappe, drückte Knöpfe und schon hörte Verena das leise Surren eines Ventilators und spürte den warmen Luftzug, der durch den Raum ging, wie ein wiedererwachtes Lebenszeichen.
Seine Worte klangen in ihrem Kopf nach.
›Du bist nicht mehr allein‹, hatte er gesagt, und ›... ich lasse euch frei.‹ Die Gedanken taumelten in ihrem Kopf herum. Da war ein anderes Mädchen in der Kiste. Das war kein Sack, den er gebracht hatte, das war ein weiteres Entführungsopfer. Ein tiefes Raunen grollte in ihrer Brust und ihre Schultern sackten nach unten. Sie konnte die Angst des Mädchens spüren, die sie beim Aufwachen empfinden würde, wie ihre eigene, kroch nach vorne ans Gitter und streckte die Hände hinaus.
Ich muss ihn hinhalten, dachte sie. Er muss bleiben, bis sie aufwacht, damit er sie aus der Kiste holt. Sie wird vor Angst halb wahnsinnig sein.
»Bitte nicht gehen. Bitte geh nicht. Ich will mich waschen.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich die ganze Erschöpfung, die Augen waren stumpf und blicklos, als seien sie auf einen einzigen Gedanken gerichtet, den sie tief in sich trug.
»Du kannst es wohl nicht mehr erwarten, dass ich zu dir komme«, grinste er dreckig und musterte sie von oben bis unten. »Erst muss ich dich sauber bekommen, dann können wir spielen.«
Verena versuchte ein Lächeln aufzusetzen, die Haut um ihre Mundwinkel verzog sich zur Grimasse. Er wandte sich ab und ging durch die Tür hinaus. »Bis später!«
Enttäuscht ließ Verena die Arme sinken. In ihrer Miene lag das Entsetzen der Erkenntnis, dass sie wieder allein war. Sie ließ sich nach vorne fallen, drückte die Stirn an die Käfigstäbe und wartete auf das Knirschen des Schlüssels.
Am Ende des dunklen Flurs, dort wo die Schatten sich zur tiefen Dunkelheit sammelten, hörte sie gleich darauf das Kratzen von tastenden Fingern auf Holz.
Das Mädchen in der Kiste war aufgewacht. Ihre Füße scharrten über das Holz, sie atmete schwer und schniefte laut. Verena hielt den Atem an und lauschte auf das lang gezogene Stöhnen und dem dumpfen Schrei, dem das Trommeln von Fersen auf Holz folgte.
»Hilfe! Ich bin eingeschlossen. Wo bin ich? Daddy, ich habe Angst!« Ihre Stimme klang, als schleife sie über trockenes Laub.
»Ist okay. Er lässt dich raus, aber es wird eine Weile dauern«, antwortete Verena mit verschleiertem Blick. Sie versuchte, sich auf das Mädchen zu konzentrieren. Denn da war gar nichts okay. Wenn er sie herausließ ging der Alptraum erst richtig los. Aber wie sollte sie ihr das sagen, wie darauf vorbereiten?
»Lass mich raus! Wo bin ich? Ich bekomme keine Luft!«
»Du musst ruhig atmen, hörst du? Da sind Luftlöcher in der Kiste. Du kannst sie nicht sehen, weil es zu dunkel ist, aber du wirst nicht ersticken.«
Das Mädchen hämmerte mit den Fäusten gegen die Wände, die sie gefangen hielten. Verena drehte sich herum, drückte ihren Rücken an die Stäbe, kauerte sich hin und wartete, bis es sich ausgetobt hatte. In der folgenden Stille konnte sie das Summen des Ventilators und das Weinen des Mädchens hören.
»Ich kann dir nicht helfen. Ich bin auch eingesperrt. Es wird eine Weile dauern, aber er kommt und holt dich da raus«, wiederholte sie und richtete ihren Blick in die hinterste Ecke des Kellers, dort wo die Spinnen und Käfer wohnten, die ab und an über den Boden ihres Abteils huschten.
»Wer bist du?«
Ihr Mund öffnete sich und sie gab ein trockenes Geräusch von sich.
»Mein Name ist Verena und ich wurde vor ein paar Tagen entführt. Was haben wir heute für ein Datum, ich weiß nicht, wie lange ich hier bin?«
»Heute ist der fünfundzwanzigste Juni.«
»Oh Scheiße, dann sitze ich seit einer Woche hier. Ich wurde am Achtzehnten entführt. Wie ist dein Name?«
»Susanna.«
»Wie alt bist du Susanna, du hörst dich jung an.«
»Sechzehn.«
»Oh Gott, dieser Scheißkerl.«
»Ich kenne ihn. Er ist Versicherungsagent in unserer Stadt«, schluchzte Susanna.
»Auch das noch«, flüsterte Verena und ihr Bauch flatterte plötzlich vor Angst. Er würde sie nicht laufen lassen, nicht am Leben lassen. Unmöglich. Es sein denn, er wusste nicht, dass sie ihn kannte. Sie wagte nicht zu fragen, fürchtete die Antwort. In dem einsetzenden Schweigen war nur das Rasseln ihres Atems zu hören. Das Licht der Glühbirne flackerte unruhig.
»Er kennt meinen Vater, warum macht er das?«
Damit waren ihre Chancen zu überleben, auf null gesunken. Verena sank zu Boden, ihre Schultern bebten und sie weinte mit Susanna.
* * *
»Es war eine blöde Idee.«
»Was war eine blöde Idee? Sag mir, was war eine blöde Idee? Dass ich dieses Hotel gebucht habe?« Mary-Ann Koller starrte ihren Freund Kyle Barber für einen langen Moment mit herausfordernder Miene an, dann wandte sie ihren Blick wieder der Straße zu, die in der Hitze zu zerfließen schien. Mary-Ann war dunkelhaarig, Ende zwanzig, trug weiße Levis, eine rostrote Bluse und Ohrringe mit goldenen Reifen. Unter ihren Achseln breiteten sich dunkle Schweißflecken aus. Die über die Hügel brechenden Strahlen der Sonne überzogen das karge Land, durch das sie fuhren, mit einem orange-gelben Schleier aus Staub. Es schien nur aus Geröll und kurzem Gras zu bestehen. Vom Meer trieben blendend weiße Wolken heran und einen Moment dachte Kyle Barber Salzwasser in der Luft zu schmecken, aber dann klarte der Himmel wieder auf und der Spuk war vorbei.
»Das Kroatiending. Ans Meer zu fahren. In diesen Club«, sagte er und streckte das Kinn nach vor. »Das war eine blöde Idee von dir.«
Er war groß und kräftig. Sein Gesicht tief gebräunt. Seine Augenbrauen und sein Haar so blond, dass es fast weiß wirkte und seine Augen hatten das intensive Blau eines Alpensees, tief und unergründlich. Er trug Jeans, cremefarbene Boots und ein ausgebleichtes T-Shirt. Mit einem schnellen Blick auf den Tacho vergewisserte er sich, dass er die Höchstgeschwindigkeit einhielt. Er neigte dazu, bei Frust oder Ärger schneller zu fahren, als erlaubt war und wollte sich in einem fremden Land keinen unnötigen Ärger aufhalsen. »Ich hasse Club-Urlaube. Den ganzen Tag am Strand sitzen und in der Sonne braten. Am Abend in der Bar herumhängen und mit Typen quatschen, die dir von ihrem Job erzählen und sich für den Mittelpunkt der Welt halten.«
»Das sind völlig normale Menschen, wie du und ich. Sie halten sich nicht für den Mittelpunkt der Welt. Sie gehen ihren Jobs nach, haben Familie, Kinder, im Sommer Urlaub und wollen sich unterhalten. Small Talk, verstehst du? Was hast du gegen diese Leute?«
»Das sind die gleichen Leute, die ich das ganze Jahr um mich habe. Das ist kein Urlaub für mich! Das ist keine Erholung, kein Ausspannen, kein ›Ich bin dann mal weg vom Alltag‹. Das ist eine Verlagerung meines Büros in einen Club, nicht mehr. Wir hatten abgesprochen, dass wir dieses Jahr in die Berge zum Wandern fahren. Warum hast du meine Buchung storniert? Das hast du doch, oder nicht? Was sollte das? Du weißt, dass ich Überraschungen hasse und ganz besonders diese Art von Überraschung.« In Kyles Kopf war ein Geräusch, wie das weiße Rauschen des Meeres in einer Muschelschale. Er presste die Augen fest zusammen und riss sie weit auf. Mary-Ann hatte ihm vor etwa einer halben Stunde gestanden, dass sie ihr gemeinsames Urlaubsziel geändert und umgebucht hatte. Sie hatten die Grenze von Slowenien zu Kroatien passiert und er hatte eine Bemerkung über die Wanderroute gemacht, als sie ihn davon informiert hatte. Die nächste halbe Stunde hatte er kein Wort mehr gesagt.
»Wir haben diesen Urlaub in den Bergen gemeinsam geplant, warum hast du jetzt alles verworfen?«
»Du weißt, dass ich die Berge und das Wandern hasse«, herrschte sie ihn an, beleidigt von seiner Reaktion. »Ich laufe doch nicht in der Hitze durch irgendwelche Urwälder, lasse mir von Moskitos das Blut aussaugen und mich von Wölfen fressen. Ich will auch nicht wie ein Höhlenmensch in einem Zelt am Boden schlafen, wenn ich ans Meer und die Sonne und die Annehmlichkeiten eines Hotels genießen kann, und das weißt du.«
»Aber wir haben das doch alles besprochen. Du wolltest mir eine Chance geben, ein paar Tage den Urlaub intensiv zu leben. In der Natur unterwegs, nur du und ich.«
»Ah, haben wir? Ein paar Tage außerhalb der Zivilisation und ich werde zum Tier. Wie soll ich mich in einem Zelt schminken? Wovon soll ich leben? Soll ich auf allen Vieren herumkriechen und Erde unter den Fingernägeln herauskratzen?«
»Du hast keine Ahnung vom richtigen Leben. Du kennst nur das Urbane, das Unnatürliche, das Künstliche. Für dich zählt nur das Oberflächliche.«
»Komm mir doch nicht mit oberflächlich.« Sie warf ihm von der Seite einen verächtlichen Blick zu, und wandte sich schnell wieder ab. »Sieh dich doch nur an. Ohne mich würdest du wie ein Neandertaler in Felle gehüllt daherkommen und Wildschweine vor der Höhle grillen.«
Kyle Barber lachte laut auf. »In Felle gehüllt? Was soll der Blödsinn nun wieder. Bloß weil ich Anzug und Krawatte hasse. Ich stecke den ganzen Tag in dieser albernen Verkleidung, ich will nach Feierabend wenigstens ein kleines bisschen ich selbst sein. Was hast du gegen Jeans und T-Shirts.«
Die graue Autobahn schlängelte sich endlos in der weiß flimmernden Sonne von Istriens Hochland. Kyle war, als ob der Wind vom Meer, der in immer mächtigeren Böen heranjagte, sie von der Straße blasen wollte. Staubwolken tanzten neben und über der Straße, wie verrückte Geister und lösten sich sofort wieder ins Nichts auf. Vor ihnen fuhr ein vollgepackter alter Golf mit Dachbox und schien alle Zeit der Welt zu haben.
»Scheiße! Pass doch auf, wo du hinfährst. Fahr nicht so knapp an den Vordermann. Willst du uns umbringen?« Aus Mary-Anns sonnengebräuntem Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Musst du mir immer sagen, was ich tun und lassen soll? Ich bin alt genug, auf mich selbst aufzupassen. Ich sollte dich in deinem Club abliefern und allein wandern gehen. Dann kann ich wenigstens tun und lassen, was ich will und muss nicht ans Meer.«
»Dann verziehst du dich am Abend eben ins Zimmer oder gehst am Strand oder meinetwegen im Dorf spazieren, wenn du nicht im Hotel bleiben willst. Und wenn wir schon beim Thema sind, was hast du eigentlich gegen das Meer?«
»Danke für die Erlaubnis alleine rausgehen zu dürfen. Du verstehst gar nichts, nicht wahr? Du hörst mir nicht zu. Du lebst nur dein Leben und willst mich da reinzwängen, willst mich in deine Schablone pressen und in deine Schublade stecken, damit ich dir und den Leuten, mit denen du dich umgibst, gerecht werde.«
»Fahr auf die erste Spur zurück, da will einer vorbei und gib acht, lass erst den schwarzen Audi vorbei.«
»Fahren sie rechts ab, biegen sie links ein, bitte wenden«, murrte Kyle. »Bist du mein Fahrlehrer, mein Navi oder meine Aufpasserin? Ich fahre, also lass das Ständige reinquatschen.«
»Fahr bei der nächsten Ausfahrt raus, ja. Du brauchst etwas zu essen. Dein Blutzuckerspiegel liegt am Boden, das macht dich übellaunig. Das nächste Autobahnrestaurant ist vierzig Kilometer weiter, bis dahin habe ich dich erwürgt oder du krachst in einen anderen Wagen. Dort ist eine Ausfahrt. Na los, fahr rechts und dort raus! Wir suchen uns ein Restaurant und gehen essen.« Ihr Gesicht war gerötet, an der Schläfe pochte eine blau-grüne Ader.
Kyle blickte in den Himmel, ließ seine Augen über die Straße vor ihm wandern und biss die Zähne aufeinander.
»Lass diesen Blödsinn!«, knurrte er endlich.
»Das ist kein Blödsinn, fahr diese verdammte Ausfahrt raus! Kannst du nicht hören?«
»Du sollst mich nicht immerzu bevormunden und mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe!« Ungehalten unterstrich er jedes Wort, indem er mit der Faust auf das Lenkrad hämmerte.
»Das ist mein Wagen! Würdest du bitte etwas vorsichtiger damit umgehen. Fahr jetzt rechts raus!« Mary-Anns Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.
Kyle spürte, wie die Wut in seinem Kopf pulsierte und sich eine dunkle Wolke in sein Sichtfeld schob. Eigentlich wurde er nur selten ärgerlich, dieses Mal jedoch hatte sie den Punkt getroffen, wo es wehtat. Zitternd vor Spannung bog er in die halbkreisförmig angelegte Abfahrt ein und verließ die Autobahn. Der Wind trieb Staubwolken die Straße entlang und rüttelte an den Pinien, die sie daneben gepflanzt hatten. Er schaltete die Klimaanlage aus, öffnete sein Fenster und ließ die heiße Luft ins Wageninnere strömen.
»Na bitte, geht doch. Da vorne ist eine Ortschaft, da fährst du langsamer, damit ich mich umsehen kann. Und mach das Fenster zu und die Klima wieder an. Bei den Temperaturen komme ich sonst um.«
Kyle biss die Zähne zusammen, versuchte seinen Ärger hinunterzuschlucken und fuhr schweigend weiter.
»Du musst nichts sagen. Wir besprechen das, wenn du gegessen hast, dann wird auch das Meer für dich wieder passen. Vorsicht, ein Radfahrer! Warum hältst du an?«
»Das ist dein Wagen, also fahr gefälligst selbst. Du kannst es ohnehin besser.« Die Sonne stand weiß am Horizont und die Luft über der Straße flimmerte in der Hitze. Seine Miene schien völlig unbewegt, während er aus dem Wagen stieg. Die Haut auf seiner Stirn und an den Wangen glänzte vor Schweiß. Mary-Ann richtete sich in ihrem Sitz gerade auf, sah hinauf in den ausgewaschenen blauen Himmel und zwinkerte mit den Augen.
»Du weißt doch, dass ich so weite Strecken nicht gerne fahre, also steig wieder ein.«
Ohne auf ihre Worte einzugehen, ging Kyle zum Kofferraum, öffnete den Koffer und die Sporttasche, die sie für ihn gepackt hatte und räumte ein paar Sachen aus.
Sie stieß ihre Tür weit auf und rief ihn in genervtem Ton, als ob sie es mit einem pubertierenden Kind zu tun hätte, aber er antwortete nicht.
»Wenn Männer sich etwas einbilden, dann aber richtig! Können wir bitte wieder weiterfahren?«, mahnte sie ihn, und in ihrer Stimme klang dieser leise, gereizte Ton mit, den Kyle nur allzu gut kannte. Er ließ den Blick noch einmal über die verstreuten Kleidungsstücke wandern, schloss die Sporttasche und warf den Kofferraumdeckel zu.
»Alles klar. Du kannst fahren. Wir sehen uns nach dem Urlaub. Wirf meine Sachen in einen Koffer und gib sie der Nachbarin. Ich hole sie dort ab, wenn ich mal in der Stadt bin.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen, hob winkend den Arm und ging die Straße entlang. Das Sonnenlicht schien wie heller Nebel in den Bäumen über ihm, die Luft roch nach südländischen Kräutern, Rosmarin, Thymian, zwischen den Häusern pickten magere Hühner unter den üppigen Sträuchern. Die Vorgärten hallten wider vom Sirren der Zikaden.
Verdutzt blickte ihm Mary-Ann hinterher.
»Sag mal, was soll das? Spielst du jetzt auf beleidigt?« Mehr verblüfft, als verärgert sprang sie aus dem Wagen und rief ihm nach. »Kyle!« Sie hatte die Arme ausgestreckt und das Kinn in die Höhe gereckt, mit wild flackernden Augen, aber er war bereits zu weit weg und konnte sie nicht mehr hören.
»Wie ich diesen Männerschwachsinn hasse!« Hin und hergerissen zwischen Frust und Ärger blickte sie ihm nach, ihre Augen wurden schmal vor Zorn, der in ihrer Brust hochstieg. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, ging um den Wagen herum, stieg ein und ließ ihn langsam im ersten Gang anrollen.
»Komm schon, Kyle, steig ein und lass den Quatsch!«, stieß sie beherrscht hervor, als sie auf seiner Höhe war und blickte konzentriert auf die Straße vor ihr, aber er reagierte nicht.
»Hör auf dich wie ein trotziger Teenager zu benehmen und steig ein!«
Kyle wechselte die Sporttasche in die andere Hand und wandte sich, in Gedanken schon weit weg, für einen Moment ihr zu, ließ den Blick über die Häuser und Sträucher wandern und ging weiter, ohne sie noch einmal zu beachten.
Mary-Ann hupte. An ihrem Hals traten die Muskeln und Sehnen wie straff gespannte Seile hervor.
»Okay, okay, du hast gewonnen. Wir fahren ein paar Tage in die Berge und dann ans Meer. Steig ein, ich möchte essen fahren.«
Kyle blieb stehen, sah gelangweilt in die andere Richtung, als ob sie gar nicht existieren würde, drehte abrupt um, ging hinter ihrem Wagen vorbei über die Straße und verschwand in einer schmalen Gasse zwischen alten Häusern.
Ihre Hände verkrampften sich um das Lenkrad, bis sie wehtaten. Sie starrte unverwandt auf die Straße, die vor ihr in der Hitze flimmerte. Dann trat sie auf die Bremse, schrie all ihren Frust und Ärger, der in ihr tobte hinaus und wartete, dass er zurückkam. Eine Alternative kam für sie nicht in Frage. Nach Minuten, in denen sie fast hysterisch wurde, nahm sie das Handy und klopfte verbissen darauf herum. Am liebsten hätte sie es ihm hinterhergeworfen oder besser noch, in den Rachen gestopft.
»Kannst du dann endlich hier antanzen, damit wir weiterfahren können ...«, bellte sie in den kleinen Lautsprecher und atmete schnaubend aus.
Doch nur die Stille eines toten Telefons antwortete ihr. Kyle hatte sie sofort weggedrückt. Entgeistert betrachtete sie das Telefon in ihrer Hand und wählte noch einmal seine Nummer, wurde aber sofort auf die Mailbox verwiesen. Sie versuchte vergeblich einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ich hasse dich, du Scheißkerl.« Mary-Anns Gesicht brannte im Zorn, in dem sie gefangen war.
Er wird kommen, sagte sie sich. Immer wieder. Was sollte er auch sonst tun? Sie hatte die Hoteladresse und Buchungsbestätigung in ihrer Tasche. Er musste also kommen.
Nach zehn Minuten wischte sie mit den Händen über ihr Gesicht, das sich glitschig und fiebrig anfühlte. Der Gestank von Deo und Schweiß strömte aus ihren Achselhöhlen. Sie startete den Wagen, schloss das Fenster und fuhr los, in den Augen jetzt ein schmerzhaftes Zucken.
Kyle ging den Weg zwischen den alten, schlicht verputzten Häusern entlang. Die Straße kaum mehr als ein grober Kiesweg. Vereinzelt standen Bäume in winzigen Vorgärten. Vor einem Lebensmittelladen waren Obst und Gemüse in Kisten neben dem Eingang gestapelt. Die behagliche Stille eines heißen Nachmittags legte sich über ihn. Die Luft roch nach Staub, Ozon, nach gebratenem Fisch und nasser Wäsche, die auf den Leinen zwischen den Häusern trocknete.
Ich kann nicht mehr, dachte er. Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe alles für sie gegeben. Was ist bloß aus dem netten Mädchen geworden, das ich vor einem Jahr kennengelernt habe. Wir haben uns verliebt und alles war gut. Aber allmählich wurde sie beherrschender, mäkelte an seiner Kleidung, seinem Aussehen, seinem Verhalten herum. Nichts war mehr in Ordnung. So lange, bis er ein anderer Mensch war, nicht mehr er selbst, nur noch ein Klon, den er gelegentlich von außen betrachtete und nicht mehr erkannte. Er fühlte sich immer öfter ausgesetzt, ausgegrenzt und völlig fremd. Sie sah in ihm nicht den Menschen, der er war, sondern einen, den sie haben wollte. Er begann sich zu fragen, ob er sie noch liebte, auf die eine oder andere Art, aber da war nichts. Sie war ihm so fremd geworden, wie eine Frau, die er zufällig in der Stadt getroffen hatte, um ein paar belanglose Worte über das Wetter mit ihr zu wechseln.
Er zuckte mit den Schultern, versuchte die Gedanken abzuschütteln und wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen, während er weiterging, ohne auf seine Schritte zu achten. Bloß ein Jahr, um wegzuschauen, das Lächeln dieses hübschen Mädchens nicht sehen, das ihm damals den Kopf verdreht hatte.
In Gedanken verloren schaute er die Straße entlang, versuchte sich zu orientieren und hatte mit einem Mal das Gefühl, als wäre er an einem magischen Ort angelangt, der losgelöst von seiner Welt war. Irgendwie war er in einen Teil der Stadt gekommen, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Sogar die Zikaden verharrten in der Mittagshitze mit ihrem Sirren. Kyle ging langsam weiter, als würde jeder schnelle Schritt den Zauber zerstören, nicht sofort, nur mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Nach fünfzehn Minuten durch enge Gassen, die er wahllos links oder rechts liegen ließ, kam er an eine breitere Straße. Er stellte die Sporttasche ab, hockte sich daneben und drückte den Rücken gegen die Wand. Eine leichte Brise wehte von Osten heran und wirbelte den Staub vor seinen Füßen hoch. Zwei Kinder liefen am Rand eines Grabens entlang und bewarfen sich gegenseitig mit matschigen Früchten. Ihre ausgebeulten Hosen hingen am Gesäß nach unten und ihr unbeschwertes Lachen hallte zwischen den Häusern wider. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das erste seit langer Zeit und er bemerkte überrascht, dass er sich so wohl fühlte, wie schon lange nicht.
Bald darauf hielt ein klappriger Bus am Straßenrand, die Tür ging auf und der Fahrer schaute ihn fragend an. Kyle erhob sich mit knarzenden Knien und stieg ein.
»Kamotrebaici?«, fragte der Chauffeur.
Kyle dachte nach. »Ich weiß es nicht genau. Wohin fährst du?«
»Willst du nach Mocra Gora? Dort wollen alle Touristen hin, um mit dem Kanu die Tara hinunterzufahren.«
»Nein. Ich will in die Berge. Hoch hinauf.«
»Du siehst nicht wie ein Jäger oder Wanderer aus, bist du sicher, dass du dorthin willst?«
»Wie sehe ich denn aus?«, nickte Kyle zu dem Fahrer hoch.
»Wie ein verlorener Tourist«, erwiderte der Buschauffeur. »Hat dich eine Frau versetzt?«
»Bring mich in die Berge.«
Drei Stunden und viele Haltestellen später hielt der Bus in einem der Dörfer an, in denen sie vorbeikamen und der Fahrer winkte Kyle. »Wir sind da. Ich hoffe, du findest, was du suchst.«
Sie waren immer höher hinauf in die Berge gefahren, die Straßen gesäumt von dichten Wäldern, vorbei an tiefen Abgründen, entlang eines türkisfarbenen Flusses. Die Luft, die durch die offenen Fenster hereinströmte, war allmählich kühler geworden und der Himmel über ihnen hatte ein intensives Blau angenommen.
Kyle kletterte aus dem Bus und sah sich um. Das Dorf war klein und wirkte verschlafen. Die meisten Häuser aus Feldsteinen gebaut und roh verputzt.
Die Straßen lagen im Schatten alter Bäume. Das Gras zwischen den Häusern war blassgrün, in den Beeten davor wuchsen Rosmarin, Thymian, Oregano und andere Kräuter, die Zufahrten kaum mehr als ein Streifen aus grobem Kies, wie eine altertümliche Straße, die aus der nackten Erde hervortrat. Über den Wiesen am Waldrand dahinter verstreut lagen abgebrochene Äste, die der letzte Sturm von den Bäumen gerissen hatte.
Er schaute nach rechts und nach links und ein tiefes, zufriedenes Lächeln legte sich über sein Gesicht.
Der erste Augenblick beim Ankommen, das erste Mal durchatmen, der erste Eindruck nach einer langen Anfahrt war für ihn stets wie eine Begrüßung. Sie konnte abweisend, unfreundlich oder gleichgültig sein. Sie konnte aber auch herzlich, willkommen oder einladend sein.
Eine junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Schatten der Häuser eintauchte, blickte zu ihm herüber und lächelte freundlich. Kyle hob die linke Hand zu einem Winken und die Frau straffte unwillkürlich die Schultern, sah aber zu seinem Bedauern nicht zurück. Er wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn die Straße zurückwandern.
Ja, hier gefällt es mir, dachte er, und zog los, ein Gasthaus zu finden. Er hatte Hunger und Durst. Unwillkürlich tastete seine Hand nach der Brieftasche und ihm fiel ein, dass er all ihr Geld bei sich hatte. Ihr gesamtes Urlaubsbudget, das sie gewechselt hatten, hatte er in der Tasche. Seine Freundin Mary-Ann hatte nur ihre Kreditkarte dabei. Kyle dachte einen Augenblick darüber nach und lächelte dann in sich hinein. Froh, die Entscheidung getroffen zu haben, die ihm schon eine ganze Weile zugesetzt hatte.
Nach dem Essen wanderte er durch das Dorf, um eine Bleibe für die Nacht zu finden. Die Straßen waren mittlerweile voll mit Touristen. Familien, Wanderer, Jäger und Straßenvolk. Ausgespuckt von drei Reisebussen, die am Dorfrand im Schatten der Bäume geparkt waren. Missbilligend betrachtete er das bunte, laute Treiben, dass mit einem Male das kleine Dorf erfüllte. Er wich einer Gruppe junger Männer aus, entdeckte ein Geschäft für Sportsachen und ging hinein.
»Wollen sie wandern, angeln oder jagen?«
Kyle drehte sich um, schaute über die von der Sonne beschienen Regale und entdeckte in einer Ecke ein paar Bögen, Pfeile und daneben Rucksäcke.
»Jagen«, antwortete er, und ließ seinen Blick über die Bögen wandern. Sie waren sauber gefertigt, vermutlich koreanische Qualitätsarbeit, in verschiedenen Stärken. Ein Mann trat hinter einem hohen Regal hervor, in dem sich Schlafsäcke, Matten und Zelte stapelten, blieb stehen und stützte die Hände in die Hüfte. Er hatte eine Baskenmütze schräg auf dem Kopf sitzen und grinste vergnügt.
»Wollen sie auf die Jagd? Bei uns darf man mit dem Bogen jagen.«
»Ja?«, antwortete Kyle und nickte, zufrieden mit sich und der Welt.
Als er wieder herauskam, war er umgezogen, hatte das halbe Budget für ihren Urlaub drinnen gelassen und war gerüstet für ein paar Wochen in den Bergen, mit Rucksack, Schlafsack, Zelt, Seilen, Axt, Messer, einem Bogen und zwei Dutzend Pfeilen mit Jagdspitzen.
Gut gelaunt setzte er sich auf eine Bank unter einem Baum, sortierte seine Sachen aus dem Koffer und steckte einiges in den Rucksack. Den weitaus größeren Teil, Hemden, Schuhe und zwei Anzüge stopfte er in den Koffer zurück und schenkte ihn einem Jungen, der in der Nähe stand und ihn verblüfft betrachtete.
Es war ein herrlicher Spätnachmittag, als Kyle aufstand und seine nächsten Schritte überlegte. Der Himmel über den Hügeln war lavendelfarben, mit feurigen Streifen durchsetzt und die Sonne glühte orangerot zwischen den Bergen. Sein Blick war auf die Dächer der Häuser und vom Krieg zerstörten Villen entlang der Straße und auf die über den Gärten kreisenden Vögel gerichtet, als hielten sie die Antwort auf eine Frage bereit, die er sich bislang nicht gestellt hatte.
Er ging hinaus aus dem Dorf, durch stille Gassen, in denen Kästen mit reifem Obst und Gemüse auf dem Bürgersteig standen und folgte dem Fluss, der daneben her floss. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Luft war trocken und warm, in der Dunkelheit tanzten die kleinen gelben Lichter der Glühwürmchen. Kyle wusste genau, wo er heute nächtigen würde. Irgendwo höher oben, unter den Sternen, mit dem Rauschen des Wassers, das ihn in den Schlaf wiegen würde.
* * *
»Oh nein, das war unser Bus!« Die Stirn leicht gerunzelt, hob Vanessa Harrer die Hand, wie um den Bus hinterherzuwinken, ein zaghafter Versuch, ihn anzuhalten. Doch der beschleunigte, ohne Anstalten zu machen, an der Haltestelle stehen zu bleiben. Qualmend und nach verschnittenem Diesel stinkend verschwand er bereits zwischen all den anderen Autos, Kleinlastern, Wohnmobilen und Gespannen, die an diesem späten Nachmittag die Straßen der kleinen Stadt am Fuße des Tara-Gebirges verstopften. Sie dachte noch daran, ihm nachzulaufen, auch wenn es keinen Sinn machte, ließ es dann aber bleiben.
»Unser Bus?«
»Ja. Der uns in die Berge bringen sollte. Der jetzt ohne uns dort hinauffährt. Mit einer Handvoll Touristen an Bord. Der Bus war bloß halb besetzt, soweit ich gesehen hab. Was soll das? Warum hat er nicht angehalten? Der muss uns doch gesehen haben?«
»Nehmen wir eben den Nächsten.« Nicoletta Grimm zuckte mit der Schulter und sah die Straße zurück, als ob sie einen nachfolgenden Bus erwarten würde. Die Sonne stand zwei Handbreit über den Wäldern am Horizont, die Luft über dem Asphalt war getrübt von den Abgasen der Fahrzeuge und flimmerte in der Hitze. Reglos hingen die von Staub überzogenen Blätter an den Bäumen am Straßenrand, das Laubdach warf gesprenkelte Schatten auf den Gehweg. Alte Männer mit sonnenverbrannten Gesichtern, weißen Hemden und schwarzen Hosen saßen auf ausgeblichenen Bänken unter den Bäumen und schauten mit reglosen Mienen dem Treiben zu.
»Der fährt vermutlich erst am Abend. Wenn überhaupt heute noch einer fährt.« Katja wandte sich von der Anzeigentafel ab und musterte die Menschen, die sich als winzige Miniaturwesen in ihrer Sonnenbrille spiegelten, als sie an ihr vorbeigingen. »So genau ist das nicht ersichtlich. Hier stehen ein paar Zeiten und seltsame Zeichnungen dahinter.«
»Das sind Abkürzungen. Du musst die Abkürzungen und Erklärungen unten nachlesen.« Frustriert schüttelte Vanessa den Kopf und trat zu der Anzeigentafel, der Freundin zu helfen und die Geheimnisse des Plans zu entziffern.
»Abkürzungen? Da wäre ich jetzt nicht draufgekommen«, erwiderte Katja genervt und strich mit der Hand über ihren Nacken. »Soweit kann ich auch einen Busplan lesen. Es gibt hier kein ›Unten‹. Die Erklärungen fehlen.«
»Das kann doch nicht sein.«
»Ist es aber. Wir sind nicht in Österreich. Die ticken hier anders. Der Bus sollte auch viel später losfahren. Wir waren früh genug hier.«
»Was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung. Wir improvisieren. Da vorne ist eine Tankstelle, da fragen wir. An der Tankstelle wissen sie sicher, ob und wann der nächste Bus geht«, unterbrach Nicoletta die beiden beschwichtigend.
Sie liefen über die Straße, ohne auf den stockenden Verkehr zu achten, zwischen Urlaubern und heimischem Volk, das den Andrang der Touristen gelassen hinnahm und gingen in den angrenzenden Laden.
»Heute fährt kein Bus mehr in die Berge«, antwortete der Betreiber auf ihre Frage. Er furchte die Stirn, wirkte einen Moment lang in sich gekehrt, als sinne er über einen Gedanken nach. »Heute nicht mehr. Ihr seid zu spät. Heute fährt er nur noch zurück.«
»Gibt es in der Stadt eine Möglichkeit zu übernachten?«
»Habe ich grade drüber nachgedacht. Das wird schwierig. Die Hochsaison hat bereits begonnen. Wenn ihr nicht reserviert habt, werdet ihr nix finden.«
»Wir könnten uns doch einen Park suchen und dort die Zelte aufschlagen, wir schlafen im Wagen oder Campieren neben der Straße am Stadtrand«, schlug Nicoletta vor, als sie aus dem Laden traten.
Vanessa schüttelte den Kopf und hob einen Arm über die Augen, fast entsetzt über den Vorschlag.
»Im Wagen schlafen? Zu dritt? Oder neben der Straße? Bist du verrückt. Bei all den Freaks, die herumlaufen, willst du neben der Straße campieren. Nicht mit mir!«
»Im Wald, wo du mutterseelenallein bist, ist das Okay, und hier nicht?«
»Im Wald laufen auch Freaks herum, aber die verschleppen dich nicht in ihren Autos, vergewaltigen und werfen dich irgendwo raus. Das ist der Unterschied.«
»Was machen wir also?«
»Wir gehen in die Stadt und versuchen dort unser Glück.«
»Wir könnten auch selbst in dieses Dorf fahren und den Wagen später holen.«
»Das wollte ich eigentlich vermeiden. Die Tour wird anstrengend und wir wollten danach ans Meer. So verlieren wir wegen des Hin- und Herfahrens zumindest einen halben Tag.«
Hinter ihnen kam ein Wagen von der Tankstelle und blieb stehen. Das von der Windschutzscheibe reflektierende Sonnenlicht war blendend hell. Ein Mann stieg aus, legte lässig eine Hand auf das Autodach und schaute zu ihnen herüber.
»Ihr wollt entweder den Berg hinauf oder in die Stadt und habt den Bus verpasst, nicht wahr?« Er hatte langes, zotteliges Haar, einen Bart, ein Stirnband und trug verspiegelte Sonnenbrillen, hinter denen man seine Augen nicht sehen konnte. Vanessa und Katja starrten ihn misstrauisch an.
»Ja genau. Wir wollten in die Berge zum Wandern, haben aber den Bus verpasst und wissen im Moment nicht, wo wir übernachten können«, antwortete Nicoletta. »Kennen sie vielleicht ein Hotel oder etwas Ähnliches in der Nähe.« Sie trat einen Schritt nach vorn und hob die Hand, um sein Gesicht in dem blendenden Licht zu sehen. Entgeistert schauten Vanessa und Katja erst einander und dann sie an.
»Die Hotels sind alle ausgebucht. Ist immer so, um diese Zeit.« Der Mann schaute in den Himmel und trommelte mit den Fingern auf das Autodach. Es war ein uralter Opel in der Farbe dunkler Regenwolken.
»Ihr könntet es bei einem Privatvermieter versuchen. Dazu müsstet ihr durch die Stadt gehen und auf Schilder achten, wo Zimmer vermietet werden und noch frei sind.« Er legte den Kopf schief. Ein Windstoß fegte ihm die Haare vor den Mund. »Ich bin auf dem Weg nach Mocra Gora, das liegt am Ausgangspunkt der Tara-Schlucht. Ich könnte euch mitnehmen und vor Ort einen Schlafplatz organisieren.«
Nicoletta war bereits am Losgehen, als ihr Katja die Hand auf die Schultern legte und sie zurückhielt.
»Nein!«, zischte sie. »Bist du verrückt? Das ist zu gefährlich. Da stehen drei Mädchen mit einem Berg an Gepäck am Straßenrand und plötzlich kommt jemand daher, fragt, wohin wir wollen und fährt zufällig in die gleiche Richtung. Hättest du gesagt, du willst in die nächste Stadt, wäre er dorthin unterwegs gewesen.«
Sie schaute an Nicoletta vorbei und lächelte verlegen.
»Wir gehen in die Stadt und fragen nach einem Zimmer.«
Stefan Kovacic nickte und blickte zur Seite. Seine Augen wanderten über die Rucksäcke, die Matten, Decken und Schlafrollen.
»Wie ihr wollt. Viel Glück bei der Suche und einen schönen Tag.« Er stieg in den Wagen und winkte im Wegfahren aus dem offenen Fenster, Katja konnte seine Hand sehen und war erleichtert.
»Das war beinahe zu offensichtlich«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Nicoletta. »Der hatte nichts Gutes im Sinn, und sei es nur, dass er den Abend mit uns verbringen wollte und wir später nicht wissen, wie wir ihn wieder loswerden.«
»Du bist zu misstrauisch«, meinte Nicoletta.
»Und du bist zu leichtgläubig«, erwiderte Katja.
»Wie auch immer. Wir müssen los und ein Zimmer suchen.« Vanessa warf einen Blick auf das durcheinandergewürfelte Gepäck und kramte ihren Rucksack heraus, sie konnte es kaum glauben.
»Ich möchte nicht neben der Straße oder in einem Park in der Stadt übernachten«, schnaubte sie. »Ich bin weder eine mittellose Studentin noch eine Obdachlose.« So hatte sie sich ihren Aktivurlaub nicht vorgestellt. Da waren überhaupt keine Alternativen angedacht, fiel ihr jetzt ein. Kein Plan, falls etwas nicht funktionieren sollte, der Bus sie einfach stehen ließ oder sie kein Zimmer fanden.
»So eine Scheiße aber auch«, murrte sie. Das Dilemma mit dem Bus kam in ihrer Welt nicht vor, das war nicht geplant, das hatte sie nicht einmal in Betracht gezogen. Busse fuhren nicht grundlos an wartenden Fahrgästen vorbei.
»Irgendetwas wird sich finden.« Nicoletta nahm ihren Rucksack auf, packte die Matten und den Schlafsack darauf und steckte die Daumen unter die Gurte, um ihn auszubalancieren. »Wir klappern einfach alles ab, bis wir etwas finden oder sich jemand erbarmt und uns aufnimmt«, sagte sie, und ließ ihren Blick die Straße entlangwandern. Auf der Suche nach ersten Hinweisen, einem Halt für die Verlorenen, bis er sich selbst verlor, in den Bäumen neben der Straße. Wind kam auf, spielte in den Blättern über den Köpfen der alten Männer auf den Bänken und wirbelte Staub und welkes Laub unter ihren Füßen durcheinander.
»Und wenn wir nichts finden, fahren wir selbst und haben eben einen Tag weniger am Meer.«
Übellaunig folgten sie ihr, die kaum beunruhigt war, die wieder einmal nichts aus der Ruhe bringen konnte. Vanessa schaute zu Katja, die ihren Rucksack samt allen angeschnallten Zubehör hinterherzog, wie einen Koffer auf Rollen, obwohl der Rucksack keine Rollen hatte, nur über die heiße Straße schabte.
Plötzlich verharrte sie, beinahe erstaunt ob der seltsamen Zufälle, die das Leben manchmal bereithielt und Katja lief auf sie auf. Sie hatte nicht achtgegeben, schubste Vanessa einen Schritt weiter. Die starrte auf einen Mann, der aus einem großen schwarzen Wagen stieg, der eben auf die Tankstelle gefahren war, um den Wagen herumging und den Zapfhahn in die Tanköffnung steckte.
»Den kenne ich doch«, rief Vanessa halblaut. »Das ist Reinhard Frost. Was macht der in diesem Nest?«
»Wer ist Reinhard Frost?«
»Der Politiker. Kennst du den nicht? Er ist in den Zeitungen, war sogar schon mal im Fernsehen und lacht bei Wahlen an jeder passenden und unpassenden Ecke von Plakaten.«
»Die Welt ist klein. Vielleicht will er wandern, hier Urlaub machen. Wenn man bekannt ist, sucht man abgeschiedene Orte, um auszuspannen.«
»Ich frage ihn!«
Spontan setzte sich Vanessa in Bewegung, mit einer Bemerkung über die Schulter. »Mehr als ein ›Nein‹ kann er nicht sagen.« Nicoletta und Katja blieben stehen und warteten darauf, was passierte. Unruhig starrten sie ihr hinterher. Wortlos.
Weil Worte sie ohnehin nicht erreicht hätten.
Sie stand bereits neben dem Wagen, schüttelte ihre dunklen Locken aus und redete mit ihm. Sie konnten ihre Worte, die vom Lärm der Straße überlagert waren, nicht verstehen. Vanessa zeigte in ihre Richtung, die Straße entlang, auch die Mimik nicht zu verstehen, obwohl es um sie ging. Der Mann sah sie an, zögerte, schaute wie beiläufig in die Bäume neben der Straße, als Ruhepol gegen den Verkehr, dort machten einige Autofahrer laut hupend ihrer Unmut Luft und blinzelte verwirrt.
Er sah wieder Vanessa an, mehr ein Mustern von Kopf bis Fuß, vielleicht wartete er auf eine Antwort und sie sagte etwas, das ihn das Gesicht verziehen ließ. Dann nickte er und zuckte mit den Schultern, offenbar hatte sie ihn doch noch überredet. Sie winkte hektisch und lachte ihnen entgegen. »Wir haben Glück, er nimmt uns mit!«
Nicoletta strahlte Katja an, beugte sich zu ihr und zog sie am Arm. »Komm schon!« Ihr kleiner, aber klarer Befehl. Sie gingen zur Tankstelle zurück und begrüßten den Politiker, den nur Vanessa erkannt hatte.
»Ich kann euch doch nicht mit dem ganzen Zeug hier stehen lassen, wenn heute kein Bus mehr fährt. Also steigt ein.«
Er zeigte ein sonniges Lächeln, eingeübt in vielen Stunden vor dem Spiegel, gewinnend, so nimmt man sein Publikum ein, und ging zum Kofferraum. Da drinnen lagen Rucksack, Wanderschuhe, ein kleiner Koffer, ein länglicher, schmaler Koffer, zwei Kisten Bier und eine Schachtel Lebensmittel. Alles Dinge, die bei ihnen in den Rucksack passen mussten. Er folgte Katjas Blick hinunter zu dem länglichen Koffer, der ganz hinten, fast im Verborgenem, lag.
»Ich bin zur Jagd hier«, erklärte er, und Katja fragte sich, ob das eine Rechtfertigung für ihn war oder Geprotze. »Ein Freund hat eine Jagdhütte in den Bergen.« Mit ein paar Griffen machte er Platz für ihre Rucksäcke und hob auch schon Katjas hoch, bevor sie noch etwas sagen konnte. Ihr blieb nur zurückzutreten, um selbst Platz zu machen.
»Ihr wollt nach Mocra Gora zum Wandern, ein reizvolles Ziel. Wilde Gegend, aber traumhaft schön«, und verharrte einen Moment, als würde er Bilder in seinem Kopf abrufen. Sein Gesicht glänzte, wirkte straff, wie eine Maske und er schaute sie an, als wüsste er Bescheid, über die Schwäche der Menschen.
»Ich müsste zuvor bei der Hütte vorbeischauen und die Sachen abgeben, sonst tauen die Tiefkühlsachen auf, ist das in Ordnung? Danach fahre ich euch ins Dorf. Ich muss ohnehin da rauf und Munition kaufen. Ich will nicht die ganze Strecke mit Gewehr und Munition herumfahren, deswegen kaufe ich sie immer erst hier.«
»Wenn es keine Umstände macht?« Katjas Blick ging unbeabsichtigt zu dem länglichen Koffer, der jetzt völlig verdeckt unter ihren Rucksäcken lag. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit ostentativ auf den Mann, der ihren Rucksack in den Wagen gehoben hatte, als wäre es ein leerer Wäschesack.
»Nein. Wie gesagt, ich muss ohnehin ins Dorf. Ich wäre sonst erst morgen früh gefahren, aber wenn ich das heute erledige, kann ich morgen ausschlafen«, lachte Reinhard Frost, der Politiker aus ihrer Stadt und die Freundinnen, etwas verlegen mit ihm.
Sie fuhren los, die Mädchen plapperten fröhlich. Erleichtert, jetzt doch noch eine sichere Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben. Sie fuhren hinaus aus der Stadt, überholten ein Wohnmobil und ließen die letzten Häuser hinter sich. Staubwirbel tanzten auf den frisch geeggten Feldern neben der Straße und in der Ferne sahen sie Schwarzstörche, die über ein Tannenwäldchen flogen, wie verstreute Blütenblätter.
* * *
Heimo Börnstein trat ans Fenster seiner Blockhütte, mit der Hand schon am Vorhang, warf einen Blick hinaus auf die Lichtung und schaute auf Reinhard Frosts Wagen, der auf dem holprigen Weg schaukelnd bis vor die Veranda fuhr. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
»Bin gleich wieder da!«, rief er Arno Daniels zu, der mit einem Glas Bier seine Waffen in den Glasvitrinen bewunderte. Besonders die Winchester Model 70 Extreme Weather hatte es ihm allen Anschein nach angetan. Er konnte kaum die Augen davon abwenden. Mit ein paar Schritten war Heimo bei der Tür, nur mit Mühe den Wunsch unterdrückend, dem Gast ein ›Die Gewehre bitte nicht anfassen!‹ zuzurufen. Es gab da ein paar Dinge zu klären, bevor Reinhard ins Haus kam und sie nicht mehr offen sprechen konnten. Er sprang die drei Stufen von der Terrasse hinunter, blieb vor seinem Freund stehen, der aus dem Wagen stieg und schaute entgeistert auf die drei jungen Frauen, die darin saßen. Reinhard sah zum Himmel hinauf, zerfaserte weiße Wolken zogen von den Hügeln im Osten herüber. Der Wind, der vom Tal heraufkam, war voller Blütenstaub von unzähligen Blumen, die dort an den Hängen wuchsen.
Heimo winkte den Mädchen in einer freudlosen Geste zu und blaffte Reinhard mit verhaltener Stimme an.
»Was soll der Scheiß? Wieso nimmst du die mit? Sie sind zu dritt. Was ist mit unserer Abmachung?«
»Sie haben mich an der Tankstelle erkannt und angesprochen. Hätte ich sie stehen lassen sollen? So eine Gelegenheit bietet sich nicht oft.«
»Du musst sie loswerden, es sind zu viele.« Heimo unterbrach sich und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Was heißt das, sie haben dich erkannt?«
»Zumindest eine, die mit den dunklen Locken, weiß, wer ich bin. Sie ist aus unserer Stadt, verdammt! Sie sind zum Wandern hier, haben den Bus versäumt und mich an der Tankstelle angesprochen. Ein blöder Zufall. Ich konnte sie unmöglich stehen lassen. Wenn dir die Sache zu heiß ist, laden wir die Getränke und die Lebensmittel aus und ich bringe sie in die Stadt. Sie haben dort ein Zimmer gebucht.«
»Scheiße! Das ist nicht gut. Niemand! Absolut niemand sollte erfahren, dass ich hier ein Jagdhaus habe. Hier verschwinden junge Mädchen.« Heimo wandte seinen Blick ab und schaute zum Haus, wo die klimpernden Geräusche eines Windspieles herüberklangen. »Sie werden sich an dich erinnern. Irgendwann. Sie werden etwas in den Nachrichten hören oder lesen und sich erinnern. Sie waren hier im Urlaub. Da liest man schon nach, sieht ein zweites Mal hin, wenn es um verschwundene Mädchen geht. Das ist nicht gut.«
»Willst du sie nun hierbehalten, oder nicht?« Reinhard zog die Augenbrauen hoch, legte eine Hand auf das Wagendach und grinste, dann zwinkerte er Heimo voller Selbstvertrauen zu. »Oder hast du Sorge, sie nicht zu schaffen, dann sind zwei für mich und eine für dich.« Er ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen und erstarrte plötzlich.
»Wem gehört eigentlich der Wagen dort hinten. Du bist doch nicht mit zwei Autos hier?«
»Das ist die nächste Sache, die ich mit dir besprechen muss. Der Wagen gehört Arno Daniels. Der Typ vom Baumarkt.«
»Ich kenne Arno«, unterbrach ihn Reinhard. Er senkte verlegen den Kopf.
Heimo bückte sich und sah nach den Mädchen im Wagen, sein Gesicht verkniffen, die Augenwinkel von kleinen Fältchen zerfurcht. Dann lächelte er, fast so, als freute er sich, während seine Gedanken im Kreis rasten. Er hatte sich mit Reinhard nicht abgesprochen und jetzt ein mittleres Chaos. Kein Großes. Nein! So schlimm war es auch wieder nicht. Er hatte alles im Griff. Es gab keinen Ärger, bloß ein paar Punkte zum Klären.
Da unten sind vier Käfige, dachte er. Zwei an jeder Seite des Raumes. Die Drei mussten sie trennen, also blieb die Kleine in der Kiste. Das würde ihr nicht gefallen, war aber nicht zu ändern.
»Die Woche wird turbulent«, murmelte er, nur hörbar für Reinhard und kratzte sich an der Nase. »Wir müssen sie auch entsorgen, können nicht alle in den Fluss werfen, andererseits bei einem Bootsunfall müssen die Drei auf jeden Fall zusammenbleiben. Dazu kommt, dass wir keine in Reserve behalten können, der Anfahrtsweg ist zu weit und ich kann eine Weile nicht hierherfahren. Das wird sonst langsam riskant und ich will keinen Unmut zu Hause.« Er schaute in das Zwielicht am Rande der Lichtung, legte seine Hand in den Nacken und spürte, wie das Blut unter den Fingern pochte.
Sie hatten zehn Tage, fünf Mädchen und Arno am Hals. Sein Blick ging zum Haus und zur hell erleuchteten Veranda, als müsste er noch entscheiden, wie sie weiter verfahren sollten.
Dort stand Arno am Fenster und winkte freundlich. Seine Schritte hallten auf der Veranda wider, als er aus dem Haus trat. Er beugte sich nach vor, stützte sich mit einer Hand aufs Geländer und hob die andere mit dem halb vollen Glas in ihre Richtung.
»Hallo Reinhard«, rief er halblaut in die Dämmerung. »Du hast die Mädchen gleich mitgebracht, wie ich sehe.«
Heimo erstarrte und sah seinen Freund an, beinahe bedauernd, als ob er nicht recht bei Trost wäre.
»Was meint er damit?«
»Ich weiß nicht«, zischte Reinhard, und schaute von Heimo zu Arno, der jetzt die Stufen herunterkam. »Ich habe ihm bloß erzählt, dass du eine Jagdhütte hast. Von einer Einladung war nicht die Rede, und von Mädchen schon gar nicht, verdammt!«
»Freut mich dich zu sehen«, strahlte Arno und neigte den Kopf, um einen Blick in den Wagen zu werfen. »Ich bin einen Tag früher gekommen als geplant. Konnt´s nicht mehr erwarten.« Er trank einen Schluck von seinem Bier und zwinkerte Heimo über den Glasrand zu. »Und es gefällt mir immer besser hier. Ihr habt euch in diesem Wald ein richtiges Männerparadies geschaffen.« Er hob seinen Arm, um einen Halbkreis anzudeuten, schaute zum Haus und zögerte, als er Heimos verwunderte Miene bemerkte.
»Das geht doch in Ordnung, dass ich einen Tag früher gekommen bin?« Er stockte einen Moment, drückte die Hand an den Mund und schluckte. Sein Blick ging zu den Mädchen im Wagen.
»Ich zahle natürlich meinen Anteil.«
»Oh Mann! Das sind keine Nutten«, knurrte Heimo und schaute weg, um seine Erleichterung zu verbergen. »Das sind Anhalterinnen, die Reinhard im Tal aufgegabelt hat. Ich weiß nicht, warum er sie hierhergebracht und nicht gleich ins Dorf gefahren hat.«
Er musterte Reinhard, der zum Haus sah, als hätte er dort ein neues Detail entdeckt, dass ihm bis jetzt nie aufgefallen war.
»Das sollte kein Vorwurf sein, nur eine Frage.«
»Gibt es ein Problem?«
Vanessa Harrer stieg aus dem Wagen, schüttelte ihre dunklen Locken und schaute unwillkürlich die unbefestigte Auffahrt auf und ab. Dann betrachtete sie misstrauisch die Männer im Abendlicht. »Wir wollten uns nicht aufdrängen. Wir waren nur planlos, das heißt, ich war planlos, nachdem uns der Bus nicht mitgenommen hatte. Der blöde Kerl fuhr einfach an uns vorbei.« Sie zuckte mit den Schultern und kratzte sich am Oberarm.
»Nein, nein. Kein Problem«, winkte Reinhard ab. »Wusste nicht, dass die beiden auch schon da sind. Und jetzt überlegen wir wegen des Einkaufs. Bis wir in die Stadt kommen, haben die Geschäfte vermutlich geschlossen. Das heißt, ich könnte noch einen Kaffee trinken, bevor ich euch ins Dorf bringe. Es wird spät werden, bis ich zurück bin.«
»Könnten sie uns trotzdem sofort dorthin fahren? Wir sind müde und müssen morgen früh raus.« Heimo sah, wie ein fragender Ausdruck auf ihr Gesicht trat.
»Ja klar, wie ihr wollt. Ich lade nur meine Sachen aus und checke den Bestand wegen des Einkaufs. Vielleicht bekomme ich ja doch die paar Kleinigkeiten, die wir brauchen und erspare mir morgen den Ausflug.«
Er ging zum Kofferraum, nahm zwei Rucksäcke aus dem Wagen, die er neben sich stellte, hob eine große Kühlbox heraus und trug diese zum Haus. Vanessa schaute ihm nach. Sie wirkte ruhig, wenn auch mit Gedanken beschäftigt, die sie an ihrer Unterlippe kauen ließen.
Das Mädchen mit der Kurzhaarfrisur rutschte vom Sitz, stieg aus dem Wagen und sah ihm nach, ohne die geöffnete Wagentür loszulassen.
»Er bringt ein paar Sachen ins Haus und fährt uns dann ins Dorf«, erklärte Vanessa unaufgefordert.
Heimo holte ein Säckchen Nüsse aus seiner Tasche, warf sich eine Handvoll in den Mund und zermahlte sie mit dem Kiefer. Er zuckte mit den Schultern und schaute Arno an, der etwas verlegen mit seinem Bierglas am Wagen stand und versuchte, die Mädchen nicht anzustarren.
Noch gäbe es die Chance, sie bei gutem Wind loszuwerden, dachte Heimo. Andererseits kannten sie jetzt die Hütte, den Standort, wussten, dass da drei Männer waren und sie kannten ihre Gesichter. Sie könnten im Dorf über sie reden. Obwohl, wer würde im Dorf auf sie hören. Sie waren Touristen wie viele, die kamen und gingen.
Ein lang gezogener Schrei, dumpf und quälend, zog über die Lichtung und ließ ihn aufhorchen. Er hatte die Entlüftungsklappen hinter dem Haus geöffnet, fiel ihm plötzlich ein und merkte, wie ihm Schweißperlen über den Rücken liefen.
»Was war das?« Katja hob den Kopf und lauschte. Doch das Sirren der Zikaden in den Bäumen, die für einen Augenblick ausgesetzt hatten und das Gezwitscher der zahlreichen Vögel übertönte wieder alle anderen Geräusche. Eine leichte Brise wehte über die Lichtung und bog das hohe Gras entlang des Weges.
»Das kam von hinter dem Haus«, erklärte Heimo achselzuckend. »Das ist der Windgenerator. Der steht hinter dem Haus und ich habe ihn dieses Jahr noch nicht gewartet. Hatte noch keine Zeit.«
Das Mädchen ließ ihre Augen über das Haus und den Wald wandern und musterte ihn mit forschend abweisender Miene, die Hand immer noch an der Wagentür.
»Kommt rein, ich hab was zu trinken und drinnen ist es kühler«, winkte Reinhard von der Veranda. »Ich werde noch zehn Minuten brauchen, dann können wir fahren. Ihr habt doch noch zehn Minuten Zeit?«
Vanessa Harrer und Nicoletta Grimm wandten sich dem Haus zu, stiegen die Stufen der Veranda hoch, um Reinhard zu folgen.
»Ich warte hier draußen!«, rief Katja mit starr nach vorn gerichtetem Blick und blieb mit verschränkten Armen neben dem Wagen stehen.
»Auch gut, ich kann euch die Getränke herausbringen«, sagte Reinhard und zeigte auf den grob gezimmerten Tisch in der Ecke der Veranda, die von einer riesigen Eiche beschattet war.
Katja zögerte, dann ging sie mit hölzernen Schritten durch das kniehohe Gras um das Haus und betrachtete das Windrad, das sich müde in der leichten Brise drehte. Zwischen den Gräsern flogen Hummeln und Schmetterlinge umher. Am Rande der Lichtung schwang sich ein grauer Reiher in den Himmel und schwebte auf weiten Flügeln über den Wald. Sie sah ihm nach, bis sein Kreischen verhallte.
Heimo ging ins Haus, holte Gläser, stellte sie auf das Tablett zu den drei Flaschen Mineralwasser, die Reinhard aus der Kühlbox genommen hatte und brachte alles auf die Veranda.
»Ich helfe Reinhard, dann kommt ihr rascher ins Dorf. Er hätte den Umweg fahren und euch zuerst absetzen sollen, will ich meinen. Ich war heute einkaufen, aber das wusste er natürlich nicht.«
»Es war wegen der Tiefkühlsachen«, rief Nicoletta Heimo nach, aber er ging durch die Tür, als ob er sie nicht mehr gehört hatte.
»Seid ihr aus Kärnten?« Arno hatte sein leeres Bierglas auf ein Fensterbrett gestellt und sich aus Reinhards Kühlbox die letzte Flasche Wasser geholt. Unschlüssig blickte er auf einen freien Stuhl am Tisch, trank einen langen Schluck aus der Flasche und lehnte sich an die Hauswand. Seine Wangen färbten sich leicht.
»Ja, wir sind zum Wandern hier«, erwiderte Nicoletta und griff nach dem Mineralwasser. Sie füllte ihr Glas und trank es zur Hälfte leer.
»Hier trink!«, Vanessa reichte Katja ein Glas über das Geländer. »Es ist herrlich kalt.«
»Wir wollen die nächsten Tage mit Jagen und Abhängen verbringen. Die Hütte gehört Heimo. Reinhard, der Typ mit dem ihr gekommen seid, ist ein Freund. Ich bin das erste Mal hier.« Arno trat zum Geländer und versuchte sich darauf zu setzen, aber es war zu hoch, um bequem zu sein. Er drehte sich um und schaute in den Wald, in den Schatten der Bäume, lauschte den Zikaden und trank aus der Flasche.
Vanessa musterte die Vorhänge, die sich im offenen Fenster im Wind wiegten, die Einrichtung, die toten Tiere, die als Dekoration an den Wänden hingen und ins Nichts starrten, die aufgespannten Felle und schauderte, als hätte ihr jemand mit dem Finger über den Rücken gestrichen. Sie nahm ihr Glas und trank daraus, als müsste sie einen schalen Geschmack im Mund loswerden. Irgendwo im Haus polterten die Männer auf einer Treppe, hinauf oder hinunter, das ließ sich nicht feststellen. Gesprächsfetzen drangen auf die Veranda, ohne dass sie einen Zusammenhang in ihrer Unterhaltung feststellen konnte. Es klang wie ein Brummen und Knacken, als ob sie mit dem Handy telefonieren würden und der Empfang schlecht war. Ihr Kopf wurde seltsam schwer und sie wurde sich bewusst, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatten. Der Kreislauf machte ihr zu schaffen. Sie richtete ihr Augenmerk auf Katja, die neben der Veranda auf die Knie gesunken war, vom hohen Gras umschlungen, und angestrengt in ihr Glas glotzte. Ein Bild wie gemalt. Die Ränder ihres Sichtfeldes begannen zu verschwimmen.
»Da stimmt etwas nicht«, sagte sie, und versuchte die Zusammenhänge zu erfassen. Ihre Worte kamen schwer und unverständlich über ihre Lippen.
* * *
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 4
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