Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 6

Fredy Daxboeck

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Unendlich langsam schob Verena ihre Knie unter den Körper und stemmte sich mühsam hoch. Sie blinzelte verwirrt. Das silberne Licht des aufgehenden Mondes lag wie feiner Dunst in den Ästen der Bäume. Die Straße war grau und holprig, ihr Belag im Mondlicht gefleckt, wie die schuppige Haut einer großen Echse.
Schmal lag sie vor ihr, eben noch ausreichend breit für ein Fahrzeug und führte geradeaus und dann in eine leichte Kurve, und aus der Kurve heraus trat ein Schatten. Sie konnte kaum die Umrisse erkennen, sah die Gestalt in verschwommenem Rot, weil Blut von einer Schramme auf der Stirn in ihre Augen rann.
Mücken schwirrten um seinen Kopf.
»Hilfe, bitte helfen Sie mir.«
In einer hilflosen Geste hob ihm Verena die Arme entgegen. Die Haare hingen ihr, von Blut und Schlamm verkrustet, wirr ins Gesicht. Die großen Augen, in denen namenloses Entsetzen geschrieben stand, starrten ins Leere, während sie auf den Knien über die Straße kroch. Sie streckte die rechte Hand nach vorne, tastete mit der Linken mit fahrigen Bewegungen über den Boden, scharrte Steine und Dreck zur Seite, die ihr ins Knie stachen.
»Hilfe. Lassen Sie mich nicht allein«, flüsterte sie und kroch wieder eine Handbreit weiter. Ihr Atem ging röchelnd, stoßweise. Ein trockener Husten schüttelte sie. Blut lief aus ihrem Mundwinkel, sammelte sich am Kinn und tropfte auf die Jacke.
Ihr ganzer Körper war Schmerz.
»Ich habe so große Angst. Helfen Sie mir doch. Sie werden mir noch mehr wehtun.«
»Lauf!«, schrie jemand. Sie konnte nicht einordnen, woher die Stimme kam, ob vor oder hinter ihr.
»Lauf! Sie sind dir auf den Fersen.«
Verena rappelte sich auf und stolperte mit wedelnden Armen über die Straße in den Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, während Arno Daniels sein Gewehr anlegte und sie in den Rücken schoss. Für einen Moment schien sie in einer Wolke aus Lichtpunkten, Staub, Rauch und verdorrten Laubteilchen zu schweben, bevor sie nach vorne fiel, sich überschlug und zuckend liegen blieb.
Arno trat näher, schaute nach unten und betrachtete interessiert das Mädchen, das mit scharrenden Beinen vor ihm lag.
»Ich verfluche dich!«
»Was hast du gesagt?« Er beugte sich über sie. »Ich kann dich nicht verstehen.«
»Ich verfluche dich!«, krächzte ihre Stimme. Mühsam, jedes Wort betonend. Auf ihren Lippen bildete sich eine große blutige Blase. Dann wurde ihr Blick leer.
»Du warst keine Herausforderung. Du warst kein Wild, du warst ein dummes Schaf.« Schulterzuckend drehte Arno sich um, und schaute auf Reinhard Frost, der gelassen die Straße entlangkam, das Gewehr über die Schulter gelegt.
»Jeremy hat einen Rehbock geschossen, sie teilen ihn auf.«
»Dann waren sie erfolgreicher als wir«, lachte er und sah verächtlich auf die Leiche der jungen Frau, die vor zwei Wochen Heimo über den Weg gelaufen war. Fliegen summten um ihren Kopf, setzten sich auf die offenen Augen. Am Himmel über ihnen leuchteten immer mehr Sterne auf und das Licht des Mondes tanzte zwischen den Bäumen. Sie zu töten war nicht schwieriger, als einen streunenden Hund abzuknallen. Er hatte nicht gezögert oder einen Gedanken daran verschwendet, warum er es nicht tun sollte. Irgendwie war Arno sogar stolz auf sich. Ja, mehr noch. Genau genommen faszinierte ihn das ganze Ausmaß seiner Schlechtigkeit und erregte ihn auf eine Weise, die er selbst nicht verstand.
»Wir werden sie paarweise jagen. Vielleicht macht es das spannender.« sagt Reinhard gelangweilt und wandte sich ab.

Kyle Barber hatte sein Lager am Nachmittag aufgelassen. Er hatte alle Spuren sorgfältig beseitigt, wohl wissend, dass ein aufmerksamer Beobachter merken würde, dass er hier war. Aber zumindest für zufällig vorüberkommende Jäger sollte es nicht sofort ersichtlich sein, dass er allein unterwegs war, vielleicht sogar in ihrem angestammten Revier jagte. Und nun folgte er seit Stunden einem verwachsenen Trampelpfad in Richtung Nordwesten und hoffte früher oder später wieder auf den Fluss zu treffen, hatte es aber nicht eilig. Nach seinem Ermessen konnte er nicht weit weg davon sein, andererseits aber auch Kilometer davon entfernt. Seine Augen hielten stetig Ausschau nach Hasen oder Eichhörnchen, Bogen und Pfeile in der Hand, um sein Jagdglück zu versuchen. Er fühlte sich gut, das Wetter spielte mit. Die anbrechende Nacht war von der Hitze des Tages geprägt, die jetzt langsam wich, und versprach trocken zu bleiben.
Ich hätte mir eine Karte besorgen können, dachte er. Das hab ich verpasst. Aber egal, ich halte mich nicht an Wanderwege, also weiß ich ohnehin nicht, wo ich bin.
Weit entfernt fiel ein Schuss. Nicht mehr für ihn als ein Fingerzeig, dass er in dem riesigen Waldgebiet nicht gänzlich allein war.
Ich sollte mir einen Schlafplatz suchen. Kyle blieb stehen, sein Gesicht wirkte kühl und gefasst. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Gelände vor ihm, entdeckte einen unbefestigten Fahrweg und überlegte, ihm eine Weile zu folgen. Dann sah er zwei Silhouetten im matten Schein des Mondes die Straße entlangkommen und wich in den Wald zurück. Er stieg eine Anhöhe hinauf, die Bäume als Deckung nutzend, um ihnen auszuweichen.
Hinter ihm hörte er einen der beiden rufen und drehte den Kopf. Sie waren zu weit entfernt, der Ruf galt nicht ihm, also ging er weiter, ein Summen in den Ohren, von dem er nicht sagen konnte, woher es stammte. Gleich darauf fiel ein weiterer Schuss.
Unbewusst duckte sich Kyle und presste sich an den Baum, hinter dem er Schutz gesucht hatte. Vorsichtig spähte er dahinter hervor. Die zwei Gestalten standen als Umrisse im Mondlicht. Zu weit weg, um mehr zu erkennen. Sie betrachteten offensichtlich das erlegte Wild.
Kyle trat zurück in die Dunkelheit des Waldes und beschloss höher hinaufzugehen, und sich nach Westen zu wenden, um den Jägern auszuweichen.


Fünf​

Beide Hände an die Gitterstäbe geklammert, kniete Vanessa Harrer in der diffusen Dunkelheit ihres Gefängnisses und lauschte den dumpfen Geräuschen, die von der Tür hereindrangen. Sie hörte, wie sich zwei Männer unterhielten, während die schweren Schritte von Jagdstiefeln über den Boden polterten.
Die Hoffnung ist das Licht am Ende des Tunnels, das es den Menschen ermöglicht, selbst die schlimmsten Dinge und tiefsten Abgründe zu überstehen. Starke Gefühle, wie Liebe, Wut oder Hass aber sind der Antrieb, die sie letztendlich am Leben erhalten, und sei es auch nur für die nächsten paar Stunden.
Die Schritte kamen näher und setzten mit einem Mal aus. Sie konnte hören, wie ein schwerer Gegenstand zur Seite geschoben wurde, dann ging das Licht an und die Lampen fluteten ihre triste Umgebung mit grausamer Helligkeit. Sie rissen alles Elend aus dem schützenden Dunkel und offenbarten, was für unbestimmte Zeit verborgen war, nur aus Gerüchen und Geräuschen bestanden hatte. Vanessa blinzelte mit verkniffenem Gesicht und stöhnte unterdrückt. Es waren die zwei Kerle, die tags zuvor Verena aus ihrem Käfig geholt hatten.
Unbändige Wut wallte in ihrer Brust hoch wie die rasenden Messer eines Häckslers und fegte jegliche Angst und Verzweiflung hinweg. Sie wusste, dass sie hier nicht mehr lebend herauskommen würde. Alles, was ihr blieb, war ihr Hass, den sie den beiden entgegensetzen konnte. Sie starrte die beiden Männer an, verfolgte jede ihrer Bewegungen.
Langsam kamen sie näher, schauten in jedes Abteil, als ob sie nach einem bestimmten Detail Ausschau hielten. Die anderen Mädchen rührten sich nicht. Teilnahmslos lagen oder kauerten sie auf ihren Matratzen, hielten die Augen geschlossen, oder die zitternden Hände schützend vor ihr Gesicht. Neben ihr weinte Katja still vor sich hin.
»Du kommst mit!« Reinhard Frost steckte den Schlüssel ins Schloss neben Vanessas Abteil und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck herum.
Vanessa konnte sehen, wie Katja den Kopf hob und der Ausdruck einer alles überwältigenden Angst, gepaart mit einer schrecklichen Erkenntnis, in ihr Gesicht kroch.
»Lass sie in Ruhe, du Schwein!«, rief sie und rüttelte an den Gitterstäben. Der Geruch nach Urin, Kot und Erbrochenen, nach modrigen Steinmauern, Schweiß und Angst stieg ihr in die Nase und Übelkeit kam ihren Magen hoch. Der Politiker verharrte. Sein Brustkorb hob und senkte sich und seine Nasenflügel bebten vor unterdrücktem Zorn. Plötzlich ließ er das Schloss los, betrachtete für eine lange Sekunde das baumelnde Teil, machte er ein paar Schritte in ihre Richtung und blieb vor ihr stehen. Mit erhobener Hand bedeutete er, ihr zu schweigen. Die Haut um seinen Mund schien blutleer. Unter seinen Fingernägeln klebte schwarzer Dreck.
»Du«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie. »Du kommst auch mit.«
Sie zerrten Katja, die alles über sich ergehen ließ, und Vanessa, die tobte, kratzte und biss, aus den Käfigen und schleppten sie zur Tür.
»Fass mich nicht an, du Scheißkerl! Lass mich los, verdammt!«
Reinhard blieb abrupt stehen und schlug ihr mit harter Hand links und rechts ins Gesicht, packte sie an den Haaren und riss den Kopf nach hinten. Seine Augen schimmerten kalt und dunkel, wie eingefroren, als würden sich dahinter äußerst hässliche Gedanken verstecken.
»Das wirst du mir büßen. Ich werde dich töten!«, knurrte sie, ihr Gesicht, in dem seine Finger rote Striemen hinterlassen hatten, von unbändigem Hass verzerrt.
»Darauf freue ich mich jetzt schon«, lachte er rau und stieß sie von sich. Vanessa prallte krachend gegen den Türrahmen. Blut spritzte aus ihrer Nase. Sie atmete keuchend durch den Mund, während das Blut aus ihrer Nase über die Oberlippe rann.
»Vielleicht hast du sogar eher Gelegenheit dazu, als du denkst«, fuhr Reinhard fort, schlug sie mit der Faust zwischen die Schulterblätter und schob sie von der Tür weg.
»Mach, dass sie die Klappe hält.« Heimo Börnstein drehte den Kopf herum. Er hielt Katja im Nacken am langen Arm von sich.
»Ach was. Lass sie schimpfen. Das wird lustig. Besser als die da. Die ist nur noch ein Haufen Elend.«
»Sieht fertig aus, mit der wird nicht viel anzufangen sein?«
»Was habt ihr vor mit uns?« Vanessas Stimme klang erstickt. Sie würgte an ihrem eigenen Blut, das ihr die Kehle hinunterlief. Sie spürte, wie sich ein Druck an der Seite ihres Kopfes aufbaute und kalter Nebel ihr Herz einhüllte. Für einen Moment herrschte Stille in dem kleinen Raum vor ihren Verliesen.
»Wirst du schon sehen«, bellte Reinhard, packte sie hart am Arm, stieß sie in den Raum und schob das Regal vor die Tür. Alles in einer fließenden Bewegung, als würde er den ganzen Tag nichts anderes machen.
»Sie suchen bestimmt schon nach uns. Lasst uns frei. Wir werden euch nicht verraten«, bettelte Katja mit leiser Stimme. Sie versuchte sich aus dem eisernen Griff von Heimos Hand herauszuwinden, die Augen geschlossen. Tränen liefen unter ihren Lidern hervor und über das schmutzverkrustete Gesicht.
»Ich überlege es mir. Ich muss bloß sichergehen, dass ihr uns nicht auffliegen lasst.«
»Was soll das? Was ist das für ein böses Spiel?«, zischte Vanessa. Sie hustete und spuckte Blut und Speichel auf Reinhards Arm, was dieser aber nicht zu bemerken schien.
»Kein Spiel, das ist bitterer Ernst. Denkt ihr, ihr könnt einfach gehen? Ihr kennt mich, das macht die Sache schwierig.«
Er stieß Vanessa die Treppe hoch, um Heimo zu folgen. Sein Gesicht kalt und leer, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Die Luft war von Staub erfüllt. Die feuchte Wärme im Übergang vom Keller ins Erdgeschoss nahm ihr den Atem.
»Sie sollten eine Chance bekommen«, meinte Heimo, stieß Katja nach draußen und trat vor die Tür. Vanessa folgte mit klopfendem Herzen. Sie schüttelte den Kopf, um die Taubheit und den Schmerz auf ihrer Stirn loszuwerden. Die Hitze schien in den Strahlen der Sonne gefangen, und es ging ein leichter Wind, der die Blätter in den Bäumen vor dem Haus rascheln ließ. Die scharfen Umrisse der Umgebung schienen ihr entgegenzuspringen. Katja lag auf dem Boden der Terrasse, vor ihr die Stufen zum Abgang, ihr Gesicht abgewandt, die Schultern zuckten unkontrolliert.
Vanessa starrte sie an, und trat einen Schritt vor, um ihr zu helfen. Doch bevor sie reagieren konnte, trat Reinhard sie in die Kniekehlen. Mit einem Aufschrei stürzte sie zu Boden und rutschte die Stufen der Terrasse hinab.
»Nicht so schnell«, rief Reinhard und sprang lachend hinterher.

* * *​

Stefan Kovacic saß auf einem Felsen am Fluss und beobachtete das Wasser, in Gedanken versunken. Er schloss die Augen, als würde er sie kurzzeitig ausruhen wollen. Einen Moment später öffnete er sie wieder und lehnte sich nach vorn, sein Blick auf einen Punkt in der Mitte des Flusses fixiert. Dort, wo der Strom sich über Tausende von Jahren in den Untergrund geschnitten hatte, konnte er Forellen und Barsche sehen, wie sie in die Sonne schwammen und dann wieder in den Schatten tauchten, auseinanderstoben und unter dem Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Wasser verschwanden. Ein Muster aus Licht- und Schattenstreifen lag auf der gegenüberliegenden Uferböschung, die von Weiden und mächtigen Buchen gesäumt war, und vom Wasser zog eine warme Brise heran, die den Geruch des umliegenden Waldes mit sich trug.
Er fragte sich, wie er dem Mörder näherkommen, wie er ihn in dem riesigen Gebiet finden konnte. Er fragte sich, wie Männer, wie dieser es schafften, jede menschliche Handlung vor sich selbst zu rechtfertigen, und sei sie noch so grausam oder abscheulich.
Wer oder was hatte ihn dazu gemacht? Kamen manche Menschen wirklich als Mörder zur Welt, oder wurden sie dazu gemacht?
Ich muss mich in ihn hineinversetzen, dachte er. Wo schläft er, wie kommt er an Essen? Wie sieht seine Umgebung, seine Strategie aus?
Oder überlässt er alles dem Zufall, schlägt nur zu, wenn sich die Gelegenheit bietet?
Wie lange treibt er bereits sein Unwesen?
Würde er nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden, weiterziehen, an einem anderen Ort morden, und sie suchten ihn völlig umsonst.
Ergebnislos.
Stefan lehnte sich zurück und wischte all die Gedanken, die in seinem Kopf kreisten, beiseite.
Er schaute zur Seite, den Fluss entlang, in die gesprenkelten Schatten der nächsten Biegung und entdeckte einen Mann, der zögernd aus dem Wald kam. Aufmerksam suchend blickte er über beide Seiten des Ufers, trat einen weiteren Schritt aus dem Wald heraus und sah dann in seine Richtung. Stefan rutschte ein Stück zurück in den Schatten, unsichtbar für den Beobachter, der gegen die Sonne schaute.
Wanderer kamen aus dem Wald und sahen sich um, staunend, neugierig, genossen den Anblick des Flusses, oder freuten sich auf das kühle Nass, das sie erwartete. Jäger richteten ihr Augenmerk auf Spuren, die zum Fluss führten, suchten nach Wild. Aber dieser Mann hatte erst den Fluss abgesucht, dann die Ufer. Er wollte sichergehen, dass er allein war, bevor er aus seiner Deckung kam. Das machte ihn verdächtig.
In dem Vertrauen, dass seine Kleidung ihn unsichtbar machte, verharrte Stefan reglos im Schatten. Das Verharren des Mannes und seine Vorsicht konnten vielerlei Gründe haben, aber Stefan war Ranger und Jäger, er hatte ein Gespür dafür, wenn das Wild Gefahr witterte. Und dieser Mann witterte Gefahr.
Die Gefahr entdeckt zu werden.

Keine dreihundert Meter weiter oben trat Myra Baranova aus dem Wald ins helle Licht und warf einen prüfenden Blick auf ihre Umgebung und den Fluss, der zu ihren Füßen lag. Hoch oben im Himmel, gefangen in den gleißenden Strahlen der Sonne, glitt ein Seeadler ohne Flügelschlag durch die Luft und sah dabei aus wie ein verwaschener Fleck auf einer Kameralinse.
Sie hatte einen Hasen erlegt, aufgebrochen, ihm das Fell abgezogen, über ein kleines, rauchloses Feuer gelegt, um ihn zu braten, und wollte sich nun vergewissern, dass keine Jäger in der Nähe waren. Sie wollte nicht überrascht werden.
Als Frau allein im Wald musste man immer mehr Vorsicht walten lassen, als dies für jeden Mann galt. Im Wald, allein oder unter seinesgleichen, vergaßen manche schnell ihre gute Erziehung und ließen Kinderstube und Zivilisation weit hinter sich.
Der Wind hatte aufgehört zu wehen, als sie unter den herunterhängenden Ästen eines Baumes hindurchging. Sie glaubte, den Geruch von verwesendem Fisch in der Luft riechen zu können. Vielleicht ein Otter, oder ein anderes Tier, das seine Beute hier irgendwo versteckt und vergessen hatte. Ihre Augen rasterten die Ufer beidseits des Flusses und für einen Moment dachte sie, einen Schatten gesehen zu haben. Nur ein winziger Ruck unter den Buchen, die den Berghang säumten, und doch eine unnatürliche Bewegung in einer Umgebung, in der alles andere stillstand, oder fließend war.
Ganz langsam schob sie sich hinter den Baum, ohne die Stelle aus den Augen zu lassen. Die Luft war heiß und stickig, und Myra dachte an den Hasen, der über ihrem Feuer briet. Sie starrte auf den Schatten, bis ihre Augen tränten und sie den Blick abwenden musste.
Von Westen wehte eine leichte Brise und bewegte die Äste in den Buchen. Gerade lange genug, dass sie einen Mann erkennen konnte, als sie wieder hinschaute, der dort saß.
Reglos. Das Gesicht abgewandt.
Er beobachtete jemand weiter unten am Fluss.
Kein Wild. Eine menschliche Gestalt.
Myra konnte von ihrer Position nicht erkennen, ob Mann oder Frau.
Vorsichtig trat sie zurück in den Wald. Ein Zucken huschte über ihr Gesicht. Warum dieser Mann, der gekleidet war, wie ein Jäger, die Person am Flussufer beobachtete, wusste sie nicht, was sie als Nächstes zu tun hatte, wusste sie allerdings sehr genau.
Sie ging zu ihrem Lagerfeuer, schob das Holz und die verkohlte Asche zur Seite, legte den Hasen in die heiße Kuhle, und bedeckte ihn mit Reisig und Erde. Damit kamen keine Fliegen an das Fleisch und er würde in der Zwischenzeit in dem improvisierten Erdofen gar werden. Dann nahm sie ihren Bogen, eine Handvoll Pfeile, die kleine Axt und lief zum Fluss, ohne die Deckung des Waldes zu verlassen.
Als sie dort ankam, konnte sie durch die Bäume erkennen, wie der Jäger vor ihr hochsprang und im Wald verschwand. Er war ganz und gar auf die Gestalt am Fluss konzentriert, und hatte sie nicht bemerkt. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, überzeugt, dass er sich jeden Moment umdrehen und sie entdecken würde. Als er einen Augenblick später verschwunden war, starrte sie in die schwarz-grünen Schatten der Uferböschung und wusste, wie sie ihn umgehen und die Person am Fluss warnen, oder ihr beistehen konnte.
Sie war gestern einem Pfad gefolgt, der sie ziemlich nahe an die Stelle führen würde.
Hastig lief sie den Berg hinab, immer auf der Hut, nicht selbst entdeckt zu werden, und umging den Jäger, den sie am Waldrand vermutete. Sie kletterte über Felsen, rannte geduckt durch den Wald, wich dornigen Sträuchern und dichtem Unterholz aus, blieb unvermittelt hinter einem Baum stehen und beobachtete die Umgebung. In ihren Schläfen hämmerte das Blut und ihre Augen brannten vom herablaufenden Schweiß. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie die Person sehen, die am Ufer auf den Fußsohlen hockte, das kaum mehr als Kies und Schotter war, und auf den Fluss hinausschaute.
Es war zweifelsohne ein Mann. Seine Hände tasteten im Kies, ohne wirklich etwas zu suchen, sein Blick wanderte zwischen dem rechten und dem linken Ufer hin und her, als ob er sich für eines davon entscheiden müsste. Seine Aufmerksamkeit war voll und ganz auf seine Umgebung vor ihm gerichtet. Seine Gestalt, groß und kräftig gebaut, erinnerte sie an einen Menschen aus einer früheren Zeit, einem anderen Land, der selbstvergessen seinen Weg ging.
Sie wandte den Blick von seinem Gesicht ab und blieb reglos in dem Muster aus Licht und Schatten stehen, das die Bäume über ihr zeichneten. Ein schiefes Lächeln umspielte seinen Mund unter der Krempe des Westernhuts, die der Wind nach unten bog und seine Augen verbarg.
Er ahnt, dass er verfolgt oder beobachtet wird, dachte Myra.
»Nicht bewegen, schau nach links und dann nach oben und komm in meine Richtung. Da ist jemand, der offensichtlich hinter dir her ist.«
»Warum sollte ich nach links schauen?«, fragte Kyle Barber, ohne überrascht zu wirken, hob den Kopf und richtete den Blick in die befohlene Richtung. Er lüftete seinen Hut, um unauffällig sein Gesichtsfeld zu vergrößern und wischte mit der Hand über die Stirn.
»Um ihn abzulenken, sonst hättest du in meine Richtung geschaut.«
»Warum denkst du, dass jemand hinter mir her ist?« Er runzelte die Stirn und schaute in die Sonne, als läge die Lösung hinter dem strahlenden Weiß verborgen. Der Schatten eines großen Vogels huschte über sein Gesicht.
»Er beobachtet dich schon eine ganze Weile, vermutlich folgt er dir auch.«
»Da sind Jäger im Wald, ich habe gestern ihre Schüsse gehört und sie gesehen.« Kyle setzte seinen Hut wieder auf, erhob sich und ging, mit einem letzten Blick über den Fluss, auf den Wald zu. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit den leichten, fließenden Bewegungen eines Raubtieres.
Myra hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn in hohem Bogen zur anderen Seite des Flusses, wo dieser lärmend den Abhang hinabrollte.
»Das wird sie ablenken und vielleicht herauslocken, falls es tatsächlich mehrere sind, was ich für unwahrscheinlich halte. Er hat sich nicht nach irgendwelchen Freunden umgesehen.«
»Warum sollte mir jemand folgen?«, hakte Kyle nach, seine Augen suchten sie zwischen den Bäumen.
»Das weiß ich nicht. Sag du es mir.« Lautlos trat sie zur Seite, richtete ihre Worte in den Wald, damit er ihre Position nicht bestimmen konnte. Noch vertraute sie ihm nicht.
»Ich habe keine Ahnung. Ich bin eigentlich mehr zufällig hier unterwegs als geplant. Aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht verwechselt mein Verfolger mich mit jemand anderem?« In seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen, er starrte in die Schatten der Bäume und lauschte mit einem Gefühl gespannter Erwartung.
»Möglich. Vielleicht ist er auch nur zufällig im Wald unterwegs und hält dich für einen Jäger, will selbst nicht entdeckt werden? Aber für mich sah es so aus, als ob er hinter dir her wäre.«
»Danke, dass du auf mich achtgibst«, sagte Kyle, nahm den Hut ab, verbeugte sich in die Richtung, in der er sie vermutete, und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Er hatte das Bedürfnis, eine Art Unterhaltung aufrechtzuerhalten, auch wenn er sich fragte, wer die Frau war, die ihn vor einer vermeintlichen Gefahr zu warnen versuchte.
»Geh den Wildpfad entlang, den du vor dir siehst, bis du an eine Lichtung gelangst. Dort wendest du dich nach rechts und gehst die Wiese hoch, bis du an die Felswand kommst. Von dort aus gehst du nach rechts, ungefähr dreihundert Meter geradeaus und folgst dem Jungwald, bis du wieder auf den Fluss triffst. Ich komme von der anderen Seite und hole dich ab. In der Zwischenzeit locke ich deinen Verfolger hier an den Fluss, dort muss er mich umgehen und ich kann ihn abschütteln.«
Kyle zögerte.
»Warum zeigst du dich nicht? Es könnte doch sein, dass du mich in eine Falle locken willst.«
Myra lachte. Ein leises Lachen, das klar und ohne jeden Falsch war, ein Ausdruck purer Lebensfreude. Sie trat hinter einer mächtigen Buche hervor und hob die Hand zum Gruß. Im grellen Licht der Sonne schien ihr Körper zu schimmern. Sie trug eine dunkle, enganliegende Jeans und ein helles, weites Shirt. Ihre langen Haare waren schwarz wie Krähenfedern und sie hielt einen Bogen in der Hand, wie ihn hunnische Reiter einstmals trugen.
»Mach was ich dir geraten habe, oder lass es. Dann wirst du es herausfinden.« Sie drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
Er sah ihr nach, wie sie einen Steinwurf entfernt, eine kleine Lichtung überquerte und wieder im Wald verschwand, während im Schatten ihrer Füße das Laub hochwirbelte. Und für einen Moment hatte Kyle das Gefühl, sich in einer anderen Zeit wiedergefunden zu haben.
Er überlegte einen Augenblick, war sich nicht sicher, was er tun und wie er reagieren sollte. Warum auch immer er vor jemand davonlaufen sollte, der angeblich hinter ihm her war. Der Typ konnte ihn nur verwechseln.
Andererseits, sagte er sich, wenn ihn jemand in diesen Wäldern irrtümlich erschoss, würde es auch niemand kümmern. Den Killer am allerwenigsten.

Myra Baranova huschte durch den Wald, lautlos wie ein Geist, und folgte der Tara flussaufwärts, bis sie
Stefan Kovacic wieder fand. Er kauerte hinter einem Felsen und beobachtete das Ufer, wo Kyle Barber in den Wald gegangen war. Sein Westernhut blitzte kurz zwischen den Bäumen auf, um gleich darauf in ihren Schatten zu verschwinden.
Sie fragte sich, was wohl ihr Vater in ihrer Situation getan hätte. Wäre er ebenso wie sie dem Unbekannten zu Hilfe geeilt, ohne zu wissen, wer er wirklich war. Hätte er die beiden nicht eine Weile länger beobachtet, um herauszubekommen, wer hinter wem her war, und vor allem warum.
Menschen sind, was sie tun. Nicht was sie sagen, nicht was sie denken, nicht was sie zu sein vorgeben.
Das waren seine Worte und danach beurteilte sie ihre Mitmenschen. Obwohl sie sich im Klaren war, dass sie die beiden viel zu kurz beobachtet hatte, um sich ein Urteil zu bilden. Und für einen Moment war sein Gesicht vor ihren Augen, sein fröhliches Lachen, mit dem er die Welt sah, und sein Ernst, mit dem er jedem Problem begegnete, es aufschlüsselte und eine Lösung dafür fand.
Sie war vor allem ihrem Bauchgefühl gefolgt, weil sie erst dachte, der Jäger vor ihr beobachtete eine Frau, und sie fragte sich, ob sie nicht einfach verschwinden und die beiden Männer ihrem Schicksal überlassen sollte, wie auch immer das ausfallen würde. Wenn sie jetzt ging, ohne sich umzudrehen, würde sie es ohnehin nie erfahren.
Sie presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und blickte in die Baumwipfel über ihr, beobachtete dort einen Vogel, der von Baum zu Baum flog und wusste, dass dies keine Option für sie war.
Der Jäger vor ihr erhob sich, reckte den Hals und folgte dem Mann. Ohne weiter nachzudenken, lief Myra zu der Stelle zurück, an der sie auf den Unbekannten getroffen war. Sie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, trat ein paar Steine los und stapfte mit schweren Schritten den Berg hinauf, bis sie auf einen schmalen Pfad traf. Dort ging sie nach links, wieder zurück und dann nach rechts. Verwischte ihre eigenen Spuren, als ob sie uneins wäre, wohin sie gehen sollte. Danach sprang sie in den Wald und verschwand im dichten Unterholz. Sie hoffte, dass sie den Jäger auf sich aufmerksam gemacht hatte, er ihr bis zum Pfad folgen und dann die eine oder andere Richtung einschlagen würde. Bis er merkte, dass er falsch lag, wäre sie längst weiter der Tara flussaufwärts gefolgt in Richtung Norden und in Sicherheit.
Sie lief zu der Stelle, an die sie den Unbekannten geschickt hatte, und verharrte ein Stück oberhalb, um ihn zu beobachten. Die Gräser am Ufer des Flusses neigten sich im leichten Wind, der den Fluss entlangstrich. Er trug den trägen, warmen Geruch von Kiefernnadeln und warmer Walderde mit sich. Der Schweiß lief ihr über den Rücken, ein Gefühl wie krabbelnde Ameisen unter dem Shirt, das sich in der Brise blähte. In einer unbewussten Geste wischte sie ihre Haare nach hinten.

Kyle Barber trat aus dem Wald, schaute den Fluss entlang, ließ seine Blicke über die Ufer schweifen und schien zu lauschen. Zögernd setzte er sich auf einen Felsen und legte seinen Bogen daneben. Myra lächelte angesichts der Tatsache, dass auch er mit einem Bogen unterwegs war. Er musste seine Sachen zuvor im Wald zurückgelassen haben, hatte vermutlich in der Nähe sein Lager.
Zumindest hat er sich meine Anweisungen gemerkt und den Platz gefunden, dachte sie, und rief leise. »Hey!« Dann trat sie mit einem halben Schritt aus den Schatten der Bäume.
Kyle warf einen Blick über die Schulter in ihre Richtung, zeigte ein unbekümmertes Lächeln und nickte ihr zu.
»Ich komme!«
Er drehte sich nach rechts, tastete nach dem Bogen, und seine Hand erstarrte in der Bewegung.
Ein Paar unheimlicher Augen war genau auf seine Finger gerichtet. Schwarze, stecknadelkopfgroße Pupillen unter schläfrig wirkenden, schweren Augenlidern. Glänzend wie zwei Tropfen getrocknetes, schwarzes Blut. Erschrocken sprang Kyle hoch, verhakte sich mit dem Fuß unter dem Felsen und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Zischend entwich die Luft aus seinem Mund.
Eine Schlange lag auf dem Stein neben ihm.
Sie zuckte nervös mit dem Schwanz und ließ ihre schmale, gespaltene Zunge vorschnellen. Den starren Blick auf den bewegungslosen Kyle geheftet, richtete sie sich auf.
Ihr Oberkörper schwankte wie junges Schilf im leichten Septemberwind. Sie zuckte blitzschnell nach vor, ohne allerdings zuzubeißen, stieß ein wütendes Zischen aus und nahm wieder ihre aufrechte, drohende Haltung ein.
»Da ist eine Schlange!«, flüsterte Kyle, dem alles Blut aus den Wangen gewichen war.
Er wagte nicht laut zu rufen, aus Angst das Tier noch mehr zu erzürnen.
»Hey! Kommst du?« rief Myra, hob einen Arm und winkte ihm zu. »Ich weiß nicht, wie weit ich den Jäger ablenken konnte, oder ob er mir trotzdem gefolgt ist.«
»Da ist eine Schlange!«, wiederholte Kyle wispernd, unfähig lauter zu sprechen, und starrte auf das gelb-braune Tier, mit dem gezackten Muster am Rücken, das unmerklich nähergekommen war. Böse züngelnd, immer wieder ihre gegabelte Zunge aus dem leicht geöffneten Maul schnellend, um den Geruch der Angst, der von Kyle ausging, aufzunehmen. Ihr Schwanz peitschte nervös. Ihr Kopf wiegte sich hin und her, als ob sie unschlüssig wäre, ob sie zuerst in seine Hand oder den Arm beißen sollte.
Kyle sah ihr in die Augen und stand eine nie gekannte Todesangst aus, während sich Sekunden zu Minuten dehnen zu schienen. Er fühlte sich wie gelähmt und zerrte so unauffällig wie möglich an seinem Fuß, um ihn zu befreien. Das Tier war aus irgendeinem Grund aggressiv und gereizt. Immer wieder ließ es den breiten, dreieckigen Kopf, auf dessen Nase ein kleines Horn saß, nach vorschnellen, öffnete das Maul und zeigte Kyle ihre spitzen Zähne, an der winzige bernsteinfarbene Tropfen zu hängen schienen.
Kyle konnte schon spüren, wie das Gift heiß durch seine Adern floss.
Als Kind war er einmal auf eine Schlange getreten und von ihr gebissen worden. Das Chaos hatte sich tief in sein Bewusstsein gegraben. Die Angst der Eltern, die rasende Fahrt ins nächste Krankenhaus, die unzähligen Spritzen, das schwarze geschwollene Bein und die Schmerzen danach.
»Nicht bewegen. Um der Götter willen, bewege dich nicht«, flüsterte Myra, die näher gekommen war, als ihr Kyles seltsame Haltung aufgefallen war.
»Sie ist genauso erschrocken wie du. Ich versuche sie abzulenken, aber wir dürfen sich nicht noch mehr bedrängen.«
Die Schlange war eine Sandviper, einen knappen Meter lang, gelb-braun und aggressiv, konnte sie jeden Moment zustoßen und ihr tödliches Gift in den Körper des Mannes jagen. Sie brauchte dazu keinen besonderen Grund. Diese Sandviper war mehr als nur angriffslustig.
Sie war böse. Sehr böse.
Ohne sich allzu schnell zu bewegen, glitt Myra geschmeidig näher, begleitet von den misstrauischen Augen der Schlange, die sie aus ihren Augenwinkeln taxierte.
»Geh ganz langsam zurück, aber mach bloß keine schnelle Bewegung.«
»Ich kann nicht. Mein Fuß hat sich unter dem Felsen verklemmt«, presste Kyle zwischen den Zähnen hervor. Er atmete flach und schwer. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß, wie mit Öl eingerieben.
»Streck deine Hände zurück, aber nimm sie nicht hoch. Sie würde das als Angriff auffassen.« Wie in Zeitlupe hob Myra den Bogen, schob ihn näher an die Schlange heran, ihre Bewegung war reinste Konzentration. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. So weit weg von der nächsten Stadt, würde das den sicheren Tod für den Mann vor ihr bedeuten.
Zornig, mit glitzernden Augen, zuckte die Schlange mit ihrem Kopf hin und her, schien sich nicht zwischen den beiden Zielen entscheiden zu können und stieß dann, irritiert durch die neue Gefahr für sie, mit weit aufgerissenem Maul nach vor.
Instinktiv ließ sich Kyle nach hinten fallen und stürzte zu Boden. Zu langsam für die Schnelligkeit der Sandviper. Die Schlange bohrte die Zähne in seine Hose und jagte einen Teil ihres Giftes in den Jeansstoff. Dann schnellte sie blitzartig herum, um sich dem anderen Angreifer zu stellen, aber Myra war schneller.
Sie erwischte das Tier mit dem Bogen genau hinter dem Nacken und drückte seinen Kopf auf den Stein. Ohne zu überlegen, stieß sie mit der anderen Hand nach und packte die Schlange, die sich sofort wütend und mit erstaunlicher Kraft um ihren Unterarm wand. Erschrocken hätte Myra das Tier beinahe losgelassen. Nur Kyle, die bestürzt aufschrie, ließ sie noch fester zupacken.
»Ich hab sie, ich hab sie«, stammelte sie, und hielt die Schlange, die sich mit weit geöffnetem Maul, böse fauchend wand und wild um sich starrte, weit von sich.
»Vorsicht!« keuchte Kyle. Sein Blick hing, wie festgefroren an dem kleinen feuchten Fleck, wo die Schlange ihre Zähne in die Falten der Jeans gegraben hatte. »Lass sie bloß nicht los.«
Seine Mundwinkel zitterten unkontrolliert.
Mit einer schwungvollen Armbewegung schleuderte Myra das Tier weit von sich und sah ihm nach, wie es sekundenlang durch die Luft wirbelte, gelbbraun glänzend, den unabdingbaren Tod im Körper, im feinen Kies des Ufers der Tara landete und sofort zwischen ein paar Steinen verschwand.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie und warf einen Blick auf die dunkle Stelle unter Kyles Knie.
»Ja«, nickte er. »Ja. Sie hat mich nicht erwischt. Hat nur ein kleines Andenken auf meiner Hose gelassen.«
Mit fliegenden Fingern wischte er über das Knie, rappelte sich hoch und stieß erleichtert die Luft aus.
»Du hast mir das Leben gerettet. Danke dafür.« Er lächelte zaghaft. »Ich bin übrigens Kyle. Kyle Barber.«
»Okay, Kyle Barber. Nett dich kennenzulernen. Ich bin Myra. Besser wir verschwinden von hier. Ich habe übrigens einen Hasen in einem Erdofen. Er müsste in der Zwischenzeit durchgebraten sein.«

* * *​

Die sengende Sonne stand blendend weiß am Himmel und brannte das letzte Grün aus den Gräsern der Lichtung, über die ein heißer Wind fuhr. Die vier Männer, die im Schatten der Bäume zwischen zwei schwarzen Limousinen herumlungerten, spielten gelangweilt mit ihren Gewehren, fummelten am Abzug, schauten durch ihr Zielfernrohr und drehten an Rädchen. Sie waren bekleidet mit braungefleckten Hosen, schweren Stiefeln, die über die Knöchel reichten und jagdgrünen Hemden, unter ihren Achseln und im Rücken zeichneten sich handtellergroße Schweißflecken ab. Jeremy Gordon setzte sich neben einen Wagen, das schmale Gesicht ausdruckslos unter der Sonnenbrille, lehnte sich dagegen und starrte in die Wipfel der Bäume über ihm. Er lauschte dem unermüdlichen Schnarren der Zikaden, öffnete den Mund wie ein Fisch im Trockenen und tastete nach einer Flasche Wasser, die neben ihm stand.
Arno Daniels trat hinaus ins Sonnenlicht und beschattete seine Augen mit der Hand vor dem grellen Licht. Die Zeit tropfte dahin, unendlich langsam, und er konnte es nicht mehr erwarten, endlich loszuziehen.
»Es wird Zeit! Lasst uns gehen, ihr Vorsprung ist groß genug.«
»Die sind noch nicht einmal einen Kilometer weit gekommen. Die Apathische hält die Wütende doch nur auf. Sie wird sie aber nicht allein lassen. Das lässt ihr Pflichtgefühl nicht zu.« Reinhard Frost schaute zu Jeremy und schüttelte den Kopf. »Wenn du jetzt alles austrinkst, bleibt dir später nichts mehr, und du wirst es brauchen. Geh sparsam damit um.«
»Ist schon okay. So lange wird die Scheiße wohl nicht dauern.« Jeremy setzte die Flasche an, trank sie zur Hälfte leer und wischte sich über den Mund. »Wir hätten sie einzeln loslaufen lassen sollen.«
»Und die Apathische vor der Tür erschießen. Die wäre keine zehn Schritte weggegangen. Die hättest du erledigen müssen, wie einen räudigen Hund«, blaffte Heimo Börnstein, und zielte mit dem Gewehr in die Bäume, als hätte er dort einen unsichtbaren Feind entdeckt, den es herunterzuschießen galt. »Ihr könnt einem aber auch jeden Spaß verderben.«
Eine halbe Stunde später luden sie mit der Gelassenheit von Waidmännern, die gerade aus der Deckung getreten waren und auf einen Schwarm Enten anlegten, ihre Waffen und machten sie sich auf den Weg. Heimo und Reinhard mit geschulterten Gewehren, Jeremy trug seines am Riemen auf dem Rücken, Arno tänzelte nervös daneben her, schwenkte den Lauf von links nach rechts und reagierte auf jedes Geräusch.
»Erschieß bloß keinen von uns«, murrte Reinhard und schüttelte den Kopf. Ein scharfer Wind wirbelte verwelkte Blätter vor ihren Füßen über den Weg, bog die dünnen Gräser unter den Büschen, und strich wie eine heiße, fordernde Hand über ihre Gesichter.
Heimo blinzelte den Staub aus den Augen, den der Wind mitbrachte, und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Peilsender in seiner Hand, der schwach in eine Richtung ausschlug.
»Sie sind nach Südosten, in Richtung Fluss, als ob sie wüssten, dass er dort zu finden ist.«
»Das ist der Instinkt verfolgter Tiere. Die mit den langen Haaren ist nicht nur wütend, sie ist auch clever. Das gefällt mir«, grinste Reinhard. »Gut möglich, dass die Jagd heute spannender wird, als das letzte Mal.«
»Das wollen wir doch hoffen«, erwiderte Heimo, und sah auf. Ein böses Leuchten blitzte in seinen Augen auf. Sie gingen ohne Hast, folgten dem schmalen Weg, den die Mädchen auch gelaufen waren, und fragten sich, wann sie wohl eine Abzweigung finden, oder querfeldein laufen würden, um ihre Verfolger abzuhängen.
Sie achteten nicht auf Spuren, nicht auf Verstecke, umgestürzte Bäume oder Felsen, hinter denen Katja und Vanessa sitzen könnten, waren nicht auf der Jagd. Es war zu diesem Zeitpunkt mehr ein Fußmarsch, die Art und Weise, wie sie durch den Wald stapften. Jeremy überkam das deprimierende Gefühl von Verlassenheit, und es war sogar intensiver, als er es je in seinem Leben empfunden hatte.
»Vielleicht läuft uns auch ein Reh oder ein Hirsch über den Weg, den wir schießen könnten«, wandte er sich mit ausdrucksloser Miene an Arno, den Blick nach innen gekehrt und teilnahmslos auf ein Ziel gerichtet, das weder Freude noch Schmerz für ihn bereithielt, aber Arno sah ihn nur verständnislos an.
»Das einzige Wild, das mich interessiert, sind die beiden Gören«, antwortete er barsch. »Fühlt es sich für dich an, wie ein Spaziergang im Wald, ein Wandern mit Freunden, als wären wir auf einem Ausflug zu einem verabredeten Treffpunkt für ein Picknick?« Er schnaubte und schüttelte den Kopf, erwartete auch keine Antwort von Jeremy. Das Wild, auf das sein Fokus gerichtet war, waren die beiden jungen Frauen. Die wollte er jagen und töten.
Nichts sonst.

Katja lief.
Setzte einen Fuß vor den anderen und lief.
Mehr ein holpriges Stolpern, ein Vorwärtstaumeln, als müsste sie die letzten Meter eines langen Laufes bis zum Ziel hinter sich bringen. Der Schweiß brannte in ihren Augen, zwischen den Beinen, auf ihrem wundgescheuerten Rücken. Die Hitze fühlte sich an, als habe jemand eine Ofentür aufgemacht und blies ihnen nun die Luft entgegen, um sie aufzuhalten und ihnen die Flucht so schwer wie möglich zu machen.
Sie hatte den Mund fest zusammengepresst, die Lippen waren blutleer, die stickige Schwüle des Waldes nahm ihr den Atem. Aber sie lief. Ohne zu fragen, ohne zu weinen, ohne zu zweifeln.
Die Angst trieb sie vorwärts.
Die Angst und Vanessa.
Drei Schritte vor ihr sah sie immer wieder über die Schulter zurück und peitschte sie vorwärts.
»Wir werden das überleben. Wir werden Hilfe finden, werden die Scheiße überleben und die anderen herausholen. Hast du gehört? Wir holen sie heraus!«
Katja schluckte trocken. Ihr Bauch krampfte sich bei dem Gedanken an die Männer zusammen, die hinter ihr her waren. Das Herz raste, Tränen schossen ihr in die Augen, und sie geriet einmal mehr ins Stolpern, konnte sich eben noch abfangen, ruderte mit den Armen, wie ein verzweifelter Nichtschwimmer, der am Untergehen war, und fand wieder in ihren Tritt. Aber nach drei weiteren Kilometern war dann endgültig Schluss.
»Ich kann nicht mehr«, rief sie keuchend und nach Luft japsend, hielt sich die Seiten. »Ich kann nicht mehr weiter, Vanessa. Ich bin am Ende.« Sie beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Knie.
»Du musst durchhalten. Noch ein paar Meter. Es kann nicht mehr weit sein. Früher oder später kreuzen wir einen Weg, treffen auf eine Straße, oder finden den Fluss. Dort sind Menschen, dort ist Hilfe. Bitte halt durch!«
Vanessa kam zurück, legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie. Der Schweiß lief Katja über die Stirn, das Salz brannte in den Augen und brachte sie zum Tränen, aber sie nickte tapfer.
»Gib mir eine Minute. Nur eine Minute Pause, dann schaffe ich das.« Sie stand auf und lehnte sich an den rauen Stamm einer hohen Birke. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, nur weit im Westen schoben sich ein paar Cumuluswolken über den Horizont. Ihre Beine zitterten unkontrolliert, ihre Lungen pumpten nach Luft.
Unmöglich, dass ihre Peiniger dasselbe Tempo liefen. Die waren bekleidet mit schweren Stiefeln, trugen Gewehre und Rucksäcke, und mussten ihren Spuren folgen.
Katja sah auf. In ihrem Gesicht zeichnete sich die Erschöpfung ab, und an Vanessas erschrockenen Blick konnte sie ihren Zustand ablesen.
»Wir brauchen Wasser«, sagte sie. »Ich brauche Wasser. Ich halte nicht mehr lange durch, dann musst du allein weiterlaufen.«
»Wir werden Wasser finden. Entweder den Fluss oder einen Bach. Wir finden sicher welches, und ich lasse dich nicht allein.«
Katja sah Vanessa an, und versuchte ihr Keuchen in den Griff zu bekommen. »Wir müssen die Richtung wechseln, lange Haken schlagen, eine falsche Fährte legen, was weiß ich. Wir müssen es ihnen so schwer, wie möglich machen, und wenn ich es nicht schaffe, musst du allein weiterlaufen. Versprich es mir! Wenn ich es nicht schaffe, verstecke ich mich, und du musst Hilfe besorgen.« Sie holte tief Atem und ließ die Luft nur langsam aus ihren Lungen.
»Nicoletta und Susanna sind noch dort drinnen. Wir sind ihre einzige Hoffnung.«
»Komm!«, antwortete Vanessa und zerrte sie weiter. In ihrem Blick lag wilde Entschlossenheit. »Es geht weiter. Beweg dich, los jetzt!«
Sie liefen einen kräfteschonenden Trab, bahnten sich den Weg durch den Wald und Katja konnte ihre Schritte hören, die im dumpfen Tremolo über den Waldboden hämmerten, weiter und immer weiter der Freiheit entgegen. Mit jedem Schritt, der sie weiter von den Männern wegbrachte, wurde sie erschöpfter, die Muskeln schwerer, aber auch das Herz leichter.
Plötzlich öffnete sich vor ihnen der Wald und sie brachen durch das Unterholz. Unter ihnen tat sich ein Abgrund auf. Zu schnell und auch zu überrascht, um anzuhalten, stürzten sie einen steilen Hang hinunter, überschlugen sich, versuchten sich an langen Gräsern und dürren Sträuchern festzuhalten, die Gesicht und Hände zerkratzten, stießen an scharfkantige Felsen, die ihre Haut aufrissen, und fielen ins eiskalte Wasser der Tara, die sie sofort mitriss und untertauchte.
Sie hatten den Fluss gefunden.

Plötzlich blieb Heimo stehen, in seiner Miene zeichnete sich Verwirrung ab. Er drehte sich im Kreis, ging zwei Schritte weiter, einen zur Seite, drei zurück und blieb wieder stehen.
»Verdammt!«, murmelte er. »Was soll die Scheiße?« Er schüttelte den Peilsender, klopfte mit der Faust, die ihn hielt, auf den Schenkel, und starrte wieder darauf.
»Hey Leute, wartet mal!«
»Was ist?«, rief Arno ungehalten über die Schulter und drehte sich um.
»Ich weiß nicht?« Heimos Gesicht wirkte bedrückt. Er umklammerte den Peilsender und hielt ihn in die Höhe, ohne den Blick davon zu lassen. »Ich habe das Signal verloren.«

* * *​

Die Tara warf glitzernde Lichtpunkte über das felsige Nordufer, dort, wo sie aus der Biegung herausschoss, um sich gleich darauf in dem breiten Flussbett vor ihr träge durch das mäandernde Tal zu wälzen, an deren schmalen Uferstreifen aus weißem Kies Myra Baranova saß. Sie war am späten Vormittag in dieses versteckte Tal gekommen, keine fünf Steinwürfe lang, an deren sanfter Uferböschung uralte Weiden wuchsen und riesige blaugrüne Libellen in den Gräsern nach Mücken und anderen Insekten jagten. Das türkis-klare Wasser war eiskalt und wimmelte von Fischen. Die Strömung zwar immer noch stark, aber berechenbar. Sie war bis zu den Oberschenkeln ins Wasser gewatet, hatte ein paar Forellen unter die Felsen im Wasser getrieben und dort mit bloßer Hand herausgeholt.
Jetzt nahm sie die Fische aus und spießte sie durch die Kiemen auf eine Weidenrute. Ihr Abendessen, zusammen mit den Wurzeln von Wasserlilien, die sie am Morgen ausgegraben hatte. Der Fluss lag friedlich vor ihr. Sie beobachtete eine Wasseramsel, die am anderen Ufer jagte. Blitzschnell tauchte der kleine Vogel in die kalten Fluten und kam gleich darauf mit seiner Beute im Schnabel wieder hoch.
Myra lächelte, froh diesen friedlichen Platz an der Tara gefunden zu haben, der still vor ihr lag. Nur der Fluss und das Zirpen der Zikaden waren zu hören. Sogar die Vögel in den Bäumen ringsum waren in der Mittagshitze verstummt.
Sie hatte gestern mit dem stillen Wanderer, den sie vor dem Jäger gewarnt hatte, ihren Hasen zum Abendessen geteilt. Danach war er weitergewandert, im Mondlicht im Wald verschwunden, um sich einen eigenen Lagerplatz zu suchen. Myra hätte noch gerne ein wenig Zeit mit ihm verbracht, er hatte ein unbekümmertes Lachen. Aber als die Nacht anbrach, hatten sie beide gewusst, dass es einfacher für sie beide sein würde, wenn sie sich trennten.
In Gedanken verloren hob sie den Kopf und schaute hoch zu der Höhle, die sie an diesem Morgen gefunden hatte. Sie war nicht tief, zwei Dutzend Schritte den Berg hinein, aber hinter Sträuchern versteckt, bot sie Schutz vor Unwetter, war schattig und kühl, und bildete für sie ein ideales Quartier.
Mit der Höhle oben und dem Platz hier unten, dachte Myra, könnte ich vielleicht ein paar Tage bleiben. Sie hatte keine Anzeichen dafür gefunden, dass jemand anderer vor ihr die Höhle genutzt hätte.
Eine warme Brise strich den Fluss entlang und wehte ihr die Haare ins Gesicht. Sie beugte sich nach vorne, wischte mit dem Handrücken die Strähne aus der Stirn. Dann erhob sie sich und ging zum Wasser. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und sah aus wie eine weiße Flamme, die im Fluss vor ihr gefangen war.
Myra kniete sich hin, wusch das Blut der Fische vom Messer, legte es zur Seite und grub nach feuchtem Sand, um ihre Hände damit sauber zu schrubben. Sie spülte im kalten Wasser den Sand von den Händen, wandte sich um und wollte gerade gehen, als ein Geräusch vom Fluss sie innehalten ließ. Das Rauschen der Tara am Eingang des Tales hatte sich kurzfristig geändert, als ob etwas auf die Wasseroberfläche geklatscht wäre. Eine kleine Änderung im monotonen Lied der Wellen, die sie instinktiv aufhorchen und den Kopf drehen ließ.
Über der weiß schäumenden Welle, die das flacher werdende Flussbett markierte, tauchte eine Hand auf, kaum erkennbar im Glitzern der brennenden Sonne, verschwand aber sofort wieder. Myra erstarrte, in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Ruhe bewahren, hatte sie ihr Vater gelehrt. Nachdenken. Deine Möglichkeiten abwägen.
Du hilfst niemand, wenn du ins Wasser springst, dich in Lebensgefahr begibst und am Ende selbst gerettet werden musst.
Schnell warf sie einen Blick ans Ende des Tales, überschlug ihre Chancen und rannte los. Den Kiesstrand entlang. Dabei versuchte sie, den Punkt, an dem sie den treibenden Körper vermutete, nicht aus den Augen zu lassen. Sie musste einen Vorsprung herausholen, bevor sie ins Wasser sprang, und hoffte inständig, dass es nicht zu spät war. Für einen Moment tauchte ein Haarschopf auf, ein Arm folgte, und Myra lief mit weiten Schritten ins Wasser und sprang.
Die Strömung riss sie sofort mit sich und sie kraulte los. Mit ein paar Schlägen hatte sie ihr Ziel erreicht, packte einen Arm, schwamm mit kräftigen Zügen zurück und zerrte die Frau ans Ufer, die wild um sich schlug, nach Luft schnappte, und sofort wieder in den Fluss wollte.
»Bleib stehen!«, schrie Myra, duckte sich unter den schwingenden Armen der Frau durch und stieß sie die Böschung hinauf. »Du bist hier sicher. Geh zu den Bäumen!«
»Katja!«, keuchte die Frau, und wandte sich wieder dem Fluss zu.
»Bleib!«, herrschte Myra sie an, drehte sich herum und suchte mit fliegenden Blicken die Wasseroberfläche ab. Beinahe hätte sie die zweite Frau übersehen, die gegen die Strömung ankämpfte und tapfer schwamm. Sie tauchte immer wieder unter, kam hoch und tauchte wieder weg. Vermutlich, um nach der Frau zu suchen, die Myra gerettet hatte.
»Sie wird das nicht mehr lange durchhalten«, rief sie. »Und du bleibst hier! Ich möchte dich nicht noch einmal herausziehen.« Dann lief sie das letzte Stück des Kiesstrands entlang, um sie noch vor der Biegung herauszuholen. Dort verengte sich das Flussbett, unmöglich dort an Land zu kommen.
»Hierher! Komm ans linke Ufer. Hier ist die Strömung leichter.« Winkend lief sie ins Wasser, stemmte sich gegen die Strömung und machte sich bereit, auf ein Neues zu schwimmen, als die Frau sie bemerkte.
Verzweifelt kämpfte sie sich in Myras Richtung, am Ende ihrer Kräfte, und Myra watete ihr entgegen, bis ihr der Fluss die Beine wegzog. Sie wurde mitgerissen, packte im letzten Moment den ausgestreckten Arm und half ihr den Kopf über Wasser zu halten. Sie wurden um einen Felsen getrieben, unter die überhängenden Äste einer Weide, in ruhigeres Gewässer, das tief im Schatten lag, stemmten sich gegen die Kraft des Wassers und schafften es endlich ans rettende Ufer. Myra spürte den mit Kieselsteinen übersäten Boden unter ihren Füßen und zog die Frau aus der Strömung.
Völlig erschöpft sanken die beiden in den Kies.
»Katja«, schluchzte die blonde Frau mit den langen Haaren, die Myra zuerst gerettet hatte, und kniete sich in die Steine. Sie umarmte die andere, hielt sie fest und legte den Kopf an den ihren. »Ich dachte, du bist vor mir. Ich habe dich nicht gefunden.«
»Ich konnte mich an einen Felsen klammern und hab dich vorbeischwimmen sehen. Deswegen habe ich losgelassen und bin dir hinterher, um dir zu helfen. Du hast mich nicht rufen hören.«
Hustend und zitternd hielten sie einander fest, der Blick verschwommen, die Mienen grenzenlos erleichtert.
»Ihr seid in Sicherheit«, versuchte Myra sie zu beruhigen, und legte ihnen die Hände auf die Schultern. »Ist noch jemand im Wasser, oder seid ihr allein? Wo ist euer Boot? Ich habe nichts dergleichen vorbeischwimmen sehen.« Sie schaute von einer zur anderen. »Oder seid ihr beim Schwimmen abgetrieben worden?«
»Wir sind nicht allein«, stammelte Vanessa Harrer und starrte ihre Freundin an. »Da sind noch zwei, die wir herausholen müssen.«
»Nicoletta und Susanna«, krächzte Katja Teichmann mit klappernden Zähnen und sah wild um sich.
Sofort ließ Myra ihre Blicke über den Fluss huschen, konnte aber keine Anzeichen eines Menschen im Wasser erkennen.
»Sind sie vor euch oder hinter euch. Sind sie weiter oben, oder vielleicht schon aus dem Wasser?«
»Nein ... Nein«, antwortete Katja. »Sie sind nicht im Wasser. Sie sind noch im Keller.« Ihr Mund stand weit offen, ihr Gesicht zitterte vor Angst und Kälte.
Verwirrt sah Myra sie an, und hielt ihre Hände fest, die sich die Arme reiben wollte, um die Kälte zu vertreiben.
»Nicht reiben. Das bringt dein kaltes Blut in die inneren Organe und du frierst noch länger. Zieht die Shirts und Hosen aus, legt euch auf die Steine und breitet die Arme aus. Die Sonne und die Steine werden euch wärmen.« Ungläubig sahen die beiden sie an.
»Vertraut mir.« Sie streifte ihr nasses Shirt ab und zog die Hosen aus. Von Westen wehte ein heftiger Wind und ihre Haut fühlte sich taub an, gefühllos, durch das eisige Wasser, in dem sie geschwommen war, aber in der Mittagshitze würde sie nicht lange frieren. Dabei versuchte sie, die Bedeutung zu verstehen, was Vanessa gemeint haben mochte, als sie sagte, die anderen wären noch im Keller.
Zaghaft zerrten die beiden an ihrer nassen Kleidung, entledigten sich derer und legten sich auf die Steine. Sie sahen sich an, und Myra konnte die Angst und das Entsetzen in ihren Augen sehen.
Das kommt nicht vom Beinahe-Ertrinken, dachte sie. Da steckt etwas anderes dahinter.
»Besser?«, fragte sie und spürte, wie die Sonne die letzte Kälte aus ihrem Körper zog. Allmählich lief ihr wieder der Schweiß über den Rücken und die Hitze brannte auf der Haut.
»Ja. Besser«, nickten sie dankbar und sahen hoch. Ließen ihre Augen misstrauisch über das Tal schweifen.
»Da oben gibt es eine Höhle«, sagte Myra und blickte hinauf zu den Bäumen. Sie griff nach ihrem Shirt und der nassen Hose und wrang sie aus. »Sie ist ziemlich versteckt. Dort bringe ich euch hinauf, und ihr erklärt mir, was es mit Nicoletta und Susanna auf sich hat.«

»Ich habe das Signal verloren«, wiederholte Heimo irritiert.
»Was heißt das, du hast das Signal verloren?«
»Das heißt, dass das Signal weg ist. Ich habe sie verloren.«
»Das kann nicht sein. Hast du den Sender nicht richtig eingeklebt? Haben sie ihn gefunden und zerstört, oder ist der Akku leer? Hast du ihn neu geladen?«
»Nein, verdammt! Ja! Die Akkus waren voll, das habe ich gestern Abend überprüft. Und der Kleber hält. Ist nicht das erste Mal, dass ich einen Sender in die Schuhsohlen einklebe. Sie können ihn auch nicht zerstört haben. Dazu müssten sie ihn erst herausschneiden.« Heimo Börnstein schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie können ihn nicht gefunden haben. So clever sind die nicht. Sie sind entweder in den Fluss oder einen Schacht gefallen. Vielleicht in einen Brunnen- oder Bergwerksschacht. Gibt es so etwas in der Gegend?«
»Hast du vergessen auszuschalten und er war die ganze Nacht an?«, brauste Arno Daniels auf und fuhr herum.
»Nein! Scheiße, nimm das Gewehr weg und richte das Ding gefälligst in eine andere Richtung. Ich will nicht von dir erschossen werden, weil du einen nervösen Zeigefinger hast. Ich habe den Peilsender heute Morgen gecheckt und eingeschaltet, als wir die Mädchen heraufgeholt haben. Sie müssen den Sender gefunden und zerstört haben.«
»Nein, das glaube ich nicht. Wieso sollten sie ihn finden? Sie können nicht wissen, dass sie einen Sender tragen«, sagte Reinhard Frost, blieb stehen und schaute hinauf in die Wipfel der Bäume. Irgendwo dort oben saß ein Eichelhäher und schimpfte aus sicherer Entfernung auf sie hinab.
»Könnten sie irgendwo hinuntergesprungen und beim Aufprall den Sender zerstört haben?«
»Dann müsste die Apathische selten dämlich auf einen spitzen Stein gesprungen sein und sich zumindest den Fuß dabei gebrochen oder verstaucht haben.« Heimo schüttelte abfällig den Kopf. »Den kleinen Sender im Sportschuh zerstört man nicht so einfach.«
»Vielleicht sind sie auch in den Fluss gefallen und der Kleber hat sich gelöst. Diese Kleber sind längst nicht mehr das, was sie einmal waren.« Jeremy Gordon zuckte mit der Schulter. Insgeheim froh, weil die Mädchen dadurch eine Chance bekommen hatten, zu entkommen.
»Das wäre eine Erklärung. Damit hätten sie uns zwar den Spaß verdorben, aber zumindest kommen sie nicht durch. Hier oben ist der Fluss zu wild und die Strömung zu stark, um lebend wieder herauszukommen.« Heimo runzelte die Augenbrauen und schaute zu Reinhard. »Es sei denn, sie haben es bis zu diesem kleinen Tal weiter südlich geschafft. Dort wird die Tara ruhiger und sie könnten ans Ufer gespült worden sein.«
Reinhard drehte langsam den Kopf herum, sein Mund geöffnet, die Miene nachdenklich.
»Du hast recht«, meinte er. »Ich weiß, welches Tal du meinst.« Er wandte sich um und ging in den Wald.
Zielstrebig.
Arno folgte ihm, ohne weiter zu fragen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine wiedergewonnene Zufriedenheit. Zwei Kilometer weiter hatten sie die Stelle gefunden, die Vanessa und Katja zum Verhängnis geworden war.
»Hier sind Spuren, sie sind offenbar die Böschung hinuntergerutscht und in den Fluss, wie du gesagt hast. Entweder gefallen, weil sie nicht aufgepasst haben, oder gesprungen.«
»Er ist an dieser Stelle zu tief und zu schnell, um gefahrlos auf die andere Seite zu schwimmen. Wenn sie in den Fluss gefallen oder gesprungen sind, finden wir sie frühestens zwei, drei Kilometer weiter unten.«
»Falls sie nicht irgendwo hängen geblieben, oder angeschwemmt worden sind.«
»Los kommt, wir müssen uns vergewissern. Sie dürfen auf keinen Fall überleben.«

»Geht hinter mir und versucht die Sträucher nicht allzu sehr niederzutreten. Wir wollen möglichst nicht mehr Spuren hinterlassen als unbedingt nötig.« Myra wandte den Kopf und richtete den Blick auf die beiden Frauen hinter ihr, die immer wieder verängstigte Blicke über ihre Schultern warfen. Vor einer Felswand bog sie die Haselnusssträucher, die dicht an dicht wuchsen, zur Seite und zwängte sich dazwischen, als ob sie sich mit dem schiefergrauen Stein verbinden wollte. Katja und Vanessa folgten ihr und sahen sich plötzlich in einer halbdunklen Höhle stehen. Überrascht blickten sie um sich. Durch das dichte Blattwerk über der Höhle fiel nur wenig Licht herein. Es war, als hätte der Berg sie verschluckt.
Katja fröstelte.
»Angenehm kühl«, sagte Myra leichthin, ging ein paar Schritte in die Höhle und setzte sich auf eine Decke, die sie dort am Morgen ausgebreitet hatte. Sie legte die gefangenen Fische auf die Steine und kramte in ihrem Rucksack nach frischen Shirts und Hosen, die sie den Frauen reichte.
»Zieht euch die an, bis eure Sachen trocken sind. Sie passen vielleicht nicht richtig, aber besser als gar nichts.«
Ihre Gedanken gingen zu Kyle und dem Jäger, der Kyle beobachtet hatte, und sie fragte sich, ob die beiden mit der Geschichte zu tun hatten, die ihr die Frauen auf dem Weg hierher in groben Zügen erzählt hatten.
»Wir müssen Nicoletta und Susanna aus diesem Keller befreien«, wiederholte Vanessa, um die Dringlichkeit ihrer Sorge zu unterstreichen, und steckte mit fahrigen Bewegungen das Shirt, das ihr um zwei Nummern zu groß war, in die Hose.
»Ein Mädchen haben sie mitgenommen und freigelassen oder getötet, ich weiß nicht, was mit ihr ist. Sie ist ... sie ist nicht wiedergekommen«, stammelte Katja, und sank auf die Knie. Ihre Blicke huschten durch die Höhle, musterten die grauen Felswände, gingen hoch zur Decke, zum Eingang und blieben schließlich auf den Forellen hängen.
»Wir müssen Hilfe holen«, meinte sie kläglich.
»Wir sind hier drei Tage von der nächsten Stadt weg. Mindestens. Selbst wenn ich allein gehe, bin ich nicht schnell genug. Bis dahin sind sie tot. Außerdem kann ich euch nicht so lange allein lassen. Du sagst, es sind vier Männer, die euch gekidnappt haben?« Myra legte neben dem Höhleneingang ein paar Steine zu einem Kreis, schichtete Laub und Holzstücke für ein Feuer auf, und war froh, am Morgen alles vorbereitet zu haben.
»Ja. Sie werden Nicoletta und Susanna töten, wie sie uns töten wollten.« Interessiert sah Vanessa zu, wie Myra mit wenigen Handgriffen das Feuer entzündet hatte und ein Gestell für die Fische darüber stellte.
»Sie sind hinter uns her. Sie haben uns nicht freigelassen, sie wollten uns jagen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und erschauerte. Ihre Augen waren gebannt auf die Flammen gerichtet, die gierig an dem trockenen Holz hochzüngelten. »Sie werden auch nicht ruhen, bis sie uns eingefangen oder getötet haben.«
»Sie werden uns finden.«
»Ihr seid hier in Sicherheit«, versuchte Myra Katja zu beruhigen. »Auf der Tara kommen immer wieder Leute vorbei, zu Fuß, oder sie fahren mit dem Kanu flussabwärts. Wir müssen sie anhalten und mit ihrer Hilfe die Polizei verständigen.«
»Und wenn die Kerle uns vorher finden?«
»Das werden sie nicht, solange ihr in der Höhle bleibt.« Myra schaute ins Feuer, beobachtete die zarten Rauchfahnen, die sich in die Höhe schlängelten und im Wind zerstäubten, die aufplatzende Rinde, die kleine Glutpunkte über den Flammen tanzen ließ, und war sicher, dass niemand dort draußen ihr Feuer bemerken würde.
»Beschreibt mir die Männer so gut wie möglich, damit ich weiß, auf wen ich achten muss und nicht an die Falschen gerate. Ich möchte wissen, wer Freund oder Feind ist.«
Eine Stunde später wischte Myra sich die Finger mit den Blättern der Sträucher ab, die vor dem Eingang wuchsen, packte ihren Rucksack um, und schaute Vanessa fest in die Augen.
»Ich gehe zu dieser Hütte und hole eure Freundinnen. Ihr bleibt da. Geht auf keinen Fall aus der Höhle. Ich lasse euch meine Vorräte hier, damit kommt ihr die nächsten zwei Tage aus. Ganz hinten in der Höhle, sie ist nicht allzu tief, gibt es eine kleine Quelle, es ist mehr ein Rinnsal, aber dort könnt ihr die Wasserflasche füllen, und müsst nicht nach draußen.« Sie wandte sich an Katja, die sie mit ungläubigem Ausdruck in ihrer Miene anstarrte. »Keine Sorge, ich bin in spätestens zwei Tagen wieder zurück. Dann sehen wir weiter.«
»Aber wie sollen wir Hilfe holen, ohne die Höhle zu verlassen?«
»Das könnt ihr nicht. Die Kerle könnten euch entdecken und erschießen. Sobald ich zurück bin, mache ich mich auf den Weg, um Hilfe zu holen. Mich kennen sie nicht und werden mich laufen lassen.« Sie presste die Lippen zusammen und griff nach ihrem Bogen. »Ihr dürft auch kein Feuer machen.«
»Du weißt nicht, wo die Hütte ist. Wie willst du sie dann finden?«, warf Katja ein, und Vanessa nickte mutlos. Sie strich eine Strähne ihrer langen Haare zurück und nagte an ihrer Unterlippe.
»Da ist nur Wald, es gibt praktisch keine Wege. Das ist unmöglich.«
»Ich suche die Stelle, an der ihr ins Wasser gefallen seid«, erwiderte Myra. »Danach folge ich euren Spuren zurück. Sie haben euch mit einem normalen Wagen gebracht, hast du gesagt. So etwas wie ein SUV, aber kein Geländewagen und ihr seid nicht auf der Straße gefahren, also sind sie nicht allzu schnell unterwegs. Der Wald ist zu dieser Zeit trocken und ausgedörrt. Damit sind die Spuren leicht zu lesen.« Sie atmete tief ein und wieder aus. »Ich finde die Hütte, vertraut mir.«
»Sie sind zu viert, und sie haben Gewehre.«
»Sie rechnen nicht mit mir, und sie kennen mich nicht.« Myra stand auf. »Wenn ich in drei Tagen nicht wieder zurück bin, seid ihr auf euch allein gestellt. Dann geht runter zum Fluss und wartet auf Kajakfahrer, die den Fluss herunterkommen. Mehr kann ich euch nicht bieten.« Sie drehte sich um und ging.
»Du schaffst das«, murmelte Katja. In ihren Augen glitzerten Tränen, als sie ihren Blick auf Vanessa richtete. »Sie schafft es. Sie muss es einfach schaffen.«

Myra hielt ihren Bogen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie schob sich durch das Dickicht, lauschte auf jeden Ton, Vögel, Zikaden, den Fluss und den Wind. Manchmal verriet dem aufmerksamen Zuhörer ein fehlendes Geräusch mehr als ein verräterischer Laut. Sie dachte an Kyle und den Jäger, der ihn beobachtet hatte. War er einer der Vier?
Sie musste sich beeilen, aber vorsichtig sein. Ihre Gedanken gingen zu ihrem Vater, und sie versuchte sich wieder einmal in Erinnerung zu rufen, was er an ihrer Stelle gemacht hätte. War es richtig, die anderen Mädchen zu befreien versuchen, oder sollte sie doch besser erst diese beiden in Sicherheit bringen.
Er hätte gewusst, was zu tun war.
Myra hatte Angst, war aber auch wild entschlossen, die beiden jungen Frauen, die noch in der Gewalt der Männer waren, in Sicherheit zu bringen. Sie wollte sie auf keinen Fall ihrem Schicksal überlassen.
Zehn Minuten später hatte sie die Stelle gefunden, an der Vanessa und Katja in den Fluss gestürzt waren.
Ein Sonnenstrahl fiel durch die Baumkronen auf den von Gras überwucherten Weg, der plötzlich abbrach und steil nach unten ging. Sie hatten eine breite, nicht zu übersehende Spur hinterlassen.
Die Männer werden mir auf dieser Spur entgegenkommen, dachte sie. Ich muss vorsichtig sein. Wenn sie die Mädchen jagen, um sie zu töten, werden sie keine Zeugen brauchen und nicht zögern zu schießen.
Für einen Moment wünschte sie sich Kyle an ihrer Seite, um ihre Chancen zu verbessern.

* * *​

»Verdammt!« Er hatte ihn doch tatsächlich verloren.
Verdutzt rieb sich Stefan Kovacic den Nacken. In einer hilflosen Geste, die er sich selbst nicht eingestehen wollte.
Wie konnte das bloß passieren? Der Mann konnte ihn unmöglich bemerkt haben. Er war vorsichtig gewesen, hatte keinen Fehler gemacht. Zumindest nicht aus seiner Sicht, und doch hatte er seine Spur verloren.
Vielleicht wurde er langsam alt und unaufmerksam, hatte ihn unterschätzt, oder der Mann hatte einfach nur Glück gehabt und war ihm zufällig entkommen.
Vielleicht ist er auch spontan irgendwo abgebogen, und ich hab die Zeichen übersehen, dachte er.
Stefan schaute hoch zu den Bäumen, die sich im heißen Wind wiegten. Der Nachmittagshimmel war mit weißen Wolken gesprenkelt, die wie platt gedrückte Wattebällchen aussahen, und sich vom Süden über die Berge schoben.
Am liebsten wäre er nach Hause gefahren und hätte der örtlichen Polizei die ganze Scheiße überlassen. Sollten die sich doch um das tote Mädchen kümmern. Es war schließlich ihr Job. Andererseits fiel denen ohnehin nichts Besseres ein, als ihn und Zoran loszuschicken, um die Gegend zu erkunden und die Lage zu checken.
Missmutig drehte er sich um, ließ seinen Blick über die Ufer der Tara schweifen, suchte zwischen den Bäumen nach den Anzeichen einer Bewegung eines Menschen, um ein Weitermachen zu rechtfertigen, und stapfte dann achselzuckend davon.
Zurück in den Wald.
Von hier aus brauchte er gute zwei Tage bis zurück in die Stadt, und er hatte nichts erreicht.
Wirklich nichts.
Stefan schnaubte enttäuscht. Keine Aussteiger, keine verwahrlosten Verrückte, keine Prepper, denen er zu gerne begegnet wäre, und keinem harmlosen Familienvater, der mal etwas Besonderes erleben wollte, und junge Frauen tötete.
Außer den Jägern und dem Fremden, der sich in Luft aufgelöst hatte. Was sollte er seinem Kollegen Zoran erzählen, wenn er wieder kam? Dass er sich ein paar schöne Tage an der oberen Tara gemacht hatte? Dass er einen Verdächtigen gesehen hatte, der ihm entwischt war?
Stefan hatte noch immer das Bild vor Augen, wie der Fremde vorsichtig aus dem Wald getreten war, und sich umgesehen hatte.
Wir hatten genug Tote in den letzten Jahren, dachte er. Und wer weiß, wie viele nie gefunden wurden.
Am Abend hatte er sich ein ruhiges Plätzchen an der Tara gesucht und unter Lerchen, die bis ans steinige Ufer wuchsen, sein Lager aufgeschlagen. Er kühlte eine Dose Bier im Wasser, baute sein Zelt zwischen zwei Bäumen auf, rollte seinen Schlafsack aus, holte ein paar Steine und richtete sich einen Feuerplatz. Als das Feuer die Steine erhitzt hatte, öffnete er eine Dose Bohnen mit Schweinefleisch, goss das Zeug in eine Pfanne und stellte sie über das Feuer.
Dann bereitete er zwei Brotfladen vor, wickelte sie in Alufolie und erhitzte sie auf den heißen Steinen. Als sein Essen warm genug war, holte er das Bier und verfolgte, wie die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen auf das Wasser am anderen Ufer schickte.
Gegen Morgen brach er sein Lager ab und streifte das Ufer entlang. Er drang weit bis nach Westen vor, und kam gegen Abend in einem Halbkreis zurück, ohne auf Menschen, oder deren Spuren getroffen zu sein. Aus einer Eingebung heraus bog er an einer Weggabelung nach Norden ab, statt nach Osten, wo die Stadt lag. Er würde die Männer in der großen Blockhütte verständigen und vielleicht um Hilfe bitten, falls er sie noch antraf. Immerhin trieb sich der Unbekannte in ihrer Nähe herum. Besser, sie hielten die Augen offen und gaben acht. Man konnte nie wissen, was jemand umtrieb, und was er im Sinn hatte.
Das Licht der untergehenden Sonne drang durch die Wolken und legte einen silbrig-blauen Schimmer auf die Hütte, die im Schein der letzten Sonnenstrahlen vor ihm lag. Bis auf die Zikaden, die in den Sträuchern und Bäumen ringsum lärmten und ein paar müden Vögeln war alles ruhig. Die Hütte lag verlassen vor ihm. Zwei Wagen standen unter den Eichen, die anderen beiden waren weg.
Vermutlich längst wieder auf dem Weg in ihre Heimat, zu Frau und Kindern und dem Alltag mit ihren langweiligen Jobs. Was sie wohl ihren Frauen über ihre Tage hier erzählen würden?
Ohne einen Grund dafür benennen zu können, blieb Stefan im Schutz der Bäume stehen und betrachtete das Haus, in dessen Fenster sich die Sonne im Gegenlicht spiegelte.

»Wir hätten sie nicht laufen lassen sollen. Das war ein Fehler. Was ist, wenn sie jemand in die Arme gelaufen sind, und der ihnen in die Stadt hilft?« Arno schlug nach einem Moskito auf seinem Hals und betrachtete im schwindenden Licht den rot-schwarzen Fleck in seiner Handfläche.
Das ist Blut, dachte er. Das ist mein Blut. Angeekelt wischte er das Zeug in seine Hose. Sein Herz hämmerte wie ein Amboss in der Brust.
»In diesem Teil des Waldes sind keine Touristen unterwegs. Was denkst du denn, warum wir sie hier ausgesetzt haben. Wir sind doch nicht blöd. Wir kennen die Verhältnisse. Nur Wald und Einsamkeit. Weit und breit kein Mensch«, erwiderte Heimo, der vor ihm ging, bog einen Ast zur Seite und ließ ihn wieder los, ohne sich nach seinem Freund umzudrehen.
»Was ist mit Jägern? Oder Kanufahrer, die den Fluss herunterkommen? Es ist zu gefährlich, wenn die beiden am Leben bleiben. Die kennen dich. Die finden auch heraus, wer ich bin, verdammte Scheiße.« Fluchend wehrte Arno den Ast, der ihm entgegenpeitschte, mit dem Unterarm ab.
»Die sind in den Fluss gefallen. Du hast die Spuren gesehen. Selbst wenn sie sich irgendwie heraus retten konnten, kommen sie nicht weit. Unterkühlt und erschöpft. Wir machen uns morgen früh wieder auf die Suche. Heute erreichen wir nichts mehr. Wir sind nicht ausgerüstet, um hier draußen zu übernachten, und irren sinnlos umher. Das kostet bloß Kraft und bringt nichts.«
»Aber ...«
»Verdammt, ich kann vor Müdigkeit kaum noch die Augen offenhalten. Ich habe Hunger, Durst und falle fast um und schlafe ein. Das wird heute nichts mehr.« Heimo nahm das Gewehr in die andere Hand und warf einen Blick auf seine Uhr. Der Tag war so ganz anders verlaufen als geplant. Überhaupt war diese Woche alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen.
»Lass es gut sein. Wir kommen morgen hierher zurück und suchen den Fluss an beiden Ufern ab, dann finden wir sie auch, und sollten sie es aus dem Wasser geschafft haben, finden wir ihre Spuren und erledigen sie.«
»Ich hoffe, die sind ertrunken. Dann wird es auch niemand kümmern, woher die kamen. Du hast den Ranger gehört. In diesem Gebiet sterben ständig Menschen.« Jeremy wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er atmete schwer. Seine Haut glänzte vom Schweiß wie frisch geölt. Er war froh, dass sich die Sache von selbst erledigt hatte. Blieben noch die beiden anderen. Aber das würde er seinen Freunden überlassen. Arno war offensichtlich ganz wild darauf, jemand zu erschießen, aber darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
Endlich tauchten die Wagen vor ihnen auf. Mit müden Bewegungen entsicherten sie ihre Gewehre, warfen sie in den Kofferraum, setzten sich in die heißen, stickigen Autos, ließen die Fenster bis zum Anschlag herunter und fuhren los.
Zitternd tasteten die Scheinwerfer wie lange leuchtende Finger durch das Halbdunkel des Waldes. Keiner von ihnen sprach während der Fahrt ein Wort. Ein Reh sprang über den Weg, aber die Jäger reagierten nicht. Beinahe teilnahmslos starrten sie in die grünen Wände links und rechts des Weges, die von den Lichtkegeln erfasst wurden, ihre Gedanken bei der Dusche, die sie daheim erwartete.
»Halt! Da ist jemand an der Hütte.« Arno war aus dem Wagen gesprungen, kaum dass dieser hielt, und verharrte mitten in der Bewegung.
»Wo? Ich kann nichts sehen.« Reinhard stieg aus, streckte sich mit knackenden Gelenken, den Blick in den Abendhimmel gerichtet, unter dem sich die Äste der Eichen wiegten.
»Da war eben ein Schatten zwischen den Bäumen, ich bin mir ganz sicher.«
»Du siehst Gespenster. Wie wolltest du die Mädchen im Dunklen finden, wenn du überall Schatten tanzen siehst.« Reinhard lächelte flüchtig, in den Augen der melancholische Ausdruck eines Bluthundes, und schüttelte den Kopf.
»Da ist jemand, jetzt sehe ich ihn auch«, flüsterte Jeremy mit zusammengepressten Lippen und lehnte sich an Heimos Wagen, seine Augen starr auf die Hütte gerichtet.
»Sieht aus wie der Ranger von gestern früh. Was will der im Dunklen an unserer Hütte.«
»Scheiße, der läuft noch immer herum und schnüffelt.«
»Der Kerl hat Lunte gerochen. Verdammt, der ahnt etwas. Das ist mir gestern schon seltsam vorgekommen, er war zu schnell zufrieden mit unserer Antwort. Hat sich zu schnell abspeisen lassen.«
»Vermutlich ahnt er was, oder er hat etwas entdeckt oder gehört.«
»Wir gehen jetzt ganz ruhig in die Hütte, unterhalten uns leise oder reden nicht. Wir kommen von einem Jagdausflug zurück und sind müde. Wir haben nichts geschossen, also keine Euphorie, keine gute Laune. Unser Urlaub geht zu Ende, es gibt nichts zu lachen. Schaut euch nicht um. Geht da hinein, als ob ihr nach Hause geht.« Heimo öffnete den Kofferraum, nahm sein Gewehr und wartete, bis Jeremy das Seine herausgenommen hatte. Er überlegte, ob er den Wagen absperren sollte, und entschied sich dann dafür. Reine Gewohnheit. Zu Hause würde er auch nicht darüber nachdenken. Er ging drei Schritte und schaute konzentriert nach vorne, um vielleicht im kurzen Aufblinken der Blinklichter den Ranger neben der Hütte zu sehen.
War er hier, weil er sie festnehmen wollte? Aber warum war er dann allein? Hatte er noch Fragen zu vermissten Personen? Dann verdächtigte er sie nicht.
War er wirklich allein? So spät. Oder waren im Schutz der Bäume noch mehr?
Heimo schüttelte unwillig den Kopf, während seine Gedanken in alle Richtungen davonstoben. Er sah sich unauffällig um, schaute zu den Schatten zwischen den Eichen, konnte aber niemand sehen. Für einen Zugriff wären sie bei Sonnenaufgang gekommen. Wenn sie alle noch schliefen. Die sicherste Zeit, um sie zu überrumpeln. Sein Auftauchen musste andere Gründe haben.
Über ihm, in den Bäumen lärmten die Zikaden, Blätter raschelten im Wind, und die Vögel sangen ihre Abendlieder. Alles war wie immer. Die Hütte lag friedlich vor ihnen.
Vielleicht war dort auch keiner, und Arno und Jeremy hatten sich getäuscht.
Die Männer stiegen vor ihm die Treppe hoch und gingen ins Haus. Heimo folgte ihnen. Wie zufällig ließ er noch einmal seinen Blick über die Lichtung schweifen, konnte aber im Zwielicht der Dämmerung niemand im Umkreis des Hauses erkennen.

Stefan Kovacic drückte sich in die Schatten, wurde eins mit den Bäumen und wandte sein Gesicht ab. Er hatte die Wagen nicht bemerkt, als sie aus dem Wald gekommen waren, und die Lichtung mit Helligkeit fluteten. Plötzlich waren sie da gewesen. Verärgert über seine Unaufmerksamkeit knirschte er mit den Zähnen und fragte sich, wie er ihnen seine Anwesenheit erklären sollte. Und vor allem, warum er versteckt im Wald und nicht auf der Lichtung stand und auf sie wartete. Berufliche Zweifel an ihren Aussagen heute früh? Er wollte aus dem Wald nach vorne kommen und ihnen gegenübertreten, zögerte jedoch.
Aus dem Augenwinkel heraus konnte er sehen, wie sie zum Haus gingen. Ein paar Jäger, die einen anstrengenden und offenbar erfolglosen Tag hinter sich hatten. Ihre Köpfe waren gesenkt, die Bewegungen wirkten müde.
Aus irgendeinem unerfindlichen Gefühl, das er nicht näher benennen konnte, wollte er trotzdem nicht gesehen werden. Still beobachtete er sie und wartete, bis sie die Tür hinter ihnen zufiel. Dann erst wagte er, den Kopf zu wenden.
Verdammt, dachte er und fragte sich, wo sie gewesen sein könnten, und was sie gemacht hatten. Sie waren mit Gewehren zurückgekommen und nach ihrem Befinden zu urteilen, den ganzen Tag unterwegs.
Warum waren sie ohne Beute? Sie konnten unmöglich nichts geschossen haben. Der Wald war voll mit Wild. Oder waren sie womöglich auf eine andere Art Wild aus?
Stefan schob sich um den Baum herum, starrte auf das Haus, hinter dessen Fenster sich die Männer als verschwommene Schatten bewegten, und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Was sollen wir tun? Wir können ihn nicht ohne Weiteres laufen lassen. Wir wissen nicht, wie viel er gehört oder gesehen hat. Wir wissen nicht, wie lange er sich hier herumgetrieben und was er herausgefunden hat.« Arno hatte sich über die Tischplatte gebeugt und hämmerte bei jeder Frage, die er in den Raum warf, mit geballten Fäusten darauf. Seine Blicke gingen immer wieder zum Fenster.
»Er darf nicht merken, dass wir ihn gesehen haben«, warf Jeremy ein. Seine Miene wirkte bekümmert, beinahe ängstlich. »Wir müssen die Mädchen loswerden.«
»Wenn er einen Verdacht hat, wird er noch in der Nacht oder spätestens morgen früh mit Verstärkung wiederkommen. Er weiß nicht, dass wir ihn bemerkt haben, also wird er denken, er hat den Überraschungseffekt auf seiner Seite«, warf Reinhard ein und wandte sich der Bar zu. Sein Gesicht war bleich, und seine Stimme und die Augen wirkten teilnahmslos. Sie alle waren hungrig, müde und enttäuscht, weil der Tag nicht in ihrem Sinne verlaufen war. Aber niemand wollte sich im Moment in die Küche stellen und Abendessen zubereiten. Er goss sich ein großes Glas Whiskey ein, leerte es in einem Zug und goss sofort nach. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, explodierte im Magen wie flüssiges Feuer, knallte ihm ins Hirn und erfüllte sein Herz mit Licht.
»Bis dahin können wir nicht aufräumen. Wenn hier ein paar neugierige Ermittler auftauchen, sind wir geliefert.« Jeremy blickte gehetzt um sich. Seine Hände flatterten nervös.
»Sie finden nichts. Die Abteile sind schalldicht und die Tür gut versteckt. Trink einen Whiskey und beruhige dich.« Reinhard füllte ein Glas mit zerstoßenem Eis, Bourbon, stopfte eine Orangenscheibe hinein und hielt es ihm vor die Nase. Sein Blick in weite Ferne gerichtet.
»Wir müssen ihm zuvorkommen. Wir müssen ihn beseitigen.« Arno hob ein weiteres Mal die Faust, ließ sie dann aber über dem Tisch schweben, wie eine geballte Warnung. Seine Pupillen hatten eine rötlich braune Tönung, so als lodere Feuer hinter getöntem Glas.
»Willst du einen Ranger töten? Das ist etwas anderes, als ein paar dummer Gören im Wald zu verscharren, oder in den Fluss zu werfen. Die werden ihn suchen. Ein Ranger verschwindet nicht einfach. Damit weckst du die schlafenden Hunde.« Heimo, der unter der Tür zur Küche stand, straffte den Rücken und hob die Brust, wie jemand, der erkennen musste, dass der Tod bei ihm angeklopft hatte. Er hielt den Blick starr auf die Fenster zur Lichtung gerichtet, obwohl dahinter nur Dunkelheit war.
»Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Reinhard. Er richtete den Blick auf das Glas in seiner Hand, schwenkte den Whiskey und runzelte die Stirn.
»Scheiße, nein«, pflichtete ihm Arno bei. Er holte ein Feuerzeug hervor und zündete einen grünen Kerzenstummel an, der auf dem Tisch stand. Dann starrte er in die Flamme, als würde er dort drinnen seine Bestätigung finden.
»Wir müssen es wie einen Unfall aussehen lassen,« warf Jeremy ein. Sein Lächeln war verkrampft. Er schaute zu Heimo und versuchte seinem Blick standzuhalten, bis er es nicht mehr aushielt und den Kopf wegdrehte.
»Wie willst du das Anstellen, dann müsstest du ihn überwältigen und erschlagen. Das ist ein Ranger, den kannst du nicht einfach so erledigen. Du kommst nicht nah genug an ihn ran. Du müsstest ihm schon irgendwie K.O.-Tropfen unterjubeln.« Reinhard grinste böse, sein Gesicht war vom Whiskey gerötet. »Das hätten wir vielleicht machen sollen, als er bei uns in der Hütte war.«
»Wir schnappen ihn uns. Wir sind zu viert. Dagegen kommt er nicht an.«

* * *​

Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden und der über den Weg streichende Wind fühlte sich warm und trocken an. Schatten tanzten im Wald hinter Sträuchern und im Unterholz. Myra Baranova ging in die Hocke, legte ihre Finger in die fahl schimmernden Reifenspuren im Gras und schaute sich um. Der Weg vor ihr war von Reifenspuren durchzogen, aber diese war noch frisch, das Gras weich. Der Lenker war nur kurz vom Fahrweg abgekommen, vielleicht weil er müde oder unaufmerksam war, aber es reichte.
Myra lächelte grimmig. Hier war vor Kurzem ein Wagen entlanggefahren. Sie war nahe dran gewesen, aufzugeben. Zu viele Spuren führten in zu viele Richtungen. Sie hätte nicht gedacht, dass an einem scheinbar so einsamen Ort, so viele Wagen unterwegs waren. Aber jetzt war sie sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie stand auf, schaute in den Wald hinein, horchte auf die Vielzahl der Vogelstimmen und lief los. Solange sie dem Fahrweg folgen konnte, würde sie schnell vorwärtskommen.
Sie musste laufen. Gegen die Zeit, die für die Männer arbeitete. Jede Minute, die ihnen blieb, konnten sie den Mädchen Schreckliches antun, sie sogar töten, bevor sie die beiden dort herausholen konnte.
Eine Viertelstunde später, die sie in schnellem Trab zurückgelegt hatte, bemerkte sie plötzlich die undeutliche Gestalt eines Mannes vor sich. Nicht mehr als eine Silhouette, die sich im Halbdunkel des Waldes auf sie zubewegte. Der Himmel hinter ihm war noch immer blau, ein einsamer Stern funkelte über den Bäumen. Instinktiv ließ sie sich fallen und kroch zur Seite weg, überzeugt, dass er sie ebenso bemerkt haben musste, wie sie ihn bemerkt hatte. Doch ein Raubvogel mit dunklem Gefieder ließ sich in diesem Augenblick auf der anderen Seite des Weges auf einem knorrigen Ast nieder. Klauen und Schnabel mit Blut befleckt. Er breitete die Schwingen aus und krächzte laut. Myra hielt den Atem an und drückte sich tiefer ins Unterholz, verschmolz mit ihrer Umgebung. Vorsichtig hob sie den Kopf, die linke Hand um den Bogen verkrampft, während die Rechte das große Jagdmesser umklammert hielt. Keinen Steinwurf entfernt konnte sie die Umrisse eines knienden Mannes erkennen. Er trug ein Stirnband auf dem Kopf, um seine schulterlangen Haare zu bändigen und hielt eine Pistole in der Hand.
Bewegungslos starrte er auf den Vogel, dessen Augen samtschwarz glänzten. Er verharrte noch einen Moment, stand dann auf, steckte seine Waffe weg und ging weiter auf sie zu und vorbei. Sein Blick dabei auf den Vogel gerichtet, während seine Zähne im fahlen Licht schimmerten.
Myra presste sich flach auf den Boden, atmete den erdigen Geruch von verrottenden Blättern und frischem Moos ein, und ließ ihn vorbeigehen, lauschte nur seinen Schritten, die sich allmählich entfernten. Sie spürte, wie sich ihr Gesicht vor Anspannung straffte. Ihr Puls hämmerte, dass sie meinte, jeden Moment würde ihr eine Ader im Hals platzen. Sie spielte mit dem Gedanken aufzuspringen und ihm zu folgen, verwarf diesen aber sofort wieder. Weil sie nicht wusste, wer er war.
Weil sie nicht wusste, ob er einer der Männer war, die Katja und Vanessa gejagt hatten, oder sogar zu ihnen gehörte. Oder war er nur ein Unbeteiligter, der die Zeit übersehen hatte und bei Anbruch der Nacht diesen Weg ging? Aber warum war er dann so schnell mit der Waffe? War es ein Mann des Gesetzes?
Jede Menge Fragen aber keine, die sie sofort beantworten konnte.
Sie wartete noch drei Minuten und erhob sich dann leise, um die Spur zur Hütte weiter zu verfolgen.
Das Wichtigste war jetzt die beiden Mädchen zu befreien, rief sie sich ins Bewusstsein. Schließlich waren da noch die anderen beiden, die in ihrer Höhle auf sie warteten.
Lautlos wechselte sie die Seite, ohne dass sie einen besonderen Grund dafür benennen hätte können, und wollte parallel zum Weg im Wald weiterlaufen, immer darauf bedacht, die Fahrspuren nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch nicht von anderen gesehen zu werden.
»Halt! Keine Bewegung. Ich kann dich im Mondlicht gut erkennen. Meine Waffe ist auf dich gerichtet.«
Ganz ruhig klang die Stimme hinter ihr und nach einem kurzen Zögern. »Ich wollte erst sicher gehen, ob du es auf mich abgesehen hast. Aber es scheint, als ob du zur Hütte willst. Du gehörst nicht zu ihnen. Was willst du dort? Warum hast du dich vor mir versteckt? Ich weiß, dass die Vier irgendetwas zu verbergen haben. Was geht hier vor?«
Myra blieb stocksteif stehen, ihr Herz raste. Fieberhaft überlegte sie, wie viel und was sie ihm sagen sollte. Offenbar war er keiner von denen. Sie drehte sich um, sah ihn an, und schätzte ihre Möglichkeiten ein. Aber der Mann stand im Schatten der Bäume, zu weit weg, um auf ihn loszugehen und zu nah, um davonzulaufen.
Prüfend betrachtete er den Ausdruck in ihrem Gesicht, versuchte sie zu lesen, dann trat er einen Schritt nach vor ins helle Licht des Mondes, die Hand mit der Waffe sank nach unten und er nickte auffordernd.
»Ich suche nach zwei Freundinnen«, sagte Myra endlich und schluckte. »Ich denke, sie werden in der Hütte festgehalten.«
Er schaute sie an, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Stimme klang emotionslos.
»Bist du sicher, dass deine Freundinnen in der Hütte sind. Ich war gestern Morgen dort. Ich habe keine Anzeichen von ihnen gesehen.«
»Sie sind im Keller eingesperrt.«
Für einen Moment spiegelten sich Verwirrung und Sorge im Gesicht des Mannes. Er presste die Lippen zusammen und atmete schwer. Dann steckte er die Waffe in das Holster zurück. Ein finsterer Ausdruck trat in seine Augen, er wandte den Blick ab und wischte mit der Hand übers Gesicht.
In der darauffolgenden Stille konnte Myra den Wind in den Wipfeln über ihr hören, und Schritte, die näherkamen. Trockenes Gras und kleine Zweige knackten unter schweren Stiefeln. Sie schaute zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, wie der Mann sich umwandte.
Blitzschnell nutzte sie die Gelegenheit, sprang nach links weg, tauchte unter ein paar Sträuchern durch, duckte sich und verschwand zwischen den Bäumen, bevor er reagieren konnte. Dann verharrte sie bewegungslos. Sie musste unbedingt herausfinden, was die neue Situation für sie bedeutete, ehe sie entschied, in welche Richtung sie laufen sollte.
»Ah, da bist du ja«, konnte sie eine fremde Stimme hören, heiser, beinahe mitleidig. »Du hättest nicht hierherkommen dürfen. Zumindest nicht zurückkommen. Das war dein erster Fehler ...« Die Stimme verstummte und sie hörte ein Schaben und Scharren und eine zweite Stimme, die klang, als habe ihm jemand ein dünnes Seil um den Hals geschlungen.
» ... und du hättest dich nicht verstecken dürfen. Das war dein zweiter Fehler. Wärst du hereingekommen und hättest ein Bier mit uns getrunken, wäre vielleicht alles anders gekommen. Du magst wohl kein Bier, mein Freund?«
»Was soll das. Richten sie das Gewehr nicht auf mich. Ich bin nicht ihr Freund. Ich bin Ranger des Nationalparks.«
Wie gebannt starrte Myra in die Dunkelheit vor ihr und versuchte sich vorzustellen, was dort vor sich ging. Dann sank sie auf die Knie und kroch vorwärts, zwängte sich unter den Sträuchern durch. Nur beseelt von dem Gedanken an den Ranger, der ihr helfen konnte, die Mädchen zu befreien. Sie hörte das keckernde Lachen des ersten Sprechers, verharrte in der Bewegung und starrte mit weit aufgesperrten Augen auf die Szene vor ihr, die der Mond beleuchtete, wie ein verhangener Theaterscheinwerfer.
Ungläubig blickte der Ranger in die kreisrunde Mündung des Gewehrs, das ein Mann in Jagdkleidung auf ihn gerichtet hatte. Sein Gesicht war schlammbespritzt und in seinen Augen leuchtete eine wilde Freude.
»Nehmen sie das Ding weg, es könnte unabsichtlich losgehen.« Langsam hob der Ranger die linke Hand, um den Lauf beiseitezuschieben, während sich seine Rechte unmerklich der Hüfte näherte.
»Knie nieder!«
Der Ranger schüttelte den Kopf, die linke Hand noch immer erhoben. Seine Miene verdüsterte sich, die Finger der Rechten blieben über dem Holster hängen.
»Knie nieder, oder ich ballere dir die Birne weg.«
Myra hatte das Gefühl, als zögen sich ihre Rückenmuskeln zusammen und verkrampften sich unter dem Shirt, so als übten die unmissverständlichen Worte eine Macht aus, die sie sowohl körperlich als auch seelisch schrumpfen ließ. Sie lag nur dreißig Meter entfernt, mit dem Bogen ein sicheres Ziel, aber jede Bewegung hätte sie sofort verraten, und die Männer waren zu zweit und hatten Schusswaffen.
»Knie nieder!«, befahl der Jäger erneut und betonte dabei jedes Wort. Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen zu einem dunklen Oval.
In diesem Moment ließ sich der Ranger zu Boden fallen, zog seine Waffe, und ein Schuss hallte zwischen den Bäumen wider. Myra konnte das Mündungsfeuer des Gewehres sehen, das wie eine feurige Zunge im Halbdunkel des Waldes aufleuchtete. Entsetzt schaute sie auf den Ranger, der einen Steinwurf weit vor ihr ins Gras gefallen war, den Mund verzerrt und mit blicklosen Augen ins Leere starrte, als wäre ihm gerade ein schreckliches Geheimnis über sein Leben ins Ohr geflüstert worden. Sein Gesicht war kreideweiß. Über seinem rechten Auge klaffte ein großes ausgezacktes Loch, aus dem Blut lief.
Myra presste die Hand auf den Mund, den sie zu einem stummen Schrei aufgerissen hatte.
Unfähig sich zu bewegen, beobachtete sie die beiden Männer, die nähergekommen waren und schweigend auf den toten Ranger hinab starrten.
»Ich bin zu müde, um dir zu sagen, was ich von dir und dem Scheiß halte, den du soeben angestellt hast«, hörte sie den größeren Mann sagen.
»Ich wollte mit ihm reden, aber der Idiot hat nach der Pistole gegriffen. Mir ist nichts anderes übriggeblieben. Oder hätte ich mich von ihm abknallen lassen sollen«, versuchte sich der Jäger zu rechtfertigen.
»Wir wollten ihn verfolgen, um herauszubekommen, wie viel er weiß, aber doch nicht erschießen. Verflucht! Ich bin seit achtundzwanzig Stunden auf den Beinen ...« Der Große wischte mit der Hand über sein Gesicht und schüttelte den Kopf.
»... und jetzt ist er tot, der Ranger. Das ist nicht mehr zu ändern«, ergänzte der Jäger.
Myra drehte den Kopf weg und schaute in den Himmel, der schwarz wie ein Leichentuch über ihr war, mit Sternen übersät, die wie tausend Augen aus allen Richtungen auf sie herab blickten.

* * *​

Die Nacht war erfüllt von Licht und Schatten, von Gerüchen und Geräuschen, von Leben und Sterben, und von den Tritten eines Menschen. Myra Baranova lief durch den Wald, während Äste ihr Gesicht und ihren Körper peitschten, Sträucher und Zweige an ihrer Kleidung zerrten, ohne darauf zu achten, wie viel Lärm sie selbst verursachte.
Der Jäger hatte den Ranger erschossen.
Als Kind war sie mit ihrem Vater in der Nacht durch den mondhellen Wald gelaufen, um ihre Sinne zu schärfen. »Schau nach vorne, nicht zu Boden. Die Augen gewöhnen sich an das Zwielicht und nehmen alles wahr. Du musst loslassen, dann finden deine Füße den Weg und dein Körper reagiert auf Gefahr schneller als dein Kopf.«
Sie hätte nicht mehr sagen können, wie sie dort weggekommen war, ohne bemerkt zu werden. Wie lange sie auf allen Vieren gekrochen war, bevor sie endlich laufen konnte. Welche Entfernung sie zwischen sich und die Männer gebracht hatte. Sie wusste nur, dass sie dem Tod noch nie so nahe war.
Sie lief ohne Orientierung, ohne bestimmtes Ziel, ohne anzuhalten, als wäre irgendetwas Ekelhaftes hinter ihr her, und fand sich plötzlich auf einer mondbeschienenen Lichtung wieder. Vier dunkle Limousinen parkten vor einem stattlichen Blockhaus. Auf der Veranda hatte jemand eine Petroleumlampe angezündet, die flackernd einen matten gelben Lichtschein über ein paar Stühle warf. Erschrocken prallte sie zurück, und wusste doch sofort, dass es die Hütte war, von der sowohl Vanessa als auch der Ranger gesprochen hatten. Die Hütte, in der die Mädchen gefangen gehalten wurden.
Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass sie allein war, und huschte an den Rand der Lichtung, wo sie schwer atmend im Schutz der Bäume stehen blieb. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und ihre Ohren knackten. Einen kurzen Moment verschwammen die Bäume vor ihren Augen, und ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase, wie von einem toten Tier, das unter einer Baumwurzel verweste.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte die Hütte gefunden.
Myra duckte sich, lief am Rand der Lichtung bis hinter das Blockhaus und lauschte. Die einzigen Laute waren das Knarzen der Bäume und schlagende Flügel über ihr, aber sie konnte aber keine Vögel sehen.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem Haus, dessen dunkle Fenster wie wachende Augen auf sie starrten, bereit, bei dem kleinsten Geräusch lebendig zu werden und sich auf sie zu stürzen.
Sie wischte mit der Hand über ihr Gesicht, stieß den Atem aus und schlich, eng an die Wand gedrückt, das Haus entlang. Es gab keine Hintertür, keinen Zugang zu einem Keller, nur einen kleinen Anbau, in dem wahrscheinlich die Generatoren standen, die für Strom sorgten. Sie konnte Öl und Benzin riechen. Die Maschinen waren ausgeschaltet, also war auch niemand zu Hause. Mit einem Blick um die Ecke vergewisserte sie sich, dass niemand auf der Lichtung stand und auf das Haus zukam. Sie witterte in den Wind und wusste, dass jede Verzögerung wertvolle Zeit kostete.
Zeit, die sie nicht hatte. Die Männer konnten jeden Augenblick zurückkommen.
Ein letztes Mal ließ sie ihre Augen über die Lichtung schweifen, soweit sie diese überblicken konnte, schaute in den Sträuchern den tanzenden Glühwürmchen zu und bewegte sich auf den Eingang zu.
Was sage ich, wenn mir jemand die Tür öffnet, dachte sie, und legte ihren Bogen und den Köcher mit Pfeilen neben der Treppe ab. ›Ich komme in Frieden?‹
Was mache ich, wenn die Tür ein Sicherheitsschloss hat und ich dieses nicht knacken kann? Der Abend war immer noch heiß und damit die Chance groß, ein geöffnetes Fenster zu finden, aber wie soll ich reinkommen, wenn sie alles verriegelt haben? Im Geiste sah sie sich bereits die überdachte Veranda hochklettern, um an die oberen Fenster zu kommen.
Dann stand sie vor der matt beleuchteten Tür und pochte mit den Knöcheln fest an das Holz, in der Hoffnung, dass niemand ihr öffnen würde. Sie wartete eine halbe Minute, pochte noch einmal, und drückte die Klinke. Die Tür schwang nach innen auf und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr Herz machte einen Satz, als wäre die Türklinke unter Strom gestanden.
Verdammt, fluchte sie mit zusammengepressten Lippen, huschte durch den Eingang und schloss die Tür hinter sich. Ihre Blicke hetzten durch den Raum, der von der Laterne draußen schwach beleuchtet wurde, aber sie konnte nichts entdecken, bis auf die dunklen Schatten, die in den Ecken tanzten. Beklommen starrte sie in das Halbdunkel, meinte jeden einzelnen Pulsschlag im Hals zu spüren.
Es sind nur Schatten, sagte sie sich. Es sind nur Schatten wegen der Laterne.
Ihre Hand ging zum Messer, das sie an der rechten Seite trug. Jetzt gab es kein Zurück und keinen Frieden mehr. Sie war in das Haus eingebrochen. Jetzt gab es nur noch Krieg.
Drei offene Türen führten in weitere Räume, eine Vierte war geschlossen. Instinktiv wandte Myra sich dieser zu und blickte in den Gang dahinter, der in die Tiefe führte.
Noch während sie mit der linken Hand in ihrer Tasche nach einer kleinen Taschenlampe kramte, stieg sie die Stufen hinunter. Die Luft war stickig, heiß und roch nach Moder und schwarzer Erde, je weiter sie nach unten stieg. Hier herunter kam nur selten jemand. Sie durchquerte zwei große Räume, die offensichtlich aus dem Fels geschlagen und bis auf ein paar Regale mit verstaubten Weinflaschen kahl und leer waren, und kam in einen kleinen Raum, in dem ein großer Schrank stand. Die Türen waren offen. Der Schrank leer. Hier unten war nichts. Sie musste in den anderen Räumen suchen und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden. Vielleicht war der Eingang zum Verlies der Mädchen im Anbau, dachte sie, und ärgerte sich, nicht sofort dort Nachschau gehalten zu haben.
Myra ließ die Taschenlampe sinken und wollte sich gerade abwenden, als ihr ein schwacher Streifen Licht in der Rückwand auffiel. Nicht viel mehr als ein hauchdünner Riss, hinter dem der Widerschein einer Lampe zu sehen war. Neugierig trat sie näher, leuchtete in den Schrank und konnte auf beiden Seiten einen winzigen Spalt erkennen. Sie tastete die Rückwand ab und schrak zurück, als diese nachgab, sich um eine Achse drehte und dahinter eine halb offene Tür und ein matt beleuchteter Raum zu sehen war.
Der Geruch nach Schweiß, Fäkalien und Fäulnis schlug ihr entgegen und sie konnte das Wimmern eines gequälten Lebewesens hören.
Fünf Sekunden später starrte sie für einen Moment des Entsetzens mit weit aufgerissenen Augen hinter die Gitterstäbe der Käfige und mochte sich nicht vorstellen, was die Mädchen da drinnen an Angst und Schmerzen durchgemacht hatten.
»Oh Gott, oh Gott!«, ächzte sie, und eine Welle der Übelkeit schwappte in ihr hoch. Was für ein Mann konnte einem Mitmenschen so etwas antun?
Mit einem Gefühl, als hätte jemand eine Glaskuppel über sie gestülpt, trat sie näher, sperrte die Augen weit auf und machte den Mund auf und zu, als ob sie versuchte, sich durch die Kuppel verständlich zu machen. Ihre Hände griffen nach den Gitterstäben und rüttelten daran.
»Wer bist du?« Ein zierliches Mädchen mit dunklen Haaren, das Gesicht von Dreck verschmiert, erhob sich von einer Pritsche am hinteren Ende des Abteils und kam näher. Myra konnte im fahlen Zwielicht des Verlieses nicht viel mehr als einen Umriss erkennen.
»Vanessa schickt mich«, sagte sie, räusperte sich und versuchte die richtigen Worte zu finden. »Und Katja. Sie sind in einem Versteck in Sicherheit.« Das Mädchen trat näher, ihre Mundwinkel zeigten nach unten und ihre Haare klebten wie nasses Fell an ihrem Kopf. Sie streckte die Hände nach vor. Tränen liefen in dünnen Spuren über die Wangen und zeichneten helle Streifen in ihr Gesicht.
»Hol uns hier raus. Bitte hol uns hier raus.«
»Ja«, nickte Myra. »Ja! Die Schlüssel, wo sind die Schlüssel?«
Das Mädchen blickte sich um, ihre Augen waren weit aufgerissen, als starre sie in einen aufkommenden Sturm, in dessen Mitte wütende Blitze zuckten, die nur sie sehen und dessen Donner nur sie hören konnte.
»Wo sind die Schlüssel? Ich brauche die Schlüssel, die Gitter sind zu massiv, um sie aufzubekommen.« Myra griff nach dem Vorhangschloss an der Tür und rüttelte daran. Sie musste sich beeilen und die Mädchen herausholen. Wenn die Männer zurückkamen und sie waren noch hier, war sie verloren. Die Kerle waren zu viert und würden ihr keine Chance lassen.





Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 7
 
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