Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 4

Fredy Daxboeck

Mitglied
»Vanessa, was ist ...«, murmelte Nicoletta, die Augen weit aufgerissen, ihr Rücken steif, wie ein Brett. Das Glas fiel zu Boden und rollte unter den Tisch.

»Scheiße!« Nicolettas Stimme klang fremd und schien von weit herzukommen. Sie sackte zusammen und rutschte vom Sessel. Vanessa schaute ihr zu. Ihre Lippen und ihr Gesicht waren taub, ihre Zunge gehorchte ihr plötzlich nicht mehr, als ob sie zu viel Wodka getrunken hätte. Die Umgebung begann sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Sie wollte aufspringen, hatte das Gefühl von Gummibändern zurückgehalten zu werden und schaute um Hilfe suchend zu dem Mann, der neben ihrem Tisch am Geländer lehnte.

Das Bild vor ihren Augen zersprang in kleine bunte Farbkleckse und das Letzte, an das sie sich später erinnerte, war, dass er über das Geländer der Veranda fiel und im hohen Gras verschwand.


* * *


»Ich bin so weit, wir können fahren«, rief Reinhard Frost von der Tür aus und steckte seinen Kopf heraus. »Das heißt, falls ihr noch nicht so weit seid«, ergänzte er leise, grinste mit einem bösartigen Flackern in den Augen und betrachtete die beiden Mädchen, die wie hingegossen auf der Veranda lagen. Die Luft war abgekühlt, vom Geruch des Waldes durchsetzt, im offenen Fenster funkelte gleißend der Schein der untergehenden Sonne. Vorsichtig stieg er über das schmale Mädchen mit den dunklen Haaren, trat zum Tisch und schaute auf die Lichtung. Das Mädchen mit der Kurzhaarfrisur lag zusammengerollt wie ein überdimensionaler Embryo im Gras, ihr rechter Arm ausgestreckt, die Hand noch am Glas.

»Arno?« Heimo Börnstein stellte sich hinter Reinhard, richtete sich zu voller Größe auf und drehte den Kopf hin und her. »Arno! Wo bist du?«

Eine leichte Brise ließ das Windspiel auf der gegenüberliegenden Seite der Veranda klimpern. Er kniff den Mund zusammen, rieb sich das Gesicht und schaute durch das Fenster ins Haus.

»Der Trottel hat sich auch eine Flasche geholt«, feixte Reinhard und deutete mit dem Finger in den Schatten der Veranda, wo Arno Daniels wie eine weggeworfene Spielzeugpuppe halb unter der Holzbrüstung lag. Seine seltsam gekrümmte Haltung ließ ihn kleiner wirken, als er war. Heimo beugte sich über das Geländer und prustete plötzlich los.

»Ich wusste, dass er ein bisschen sonderbar ist, der gute Mann vom Baumarkt. So müsste ihn jetzt seine Mutter sehen.« Er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen und ihn ein trockener Husten schüttelte.

»Komm! Bringen wir die Mädchen in den Keller.« Reinhard trat zu Nicoletta Grimm und stieß das Glas mit dem Fuß weg. Heimo nickte, lachte weiter in sich hinein, hob die Hände, mit den Handflächen nach außen und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer.

»Es gibt da etwas, was ich dir sagen sollte«, sagte er und wartete.

»Meinst du wegen Arno? Es ist deine Hütte. Ich hätte mit dir darüber reden sollen. Ich habe ihm von der Hütte erzählt, wollte mal vorfühlen. Aber ich habe ihn nicht eingeladen. Er muss das falsch verstanden haben«, log er, in dem Bewusstsein, dass Heimo ihm eher glauben würde als Arno, sollte er dies richtigstellen. Er schaute an Heimo vorbei. Die dunklen Bäume am Rande der Lichtung, die ihre Äste in den Himmel reckten, erinnerten ihn an ein altes Märchen, aber er wusste nicht mehr, welches das war.

»Es geht nicht um Arno. Ich habe schon zwei Mädchen da unten.«

»Du hast was? Bist du verrückt? Das sagst du mir erst jetzt? Ich hätte sie ins Dorf bringen sollen, verdammt!«

»Das kannst du immer noch. Fahr sie dahin, wo du sie aufgegabelt hast und leg sie ab. Sie können sich später ohnehin an nichts erinnern und die Polizei wird ihnen nicht helfen können.«

»Die eine hat mich erkannt, schon vergessen?«

»Scheiße, das heißt, wir können sie nicht laufen lassen.« Heimo biss sich auf die Lippen und strich mit dem Daumen über sein rechtes Auge. Er starrte die Wand an. Seine gute Laune war dahin. Insgeheim verfluchte er Reinhard und die Idee jemand Weiteres miteinzubeziehen, um die Jagd attraktiver zu machen. Sie waren ein gutes Team, sie brauchten keine Mitwisser, brauchten niemanden etwas beweisen, schon gar nicht sich selbst. Er musterte seinen Freund mit finsterem Blick und runzelte die Stirn. Im Moment lief es nicht wie geplant, und das machte ihm Sorgen.

»Scheiß drauf!«, meinte er und wedelte mit der Hand eine Mücke weg. Die Sonne spiegelte sich auf seinem glänzenden Nacken, als er sich bückte und die Hände unter Nicolettas Rücken schob.

Reinhard blieb vor der Kellertür stehen, holte tief Luft und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Eine Geruchsmischung aus verstopfter Toilette, Erbrochenem, altem Schweiß und bitterer Angst schlug ihm entgegen. Der Gestank ließ ihn heftig ausatmen. Er blinzelte in das Halbdunkel vor ihm, zögerte einen Moment, fasste das Mädchen fester an den Beinen und ging dann in den Raum, der sich vor ihnen auftat.

»Hab vergessen die Lüftung auf Anschlag zu schalten«, murmelte Heimo, aber Reinhard starrte geradeaus und antwortete nicht.

Im ersten Käfig auf der linken Seite hockte eine junge Frau, das Gesicht weiß vor Schreck, Blut rann ihr über die Stirn und das rechte Auge, ihr Blick war wild vor Furcht. Sie klammerte sich an die Stäbe und starrte auf das bewusstlose Mädchen, das die Männer hereintrugen. Ihr Mund öffnete und schloss sich und ein gurgelnder Ton kam über ihre Lippen.

»Halt die Klappe«, knurrte Heimo im Vorbeigehen, ohne einen Blick auf sie zu werfen.

Sie trommelte mit wunden Fäusten gegen das Gitter, bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu. Sie wich zurück, tastete mit der Hand hinter ihren Rücken, fand den Blechnapf, den ihr Heimo halb gefüllt mit Hundefutter hereingestellt hatte und zog ihn ratternd über die Gitterstäbe.

»Lass die Scheiße, Schätzchen!«, schnappte Heimo keuchend nach Luft, versuchte den Schreck zu kaschieren, den sie ihm eingejagt hatte und trat gegen die Stäbe. »Oder soll ich reinkommen und dir eine Tracht Prügel verpassen? Lust dazu hätte ich!«

Die Frau zuckte zurück und schaute ihn aus den Augenwinkeln an, wie ein verängstigtes Tier.

»Nicht! Bitte nicht!«, krächzte sie und sah zu Boden, die Finger um die Blechtasse gekrümmt.

»Das ist übrigens Verena Brooks«, deutete Heimo mit dem Kopf auf sie.

Nach und nach trugen sie die anderen Mädchen in den Keller, warfen sie in die vergitterten Abteile, wie überflüssig gewordene Sandsäcke und versperrten die Türen mit großen Vorhängeschlössern.

Verena Brooks schluchzte, ihre Lippen zitterten und sie streckte die Hände durch die Gitterstäbe.

»Bitte! Bitte lasst mich frei. Ich werde auch nichts sagen. Ich kenne euch nicht. Ich habe euch nicht gesehen. Ich weiß gar nichts. Lasst mich einfach laufen, ich werde niemand etwas erzählen.«

Aus der Kiste am Ende des Korridors drangen dumpfe Laute, ein Pochen und, kaum vernehmbar, eine dünne Stimme, die um Hilfe rief.

Reinhard warf Heimo einen neugierigen Blick zu, aber der kniff grinsend die Augen zusammen, winkte ab und schüttelte den Kopf. »Jetzt haben wir den Stall voll, wer hätte das gedacht?«

»Wen hast du da hinten versteckt?«, fragte Reinhard. In seinen Augen leuchteten kleine schwarze Blitze auf.

»Eine Ausreißerin, jung, knusprig und frisch«, antwortete Heimo. »Die habe ich unterwegs aufgegabelt.« Er kratzte sich mit dem Fingernagel unter der Nase. Sein Gesicht schien im fahlen Schein der Lampe zu glühen, wirkte entzückt und lüstern zugleich.

»Jung, knusprig und frisch hört sich verdammt gut an.«

»Komm jetzt! Wir müssen uns um Arno kümmern. Für die Kleine ist später noch Zeit.« Heimo wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, nahm seinen Freund am Arm und zog ihn zum Ausgang. Sie gingen hinaus, machten das Licht aus, schlossen die Tür und schnitten damit die Geräusche hinter sich ab.

»Was machen wir mit Arno. Wir müssen ihn einweihen. Oder wir überlassen die Mädchen ihrem Schicksal und entsorgen sie im Herbst.« Heimo warf einen Blick zurück, die Treppe hinunter.

»Du willst ihm weismachen, du hast die Mädchen ins Dorf gebracht. Ich weiß nicht? Dann haben wir ihn eine Woche auf der Pelle und keinen Spaß. Und im Herbst können wir die Sauerei wegräumen. Na danke aber auch.«

»Also lassen wir ihn aufwachen, erklären ihm, dass er plötzlich umgefallen ist und besaufen uns«, erwiderte Reinhard und seine Augen funkelten spöttisch.



Sie saßen bis spät in die Nacht an der Bar, tranken Bier aus dunklen Flaschen und klaren Schnaps, der in der Kehle brannte und den Magen wärmte. Sie sprachen über die Jagd, über das freie Leben ohne ihre Ehefrauen oder Mütter und vermieden tunlichst das Thema Mädchen.

Irgendwann begannen Arnos braune Augen Reinhard sorgsam zu mustern. Sie wirkten mürrisch und waren durchzogen von winzigen roten Äderchen.

»Ich verstehe es noch immer nicht.« Seine Stimme klang schwer und heiser zugleich.

»Was verstehst du nicht?«, fragte Heimo und wandte sich seinem Schnapsglas zu. Er leckte mit der Zunge über die Lippen und kippte das Glas in einer schnellen Bewegung in die Kehle. Auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecken. Sein Atem rasselte.

»Warum ich umgekippt bin? Was mit den Mädchen ist? Ich bin aufgewacht und habe mich neben der Veranda liegend gefunden. Ich habe keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin. Ich weiß nur noch, dass da zwei, oder nein, drei Mädchen waren. Irgendetwas stimmt hier doch nicht?«

»Ich denke, du bist ein großer Junge.« Heimo klopfte Arno auf die Schulter und betrachtete ihn wohlgefällig, in seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz. »Und deswegen werde ich dir jetzt ein Geheimnis verraten. Aber das bleibt unter uns und wird dieses Haus nicht verlassen. Ist das okay für dich?«

»Ja«, nickte Arno, die Lippen erwartungsvoll geschürzt.

Sie stiegen die Holzstufen in den Keller hinunter, dessen Eingang nur von einer nackten Glühbirne schwach beleuchtet war.

»Wir haben etwas zum Spielen für dich«, sagten sie und grinsten, als läge ein wunderbares Abenteuer vor ihnen. »Wir werden unseren Spaß mit ihnen haben. Du darfst machen, was immer du willst, und keiner wird es je erfahren. Das wird lustig, du wirst sehen.«



Drei



Stefan Kovacic packte ein paar Sachen, Zelt, Schlafsack, Gaskocher, Regenzeug und einen verbeulten Rucksack mit Proviant in seinen alten Pick-up, um sich auf den Weg in die Berge zu machen. Seine Augen wirkten leicht verstört, er hatte die Mundwinkel nach unten gezogen. Der Wind blies durch die Bäume, zerrte an den Blättern der Eichen hinter dem Haus und er konnte das Wasser von den Sprinklern seines Nachbarn riechen, mit dem er den ausgedörrten Garten bewässerte. Er schaute in die Ferne, über die in der Hitze flimmernde Straße, wischte über den verschwitzten Nacken und betrachtete seine feuchtglänzende Hand. Seit dem letzten Herbst, als sie das geschundene Mädchen im Fluss gefunden hatten, hatte er immer wieder einen Trip den Fluss entlang gemacht, sein Revier erweitert, war Wege und Straßen abgefahren und hatte jede Hütte, jeden Unterschlupf, den er gefunden hatte, in einer Karte vermerkt.

Stefan vermutete ein paar der Städter, die in die Berge kamen und herumliefen, als wären sie in ihrem eigenen verdammten Freizeitpark, als Täter.

Jedes Jahr wieder gab es Tote und Verletzte, mussten sie Jäger, Wanderer oder ahnungslose Touristen retten, die schlecht oder gar nicht ausgerüstet herumliefen und dachten, sobald sie nicht mehr weiterwüssten, genügte es, ihr Mobiltelefon herauszuholen und um Hilfe zu rufen. Dabei funktionierte der Empfang hier draußen nur an wenigen Stellen um die Dörfer, nicht aber mitten im Wald.

Je mehr Touristen kamen, desto weiter wurde auch das Netz ausgebaut, Wege angelegt und die Natur zerstört. Alles für Devisen.

»Touristen bringen Geld und Leben in die Berge, aber zu viele Touristen bringen zu viel Leben in die Berge«, war seine Rede, wenn er mit Freunden bei einem Bier und gegrillten Rippchen zusammensaß. »Sie verschmutzen den Wald, schießen oder verjagen das Wild und bringen ihren Müll mit, den die Leute aus dem Dorf dort herausräumen und entsorgen müssen.«

Gelegentlich entdeckten sie bei diesen Säuberungsaktionen auch halb verweste Leichen oder mussten Vermisste suchen, die sie meist zu spät oder gar nicht fanden. Und seit einiger Zeit mischten sich unter diese ganzen Idioten auch ein paar ganz besondere Exemplare.

Er wollte schon in seinen Pick-up steigen und endlich losfahren, setzte sich dann aber aus Gründen, die er nicht erklären konnte, auf die Bank vor seinem Haus und starrte die Straße hinunter. Ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern fuhren lachend vorbei und winkten ihm fröhlich. Er schaute ihnen nach, wie sie in die Gasse zum kleinen Bad abbogen und zog seinen Hut tief in die Stirn.

Stefan mochte den Großteil der Touristen nicht, die jedes Jahr nach der Schneeschmelze in Horden auf ihrem Berg einfielen und keinen Respekt zeigten. Keinen Respekt vor den Menschen, die hier lebten, keinen Respekt vor Ihresgleichen und keinen Respekt vor der Natur.

Als die Schatten vor dem Haus allmählich länger wurden und die Luft sich abgekühlt hatte, fuhr er los. Er stellte seinen Pick-up an einem Holzlagerplatz beim Fluss ab. Hier hatte seine Suche das letzte Mal geendet. Ihm war bewusst, dass er auf seinen Streifzügen durchaus auch knapp daneben liegen könnte, vielleicht an einer Hütte oder Höhle vorbeiging, ohne sie zu entdecken, aber er wusste auch, dass er nicht überall suchen konnte. Das Gebiet war zu groß. Selbst ein Hubschrauber oder ein Flieger würde nicht helfen, weil sie nicht wussten, wonach sie tatsächlich Ausschau halten sollten.

Ein Hund könnte vielleicht hilfreich sein, dachte Stefan, aber er mochte keine Hunde. Im Wald waren sie nur Belastung, zumindest für ihn.

Er schnürte den Rucksack zu, zerrte am Schlafsack, um zu kontrollieren, ob er auch fest genug saß und hievte ihn auf den Rücken. Dann stapfte er über die Wiese und machte sich auf den Weg Richtung Osten, hatte sich ein Gebiet auf seiner Karte markiert, das er erkunden wollte. Stefan kannte den Wald und den Fluss mittlerweile bestens und wusste dennoch, dass es nur ein Bruchteil des Gebietes um die Tara war. Hier draußen gab es keine Straßen, nur vereinzelt Wege und Pfade, die kreuz und quer durch den Wald führten. Die markierten Wanderwege mied er, so gut es ging. Die würden ihm nicht weiterhelfen. Dort versteckten sich keine Killer, dort lauerten sie ihrer Beute auf, aber ihr Quartier hatten sie woanders.

Gut versteckt.

Er ging an den Rand des Platzes, warf einen letzten Blick über den Abhang auf den Fluss weit unter ihm, beobachtete eine Gruppe bunter Kajakfahrer, die auf den glitzernden Wellen dahinglitten, erkannte, dass sie geübt waren und offenbar wussten, was sie taten und wandte sich ab, dem Wald zu. Für einen Augenblick war kein Geräusch zu hören, nur der leichte Hauch des Windes und das Knistern von Blättern über ihm. Dann drehte der Wind und er konnte wieder den Fluss hören. Er folgte dem Wildwechsel, den er gefunden hatte, trat in das Halbdunkel der Bäume, wo die Luft um ein paar Grade kühler war und fragte sich, wohin der Pfad ihn führte.

Sie hatten darüber geredet, sein Partner bei den Rangern, die Frau vom Café, und er.

»Du läufst neuerdings im Wald herum und suchst fiese Typen, die hinter Mädchen und jungen Frauen her sind, habe ich gehört?«, sagte sie. In ihren Augenwinkeln tauchten kleine weiße Falten auf.

Stefan zögerte einen Moment mit der Antwort. »Mhm, wir finden jedes Jahr Männer und Frauen, manchmal auch Jugendliche. Aber seit einigen Jahren finden wir vermehrt Mädchen. Ich habe den Verdacht, dass die nicht eines natürlichen Todes gestorben sind.«

»Selbstverständlich starben die nicht eines natürlichen Todes, wenn ihr sie findet. Die sind ertrunken, verdurstet, abgestürzt, und das junge Ding letzten Herbst, dass so schlimm zugerichtet war, wurde von einem Truck angefahren, habe ich gehört. Oder etwa nicht?«

Stefan antwortete nicht.

»Oder etwa nicht?«, wiederholte sie nach einer kurzen Pause, in der das Schweigen der beiden Ranger zu dröhnen schien und schaute Zoran an.

»Doch, doch«, beeilte sich Stefan zu sagen. »Aber ist es nicht seltsam, wie viele junge Frauen unter den Opfern sind? Dass sich junge oder ältere Kerle überschätzen und zu Tode kommen, ist klar. Das kennen wir alle. Das nenne ich einen natürlichen Tod. Die gehen mit einem Korb in den Wald, um Pilze zu suchen und wir finden sie ein Jahr später weitab jeglicher Wanderrouten, zwischen Felsen oder unter umgestürzten Bäumen, wo sie sich verkrochen haben, wenn überhaupt. Sie verirren sich und kommen um, vor Hunger, Durst oder weil ihnen vor Angst und Einsamkeit das Herz geplatzt hat.«

»Vergiss die Aussteiger nicht, die Abenteurer, die zurück zur Natur wollen und Bücher gelesen haben, wie sie im Wald überleben können oder einen Kurs bei einem Überlebenstrainer absolviert haben. Die mit dem Handy herumlaufen und über Google Maps herausfinden wollen, wo sie sind. Bloß, dass sie im Wald keinen Empfang haben und nach zwei, drei Tagen der Akku leer ist und keine Steckdose weit und breit, um das Ding zu laden«, ergänzte Zoran, und machte ein bekümmertes Gesicht.

Stefan musste an den jungen Mann denken, den sie am Fluss gefunden hatten, unter einem notdürftigen Dach aus Zweigen, verhungert neben einem Fluss voller Fische, in einem Wald voller Früchte und Leben, in der Hand sein Mobiltelefon, und Empfang erst auf der anderen Seite des Flusses.

»Irgendjemand, vielleicht sind es auch zwei oder drei Kerle, tötet Mädchen und junge Frauen in unserem Wald und wirft sie in den Fluss oder verscharrt sie, wo sie dann von Tieren ausgegraben und verschleppt werden, sodass wir nur noch Teile von ihnen finden.«

»Das hört sich gruselig an.« Die Frau erschauerte, und Stefan schaute in der eingetretenen Stille nach draußen. Die wenigen Wolken am Himmel waren von einem halben Mond beleuchtet, der seinen Schatten über die Bäume am Straßenrand warf.

»Ja, und wir möchten es nicht an die große Glocke hängen, das würde dem Tourismus und dem Dorf schaden, das will hier keiner. Aber wenn sie weitermachen, kommt es eines Tages doch heraus. Das brauchen wir auch nicht. Außerdem macht es uns wütend, wenn Menschen ermordet werden.« Zoran wischte mit der Hand durch die Luft, als wollte er diese Kerle am Hals packen, sie schütteln.

»Habt ihr einen Verdacht? Irgendeine Idee, wo ihr suchen müsst?« Die Frau schaute von einem zum anderen und hielt die Luft an. Ihre Augen waren aufgerissen und die Haut um ihren Mund angespannt.

»Nein. Wir wissen nicht genau, wie wir die Opfer zuordnen können. Wer starb durch den Wald und wer durch einen Mörder.«

Stefan dachte über Zorans seine Worte nach.

»Mein Gefühl sagt mir, sie sind in der Nähe des Flusses. Auch die wichtigsten Wanderwege kreuzen immer wieder den Fluss. Wenn ich jemanden auflauern wollte, würde ich das nicht an abgelegenen Orten machen, an denen selten jemand vorbeikommt. Ich würde mein Quartier dorthin verlegen, aber das Revier, in dem ich meine Opfer hole, an verschiedene Knotenpunkte entlang der Wanderrouten.«

»Verstehe. Du suchst also ein Gebiet, in dem sich Wanderwege und unwegsames Gelände treffen.«

»Genau. Und doch muss in diesem unwegsamen Bereich auch eine Hütte oder eine Höhle sein. Die Kerle fallen nicht dort über sie her, wo sie die Mädchen erwischen. Sie sind Wiederholungstäter. Sie sind eine gewisse Zeit hier, verschleppen die Mädchen und verschwinden, nachdem sie ihre Opfer entsorgt haben. Würden sie im Affekt handeln, wären sie weitergezogen und wir hätten die Mädchen zu den Vermissten gezählt oder jemand hätte sie längst beobachtet und gemeldet.« Stefan kratzte sich hinter den Ohren und legte die Stirn in Falten. »Auch ein Zelt wäre zu wenig. Man kann in einem Zelt keinen Menschen gefangen halten, müsste ihn ständig unter Beobachtung haben.«

»Es gibt im Wald unzählige Hütten. Jagdhütten, Blockhäuser, die Hütten der Holzfäller, verlassene und bewohnte. Willst du die alle kontrollieren?«

»Alle, die ich finde.«

»Pass nur auf, dass sie dich nicht finden. Mit solchen Kerlen ist nicht zu spaßen. Sie reagieren vielleicht voreilig und erschießen dich erst, bevor sie fragen, wer du bist.«

»Wir sind hier nicht im Wilden Westen und ich bin keine Rothaut.«

Ein verschmitztes Lächeln zuckte über ihr Gesicht. »Siehst aber so aus.«

»Danke für die Warnung«, grinste Stefan. »Ich mache nur meinen Job. Ich bin Ranger, passe auf unsere Touristen auf und suche gelegentlich nach Vermissten oder Verunglückten. Meist Kanufahrer, leichtsinnige Idioten oder Jäger und ihre Opfer.«

»Hör den Leuten zu«, bat Zoran, und strich mit der Hand über den Tisch. Seine Schwielen verursachten in der zögernden Stille ein kratzendes Geräusch. »Stell aber keine Fragen und rede mit niemand darüber. Wir wollen keine Panik und keine Medien, die auf uns aufmerksam werden. Du weißt, wie schnell heutzutage mit der ganzen digitalen Scheiße Gerüchte gestreut und in der Öffentlichkeit breitgetreten werden.«

Sie betrachtete ihn prüfend. »Ist schon klar! Ich werde Augen und Ohren offen und den Mund geschlossen halten«, erwiderte sie. »Wollt ihr noch etwas trinken?«

Das war vor zwei Wochen. Seitdem hatte er es nicht mehr geschafft, ins Kaffeehaus des Hotels zu kommen und Rosie hatte ihnen keine Nachricht zukommen lassen, also auch nichts von Belang gehört. Aber was hatte er denn gehofft? Dass die Kerle ausgerechnet in ihr Café im Dorf kamen und mit ihren Taten prahlten? Missmutig schüttelte er den Kopf. Ein Streifen Sonnenlicht fiel über sein Gesicht und ließ ihn blinzeln.

Nein! Er hatte gehofft, dass irgendjemand etwas Ungewöhnliches erwähnte oder im Café danach fragte.

Aber die Saison dauerte noch an und ob Zeit und Gelegenheit für oder gegen ihn arbeitete, würde sich weisen. Er stieg den Berg weiter hinauf und stellte sich auf einen Felsvorsprung. Von hier aus konnte er tief unter ihm die kurvenreiche, schmale Straße sehen. Im malvenfarbenen Zwielicht wirkte sie wie ein dicker, grauer Strich, der den Wald teilte. Sie lag zum Teil im Schatten, zum Teil verdeckt durch hohe Bäume. Schwarze Vögel erhoben sich mit ausgebreiteten Schwingen in den Himmel und schwebten lautlos davon, wie große Ascheflocken im Wind.

Er starrte auf das Bild unter ihm, bis ihm einfiel, dass sie hier in der Nähe das Mädchen gefunden hatten, das sie letzten Herbst aus dem Fluss geholt hatten. Und noch immer nicht wussten, ob sie von einem Truck überfahren oder zu Tode geprügelt wurde.

Es wird Zeit für eine Richtungsänderung, dachte er, und wandte sich nach Norden, um dem Fluss zu folgen.



* * *



Es hatte den ganzen Nachmittag geregnet. Graues Licht schien durch die Bäume der Promenade in der Fußgängerzone, von denen das Wasser tropfte. Regenwasser stand in den Gräben auf beiden Seiten der Straße und der Geruch nach alten Ziegeln von den Gartenmauern und nasser Erde hing wie flockige Watte zwischen den Häusern. Die Straßenlaternen schalteten sich früh ein und wirkten in der feuchten Luft wie ferne Monde in einer imaginären Galaxie. Arno Daniels Mutter stieß die Tür ihres Lieblingscafés auf, das in einer gepflasterten Nebenstraße der Innenstadt lag und trat ein. Das grelle Licht über dem Eingang brach sich in ihrem Gesicht und ließ sie blinzeln. Sie ging an einer Reihe Sitzecken vorbei, ihre Miene wirkte starr und glasig, als sie feststellen musste, dass kein Tisch mehr frei war.

Missmutig nahm sie den Zigarettenqualm wahr, der unter der Decke waberte, ihr Blick wanderte durch das Lokal und sie überlegte bereits wieder nach Hause zu gehen, als sie die Frau von Jeremy Gordon, einem Freund ihres Sohns, an einem Tisch der sechs Leuten Platz bot, entdeckte. Sie saß mutterseelenallein an dem großen Tisch und blickte mürrisch herüber.

»Guten Abend, Frau Gordon, darf ich mich setzen?«, fragte sie und nahm Platz, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Grunde konnte sie die Frau nicht leiden. Ihre Familie verfügte seit alters her über Geld und Einfluss, und das zeigte diese auch gerne oder sprach darüber, aber sie mochte nicht einfach gehen, das wäre ihr wie ein Rückzug vorgekommen.

Marion Gordon wirkte geistesabwesend, in sich gekehrt, so als laufe vor ihrem inneren Auge ein Film ab.

»Aber natürlich, schön sie zu sehen Frau Daniels«, erwiderte sie, und schaute herablassend auf die Frau, die nach Kräften bemüht war, sich an ihre Jugendlichkeit zu klammern. Sie färbte sich die Haare kastanienrot, kleidete sich in bunte Farben und behängte sich mit falschen Perlen.

Mareike Daniels nickte ihr mit einem schiefen Lächeln zu. Im Aschenbecher vor Marion Gordon lag ein halbes Dutzend weißer Kippen, zwischen ihren Fingern glimmte eine frische Zigarette. Sie nippte an einem Glas Rotwein.

»Ich musste das Ende des Regens abwarten, um meine Besorgungen zu erledigen«, seufzte Mareike Daniels und starrte auf den roten Glutpunkt in Marions Hand. »Ich habe kein Auto, ich habe auch keinen Führerschein und mein Arno ist für eine Woche ins Ausland gefahren. Deshalb bin ich zu Fuß unterwegs.«

»Ich habe einen Wagen, aber in die Fußgängerzone muss ich trotzdem laufen«, antwortete Marion Gordon. Ihre Stimme klang überspannt, beinahe mitleidig. Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum, als störte sie der Rauch, den sie durch die Nase ausblies. Mareike Daniels musste sich beherrschen, um nicht mit den Augen ihren Bewegungen zu folgen. Sie wandte sich um, winkte der Kellnerin und gab ihre Bestellung auf.

»Ist ihr Mann beruflich außer Landes?«, fragte Marion ihr Gegenüber, ohne sie direkt anzusehen. Mareike konnte die feindselige Stimmung fast körperlich spüren. Sie schnaubte unbehaglich.

»Mein Mann hat mich vor langer Zeit mit meinem Kind sitzen gelassen! Ist auf und davon und ward nicht wieder gesehen. Arno ist mein Sohn. Er ist zu seinem Spaß irgendwohin in die Berge gefahren. Tiere erschießen und lässt dafür seine alte Mutter allein, damit sie sich selbst um alles kümmern muss. Irgendwie sind sie alle gleich.«

»In die Berge«, wiederholte Marion selbstvergessen und ignorierte die Bemerkung über ihren Mann, die jeder in der Stadt kannte. Es war gedankenlos von ihr, nach Mareike Daniels Mann zu fragen.

»Neuerdings fährt jeder in die Berge. Mein Mann Jeremy ist auch in die Berge gefahren, hat etwas von einem Jagdausflug erwähnt«, sagte sie, und versuchte ihrer Miene einen gelangweilten Ausdruck zu verleihen.

»Ich bin nicht eine von diesen neugierigen alten Klatschweibern, die fasziniert sind vom Privatleben anderer, aber in Wahrheit so gut, wie nichts über sie wissen. Mein Arno ist in irgendein Land gefahren, dass ich nicht kenne. Liegt im Süden, vermute ich. Er war ziemlich kurz angebunden und wollte nicht heraus mit der Sprache. Wie Kinder eben sind. Sie wissen nicht zufällig, wohin ihr Mann gefahren ist?«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Marion, leicht pikiert von der Frage. »Er ist in Montenegro. Jeremy wurde von Reinhard Frost zur Jagd eingeladen.« Sie zog an ihrer Zigarette und richtete den Blick an die Decke, wo sich der Rauch sammelte und von einem trägen Ventilator verteilt wurde. Ihre rot lackierten Fingernägel klackten auf der Tischplatte und ihr Mund machte ein saugendes Geräusch, als sie wieder an der Zigarette zog. »Also ist ihr Arno auch mit dabei.«

Arnos Mutter lächelt süffisant. »Soviel ich weiß, hat Heimo Börnstein meinen Arno eingeladen«, sinnierte sie.

»Damit wäre das Kleeblatt fertig«, lächelte Marion abschätzig. »Ein Politiker, ein Versicherungsmann, ein Verkäufer und Jeremy, der Buchhalter.« Sie schüttelte den Kopf und versuchte nicht allzu verwirrt und missbilligend auszusehen. Dass Arno Daniels und Heimo Börnstein bei der Gruppe mit ihrem Mann dabei waren, wertete die beiden nicht auf, sondern ihren Mann ab.

Warum musste der sich auch mit Leuten, wie diesem Daniels abgeben, dachte sie. Wenn er doch mit Reinhard Frost auf die Jagd gehen konnte?

»Große Kinder beim Spielen. Sie werden durch den Wald laufen, ein paar Tiere totschießen und sich mächtig gut dabei vorkommen«, schnaubte sie.

Mareike Daniels überlegte, ob sie eine versteckte Anspielung heraushören konnte, aber da war nichts dergleichen.

»Ich hasse es, wenn er zu Hause auf die Jagd geht und ich hasse es erst recht, wenn er dafür in fremde Wälder fährt. Was ist, wenn er sich verirrt? Wie sollte er sich dort zurechtfinden?«

»Sie sind zu viert, was soll da schon groß passieren?«

»Sie meinen zu viert verirren sie sich nicht?« Mareike war eine miserable Schauspielerin. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen beiläufigen, ruhigen Ton zu verleihen, doch sie klang spröde und schrill.

Zumindest ist keine andere Frau im Spiel, dachte Marion Gordon. Allein oder zu zweit wäre es denkbar, zu viert sind sie bloß ein paar aufgeblasene Jungs, die Männer sein wollen und dafür mit ihren Waffen spielen.

Sie musste insgeheim lachen. Während Heimo Börnstein im Wald herumlief und Tiere erschoss, vögelte seine Frau den Bankdirektor, vielleicht sogar in Heimos Haus und Bett. Sie dachte darüber nach, sich auch einen Lover zuzulegen. Natürlich einen jüngeren, gut Aussehenden, zum Spielen.

Arno Daniels Mutter beobachtete sie und fragte sich, was im Kopf von Marion Gordon gerade vorging, weil ihr Gesicht von innen heraus zu leuchten schien.


* * *


Heimo erwachte in der dumpfen Hitze des frühen Morgens und blickte schlaftrunken um sich. Sein Gesicht fühlte sich taub an, sein Schädel brummte, als ob die Haut straff gespannt auf die blanken Knochen getackert wäre. Er hatte von der Jagd geträumt. Von der Jagd auf junge Mädchen, die sich nicht zu Tode verängstigt hinter einem Baum oder unter der Wurzel eines umgestürzten Baumes versteckten, wo sie leichte Beute waren, sondern die durch den Wald liefen, wie scheue Rehe und ihnen die Möglichkeit gaben, sich als richtige Jäger zu empfinden. Verschwitzt und zerschlagen stand er auf und torkelte ins Bad. Eichelhäher, Fichtenkreuzschnäbel und zahlreiche andere Vögel, die er nicht auseinanderhalten konnte, lärmten in den Bäumen um das Haus. Ihm war, als wäre er in einer finsteren Kiste gefangen, aus der er sich nicht selbst befreien konnte. Das Mädchen, Verena Brooks, kam ihm in den Sinn, er schluckte ein paarmal trocken und spürte, wie sich sein Mund bei dem Gedanken an sie zu einem bösen Grinsen verzerrte.

Im Badezimmer schaufelte er sich erst Wasser ins Gesicht, begutachtete im Spiegel sein Gegenüber und stellte sich dann unter die Dusche.

Durch das offene Fenster konnte er den Wald riechen, das warme Baumharz, das über die ausgetrocknete Rinde lief, die ätherischen Öle, die sich über die Nadeln verflüchtigten und die Losung verschiedener Tiere, deren Weg sich hinter der Hütte kreuzte. Er putzte sich die Zähne, zog eine helle Khakihose und ein schwarzes T-Shirt an und ging in die Küche, aus der ihm das Surren eines Ventilators und der herbe Duft von frischem Kaffee entgegenschlugen.

Reinhard saß in der Ecke am Tisch, vor sich ein Sandwich mit Schinken und Käse, ein Teller mit Rührei, sein Blick aus dem Fenster in weite Ferne gerichtet. Es war ein schöner, sonniger Tag, der Himmel über den Bäumen strahlend blau, die Blätter tanzten in einer schwachen Morgenbrise. Reinhard war Frühaufsteher, und egal wie schlimm sie es am Abend zuvor getrieben hatten, meist war er als Erster wach und saß in der Küche.

Ungelenk hantierte Heimo mit der Kaffeemaschine, drückte ein paar Tasten und wartete bis sein Kaffee durch war. Gedankenverloren kniff er die Augen zu, schlürfte an die Küchentheke gelehnt einen Schluck aus der kleinen Tasse, die beinahe in seiner Hand verschwand, ging zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Reinhard grinste, in seinen Augen flackerte ein verrücktes Licht.

»War `ne nette Party gestern.«

»Scheiße, mein Schädel brummt, wie ein Nest voll besoffener Hornissen.«

»Hätte nicht gedacht, dass Arno so brav mitspielt, der konnte gar nicht genug kriegen.«

»Scheiße!«, murmelte Heimo. Arno hatte er völlig vergessen, und natürlich die anderen Mädchen im Keller. Reinhards Anteil zum Spaß an der Party. Er konnte sich auch nicht mehr erinnern, was sie in der gestrigen Nacht angestellt hatten. Irgendwie war da ein totaler Blackout. Vergebens versuchte er Bilder von dem Geschehen abzurufen und fragte sich ein ums andere Mal, wie es so weit kommen konnte, dass fünf von diesen jungen Dingern in ihrem Keller saßen.

Er ließ seinen Blick nach draußen wandern und schaute mit leeren Augen über die Lichtung in den Wald, in seiner Miene ein Ausdruck stummer Teilnahmslosigkeit. Reinhard grinste immer noch, wölfisch.

»Ist er schon wach?«, fragte Heimo, schüttelte den Kopf, als hätte er sein Stichwort verpasst, von dem nur er wusste und horchte auf seine Stimme, die heiser war und ihm nicht richtig gehorchen wollte.

»Nein, er schläft noch. Zumindest ist er noch nicht aufgetaucht.«

»Was machen wir mit den Tussis da unten? Wir müssen sie loswerden. Wir haben zu wenig Vorräte und halb verhungert bringen sie uns nichts.«

»Mhm, du hast recht. Halb verhungert sind sie zwar willig, aber wir können sie nicht jagen. Sie wären zu leichte Beute, wenn sie sich nicht wehren. Sie müssen fit sein und das Gefühl einer Chance haben.«

Heimo fühlte, wie sein Puls klopfte, spürte jeden Schlag seines Herzens unter der Schädeldecke. Er starrte hoch zur Decke, wo der Staub in einer sonnenhellen Schneise wie goldener Flitter tanzte und hörte die Geräusche des Waldes, die durch die offenen Fenster hereindrangen.

Schweigend starrte er Reinhard an.

»Was machen wir mit Arno? Betrunken hat er gestern mitgemacht und alle Bedenken über Bord geworfen, aber wie sieht es aus, wenn er nüchtern ist?«

Heimo schwieg, seine Lippen bildeten einen harten Strich. »Wir werden ihn ins kalte Wasser werfen«, antwortete er schließlich und kippte den Rest seines kalt gewordenen Kaffees in die Kehle.

»Wie meinst du das?«

»Wir lassen die laufen, die ich als Erste gekidnappt habe. Verena Brooks. Sie ist schon schwach, kann aber noch Reserven mobilisieren. Dann erklären wir Arno, dass wir sie wieder einfangen müssen und nehmen die Waffen mit. Wenn er auf der Jagd so anspringt, wie gestern Abend, wird es ihm Spaß machen, sie zu erledigen. Wenn er zögert, können wir das machen und lassen ihm die Arbeit. Er soll sie verbuddeln, schließlich hatte er gestern auch am längsten seinen Spaß mit ihr.«

Reinhard nickte mit hoch konzentriertem Gesicht. Die Sonnenstrahlen, die durch das Geäst der Eichen fielen, warfen ein flackerndes Schattenmuster über ihn. Mit jedem Atemzug hob und senkte sich sein Brustkasten. Wie auf einen stummen Befehl hin, erhoben sie sich schließlich von den Stühlen, holten ihre Waffen, zerlegten und reinigten sie und tranken ihre zweite Tasse Kaffee dabei.

Es war still im Raum. Heimo fuhr mit den Fingerspitzen über die ölige Oberfläche des Laufs seiner Winchester, eine fast zärtliche Geste und betrachtete versonnen die schwachen Abdrücke seiner Finger auf dem Stahl. Er atmete tief den Geruch des Waffenöls ein und lächelte in sich hinein. Dann holte er eine Schachtel Munition aus dem Schrank, nahm eine Handvoll Patronen heraus, füllte das Magazin und legte das Gewehr über die Knie, eine eigenartige Taubheit in seinem Körper.

Reinhard saugte geräuschvoll die Luft in seine Lungen, während er die Remington zusammensetzte, die Lider flatterten, er schien in Gedanken verloren. Eine Fliege summte über dem Tisch und er wedelte sie mit der Hand fort, als ihn ein Poltern auf der Treppe den Kopf heben ließ. Sein Blick wanderte zu Heimo.

Mit einem verlegenen Grinsen im Gesicht betrat Arno die Küche. Seine Haare waren nass und nach hinten gekämmt, sein Gesicht glänzte im Sonnenlicht.

»Gibt es Kaffee?«, fragte er mit betretener Stimme.

»Die Kapseln sind neben der Maschine, Tassen über der Spüle, Brötchen und Honig im Schrank über dem Ofen und alles, was du sonst noch brauchst, Eier, Schinken, Speck, Käse, findest du im Kühlschrank.« Heimo nahm das Gewehr, während er sprach, legte an und zielte auf ein Eichhörnchen, das draußen am Waldrand einen Baum hochlief.

Reinhard grinste, legte die Remington zur Seite und beobachtete Arno, der etwas verloren in der Küche stand, von links nach rechts blickte und sich zu orientieren versuchte.

»Hast du dein Gewehr dabei, Arno?«

»Ja, sicher«, antwortete er mit einer Stimme, so gefasst und angespannt wie bei einem Menschen, der für seine persönliche Zufriedenheit bezahlen musste. »Deswegen bin ich hier.«

»Klar. Ich wollte nur sichergehen. Sonst hätte ich dir eines von meinen geliehen. Wir haben heute vor, nach dem Frühstück auf die Jagd zu gehen.«

Arno legte eine schwarze Kapsel ein, starrte auf die gurgelnde Kaffeemaschine und wartete, bis sie verstummte. Reinhards Worte klangen bedeutungsschwer im Raum.

»Nicht am Abend oder morgens?«, fragte er verwundert in die folgende Stille.

»Nein. Es gibt hier keinen Ansitz und du wartest nicht, bis sie zur Futterstelle oder ans Wasser kommen. Du musst sie aufspüren, jagen und erlegen. Es gibt viel Wild hier. Wir müssen uns bloß von den Wanderrouten fernhalten. Die Rucksacktouristen stapfen blindlings im Wald herum, verjagen das Wild und passen nicht auf, wo sie hintreten. Du willst keinen von denen vor dein Gewehr bekommen.«

Arno Daniels fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Was ist ... was ist mit den ... na, ihr wisst schon. Was ist mit den Mädchen im Keller?« Er trat mit seiner dampfenden Tasse an den Tisch und schaute aus dem Fenster in den Wald, als versuchte er, der Bedeutung seiner eigenen Worte einen belanglosen Anstrich zu geben.

»Das sind Anhalterinnen, die wir zum Spielen aufgegabelt haben«, antwortete Reinhard und zuckte mit den Achseln, als wären die Frauen unwichtige Nebendarstellerinnen, über die es sich nicht lohnte, nachzudenken. »Blöderweise mehr, als wir dachten. Wir haben das nicht abgeredet. Es sollten nicht mehr als zwei oder drei sein.«

Arno Daniels runzelte die Stirn und rieb sich mit der linken Hand an der Stirn. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, stellte die Tasse auf den Tisch.

»Aber die Gitterabteile? Solche Abteile gibt es sonst nur in den Kellern von Wohnhausanlagen. Wie lange macht ihr das schon?«

»Die Gitterabteile waren schon da, als ich das Haus gekauft habe. Keine Ahnung, wofür die eingebaut wurden. Vielleicht hat der Vorbesitzer Hunde dort unten gehalten. Eigentlich will ich es nicht wissen.«

Heimo schaute Arno an, auf dessen Gesicht sich seine Gedanken widerspiegelten und musste sich ein Grinsen verkneifen. Er war hin und hergerissen zwischen seinem schlechten Gewissen und der Aussicht, den Mädchen heute Abend einen weiteren Besuch abzustatten.

»Was wird aus ihnen? Wie lange wollt ihr sie da unten eingesperrt halten?«

»Mach dir wegen der Gören keine Sorgen. Wir behalten sie ein paar Tage und lassen sie dann frei.« Seine Augen waren zusammengekniffen, so als ob die Sonne ihn blenden würde.

Mit ausdrucksloser Miene erwiderte Arno seinen Blick. »Aber sie werden zur Polizei gehen. Sie wissen, wie wir aussehen. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut.« Der Gedanke, dass die Mädchen ihn in Schwierigkeiten bringen könnten, erschien ihm offenbar schlimmer als alles, was er ihnen gestern angetan hatte. Abwehrend hob er die Hände, ließ sie aber gleich wieder sinken und steckte sie zwischen seine zusammengepressten Knie.

»Willst du sie beseitigen?«, fragte Reinhard, und zwinkerte ihm über seine Tasse Kaffee zu.

»Nein, verdammt!«, rief Arno Daniels etwas zu hastig. Sein Gesicht verdüsterte sich und seine Augen funkelten ihn einen Augenblick böse an, wie ein gefangenes Tier, dem der letzte Fluchtweg versperrt wurde und das in den verhassten Käfig zurückgeht, obwohl es ahnt, dass es dort keine Freiheit mehr gab.

Irgendwo tief in seinem Inneren war ihm bewusst, dass er am Vortag mehr als einen Schritt zu weit gegangen war, um jetzt noch ohne Schrammen aus der Sache herauszukommen. Er versuchte nachzudenken, kramte in seinem Kopf nach einem Ausweg und bemerkte, wie Heimo ihn unverwandt anstarrte, ohne ein Wort zu sagen.

»Scheiße, wo bin ich da bloß reingeraten.«

»Hey, Arno. Ich muss eines klarstellen. Wir haben keine Lust, wegen ein bisschen Spaß mit den Schlampen ins Gefängnis zu gehen. Wir bringen sie an irgendeine abgelegene Stelle im Wald und werfen sie aus dem Auto. Sie kommen nie drauf, wo sie waren und was mit ihnen passiert ist«, winkte Reinhard ab, und sah aus dem Fenster, als ob sie über ein zerbrochenes Rücklicht am Wagen reden würden, und ihn das alles in Wahrheit nichts anging.

»Reg dich wieder ab«, sagte Heimo. »Sie waren und sind unter Drogen. Sie können sich später an nichts erinnern. Dieses Zeug löscht alle ihre Erinnerungen. Wenn die wieder zu sich kommen, fehlen ihnen ein paar Tage im Kalender und das war´s.«

Arnos Schultern sackten zusammen, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank die Kaffeetasse leer. »K.O.-Tropfen«, meinte er, und nickte ein- ums andere Mal mit dem Kopf. »Die waren im Mineralwasser, das ich getrunken habe, nicht wahr?« Er schaute Heimo Börnstein und Reinhard Frost an, ohne auf eine Antwort zu warten. »Kann ich duschen gehen, bevor die Jagd losgeht?«

»Klar. Du weißt wo das Bad ist.«

In der Küche war es still. Heimo schaute dem Freund hinterher, der leise nach draußen ging. Er konnte die Eichelhäher in den Bäumen zetern hören und den Flügelschlag einer Krähe, die sich auf dem Geländer der Veranda niederließ. Ihre schwarzen Vogelaugen betrachteten ihn interessiert und er merkte, wie sich die Haut um seine Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln verzog.

Reinhard lachte keckernd, sobald Arno draußen war, stand auf und ging ins Nebenzimmer. Nach einer Weile kam er mit seinem Rucksack über der Schulter und zwei Schachteln Munition in den Händen zurück.

Heimo stellte Tassen und Teller in die Spüle, räumte den Kühlschrank ein und wischte mit einem Tuch den Tisch sauber, als er das Geräusch eines nahenden Wagens hörte, der aus dem Wald auf die Lichtung kam.

»Scheiße, was will der hier?« Reinhards Blick schoss an ihm vorbei auf den Fahrweg.

»Vielleicht einer der sich verfahren hat?«

»So weit kommen die nie den Weg lang. Jeder vernünftige Mensch dreht unten beim Holzplatz um, bevor der Weg die Kurve macht und schmal wird.«

Reinhard legte die Schachteln mit den Patronen auf den Tisch und nahm sein Gewehr an sich. Angespannt schaute er aus dem Fenster gegen die Sonne, die den Platz vor dem Haus mit Licht flutete.

»Da steigt niemand aus, und ich kann wegen der Sonne nicht sehen, wer oder wie viele im Wagen sitzen.« Mit ein paar Schritten war er bei der Tür und wandte sich um. Seine Kiefer mahlten, während die Haut um den Mund vor Spannung zuckte. »Ich gehe hinten herum, falls es Bullen sind. Du lenkst sie ab. Sie wissen, dass wir mindestens zu dritt sind. Wir hätten unsere Wagen hinter das Haus stellen sollen.«

»Mach keinen Scheiß! Wir hatten noch nie Besuch. Das wird ein harmloser Tourist sein, der sich verirrt hat. Oder denkst du, jemand hat sie auf unsere Fährte gelockt?«

»Arno oder die Mädchen. Verdammt! Ich habe gestern im Trubel vergessen, ihnen die Handys abzunehmen?« Er wischte sich mit dem Handrücken winzige Schweißtröpfchen von der Stirn.

»Scheiße. Das war nicht gut. Aber wir haben hier ohnehin keinen Empfang.« Heimo zog sein Telefon aus der Tasche und vergewisserte sich. ›Nur Notrufe‹ stand auf dem Display.

»Wir hatten bis jetzt keinen Empfang. Aber das heißt gar nichts. Was ist, wenn sie das Netz ausgebaut haben? Ich habe gelesen, sogar die Kannibalen in Papua-Neuguinea sollen Handys haben.«

»Schon möglich«, grinste Heimo, dem die Vorstellung gefiel, wie Kannibalen mit Knochensplitter, die sie durch die Nasenflügel gezogen hatten und bemalter Haut, in der einen Hand einen Speer und in der anderen ein Handy, durch den Dschungel liefen. »Aber im Keller haben sie sicher keinen Empfang, das ist unsere Welt da unten.«

Er ging nach draußen, blieb auf den Verandastufen stehen und schaute auf den Wagen, der am Rande der Lichtung angehalten hatte. Reinhard drückte sich an der Wand hinter ihm vorbei und lief geduckt um die Ecke. In der Stille, die folgte, hörte Heimo, wie der Wind durch die Bäume über den Hügeln wehte und das Laub zerstreute, das dort seit dem Winter lag. Das Geräusch dröhnte in seinen Ohren wider, wie Meeresbrandung. Reinhard musste in der Zwischenzeit neben dem Holzschuppen Stellung bezogen haben.

Erschieß mir bloß keinen Touristen, der nach dem Weg fragen will, dachte er. Plötzlich öffnete sich die Autotür und ein Mann stieg aus, ein Handy am Ohr. Er sah in die andere Richtung und lauschte konzentriert.

»Die haben die Handys der Mädchen geortet«, murmelte Reinhard hinter ihm. Heimo zuckte zusammen und drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck um. »Gott im Himmel, ich dachte, du bist auf die andere Seite gegangen und hast den Kerl im Visier.«

»Hier ist der Empfang abgebrochen. So müssen sie uns gefunden haben«, zischte Reinhard, ohne auf Heimos Kommentar einzugehen. Er hielt das Gewehr in der Hand, mit dem Lauf nach unten, ein herber Geruch nach Schweiß und schwarzen Blättern, die hinten, im Schatten des Brunnens verfaulten, stieg von ihm hoch. Dann wehte eine Brise vom Waldrand her, und der Himmel war gesprenkelt mit Vögeln, die von den Bäumen ringsum aufstiegen. Der Mann auf der Lichtung hatte sein Telefon auf den Fahrersitz geworfen, mit Schwung die Wagentür zugeknallt und winkte ihnen zu.

»Heimo!«, rief er fröhlich. »Ich habe euch gefunden. Dachte nicht, dass ich es auf Anhieb schaffe. Ich wollte dich eben anrufen, aber ihr habt keinen Empfang in dieser gottverlassenen Gegend. Mann, bin ich hier richtig? Ist das deine Hütte? Das ist ein richtiges Blockhaus. Wahnsinn! Ich bin seit gestern Abend durchgefahren, hab nur kurz eine Pinkelpause gemacht und zwei Kaffee getrunken.«

»Jeremy? Jeremy Gordon?«, rief Heimo überrascht, hob die Hand über die Augen, um besser sehen zu können und trat von der Veranda in das sonnenverdorrte Gras.

»Heimo«, lachte Jeremy, wischte über sein nass geschwitztes, kurz geschnittenes Haar und winkte wieder.

»He, ist das nicht Reinhard Frost, unser aller Politiker. Freut mich dich zu sehen.« Er drehte sich um, holte eine große Sporttasche aus seinem Wagen und stellte sie neben sich. Dann streckte er sich mit weit ausgebreiteten Armen durch und wippte auf den Füßen auf und ab. Er trug ein bordeauxrotes Poloshirt, das unter den Achseln dunkel war vor Nässe, eine enge Jeans, die seine schmalen Hüften betonte, und braune Slipper. Jeremy war einen halben Kopf größer als Heimo, und niemand hätte in dem stämmigen Mann mit den breiten Schultern einen Buchhalter vermutet. Er wirkte asketisch, trotz seiner Leibesfülle, mit tief gebräunter Haut und aufgekratzt von der Fahrt hierher. Neugierig blickte er sich um.

»Was wird das hier?«, fragte Reinhard leise von der Veranda, und stieg hinter Heimo die Treppe hinunter. »Ein Treffen abtrünniger Bürger? Was will der Kerl in unseren Wäldern? Hat den irgendjemand eingeladen?«

»Das ist Jeremy Gordon«, erklärte Heimo, und drehte sich nach seinem Freund um. Im Gesicht ein säuerliches Lächeln. »Ich habe letzten Winter mal erwähnt, dass ich eine Jagdhütte in Montenegro habe und ihm irgendwann angeboten, ein paar Tage hier zu verbringen. Wusste nicht, dass er es ernst gemeint hat und ausgerechnet diese Woche antanzt.«

»Wir müssen ihn loswerden«, blaffte Reinhard mit gesenkter Stimme, und trat zwei Schritte zurück. »Ihn und die Schlampen.«

»Hör zu!«, meinte Heimo, und stach mit dem Finger in der Luft nach ihm. »Wir müssen darauf achten, dass er nicht in den Keller geht und Arno warnen, damit er die Klappe hält, das ist alles.« Es ist immer noch meine Hütte, fügte er in Gedanken hinzu, hielt aber den Mund, weil die Worte selbst in seinen Ohren, wie das Quengeln eines trotzigen Teenagers klang.

»Vielleicht spielt er auch mit. Weißt du was? Wir ziehen die Nummer von gestern durch und füllen ihn ab«, bestimmte Reinhard und packte das Gewehr so fest am Lauf, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten.

»Still! Er kommt.« Heimo wandte sich um, hob den Arm und nickte Reinhard mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu. »Mach dir keine Sorgen wegen Jeremy«, sagte er laut genug, damit dieser es auch mitbekam. »Der trinkt keinen Alkohol. Deine Whiskeyvorräte sind nicht in Gefahr.«

»Oh Scheiße! Auch das noch«, lächelte Reinhard gequält und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die sengende Sonne, die wie eine brennende Münze über den Bäumen stand. Er schwitzte, trat von einem Fuß auf den anderen.

»Wir sollten langsam los.« Er hob das Gewehr hoch in die Luft, rief: »Hi Jeremy Gordon!«, und ging ins Haus, um Arno zu suchen.

»Du hast Glück gehabt. Wir wollten eben zur Jagd aufbrechen und wären erst abends wiedergekommen.« Heimo streckte Jeremy die Hand entgegen und schüttelte sie kräftig.

»Nettes Fleckchen Erde hast du hier.«

»Ist nicht übel, nein«, antwortete Heimo, trat beiseite und bedeutete ihm zu folgen.

»Ich war mir jetzt gar nicht mehr sicher, ob die Einladung eine Einladung für den Sommer oder für den Herbst war, um ein paar Tage zu jagen. Also dachte ich, ich komme mal vorbei und fahre dann weiter ans Meer, falls ich euch nicht finde oder störe.«

»Es war eine Einladung für die Herbstjagd, aber da du schon mal da bist, ist es okay. Hast du dein Gewehr dabei?«

»Natürlich!«

»Dann komm einfach mit.«

Er öffnete die Tür und prallte beinahe mit Arno Daniels zusammen, der barfuß, bekleidet in Jeans ohne Gürtel und laubgrünem Hemd herauskam.

»Jeremy! Du hier in dieser abgeschiedenen Berghütte«, sagte er aufrichtig überrascht und schaute von Jeremy zu Heimo und wieder zu Jeremy. »Schön dich zu sehen.« Die Verlegenheit war Arno deutlich anzusehen. Er hatte ihm nichts davon gesagt, dass er von Reinhard Frost zur Jagd eingeladen wurde und fragte sich nun, seit wann Jeremy in diese Jagdhütte kam und warum er ihm noch nie davon erzählt hatte.

Natürlich, die Mädchen, beantwortete er die Frage für sich selbst und seine Stimmung hob sich. Schließlich war Jeremy offenbar ein Teil davon, so wie er jetzt auch, und je mehr Freunde daran beteiligt waren, desto weniger schlimm war die ganze Sache, nicht wahr. Seine Miene hellte sich auf.

»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Heimo.

»Zwei Kaffee unterwegs, das reicht bis zum Mittagessen.«

»Du kannst dich im Bad frisch machen. Ich muss dich zu Arno ins Zimmer legen. Ich habe nur ein Gästezimmer und kein Bett mehr frei. Wir ziehen in einer halben Stunde los.«

»Ich komme damit klar. Arno ist ein Freund aus Schultagen.« Er klopfte ihm auf den Rücken. »Ist doch okay für dich?«, sagte er, mehr Bestätigung als Frage.

»Er ist, wie du, das erste Mal hier.«

Jeremy schaute ihn verständnislos an. »Danke übrigens für die Einladung.«

»Ist schon okay. Wir sind sonst nur zu zweit, aber ein paar Freunde mehr, macht die Sache interessanter, nicht wahr, Arno? Ich warte draußen auf euch.«

Die beiden stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf.


* * *


Die Luft war feucht und kühl wie in einer Gruft, als Reinhard die Holztreppe nach unten ging und die Tür zum Keller aufstieß. Es roch nach fauligem Wasser, schimmeligem Stein und den Nestern von Kleingetier.

Er durchquerte den Raum, verschob das Regal, das auf verborgenen Schienen zur Seite glitt, stieß die dahinterliegende Tür auf und trat in den dunklen Raum. Leise, als erwartete er dort körperlose schrille Stimmen, die von allen Seiten zugleich auf ihn einschrien. Aber drinnen herrschte tiefe, erwartungsvolle Stille. Er nahm den Gestank wahr, spürte, wie sich sein Gesicht straffte und schaltete das Licht ein.

Im vorderen Käfig saß das Mädchen, das am längsten hier war. Sie schaute ihn mit wässrig-trüben Augen an. Tief aus ihrer Kehle kam ein dumpfes Grunzen und Reinhard trat unwillkürlich einen Schritt näher. Im nächsten Augenblick sprang sie ans Gitter, wie ein Affe im Zoo und rüttelte an den Stäben.

»Lass mich raus! Lass mich raus! Lass mich sofort hinaus, du perverses Arschloch!«

Erschrocken prallte Reinhard zurück. Ihr Kreischen überschlug sich in der feuchten Luft. Die Augen waren voll diffuser Angst und Hass. Im nächsten Moment hörte das Mädchen abrupt zu schreien auf. Sie sammelte sämtlichen Speichel im Mund und spuckte ihm mitten ins Gesicht.

Angewidert sprang Reinhard zurück und wischte mit dem Ärmel über die Augen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Wütend stieß er die Luft zwischen den Zähnen aus und trat er gegen das Gitter. »Fick dich, du Schlampe!« Seine Nasenflügel bebten vor Zorn. Er unterdrückte den Wunsch, in ihr Abteil zu stürmen und sie windelweich zu prügeln. Das würde ihrem Vorhaben nicht gut bekommen. Schließlich musste sie für ihre Hatz einigermaßen fit bleiben. Stattdessen warf er einen bösen Blick durch den Raum und ging weiter in das Halbdunkel hinein.

Die Gesichter der anderen Mädchen waren ausdruckslos, wie Kerzenwachs.

Susanna Michaelis lag zusammengerollt ganz hinten im Abteil mit Katja Teichmann und weinte. Katja kauerte apathisch in der hinteren Ecke. Die Schattenstreifen der Gitterstäbe fielen auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren ins Nichts gerichtet.

Das zierliche schwarzhaarige Mädchen im Nebenabteil stieß sich von der Wand ab und kam zögernd nach vorne. »Ich heiße Nicoletta Grimm. Bitte lassen sie uns gehen. Ich brauche einen Arzt. Mein Name ist Nicoletta Grimm. Meine Eltern werden mich vermissen. Ich habe mich gestern nicht gemeldet. Bitte lassen sie uns frei.« Sie schaute ihn mit großen Augen an, in denen die Angst lauerte.

Reinhard erwiderte ihren Blick und schüttelte den Kopf.

»Spar dir die Psychoscheiße, die zieht ohnehin nicht. Stell besser deinen Eimer vor die Klappe und geh zurück an die Wand.« Seine Stimme war kalt, ohne jede Gefühlsregung. Nicoletta presste die Handballen auf die Augen, fing an zu weinen und trat zurück.

Unsicher, Schritt für Schritt.

»Dafür wirst du büßen, du Schwein. Sie werden dich drankriegen! Sie kriegen jeden dran«, flüsterte Vanessa Harrer aus dem Dunkel des letzten Abteils und Reinhard konnte ihre unterdrückte Wut hören.

Sie ist die Gefährliche, dachte er. Vor ihr muss man auf der Hut sein. Er fühlte so etwas, wie Respekt vor der Frau und nahm sich gleichzeitig vor, ihr die Apathische mit auf die Flucht zu geben.

»Stell deinen Scheißeimer vor die Klappe und tritt zurück.«

»Hol dir doch deinen Eimer«, fauchte sie.

»Dann behalte ihn, wenn du so sehr daran hängst.« Er tauschte nach und nach die Eimer der anderen Mädchen aus und schob ihnen vorbereitete Essensportionen zu. Nur Vanessas Portion stellte er in knapper Reichweite vor das Gitter. Wenn er das nächste Mal kam, würde sie gefügiger sein und um ihr Essen betteln. Ein böses Grinsen auf dem Mund, den Kiefer wie versteinert ging er wieder hinaus, ohne auf die Mädchen zu hören, ihr Winseln und Weinen, ihre Flüche und Schreie, die ihn bis zur Türe verfolgten.



Heimo wandte sich an Reinhard, als der durch die Hintertür ins Haus kam.

»Alles klar?«

»Ja! Ich habe ihnen zu essen und zu trinken gegeben, die Eimer geleert und das Licht abgedreht.« Er presste die Lippen zusammen, mahlte mit den Zähnen. »Da sind zwei wilde Vögel dabei. Mit denen werden wir noch unseren Spaß haben.«

Heimo rieb sich über den Mund und legte den Kopf zur Seite. Er sah in Reinhards Augen und fragte sich, was ihm dahinter durch den Kopf ging, welche Bilder dort zu finden wären.

Dann drehte er sich weg, überzeugt, dass die Erinnerungen und Gedanken so hässlich und bösartig sein mussten, dass er sie eigentlich nicht erraten wollte.

»Machen wir uns fertig. Ich möchte hochfahren, nach Norden. Dort sind die Chancen größer, dass wir auf Wild treffen. Ich denke, ich muss heute irgendetwas erschießen.« Niemand wollte gerne durch andere Augen in das Spiegelbild seiner eigenen Seele blicken.

Am Wenigsten er selbst.


* * *



Im Sonnenlicht, das durch die Blätter in den Bäumen fiel, wirkte die glatte Oberfläche des Wassers, wie glasiert. Kleine, von der Sommerhitze und der Trockenheit gelb und braun verfärbte Blätter fielen von den Bäumen und segelten in den Fluss, wo sie in der sachten Strömung dahintrieben und allmählich mitgenommen wurden. Myra Baranova hockte sich auf die Fersen, suchte ein paar flache Steine, warf sie über das Wasser und zählte die Sprünge mit. Im Gesicht das zufriedene Lächeln eines kleinen Mädchens.

Sehnsüchtig dachte sie an ihren verstorbenen Vater, der so stolz auf sie war, als sie die zehn Tage in der Wildnis unbeschadet überstanden hatte, obwohl sie wusste, dass er stets darüber informiert war, wo sie sich befunden hatte und wie es ihr ergangen war. Sie wünschte, er könnte mit ihr in diesem Wald unterwegs sein.

Myra hatte auf dem Weg hierher in Google Maps recherchiert und einen Platz gefunden, an dem sie ihr Quartier aufschlagen wollte. Weitab von jeglichen Straßen. Sie drehte eine Haarsträhne in den Fingern und sah nachdenklich in den Himmel über ihr. Ihre Augen glänzten feucht.

Jetzt musste sie ihn nur noch finden.

»Es wird drei Tage dauern«, murmelte sie. Einen halben Tag nach Google, aber das Programm berechnete natürlich nicht die widrigen Verhältnisse, das unwegsame und zum Teil steile Gelände und zwölf Stunden wandern waren hochgerechnet drei Tage in den Bergen.

Sie nahm ihren Rucksack auf, ließ den Blick noch einmal über den Fluss wandern, der breit und gemächlich hinter dem Dorf vorbeifloss und folgte der Wanderroute nach Norden. Solange sie auf den bequemen Wegen leichter vorankam, würde sie diese nutzen und erst später ihre eigenen gehen.

Eine halbe Stunde danach holte sie ein halbes Dutzend junger Männer ein, die beladen waren mit riesigen Rucksäcken, bunte Wanderkleidung und Strohhüte trugen. Sie unterhielten sich lautstark in einer ihr unbekannten Sprache, gestikulierten mit den Händen und nickten sich lachend zu, ohne sie zu beachten. Myra trat zur Seite, um sie vorbeizulassen.

Ein blonder Kerl, dünn, mit von der Sonne dunkler Hautfarbe blieb zurück und sprach sie an.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sorry, ich verstehe nicht«, sagte sie und hob die Hände. Seine Augen wanderten von ihren Händen zu ihrem Gesicht und wieder zurück. Die Haut um seinen Mund zuckte nervös.

»Hi, bist du auch auf dem Weg nach Mocra Gora, um die Tara mit dem Kanu hinunterzufahren?«, wiederholte er die Frage mit kehliger Stimme. Seine Blicke gingen wie unbeteiligt nach hinten und zur Seite.

Myra blieb stehen.

»Nein, wir folgen dem Trail nach Norden, bis hoch in die Berge und dann weit nach Slowenien hinein. Wir gehen den Weitwanderweg.«

»Okay, klingt gut«, erwiderte der Dünne, und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Er blickte wieder über ihre Schultern nach hinten. »Was meinst du mit wir? Da war keiner auf dem Weg«, sagte er, und seine Augen wurden schmal. »Du könntest mit uns gehen. Wir haben noch Platz in den Kanus.«

»Ein paar von unseren Jungs sind voraus, um einen Lagerplatz zu suchen und alles vorzubereiten, und mein Freund trödelt im Dorf im Laden herum. Er braucht immer etwas länger beim Einkaufen, weil er sich nicht entscheiden kann. Aber er holt schnell auf und sollte gleich hier sein.« Myra drehte sich um, trat zwei Schritte nach hinten und warf einen gelassenen Blick auf den Weg zurück.

Der Kerl kniff ein Auge zusammen, schnalzte mit der Zungenspitze und betrachtete sie mit schiefem Grinsen. »Na, dann wünsche ich viel Spaß beim Wandern.« Er schaute seinen Kumpanen nach, die längst zwischen den Bäumen verschwunden waren, zwiegespalten, ob er ihr Glauben schenken sollte oder sie den Freund nur vorgeschoben hatte. Schließlich nickte er und lief ihnen hinterher.

Myra atmete auf. Bei dem Gedanken, von einer Gruppe junger, testosterongesteuerter Männer belästigt zu werden, wurde ihr übel.

Sollte jemals der Augenblick kommen, in dem sie sich verteidigen müsste, würde sie es mit aller Kraft und auch mit Hilfe einer Waffe tun. Sie spürte die Adern in ihrem Kopf pochen und wies die Möglichkeit, dass dieser Zeitpunkt kommen könnte, nicht von sich, gestand sich aber ein, wie beunruhigend der Gedanke war.

Einer Eingebung folgend bog sie nach links ab und ging in den Wald, achtete darauf, keine Spuren zu hinterlassen und verschwand zwischen den Bäumen.

Ich werde mich Richtung Westen halten, dachte sie. Dann verliere ich den Pfad nicht aus den Augen und bin auch in der Nähe des Flusses. Der Weg wurde damit beschwerlicher, weil sie an diesem Abschnitt in dem dichten Gehölz schwer vorwärtskam. Aber sie umging damit auf jeden Fall diesen Typen, der wahrscheinlich weiter vorne auf sie wartete, und sei es nur, um zu sehen, ob sie die Wahrheit gesprochen hatte.

Sie wollte diese Tage in Ruhe ihren Gefühlen nachhängen, wollte sie im Andenken an ihren Vater verbringen und konnte keine anhänglichen Typen brauchen, die sie anbaggerten oder gar belästigten.

»Hör auf dein Bauchgefühl«, hatte ihr Vater gesagt. »Besonders im Wald. Wir sind weitaus stärker von Instinkten geleitet, als die meisten Menschen zugeben wollen. Sie verdrängen es, weil sie es verunsichert und sie das nicht kontrollieren können.«

»Der Instinkt warnt Tiere vor Gefahren, nicht wahr?«

»Der Instinkt ist die Summe der Erfahrungen, die ein Lebewesen in Tausenden von Jahren gesammelt und weitervererbt hat. Er lässt es bei Gefahr das Richtige tun und überleben.«

Myra hatte ihn mit großen Augen betrachtet und sich gefragt, wie sie über die Erfahrung von so vielen Jahren verfügen konnte. Er hatte sich umgesehen und sie angewiesen auf einen Fluss zuzulaufen. Das hatte sie gemacht und vor einem Abhang gestoppt.

»Warum bist du stehen geblieben?«

»Weil ich sonst in den Fluss gefallen wäre.«

»Siehst du, du kannst nicht wissen, ob du gefallen wärst, aber dein Instinkt hat dir geraten stehen zu bleiben und du hast auf ihn gehört.«

Daran dachte Myra, als sie Abstand suchte und tiefer in den Wald eindrang und daran, dass sie abseits der Wanderrouten gefährdeter war. Sie musste achtgeben. In solchen Wäldern waren nicht nur harmlose Wanderer unterwegs.

Es gab immer wieder Leute, Jäger, Wanderer, Aussteiger, die in der Wildnis selbst zu wilden Tieren wurden, ob bewusst oder unbewusst. Für die das Leben außerhalb ihrer urbanen Umgebung auch das Ende der Zivilisation bedeutete.

Intuitiv tastete sie nach dem Jagdmesser an ihrer Seite und horchte auf ungewöhnliche Geräusche und deren Fehlen. Hörte dem Wind zu, der in den Bäumen raschelte, lauschte auf ein kleines Tier, das durch welke Blätter lief und achtete auf das emsige Zwitschern der Vögel über ihr.

»Der Wald spricht mit dir, du musst auf ihn hören«, war ein Rat ihres Vaters. »Der Eichelhäher, sowie Krähen und Raben sehen und melden dich, bevor du sie siehst. Ein knackender Zweig, eine hastige Bewegung verraten dich, noch bevor das Wild dich riecht. Dein Gesicht ist wie ein Warnschild. Sieh das Wild nie direkt an. Bleib stehen, wenn alle Geräusche verstummen. Hock dich nicht hin, wie ein Raubtier zum Sprung bereit, sondern verharre still, bis sie dich nicht mehr beachten.«

So wurde sie allmählich zur Jägerin, die sich im Wald so sicher bewegte wie ein Raubtier.

Sie folgte einem Wildwechsel durchs Unterholz den Hügel hinauf, überquerte eine kahle Kuppe und stieg hinunter in einen Wald voller Tannen und Tannenduft und der Stille, die Tannen erschaffen. Tannen mit niedrigen Ästen, die sich über weiche Nadeln, die ihre Schritte dämpften, dahinstreckten, schufen ein schützendes Dach für die Seele.

Und mit jedem weiteren Schritt wurde ihr schmerzlicher bewusst, dass sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt hatte.

Aber Myra hatte Zeit.

Sie setzte sich auf einen Felsen, hatte die Knie angezogen und schaute in den Wald. Der Fels war mit Flechten gesprenkelt, das raschelnde Laub über ihr leuchtete in der Sonne.

Der Weg, den sie weiterging, führte sie in den länger werdenden Schatten höher und höher. Der Wald lockerte auf, das Gelände wurde felsiger, unwegsamer. Eichhörnchen jagten sich gegenseitig um die Baumstämme und Amseln und Spatzen pickten Insekten zwischen den Blättern auf dem Boden. Myra wandte sich wieder nach links. Sie wusste, dass als Rechtshänderin diese Seite dominierte und sie dazu neigte nach rechts zu gehen. Deshalb versuchte sie das zu kompensieren, achtete aber darauf, nicht zu weit nach links abzudriften. Laut Google Maps ging der Wanderweg vom Dorf zum Ausgangspunkt der Kanufahrer in einem gewundenen Weg nach Nordwesten und kürzte ein paar Biegungen ab, bis er wieder auf den Fluss traf. Danach führte er eine Weile nach Süden, bog später nach Westen ab und änderte seinen Lauf nach Südosten, bevor er das Tal erreichte. Ihrem Gefühl nach zu urteilen, musste sie in der nächsten Stunde wieder auf ihn treffen und würde dann in einigem Abstand flussaufwärts weiterwandern.

Am Fluss konnte sie fischen, jagen, hatte Wasser und fand leichter Nahrung als mitten im Wald.



Als die Abenddämmerung anbrach, hörte sie den Fluss, noch bevor sie ihn sah.

Sie kam an einen zerklüfteten Abhang und schaute hinunter auf das türkis-grüne Wasser, das sich träge in diesem Abschnitt dahinwälzte. Ein Hirsch stand am Ufer und sah zu ihr hoch, in Bogenschussweite, befand aber den Abstand zu dem Menschenwesen als nicht gefährlich und ging gemächlich zum Wasser, um zu trinken. Myra blieb still stehen und beobachtete ihn.

Gelassenen Schrittes ging er in den Fluss, um sich zu kühlen, warf den Kopf zurück, kratzte sich mit dem mächtigen Geweih an den Flanken und hatte doch stets ein Auge auf sie.

Das letzte Licht, das sich über die westlichen Bergkuppen ins Tal legte, tauchte den Himmel und die Hänge darunter in verschiedene Farbtöne. Die Bäume zeichneten sich weich vor ihr ab, wie von feinen Pinseln gemalt. Eichelhäher, Kreuzschnäbel und Baumfinken saßen auf Ästen und wirkten im Zwielicht wie kleine Kundschafter, die im Chor ihre Lieder vorbrachten, ohne auf ihr Publikum zu achten.

Dann stieg der Hirsch aus den Fluten und ging in den Wald zurück.

Majestätisch.

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.


* * *


Kyle Barber ging den Weg, der vom Dorfende bis zum großen Parkplatz führte, mehr nackter Fels, als geteerte Straße. Die Luft über den abgestellten Wagen, die den ganzen Tag in der brennenden Sonne gestanden hatten, wirkte zähflüssig, hatte den Geschmack nach alten Zinnmünzen und legte sich wie eine zweite Haut auf Gesicht und Arme. Am anderen Ende des Platzes, unter riesigen Eichen, deren Wurzeln den Rand des spärlichen Asphaltbelags gesprengt hatten, stand eine Reihe von Schildern, die Touristen und Wanderer die jeweilige Richtung wiesen. Eine davon führte zum Fluss. Der folgte er, bis er auf eine unbefestigte Straße traf und zu einer Brücke kam.

Die Uferseiten waren steil und voller Gestrüpp, getrockneten Ästen und festgebackenen Gräsern, die der Zufluss der Tara beim letzten Hochwasser hierhergetragen und an den dornigen Sträuchern abgestreift hatte. Kyle ging über die schmale Brücke aus ungestrichenen Bohlen, abgetreten von unzähligen Wanderern und bog von der Straße in den Wald ab. Er suchte die Einsamkeit und hatte vor, neben dem Fluss in die Berge hochzusteigen. Müde wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen, ging einen leichten Anstieg hinauf und warf einen Blick auf den Weg zurück, hatte aber keine Ahnung, wo er war, wie seine nächste Umgebung aussah. Er wusste nur, dass es dieses Dorf gab und am Fluss immer Leute unterwegs waren, die ihn aber nicht weiter störten.

Die letzten Strahlen der Abendsonne brachen hinter den Baumwipfeln, das Licht wurde spröde und die Luft kühlte merklich ab. Trockenes Laub wirbelte am Wegrand neben ihm her. Kyle hielt das Gesicht in den kühlen Wind, der durch die Eichen blies.

Er fragte sich, ob seine Freundin beim Abendessen im Hotel saß oder ob sie noch am Meer war, und entschied für sich, dass es ohne Belang war. Ihre Beziehung war abgekühlt, das Begehren nie zur Liebe geworden. Sie waren zu unterschiedlich in ihren Ansichten und Absichten.

Seiner Meinung nach begingen viele Menschen den Fehler, sich für das zu schämen, was sie waren, es zu verleugnen und zu versuchen, jemand anders zu sein oder sie ließen es zu, von anderen eingegrenzt und umgeformt zu werden.

»Deine Haare sind zu lang und dein Bart gefällt mir nicht. Du siehst ohne Bart besser aus, er steht dir nicht«, hatte seine Freundin gesagt, als sie drei Wochen zusammen waren. Da hätte er schon aufpassen müssen. Stattdessen hatte er sich ihr zuliebe rasiert, die Frisur geändert Sie hatte den Einkauf seiner Kleidung überwacht und ihn allmählich zu einem anderen Menschen ausstaffiert. Sie hatte ihn modelliert, an ihm gefeilt und ihn geändert, bis er sich selbst nicht mehr erkannte. Er war ihr Vorzeigeobjekt für Freunde und Freundinnen, vor allem für die.

»Halt den Kopf grade, schlenker nicht mit den Armen, geh langsamer.« Ständig hatte sie etwas an ihm auszusetzen, bemerkte jede kleine Unachtsamkeit und nörgelte, bis er schließlich absichtlich gewisse Dinge tat, die ihr nicht gefielen.

Er kam sich dabei immer mehr wie ein dressiertes Haustier vor, wenn sie aus dem Haus gingen, und selbst zu Hause, gab sie die Gangart vor.

»Lass mich einfach mich selbst sein«, sagte er dann, aber sie relativierte seine Bedenken.

»Natürlich, ich möchte doch nur, dass es dir gut geht.«

Sein Leben wurde zu einer Abfolge grauer Tagesanbrüche, aus denen sich die Sonne verabschiedet hatte.



Im schwindenden Licht des Abends stieg er unter einem dichten Blätterdach einen Wildwechsel entlang, darauf achtend, das Geräusch des Flusses nicht zu verlieren. Setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen und schaute sich nach einem Lagerplatz um.

Es war längst dunkel. Kyle tastete sich weiter vorwärts, als sich die knochenbleiche Sichel des Mondes über dem Wald erhob und seine Umgebung in diffuse Grautöne tauchte. Überall ragten mächtige, alles überragende Eichen in die Höhe. Im dunklen Schatten der Bäume tanzten plötzlich Leuchtkäfer wie Sterne aus einem winzigen Kosmos um ihn herum und das Zirpen der Zikaden, die in den Büschen saßen, erfüllte die Luft. Kyle erkannte, dass er näher am Fluss war, als er gedacht hatte. Kalt und schwarz eilte er zu seiner Linken keinen Steinwurf entfernt dahin, schnell, aber ohne sichtbare Stromschnellen.

Darum habe ich ihn auch nicht gehört, dachte er, und betrachtete versonnen das finstere Wasser unter ihm.

»An ein Schwimmen ist hier nicht zu denken«, murmelte er. »Aber auch keine Gefahr von Wanderern oder Jägern überrascht zu werden.«

Er fand in der Dunkelheit einen schmalen Pfad, der zum Fluss führte, holte große Steine vom Ufer, hob eine flache Grube aus und zündete ein Feuer an. Der Rauch verlor sich in den Bäumen über ihm und wurde vom Wind davongetragen. Er nahm Fleisch, Kartoffel und Gemüse aus seinem Rucksack und grillte sein Abendessen über der Glut.

Für die folgenden zwei Tage hatte er frische Vorräte, für weitere drei Tage haltbare Sachen und Dosen, die er aber als Notration behalten wollte. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, fühlte wie ihm das Herz in der Brust schlug. In der Stille des Augenblicks, mit dem Wind, der durch die Blätter raschelte, erfüllte ihn tiefe Zufriedenheit, während er in die züngelnden Flammen schaute.

Ich werde morgen auf die Jagd gehen, dachte er, oder ein paar Fische fangen. Ich muss mich so lange wie möglich vom Wald ernähren.

Nach dem Abendessen, er hatte das Feuer mit Erde abgedeckt und sein Lager für die Nacht bereitet, ging er noch einmal zum Fluss, um sich zu waschen. Der Wind legte sich und es folgte ein Moment absoluter Stille. Kyle hob den Kopf und blickte zu den Sternbildern am Himmel empor, auf das wild gezackte Land, das sich um ihn herum erstreckte.

Er erinnerte sich an seinen ersten Ausbruch aus den Zwängen der Pflegefamilie, in die sie ihn gesteckt hatten, vor langer, langer Zeit, weil Kinder eine Familie brauchten.

»Du wirst eine Familie haben, Kyle«, hatte die Frau gesagt, die ihn im Waisenhaus abgeholt hatte.

»Ich möchte aber keine Familie, ich will bei meinen Freunden bleiben.«

Die Frau hatte verlegen gelacht. »Du wirst neue Freunde haben und es wird dir bei uns besser gehen.« Sie hatte ihn bei der Hand genommen und ihm keine Zeit gelassen, sich von seinen Freunden zu verabschieden.

Die ersten Tage waren beklemmend für ihn, er wusste nicht, wie er die Leute ansprechen, einschätzen sollte. Plötzlich fehlten alle Regeln oder wurden durch neue ersetzt und bald schon wurde der Ton für ihn rauer. Da waren noch zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, einige Jahre älter als er, die ihm das Leben schwer machten.

Für jeden ihrer Streiche, jeden Unfug, jede Nachlässigkeit, wurde er bestraft, weil sie ihn vorschoben, als Unheilstifter bezichtigten und seine Verteidigung als Lüge unterstellten. Er revanchierte sich mit Ungehorsam und wurde wieder bestraft. Ein unheilvoller Kreis, den zu durchbrechen er nicht schaffte.

Dann packte er eines Tages ein paar Sachen und verschwand, genoss die paar Tage in Freiheit, bis sie ihn einfingen und ins Waisenhaus zurückbrachten.



Am nächsten Morgen ging er nach dem Frühstück, Kaffee in der Alutasse gebrüht und Brötchen mit Käse, zum Fluss. Das Ufer war dicht bewachsen mit Gestrüpp und hohen Gräsern, die sich in einer warmen Brise aus dem Süden bogen. Das Wasser war eiskalt, aber bei der morgendlichen Temperatur um die fünfundzwanzig Grad erfrischend und angenehm. Er watete bis zur Hüfte hinein, tastete mit jedem Schritt nach sicherem Halt, um nicht umgerissen zu werden und überlegte, wie er hier einen Fisch fangen könnte.

Sein Blick wanderte flussabwärts, zur nächsten Biegung, auf der Suche nach Strudeln und tiefen Löchern hinter großen Felsbrocken im Wasser, eine sichere Möglichkeit, um Fische in die Enge zu treiben, als er Stimmen und Rufe hörte.

Zwei Kajaks kamen den Fluss herunter und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Sie fuhren konzentriert an ihm vorbei, nickten ihm zu und waren rasch außer Rufweite. Er konnte sie noch eine Weile sehen, wie ihre kleinen Boote auf den Wellen tanzten, bevor sie um die Biegung verschwanden. Kyle streckte die Arme seitlich aus, schaufelte sich Wasser ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Er nahm sich vor, achtsamer zu sein. Die Kajakfahrer hatten ihn überrascht und gaben ihm das merkwürdige Gefühl, ihn zum falschen Zeitpunkt erwischt zu haben. Missgestimmt ob seiner eigenen Unachtsamkeit tauchte er unter, ließ sich vom Fluss eine Weile tragen, schwamm ans Ufer und lief zum Lager zurück. Sein Gesicht war angespannt, als er das Lager abbrach, die Haut spannte über seinem Kopf.

Anschließend schritt er im Licht der Morgensonne den Fluss entlang den Berg hinauf. Die Sträucher und Weiden im Schatten der Bäume waren vom Tau bedeckt und die über dem Bergkamm brechenden Strahlen der Sonne überzogen das lange Gras auf seiner Seite des Ufers mit einem warmen Dunstschleier. Der Geruch nach Schlamm, schwarzen Blättern, die unter Bäumen faulten und altem Gras, das in der Hitze trocknete, erfüllte die Luft.

Kyle wanderte höher und höher, hielt Ausschau nach einer Stelle, an der er einen Fisch in die Enge treiben könnte, um ihn mit der Hand zu fangen und freute sich, später in den Wald zu wechseln.

Endlich fand er eine Stelle, der Fluss wurde breiter, langsamer und bildete hinter einer Barriere aus Felsen eine Kehrströmung. Schwierig für Kanufahrer, aber ideal für ihn. Der Ufersand war von Reh- und anderen Tierspuren überzogen, im warmen Schatten der Bäume flatterten Finken und Drosseln umher. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Wasser und weiter unten flussabwärts, neben der Felsbarriere, zeichneten sich schimmernde Sandbänke ab. Insekten schwirrten am Ufer über den Gräsern und im Schatten der Weiden schnappten Forellen nach Mücken und zauberten dadurch Kreise auf die Wasseroberfläche, sodass es aussah, als würden Regentropfen vom Himmel fallen.

Triumphierend hielt Kyle wenig später seine Beute in die Luft.

»Doch nichts verlernt«, lachte er. Die große Forelle fühlte sich schwer und kalt in seiner Hand an und zappelte, bis er sie auf einen scharfkantigen Stein schlug, worauf der letzte Funken Leben aus den Augen wich und sie so kalt wurden wie schwarzes Glas.

Er fing noch zwei weitere Fische, ging zurück über die Felsen am Ufer und dann hinauf in die Berge, tief unter ihm das glitzernde grüne Band des Flusses, das um weiße Felsen schäumte und Mückenschwaden zwischen den Bäumen trieben.



vier



»In diesen Wäldern ist die Jagd etwas anders als bei uns zu Hause«, erklärte Reinhard im ernsten Tonfall von Priestern, die ihre Worte in Mikrofone von Kanzeln herab sprachen. Sie waren seit einer Stunde in seinem Range Rover unterwegs, über unbefestigte Straßen, Forstwege, Waldpfade und manchmal nicht einmal das. Obwohl die Sommerhitze bereits den Wagen aufheizte, war es ein wunderschöner Morgen.

Heimo wandte sich um und betrachtete die beiden Männer auf dem Rücksitz. In seinen Augen lag ein eigenartig nach innen gekehrter Ausdruck, als würde er in eine karge Landschaft blicken, ohne Menschen, ohne Tiere, ohne Leben. »Es gibt nichts Schöneres als die Jagd«, sagte er. »Sie entspricht der Natur des Mannes.«

»Jagd ist Jagd«, hielt Arno dagegen und richtete den Blick in den Wald zu seiner Linken, auf das Spiel von Licht und Schatten zwischen den Bäumen. Sein Gesicht war kühl, wie gemeißelt.

Der Weg, den sie fuhren, war gesäumt von wildem Gestrüpp, die Bäume dahinter schimmerten dunkel, das Blätterdach darüber so dicht, dass die Sonne kaum durchkam.

Kein sichtbarer Weg, es würde schwierig werden voranzukommen, sollten sie hier jagen. Seine Gedanken schweiften ab zu den Mädchen. Ihm gefiel, was am Vortag passiert war, obwohl er sich fast ein wenig angepisst fühlte. Die beiden hätten ihn schon früher an ihren Unternehmungen teilhaben lassen können.

Aber gut, sagte er sich, sie konnten nicht wissen, dass es ihm Spaß machen würde. Sein Bedürfnis sich gegen beengende Moralvorstellungen zu stellen war ein Versuch dem entgegenzuhalten, was in ihm unterdrückt worden war. Etwas, das er nie erlebt oder verloren hatte, von seiner Mutter stets gegängelt und ihrer Liebe erdrückt. Er freute sich auf den heutigen Abend, spürte die Erektion, die seine Hose füllte, eine sexuelle Erregung von den Lenden bis zum Rückgrat und lächelte böse in sich hinein.

Die Menschen steckten in einem Morast aus Verlegenheit und Heuchelei, stets voller Furcht, dass die Wahrheit über sie ans Licht kommen könnte. Er hingegen fühlte sich von Grausamkeit, die er an Schwächeren ausübte, fasziniert. Vor allem von schmutzigen Dingen, die seine Mutter beschämen und anwidern würden, sollte sie es je erfahren.

»Inwiefern ist die Jagd hier anders?«, zeigte sich Jeremy interessiert und unterbrach seine Gedanken.

Für ihn waren sie ein paar Freunde, die Spaß hatten und vielleicht ein kleines Abenteuer erleben wollten, dachte Arno. Er würde sich noch wundern, wie viel Spaß und Abenteuer er die nächsten Tage zu sehen und zu spüren bekam. Vor allem zu spüren.

»In diesen Wäldern könnt ihr alles jagen, was herumläuft. Es gibt keine Beschränkungen«, lachte Heimo grob und fuhr mit der Hand durch die noch feuchten Haare. Reinhard nickte zustimmend und ließ ein Streichholz zwischen seinen Zähnen von einer Seite auf die andere wandern.

»Wir jagen schon seit vielen Jahren in diesen Wäldern und haben noch nicht einen Ranger oder jemand anderen getroffen, der uns Vorschriften machen wollte.« Der Wagen holperte über Wurzeln und in Schlaglöcher und er musste das Lenkrad so festhalten, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Keine Beschränkungen. Nein! So spannend wie hier ist die Jagd zu Hause nicht«, bestätigte er. Seine Antwort wirkte banal und unergründlich, der Ton vertraulich, mit einem Unterton, der mehr aussagte, als er dies mit Worten tun könnte.

»Alles, was herumläuft?«, grinste Jeremy hintergründig und dachte an die Wanderer, die in diesen Wäldern unterwegs waren, nicht ahnend, wie nah er schon bald der Wirklichkeit kommen sollte.

»Na ja, vielleicht nicht alles, ein paar Ausnahmen gibt es«, Reinhard nahm das Streichholz aus dem Mund und zwinkerte Heimo lachend zu. Arno grinste plötzlich hämisch, eine erste Erkenntnis und vage Hoffnung huschten durch seinen Kopf. Noch nicht zu fassen. Zu weit hergeholt war der Gedanke, zu wagemutig die Idee.

»Wohin fahren wir?«, fragte Jeremy neugierig, beugte sich nach vor und schaute von Reinhard zu Heimo und wieder zu Reinhard. Sie waren in der Zwischenzeit auf eine richtige Straße gekommen.

»Ein Stück den Berg rauf und dann auf die andere Seite, hier drüben sind zu viele Wanderer unterwegs. Wir wollen nicht, dass sie uns in die Quere oder vor das Gewehr kommen. Die meisten sind zwar bunt gekleidet und fallen auf, aber es gibt immer wieder welche, die gut getarnt daherkommen.«

Reinhard bog rechts ab und lenkte den Wagen in den Wald. Es war ein Forstweg unter gekrümmten Bäumen, wenig genutzt, der Wagen passte kaum in die Spur zwischen dichtem Gestrüpp, niedere Äste schleiften kratzend über das Dach. Der Weg schien sich im Wald zu verlieren, selbst das Licht verlor sich in dem Gewirr aus Zweigen und Bäumen, schien nirgendwohin zu führen.

Zehn Minuten später öffnete sich der Weg und mündete in eine Lichtung. Reinhard hielt unter einer riesigen Eiche an, deren Äste schützend in die Lichtung ragten. Die Motorhaube reflektierte die flach auftreffenden Sonnenstrahlen und die Luft darüber flimmerte, als würde sie in der Hitze zerfließen.

Sie stiegen aus dem Wagen, Arno sog scharf den Atem ein. Jeremy stöhnte auf. Die Hitze umfing sie nach der klimagekühlten Luft im Wagen wie eine heftige Umarmung. Sie gingen ein paar Schritte, dehnten und streckten sich. Arno spürte die Schweißperlen an seinen Achseln wie kleine Insekten herunterlaufen. Er trat zum Kofferraum und nahm seinen Rucksack heraus.

Eine Brise aus Südwest blies heiß über die offene Fläche und beugte für Momente das kniehohe Gras. Tief unter ihnen konnten sie den Fluss sehen. Er wand sich in sanften Biegungen, eingebettet zwischen weißen Felsen und dunkelgrünem Wald, wie ein langes, türkis schimmerndes Band.

»Mann, ist das heiß hier«, schnaufte Jeremy.

»Im Wald wird es besser«, winkte Heimo ab. Reinhard und er holten ihre Rucksäcke und Gewehre aus dem Wagen, banden sich Bandanas um die Stirn und grinsten sich an. Sie kontrollierten ihre Schusswaffen, ließen die Verschlüsse knacken, luden Patronen in die Kammern, montierten die Zielfernrohre darauf und richteten sie lachend auf Ziele in den Wald und auf den Fluss, die nur sie erkennen konnten.

Ein paar Krähen erschienen über der Lichtung, kreisten mit schwerfälligen Flügelschlägen und ließen sich auf den umliegenden Bäumen nieder.

»Wer noch pinkeln muss, sollte das jetzt tun, damit ihr später nicht den Anschluss verliert«, sagte Reinhard und schaute auf die schwarz gefiederten Vögel. Er zögerte einen Moment, lehnte dann sein Gewehr an den Wagen, angelte ein paar Flaschen Bier aus dem Kofferraum und verteilte sie in der Runde. Mit lautem Zischen öffneten sie die Flaschen.

»Ich hab immer eine Kühlbox mit dabei. Es geht bei der Hitze nichts über ein kühles Blondes.« Er lachte breit, zwinkerte ihnen zu, Arno verstand den Hintergedanken. Sein Mund verzog sich zu einem ungerührten Grinsen. Hämische Freude blitzte in seinen zusammengekniffenen Augen.

»Also passt auf«, instruierte Reinhard die Freunde. »Hier laufen auch Wanderer oder andere Jäger herum und sie haben keine Warnwesten an, also seid vorsichtig und schießt nicht auf alles, was sich bewegt. Ich möchte niemand hier draußen verarzten oder einen Verletzten ins Dorf bringen. Es gibt auch keine Rettungshubschrauber oder Bergretter. Wir sind auf uns allein gestellt. Handys funktionieren nicht. Arno geht mit mir und Jeremy mit Heimo. Wenn einer von euch, aus welchem Grund auch immer, von uns getrennt wird, lauft nicht herum und sucht den anderen, sondern wartet eine Weile, wir finden euch. Sollte das nicht der Fall sein und es dauert zu lange, gebt zwei Schüsse schnell hintereinander ab. Das ist das Zeichen, dass einer in Gefahr ist. Wir gehen dann den Schüssen nach. Wir sind hier, weil wir diesen Teil des Waldes gut kennen.« Er sah sich um und achtete auf die Reaktion von Arno und Jeremy.

»Es sind auch andere Jäger im Wald. Wir wurden vor zwei Jahren fast selbst erschossen, weißt du noch Heimo?«

»Ja. Idiotische Engländer haben uns für Hirsche gehalten und auf uns geschossen. Wir haben hier orangefarbene Tücher, die steckt ihr ein und schwenkt sie, falls ihr jemand bemerkt, der nicht zu uns gehört, bevor der auf euch anlegt. Besser bemerkbar machen, als eine Kugel einzufangen.«

»Ich habe im Dorf gehört, dass eine schwedische Gruppe unterwegs ist. Die Schweden sind vorsichtiger. Sie sind mit allen Wassern gewaschene Jäger und nicht rücksichtslos, wie die Amerikaner, aber man kann nie wissen.«

»Was jagen wir? Rehe, Hirsche oder gibt es ein besonderes Wild, auf das ich mein Augenmerk richten sollte. Wie sieht es aus mit Wildschweinen oder Wölfen und Bären?«

»Wildschweine oder Wölfe werden wir nicht vor den Lauf bekommen und Bären hoffentlich auch nicht. Heute jagen wir, was immer sich zeigt und nicht vorsichtig genug ist, und in den nächsten Tagen werden wir sehen.«

»Der Wald ist gut bestückt mit Wild, das Problem sind die Touristen und Wanderer, die es von Jahr zu Jahr mehr verschrecken und vorsichtiger werden lassen. Es wird allmählich schwieriger ...«, warf Heimo mit einem verächtlichen Lächeln im Gesicht ein, und schaute zu Reinhard.

»Aber auch spannender«, ergänzte dieser. Seine Augen glänzten dunkel, als würde er unter Strom stehen. Er erwiderte Heimos Blick, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, als läge einer dieser spannenden Tage vor ihm, und nur er könnte darüber bestimmen.

Sie zogen los und streiften durch den Wald, fanden Spuren und scheuchten Wild auf, das sie aber nicht zu sehen bekamen, nur hörten. Das Knacken von trockenen Ästen, ein Scharren und Rascheln. Irgendetwas Kleines huschte durchs Unterholz. Das Gestrüpp dicht und schwer zu begehen. Die Luft schien von Mücken und stechenden Pferdebremsen erfüllt. Arno schlug sich mit der flachen Hand in den Nacken und auf die Arme, um die nervenden Biester loszuwerden. Er roch seinen eigenen Schweiß und schon nach kurzer Zeit hatte er das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wo sie sich befanden.

Sie kamen auf eine Lichtung, nicht mehr als eine baumfreie Stelle, mit kniehohem Gras bewachsen und hielten an, um zu verschnaufen. Vor ihnen schwebte eine graue Wolke von Mücken über einer Wasserstelle. Keine zwei Meter breit und drei Meter lang, schwarz, gesäumt von verdorrtem Schilf. Der Geruch von fauligen Blättern und toten Tieren im Schlamm lag über dem Tümpel, eine grün-schwarze Schlange, so dick wie der Unterarm eines Mannes und an die zwei Meter lang, glitt fast beiläufig durch das Gras. Sie war auf der Hut, verharrte einen Moment, ließ die Zunge vor- und zurückschnellen, um Witterung aufzunehmen. Ihre Augen wirkten kalt, wie glasierte Steine.

Arno erschauerte.

Er hasste und fürchtete Schlangen mehr als jedes andere Lebewesen. Am liebsten hätte er sein Gewehr hochgerissen und das Biest in Stücke geschossen. Stattdessen stand er wie versteinert da, starrte mit einer Mischung aus Panik und Faszination auf das Tier und wagte es nicht, sich zu rühren. Zu groß war seine Angst, er könnte danebenschießen, die Schlange durch seine hektische Bewegung auf sich aufmerksam machen. Sein Puls wurde schneller, sein Atem hastiger und er hatte das Gefühl ein orange glühendes Kohlefeuer würde sich durch seine Magenwände brennen.

Aber das Tier beachtete ihn nicht, es züngelte forschend, drehte den Kopf in eine andere Richtung und verschwand lautlos im Wald.

Ein Krachen in unmittelbarer Nähe holte ihn aus seiner Erstarrung, dann verhallte das Echo mit hohlem Grollen und Reinhard rief laut: »Ein Hirsch! Heimo ist auf einen Hirsch getroffen. Er gibt sich nicht mit Kleinvieh ab.«

Sie hörten, wie sich ihre Freunde den Weg durch das Dickicht bahnten und folgten den Geräuschen von schweren Tritten und knackendem Holz.

»Hier lang!«, rief ihm Reinhard zu, und schwenkte den Arm mit dem Gewehr. Lief mit langen Schritten auf den Wald zu und war gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden. Hastig lief ihm Arno hinterher. Fluchend, genervt von der Hitze fragte er sich in diesem Augenblick, was zur Hölle die beiden an dieser Art der Jagd fanden. Er sprang über Wurzeln und Felsen und brach durch Gebüsch. Der Wald lichtete sich jäh und Arno sah Reinhard ein Stück weiter unter ihm zwischen gezackten Felsen stehen.

Eine Krähe beobachtete Arno, als er die Südseite des Hangs bergab lief und flatterte schließlich alarmiert davon, während sie mit scharfen Rufen ihre Artgenossen warnte.

Heimo begrüßte sie mit stolzem Grinsen. Er stand über eine Hirschkuh gebeugt. Dann streckte er sich plötzlich und hielt triumphierend die Leber des Tieres hoch in die Luft, in der anderen Hand das Messer, von dem noch das Blut troff. Neiderfüllt betrachtete ihn Arno, rang sich ein beifälliges Lächeln ab und schaute dann auf das Tier, dessen Gedärme in den tanzenden Strahlen der Sonne glänzten, die durch das Blätterdach fielen. Es ließ nichts mehr von seiner anmutigen Ästhetik erahnen, das es im Leben gehabt hatte. Arno tastete nach seiner Wasserflasche, schüttelte sie und wischte sich mit dem Arm über die Augen.

»Ich habe Durst und meine Wasserflasche ist leer. Ich hätte jetzt Lust auf ein kühles Bier und ein gegrilltes Stück Fleisch. Gibt es hier irgendwo eine Gaststätte?«

»Nein, wir sind auf einem Jagdausflug, mein Freund. Zwei Kilometer westlich ist der Fluss. Wir gehen dorthin und werden uns ein paar feine Stücke hiervon braten«, lachte Heimo und zeigte auf das erlegte Tier, sein Gesicht so hart wie ein Kieselstein.

»Der Wald ist knochentrocken«, ergänzte Reinhard. »Wir möchten keinen Waldbrand riskieren. Beim Fluss gibt es zu dieser Zeit Uferabschnitte, die für ein Lagerfeuer geeignet sind.«

»Ist nicht viel Wild in diesem Wald«, maulte Jeremy, und schaute in die Wipfel der Bäume, als ob dort oben eine Antwort zu finden wäre.

»Bei der Hitze verkriecht sich alles im Unterholz. Wir gehen näher an den Fluss, aber dort sind die Touristen. Scheiße, dort können wir uns zumindest abkühlen.« Reinhard zog ein Messer und kniete sich neben Heimo. Er warf einen Blick über die Schulter und zwinkerte Jeremy zu.

»Keine Sorge, nach dem Essen versuchen wir eine zweite Runde, dann gehen wir zum Wagen und fahren zurück zur Hütte. Du hast also noch genügend Gelegenheit für einen guten Schuss.«

Eine gute Stunde später saßen sie um ein kleines Lagerfeuer, brieten die Hirschleber, ein Lendenstück und aßen geröstetes Brot dazu. Der Fluss bog sich sanft entlang einer ausgedehnten Kiesbank, die sie für ihr Lager nutzten. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, der in einem klaren Blau strahlte. In den Büschen entlang des Ufers tummelten sich Schwärme von Mücken. Ein Rudel Kanufahrer kamen den Fluss herunter. Sie konnten sie lange schon hören, bevor sie um die Biegung kamen und gleich darauf auf den weiß schäumenden Wellen um die nächste verschwanden.

Jeremy winkte ihnen freundlich hinterher.

Nach dem Essen legten sie sich in den Schatten der Bäume und dösten eine Weile vor sich hin. Draußen unter den Weiden, wo das Wasser glasklar und warm in handtellergroßen Mulden des steinigen Ufers stand, schwebten Libellen völlig reglos in der Luft. Die Sonne verschwand hinter einer dunklen Wolke und brannte ein graues Loch in ihre Mitte. Die Eichen und die Weiden entlang der Tara blähten sich im aufkommenden Wind. Sie kehrten nicht auf direktem Weg zum Wagen zurück, machten einen kleinen Umweg. Wild fanden sie trotzdem keines.

Zu guter Letzt schoss Jeremy eine neugierige Elster von einem Baum, die lange genug sitzen blieb, um getötet zu werden. Als würde sie ein Windstoß erfassen, wurde sie hoch in die Luft geschleudert, überschlug sich, von ihrem Hals lösten sich Federn, dann fiel sie rücklings in den Wald. Arno, den der unerwartete Schuss erschreckt hatte, brummte gereizt. Die Kleidung klebte ihm am Körper, die Haut brannte von Schweiß und Staub. Unter ihren Sohlen knackte der trockene Boden. Sie waren von Dornen zerkratzt und Mücken zerbissen.

»Die nächsten Tage wird es besser mit der Jagd«, rief Reinhard nach hinten und hob das Gewehr wie ein totbringendes Rufzeichen. »Versprochen.«

Erstaunlicherweise schienen ihm und Heimo weder Hitze, Staub noch Mücken etwas auszumachen.



Zurück in der Hütte ließen sie sich auf das durchgesessene Sofa an der Kaminwand fallen, öffneten ein paar dunkle Flaschen eiskaltes Bier und stießen an auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation. Danach stellten sie sich nach und nach unter die Dusche. Langsam wurde Arno unruhig. Er fragte sich, wie weit Jeremy bereits eingeweiht war. Hatte Heimo mit ihm gesprochen oder sahen sie es als seine Aufgabe an, ihm zu erklären, welches Vergnügen ihn am späteren Abend erwartete. Heimo verschwand in der Küche, gleich darauf hörte er ihn mit Geschirr und Pfannen klappern und schon bald zog der Duft von gebratenem Fleisch durch den Raum. Sie unterhielten sich über die Jagd, ihre Möglichkeiten für den nächsten Tag, lachten viel und tranken noch mehr.

Reinhard verschwand ein paar Mal für kurze Zeit, zu kurz, um allein seinen Spaß zu haben.

»Wieso bist du heute so mürrisch?«, fragte er ihn, als er aus dem Keller kam und fläzte sich neben ihn auf das Sofa. Arno setzte an, die Frage zu stellen, die ihn beschäftigte, betrachtete die Flasche in seiner Hand und das vom Bierschaum feuchte Etikett.

»Ich bin nur müde vom Herumlaufen«, sagte er stattdessen und schaute zur Tür.

»Ich muss noch ein paar Vorbereitungen erledigen«, sagte Reinhard, der seinem Blick gefolgt war, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Ich muss sie füttern und sauber machen, was denkst du denn?«

»Gar nichts«, erwiderte Arno und ließ ein Grinsen in seinem Gesicht aufflackern. Er fragte sich, was wohl seine Wähler über Reinhard Frost denken würden, könnten sie sein wahres Ich erleben. Er war aggressiv, griesgrämig und der Typ Mann, dem es gefiel, Frauen mit bloßen Fäusten zu prügeln und Dinge kaputt zu schlagen.

Als Arno fertig gegessen hatte, wischte er sich den Mund mit der Serviette ab und ließ sie auf den Teller fallen. »Das war gut. Das war wirklich gut«, lobte er Heimos Hirschsteaks und lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten. »Jetzt geht es mir wesentlich besser. Ich wusste nicht, dass du kochen kannst.« Jeremy nickte zustimmend, schluckte und schaute zu Heimo, dessen Gesicht fröhlich glänzte.

»Ach weißt du, hier draußen wird man zum Selbstversorger«, meinte er. »Hier haben wir keine Frauen, die sich um uns kümmern. Bloß welche, um die wir uns kümmern müssen.« Er blinzelte Arno zu.

»Ich brauche einen Drink«, unterbrach ihn Reinhard und stemmte beide Hände auf den Tisch. Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen, stand auf und ging zur Bar. Dort holte er vier Gläser aus dem Regal, stellte sie zusammen mit einem Becher Eiswürfel auf ein Tablett, angelte eine Flasche Whiskey aus einer Kiste unter der Theke und kam zurück an den Tisch.

»Wir haben auch Cognac, Wodka und Tequila«, sagte er und schaute Arno und Jeremy an.

»Was zum Teufel führst du im Schilde?«, fragte Arno und lachte dabei. »Willst du mich wieder besoffen machen?«

»Dafür sind wir doch da«, grinste Reinhard und goss zwei Fingerbreit Whiskey in die Gläser. »In uralten Eichenfässern gereift. Genau der Stoff, den richtige Männer brauchen. Alten Schnaps und junge Frauen.« Er lachte vergnügt und schaute zum Fenster hinaus, als wäre ihm gerade eine besonders gute Idee gekommen. Ein Leuchten durchzog den dunklen Himmel, aber kein Donner folgte dem Licht. In Gedanken versunken warf er zwei Eiswürfel in sein Glas und sah zu, wie das Eis knackend seine Farbe änderte. Er nahm einen tiefen Schluck, wischte sich den Mund ab und schob Jeremy ein Glas zu.

»Das ist deins«, sagte er und trank genüsslich den alten Whiskey. »Komm, trink mit uns.«

»Danke«, erwiderte Jeremy. »Aber ich trinke eigentlich keinen Alkohol.«

»Oh nein. So geht das nicht. Du kannst nicht mit uns in einer Hütte wohnen, mit uns den Urlaub verbringen, jagen gehen, aber nichts trinken. Das lassen wir nicht zu. Stimmt`s Freunde?« Reinhard nahm zwei Eiswürfel und warf sie in Jeremys Glas. »Trink und genieße das Leben«, polterte er. »Deine Frau ist weit weg und von uns erfährt sie nichts. Wir halten zusammen.« Er zwinkerte ihm zu und lachte.

»Ein Glas, mehr nicht«, stimmte Jeremy schließlich zu.

Sie tranken die Flasche leer, danach Cognac und Wodka, holten alte Erinnerungen heraus und tauschten die Gegenwart gegen die Vergangenheit ein, bis ihnen das eigene Leben entglitt.

Irgendwann nach Mitternacht gingen sie schließlich in den Keller, die Mädchen lagen halb bewusstlos in ihren Verliesen, mit verdrehten Augen, sabbernd und blöde grinsend. Heimo hatte ihnen Drogen ins Essen und Wasser gemischt, um sie ruhig zu stellen, allerdings ohne abzuschätzen, wie viel sie essen und trinken würden.

»Ich habe das Zeug in der Stadt besorgt«, lallte er und blickte stirnrunzelnd in die Käfige. »Aber an der Dosierung muss ich noch arbeiten.«

Sie gingen jeder in ein Abteil. Jeremy wischte eine Strähne aus der Stirn, schluckte nervös und versuchte durch den Alkoholnebel in seinem Hirn zu verstehen, was abging.

»Na los, du kannst die Blonde haben«, sagte Arno und stieß ihn hinein. »Sie gehört dir, du musst nicht mal freundlich zu ihr sein.« Er lachte keckernd, näherte sich einem großen schwarzhaarigen Mädchen, das ihn verstört anstarrte. Dann öffnete er langsam den Reißverschluss seiner Hose, ließ sie dabei nicht aus den Augen, selbstgefällig und auf beiläufige Art.

Mit größter Mühe versuchte Jeremy auszublenden, was um ihn geschah. Er kam über das Mädchen, mit zusammengebissenen Zähnen und geschlossenen Augen, mühte sich schwerfällig auf ihr ab, während ihr saurer Atem über sein Gesicht strich. Er hatte für eine Sekunde in ihre leeren Augen gesehen und hasste in diesem Augenblick das Mädchen, seine Freunde, die Entscheidung hierher zu kommen und am meisten sich selbst.




Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 5
 
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