Fredy Daxboeck
Mitglied
Umständlich kroch Myra zu ihr hinüber und schloss ihr die Augen. Dann schaufelte sie Blätter und alle Zweige, derer sie habhaft werden konnte, über die Leiche, bis nur noch ihre Umrisse zu erkennen waren. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun. Mit unbeweglicher Miene kletterte sie die Anhöhe zu den Felsen hinauf und ließ sich hinter die Steine sinken. Stützte sich mit beiden Händen auf ihren Bogen und senkte müde den Kopf.
»Hast du sie erwischt?«, fragte Susanna trocken.
Myra schüttelte leise den Kopf. »Einen. Aber ich bin mir nicht sicher. Wir müssen weg hier. So schnell wie möglich. Sie haben sich vorerst zurückgezogen, aber es wird nicht lange dauern, bis sie wiederkommen, um uns den Rest zu geben.«
Nicoletta sah sie ungläubig an, die Augen weiß vor Schmerz und Angst. »Was ist mit Katja?«
Myra schüttelte wieder den Kopf und Nicoletta stieß einen leisen wimmernden Laut aus.
»Wir müssen sie begraben oder besser noch mitnehmen. Wir können sie nicht zurücklassen, du hast gesagt, wir lassen niemand zurück«, stöhnte sie verzweifelt.
»Sie ist tot. Katja ist tot, da ist nichts mehr zu machen. Wir können sie nicht begraben, dass kostet zu viel Zeit, die wir nicht haben. Und wir können ihre Leiche nicht mitschleppen, wir müssen uns später darum kümmern. Ich muss erst euch in Sicherheit bringen.« Myra schluckte die aufsteigende Welle von Hass gegen die Kerle hinunter, die sie in diese Situation gebracht hatten, ließ sich aber nichts anmerken.
»Ich habe sie mit Laub bedeckt«, setzte sie nach. »Ich konnte nicht genug Steine finden.« Es hatte keinen Sinn, ihre Gefühle zu zeigen.
Sie betrachtete Nicoletta, die neben Susanna saß. »Kannst du gehen? Schaffst du es hochzukommen oder sollen wir dich tragen? Wir müssten ein Travois bauen, so wie Indianer sie früher benutzt haben, um ihre Habseligkeiten zu transportieren.«
Nicoletta zögerte, rieb die Hände über ihren gesunden Schenkel. »Haben wir denn dafür Zeit, so ein Ding zu bauen?«
»Nein!«, erwiderte Myra ernst und sah sie an. Die Haare hingen ihr ins Gesicht. Wind kam auf und ließ die Blätter über ihnen rascheln. Nicoletta zuckte zusammen. »Ich will sie tot sehen.«
»Nicoletta, nein. Sag so etwas nicht. Das macht dich zu ihresgleichen. Wir müssen uns an die Regeln halten und die Polizei verständigen. Die werden sie ausfindig machen und festnehmen, damit sie sich vor einem Richter verantworten. Wir dürfen nicht ihre Richter sein.« Myras Mund wurde schmal, ihr versagte die Stimme.
»Die Richter sperren sie für ein paar Jahre weg, dann sind sie wieder frei und morden weiter. Das Gefängnis ist für die keine Strafe. Sie müssen in der Hölle schmoren.« Nicoletta erhob sich schwerfällig und schwankte, fiel aber nicht hin, hielt die Hand auf ihre blutige Hose, knapp über dem Verband gedrückt. Ihr Gesicht schimmerte im Zwielicht des Waldes maskenhaft hart. Um ihren Mund lag ein entschlossener Zug, der vorher nicht da gewesen war.
»Gehen wir«, sagte sie, und schaute sich um. »Ich brauche einen Stock, dann bin ich bereit.«
* * *
»Scheiße, da seid ihr ja. Ich habe die Schüsse gehört. Habt ihr sie erledigt oder habt ihr eine für mich übriggelassen«, rief Arno Daniels von weit oben, wo er einem Wildpfad gefolgt war und sprang geschickt die Böschung herunter, das Gewehr lässig über die Schulter gelegt. Im Gesicht ein selbstzufriedenes Grinsen. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn und an seinem Hals liefen kleine Tropfen herab. Er roch wie ein brünstiger Esel.
»Das verdammte Weibsstück hat auf mich geschossen. Sie hat mir einen Pfeil in die Brust gejagt«, klagte Heimo, legte eine Hand auf seine Wunde und stöhnte verhalten. Arno hockte sich vor ihn hin und schaute ihn mit einem Ausdruck zwischen Mitleid und Zorn an. »Soll ich einen Krankenwagen rufen«, fragte er mit zynischem Lächeln und hob mit spitzen Fingern Heimos blutdurchtränktes Hemd an, das an seiner Brust klebte.
»Hey, lass das. Das tut weh«, sagte der und stöhnte wieder. Reinhard schüttelte missbilligend den Kopf.
»Da war eine Frau bei ihnen. Sie hat mit einem Bogen auf uns geschossen und ihn erwischt.«
»Einen Bogen, mehr nicht?«, fragte Arno ungläubig. Er drehte sich halb zur Seite und grinste. »Ihr habt Gewehre, ihr seid klar im Vorteil. Was hat euch gehindert, sie abzuknallen.«
»Blödmann«, knurrte Reinhard, nahm einen dürren Ast zur Hand und kratzte damit im Laub herum. »Sie hat uns aus einer Entfernung von fünfzig Metern mit Pfeilen eingedeckt, obwohl ich auf sie gefeuert habe. Die hatte keine Angst.« Er ließ den Ast fallen, hielt seine Hand vor Arnos Augen und presste Daumen und Zeigefinger aufeinander. »Nicht mal so viel Scheißangst, obwohl ihr die Kugeln um die Ohren geflogen sind.« Pfeifend atmete er aus, ließ die Schultern sinken und hielt Arno den Rucksack, in dem noch immer der Pfeil steckte, als Beweis entgegen. »Vielleicht stand sie unter Drogen.« Dann räusperte er sich, sagte aber nichts mehr.
»Wo ist dieses Miststück. Ich erledige sie. Ich jage sie bis ans Ende der Welt.« Arnos Blicke wanderten vom Rucksack zu Heimo, wieder zum Rucksack und blieben auf Reinhard liegen, der in Gedanken versunken mit den Fingern über die Federn am Schaftende des Pfeils strich.
»Bis ans Ende des Waldes würde genügen. Sie sind da lang, vermute ich.« Reinhard hob die Hand und richtete sie nach Osten, den Fluss entlang, schaute aber nicht hin. Seine Augen waren immer noch auf den Pfeil gerichtet, der ihn nur um einen Fingerbreit verfehlt hatte. Er griff sich ans Ohr und betrachtete verwundert das frische Blut zwischen den braun getrockneten Schlieren in seiner Hand. Sie hatten sich ein Stück oberhalb der Tara zurückgezogen, die hier nur noch schwach zu hören war. Ein leises Raunen, wenn sie sich still verhielten, aber weit genug, um in Sicherheit zu sein.
»Habt ihr sie nicht verfolgt?«
»Ich musste mich um Heimo kümmern«, antwortete Reinhard und versuchte seine Verlegenheit hinter einem schiefen Grinsen zu verbergen. Er tastete wieder nach dem Ohr, als brauchte er einen schmerzenden Beweis, dass die ganze verkackte Situation kein blöder Traum wäre.
»Wir dürfen ihnen nicht zu viel Vorsprung lassen. Sie sollen keine Pause haben. Was ist los mit dieser Frau? Woher kommt sie und wie kommt sie dazu, auf euch zu schießen, verdammt?«
Wütend wischte Arno mit der Hand durch die Luft und starrte auf die Äste über ihm. Sein Gesicht hatte die fahle Farbe von ausgeblichener Buchenrinde angenommen, die Kiefermuskeln bewegten sich unstet. In seinen Augen lag ein wildes Funkeln. Er konnte nicht verstehen, warum Reinhard scheinbar desinteressiert herumsaß, während die Mädchen durch den Wald liefen und mit jedem Schritt weiter ihrem Zugriff entkamen.
»Keine Ahnung«, antwortete Reinhard auf seine Frage und sah Heimo an.
Der blinzelte, atmete tief ein und zupfte an seinem Hemd. »Entweder sie haben das Miststück unterwegs aufgegabelt und sie hat sich spontan entschieden ihnen beizustehen oder sie hatten ohnehin vor, sich in der Gegend zu treffen.« Er kratzte sich am Kopf, dachte nach. »Vielleicht ist sie eine Einheimische«, überlegte er laut. »Womöglich hat sie auch die beiden anderen befreit.« Er verstummte einen Moment und hob den Kopf. In seiner Miene spiegelte sich die Erkenntnis seiner Gedanken wider.
»Scheiße. Dann wird sie vermutlich den kürzesten Weg in das nächste Dorf kennen. Wir müssen sie so schnell wie möglich ausschalten. Sie darf auf keinen Fall entkommen.« Er rappelte sich auf, an den Baum gestützt, an dem er gelehnt war und nickte Arno zu.
»Nur die Ruhe«, winkte Reinhard ab, nahm den Ast wieder auf und klopfte damit auf den Waldboden, um seine Worte zu unterstreichen. »Wir haben eine oder zwei von ihnen erwischt. Getötet oder verletzt wissen wir noch nicht. Aber zumindest sind sie in Panik und denken nicht rational. Ich nehme also an, sie laufen zur Tara hinunter und versuchen Kajakfahrer auf sich aufmerksam zu machen.«
»Panik würde ich das nicht gerade nennen«, zeigte Arno auf Heimo, nahm sein Gewehr als Stütze, stand mit knackenden Gelenken auf und grinste grimmig.
»Was ist übrigens mit dem Kerl, den du verfolgt hast?« Reinhard sah Arno von unten an und hob die Augenbrauen, seine Augen glitzerten im Schatten.
Arno winkte mit einer wegwerfenden Bewegung, erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich hab ihn nicht gefunden. Er hat sich entweder irgendwo versteckt oder er ist tief in den Wald gelaufen. Ich hoffe er verirrt sich dort. Ist vermutlich nur ein Wanderer, der zufällig die Tara entlang gegangen ist und Jeremy gefunden hat. Falls er ihn gesehen hat, was nicht sicher ist. Wenn er irgendwann wieder in die Zivilisation zurückfindet und seinen Fund meldet, haben wir Jeremy längst entsorgt. Wie auch immer. Wichtiger ist jetzt erst mal, die Schlampen zur Strecke zu bringen.« Ein Windstoß wirbelte Blätter um sie herum auf.
Reinhard kratzte mit seinem Stock durch das Laub und warf selbst Blätter hoch, als müsste er es dem Wind gleichtun. »Mach du, ich bleibe vorerst bei Heimo, um ihn anständig zu verbinden. Wir wissen nicht, wie schlimm seine Verletzung ist und ich möchte nicht riskieren, dass er zusammenklappt. Hinterlass mir eine Spur oder Zeichen, damit wir dich finden.«
»Ich bin wieder in Ordnung. Der Pfeil hat nicht allzu viel angerichtet.« Heimo lachte in sich hinein. »Sie müssen größere Geschütze gegen mich auffahren, um mich zur Strecke zu bringen.« Seine Faust zuckte hoch und er konnte sie eben noch stoppen, bevor er sich auf die Brust klopfte.
* * *
Die Sonne hing wie eine glühende Scheibe hoch über dem Land und brannte unbarmherzig auf alles nieder, was sich nicht rechtzeitig unter einem Schatten versteckt hielt oder in Höhlen geflüchtet war. Unter dem Blätterdach des Waldes war es dunkel und die Hitze stand wie eine kompakte Masse zwischen den Bäumen. Myra überprüfte den Verband, den Susanna Nicoletta angelegt hatte und klopfte ihr mit der flachen Hand sachte auf den Schenkel.
»Wir müssen weiter. Sie werden eine Weile ihre Wunden lecken und sich fragen, wer ich bin und warum ich euch helfe. Dann werden sie zu der Ansicht kommen, dass mein Bogen keine rechte Gefahr für sie darstellt. Aber sie werden vorsichtiger sein. Gefährlicher und entschlossener. Sie wissen jetzt, dass ihr Wild sich wehren kann. Das macht die Jagd für sie vielleicht spannender, kann aber auch sein, dass der eine oder andere zögert. Das ist dann unsere Chance.« Sie schaute auf Susanna und fühlte einen kalten Druck in ihrer Brust, als ob ein Eiszapfen in ihrem Herz stecken würde. In ihren Augen brannte der Schweiß.
»Halte Ausschau nach zwei Stöcken. Einen für Nicoletta und einen für dich. Ich spitze sie zu, damit ihr sie als Waffe verwenden könnt.«
Keine zwei Kilometer später, die sie mehr gestolpert als gelaufen waren, hielt Nicoletta an und klammerte sich mit einer Hand an ein armdickes Bäumchen. Sie war kalkweiß, das Wasser lief ihr in Strömen über das Gesicht und sie wankte, wie ein junges Schilfrohr im Wind.
»Ich kann nicht schneller, mein Bein wird immer steifer, ich habe keine Kraft mehr«, heulte sie und biss sich auf die Lippen. Sie schwang ihr Bein vor und zurück und setzte es vorsichtig auf, damit es möglichst wenig schmerzte. Susanna hielt hinter ihr und schaute sie an, ihre Augen waren voller Mitleid.
»Ich kann dich stützen.« Sie rief nach Myra, die voranging, den Bogen leicht gespannt mit schussbereitem Pfeil in der Hand, aufmerksam horchend.
»Seid still!«, zischte Myra und lauschte in den Wind, der mit den Blättern über ihnen spielte, den Zikaden, die vereinzelt lustlos zirpten und auf die Tara, die weit unter ihnen durch das Tal rauschte. Selbst die Vögel waren bei der Hitze verstummt und hockten träge in den Ästen.
»Sie sind hinter uns her und holen auf, wir müssen weiter«, sagte sie und musterte Nicoletta von oben bis unten. »Du bist zu schwer für mich, ich kann dich nicht tragen. Wir schlagen einen Haken und gehen weiter weg vom Fluss weg, tiefer in den Wald hinein. Dort sind wir sicherer und ich hoffe, dass wir sie so abhängen können und uns nicht verirren. Wenn wir nicht zum Fluss zurückfinden, sind wir ohnehin verloren. Wir brauchen Wasser und später zu essen.«
»Lass mir ein paar Minuten«, bettelte Nicoletta.
Susanna schaute den Berg hinab. »Ich könnte Wasser holen. Das dauert auch nur ein paar Minuten.« Sie zuckte mit der Schulter. »Ich meine, bis Nicoletta wieder zu Atem gekommen ist, kann ich mich doch nützlich machen.«
»Wenn du meinst, du schaffst es.« Myra runzelte die Stirn. Sie starrte den Pfad entlang, den sie gekommen waren, blickte den Wald hinauf und den Hang hinunter. Nirgends war eine Bewegung zu sehen. Beinahe widerwillig hockte sie sich nieder und bedeutete auch den Mädchen, sich zu setzen. »Drei Minuten bis zum Fluss, drei Minuten für die Flaschen und fünf Minuten, bis du wieder hier bist. Länger darf es nicht dauern.« Susanna nickte heftig, ganz erfüllt von ihrer Aufgabe, sprang hoch und wollte bereits laufen.
»Halt!«, rief Myra und hielt sie zurück. »Die Flaschen.« Susanna grinste verlegen und nahm den Rucksack von Myra entgegen, warf ihn über die Schulter.
»Wir warten fünf Minuten und gehen dort vorne hinauf«, zeigte die Frau dem Mädchen eine ausgewaschene Rinne, von heftigen Regenfällen in den Boden gegraben, die eine Schneise im Wald bildete. »Folge uns auf der anderen Seite, fünf Schritte parallel dazu. Damit bist du unsichtbar, siehst aber, wenn jemand die Rinne hochkommt. Wir verstecken uns oben. Ich gebe dir ein Zeichen.« Susanna lief los, sprang behände über Steine und Wurzeln und war gleich darauf zwischen Sträuchern verschwunden. Sie konnten lose Steine hören, die den Wald hinabkullerten.
»Komm! Wir müssen weiter.« Die fünf Minuten waren um. Myra trat zu Nicoletta, half ihr hoch.
»Ich kann da nicht hinauf, ich schaffe das nicht.«
»Doch, du schaffst das. Weil dir gar nichts anderes übrig bleibt. Ich werde nicht zulassen, dass die Kerle dich kriegen. Vanessa und Katja sind tot, aber Susanna und du, ihr werdet überleben und sie ins Gefängnis bringen. Oder willst du sie davonkommen lassen?«
»Nein! Natürlich nicht«, schniefte Nicoletta, und ihre Miene verdunkelte sich. Sie schwankte und drückte eine Hand gegen den Baum. Ächzend streckte sie den Rücken durch und betrachtete die Strahlen der Sonne, die durch die Baumkronen fielen. Sie wischte sich die Finger an ihrer Hose ab und atmete tief ein und aus.
Eine Viertelstunde später standen sie am Fuß eines Hohlweges. Zwei riesige Felsen standen zueinander geneigt und bildeten mit einem großen Dreieck den Abschluss und Ausgang. Nicolettas Herz raste wie verrückt. Das Gewicht hatte sie auf ihr gesundes Bein verlagert, die Hose war tief auf die Hüfte gerutscht. Das nasse T-Shirt klebte an ihrem Körper. Die Erschöpfung hatte tiefe Spuren in ihr Gesicht gegraben.
»Hier haben wir Deckung«, schnaubte Myra erleichtert, hielt Ausschau nach Susanna und führte gleichzeitig Nicoletta hinter den Stamm einer riesigen Eiche.
Die muss mehr als hundert Jahre alt sein, dachte sie, und schätzte den Umfang. Selbst zu dritt würden sie den Stamm nicht umfassen können.
Nicoletta bohrte ihren Stock mit beiden Händen fest in die Erde und ließ sich auf den Boden sinken. Ein Schwarm Mücken erhob sich aus niedrigen Büschen und umschwirrte die beiden. Nicoletta wedelte sie müde weg und schaute Hilfe suchend auf Myra, aber die konzentrierte sich auf den Abhang unter ihr.
Durch die Bäume konnte sie einen hellen Fleck sehen, der hin und her sprang und unaufhaltsam näherkam. Zu behände, um ein Jäger zu sein, der ihren Spuren folgte. So schnell kletterte nur ein junges Mädchen, das sich im kalten Wasser erfrischt hatte und ganz genau wusste, wohin es wollte.
»Wir müssen weiter nach oben. Ich muss ein Versteck für uns finden«, sagte Myra, einen Fuß gegen den Hang gestemmt und legte den Kopf in den Nacken. Prüfend ließ sie ihre Augen über die Sträucher wandern, die den Rand des Hohlweges bildeten. »Du siehst aus, als könntest du echt nicht weiter und brauchst eine Verschnaufpause, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Nicoletta nickte auf eine unschuldige Art, die Myra betroffen machte.
»Kann ich nicht hierbleiben und mich ausruhen? Nur ein paar Minuten.«
»Nein Nicoletta«, erwiderte sie, und presste die Lippen zusammen. Das Mädchen tat ihr leid, und doch musste sie ihr alles abverlangen. »Falls die Kerle auftauchen, haben wir keine richtige Deckung. Hier sind wir ihnen ausgeliefert. Wir müssen da hochklettern, dann sehen wir weiter.«
Nicoletta schluckte und schaute den Hang hinauf, ihre Augen schwammen in Tränen.
Tapfer kletterte sie hinter Myra die Felsen hoch, suchte nach sicherem Tritt und verwünschte jeden Stein, den sie lostrat. Der Lärm, den sie verursachte, schien weithin zu hören sein und jeden Verfolger augenblicklich auf ihre Spur zu führen. Immer wieder sah sie nach unten, um zu sehen, ob sie bereits hinter ihnen auftauchten.
Endlich kamen sie auf ein Hochplateau, überwanden den Rand, der von knöchelhohem, hartem Gestrüpp bedeckt war und schauten nach unten. Der Fluss lag weit unter ihnen, wand sich wie ein türkises Band in einer halben Schleife, bevor er zwischen Wald und Felsen verschwand.
Myra ließ ihre Augen über das Plateau wandern, das eine Art hoch gelegener Lichtung war, fünf Schritte in der Länge und drei in der Breite, dahinter ein tiefer Abgrund. Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein schmaler Grat von dem Plateau weg, den sie überwinden mussten. Dann kam ein dichter Nadelwald, die Berge im Hintergrund türmten sich höher und höher dem Himmel entgegen. Dort konnten sie sich verstecken.
»Wir warten auf Susanna, ich brauche was zu trinken und du sicher auch. Sie kommt dort drüben hoch, wie ich gesehen habe.«
Nicoletta verzog das Gesicht. Kein Luftzug war zu spüren, die Bäume unter ihnen standen grün und bewegungslos in der brennenden Hitze. Weit im Osten stieg ein Schwarm Vögel in den heißen Himmel. Aber was immer sie aufgescheucht hatte, es war zu weit weg, um ihnen gefährlich oder gar Hilfe zu sein. Sie ließ sich zu Boden sinken, versuchte ein furchtloses Grinsen, das gänzlich misslang und blinzelte erschrocken zu Susanna hoch, die plötzlich vor ihr stand.
»Hier bitte«, keuchte sie und drückte Nicoletta eine Flasche mit Wasser in die Hand, die noch feucht vom Fluss war. »Frisch und eiskalt.« Ihre Haut wirkte vom Schweiß wie eingeölt, die Augen von der Anspannung des Kletterns groß. Sie holte noch zwei Flaschen heraus und warf Myra eine zu, bevor sie auch trank.
»Langsam trinken«, sagte Myra. »Sonst schwitzt ihr alles wieder raus.« Die Mädchen sahen sich an und lächelten.
»Am liebsten würde ich baden darin«, meinte Nicoletta, dann lachten die beiden leise.
Myra nahm Susanna den Rucksack ab und verstaute unter zaghaftem Protest von Nicoletta die Flaschen darin.
»Du wirst es später noch brauchen und wir wissen nicht, wann wir wieder Wasser finden.« Sie drehte sich herum und ihr Blick schweifte über das Plateau, das in der Sonne flimmerte. »Ich gehe den Grat entlang und gebe euch von drüben Deckung. Am Grat habe ich einen guten Überblick und kann mögliche Verfolger ausmachen. Sobald ich drüben bin, folgt ihr mir.«
»Sollen wir nicht zusammenbleiben?«, fragte Susanna und runzelte die Stirn.
»Nein, zusammen sind wir am Grat so unübersehbar wie Schießbudenfiguren. Außerdem würden wir uns gegenseitig behindern.«
Leise fluchend kletterte Arno die ausgewaschene Rinne hoch, bis er an den Hohlweg kam. Verharrte kurz, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und atmete schwer. In einer matten Bewegung zog er einen Hemdzipfel aus der Hose und wischte den Schweiß aus dem Gesicht. Versuchte tief durchzuatmen, riss die Augen auf und konzentrierte sich auf die Einzelheiten um sich herum. Hier waren sie wieder, die Fußabdrücke, nach denen er gesucht hatte. Die Schlampen hatten entweder keine Ahnung von der Jagd oder es war ihnen völlig egal, dass sie überall ihre Spuren hinterließen. Er senkte den Kopf zwischen die Knie und stützte sich schwer auf sein Gewehr.
Stadtmenschen, dachte Arno und grunzte abfällig. Erhob sich stöhnend, lehnte seine Flinte an den Stamm der riesigen Eiche und griff nach der Feldflasche, um einen ordentlichen Schluck Whiskey zu nehmen. Die Hitze machte ihm weit mehr zu schaffen, als er sich selbst eingestehen wollte. Ihm brummte der Schädel von der Sonne und dem Whiskey, den er im Laufe des Tages getrunken hatte. Sein Gesicht kribbelte und er konnte die staubige Luft in seinem Mund schmecken, die bei jedem Schritt vom ausgedörrten Boden aufstieg. Er versuchte einen endgültigen Plan zu fassen. Überlegte kurz der Versuchung nachzugeben und im Schatten sitzend, auf seine Freunde zu warten.
Die Schlampen würden ihnen nicht entkommen. Ihr Tod war so sicher, wie der Sonnenuntergang, den er heute noch sehen würde. Er starrte den Hohlweg entlang und schüttelte seine Feldflasche. Viel war nicht mehr übrig.
Arno spürte, wie plötzlich die Wut in seinem Kopf pulsierte und die Venen an seinem Hals anschwollen. Sie hatten Jeremy erschlagen und sie hetzten ihn durch diese Scheißhitze, sie mussten sterben und zwar in der nächsten Stunde. Aus seinen Augen strahlte der Hass, und er dachte daran, dass er sie am liebsten mit einer Axt zerstückelt hätte. Nach einem weiteren Schluck aus der Flasche, der das Feuer in ihm neu entzündete, schnappte er sein Gewehr und stapfte den Hohlweg weiter hinauf.
Susanna konnte ihn bereits hören, als er noch nicht zu sehen war. Er machte keine Anstalten leise zu sein, war sich seiner Sache völlig sicher. Sie hatten mit Nicoletta eine breite Spur hinterlassen, die leicht zu verfolgen war. Sie sprang auf die Beine und lief drei Schritte zurück, um in den Hohlweg zu schauen. Spähte geschützt hinter einem Felsen hervor und entdeckte den Kerl sofort. Er stand am oberen Rand der Böschung, keine fünf Schritte vor ihr, von dem aus er Myra auf dem Grat nur allzu deutlich sehen konnte. Mit einem schäbigen Lächeln hob er das Gewehr, zielte und wartete als würde er seine Lage genießen.
Bis sie sich umdreht und den Bogen spannt, hat sie zwei Kugeln in der Brust, dachte Arno.
Er bewunderte die schöne Frau, die mit geschmeidigen Bewegungen den Grat entlangging, ihre langen Beine, die schlanke Figur. Und er wünschte, er könnte sie in den Keller schaffen, um sich mit ihr zu vergnügen und müsste sie nicht töten, zumindest nicht sofort. Vielleicht war sie auch keine Beteiligte, dachte er, korrigierte sich in Gedanken aber sofort. Der Bogen, den sie in der Hand hielt, verriet sie als Schützin.
Susanna setzte zu einem Schrei an, merkte aber, dass sie Myra damit weder warnen noch ihr helfen konnte. Also stürzte sie wie eine Irre auf ihn zu, den angespitzten Stock mit beiden Händen über dem Kopf und schrie ihm all ihre Angst, ihren Hass entgegen, der sich in ihr aufgestaut hatte.
Arno sah sie aus dem Augenwinkel, noch bevor er ihren Schrei vernahm. Überrascht warf er sich herum und riss instinktiv das Gewehr hoch, um den Stoß mit dem Stock abzuwehren. Er wich zur Seite und trat nach Susanna, die ihr eigener Schwung zu Sturz brachte, über den Boden schrammte und den Abhang hinunterrutschte. Arno hob das Gewehr, wollte ihr den Rest geben, er hatte doch tatsächlich auf sie vergessen. In diesem Moment traf ihn ein Pfeil in die Seite und der Schuss ging ins Leere. Er taumelte, drehte sich einmal um die eigene Achse und richtete sein Gewehr wieder auf Myra, verharrte aber, weil Nicoletta einen Stein nach ihm warf. Er zog den Kopf ein und duckte sich, der Stein traf ihn an der Schulter und Arno grunzte empört. Er hob das Gewehr, es krachte ohrenbetäubend. Nur ein Moment war vergangen, aber Nicoletta war wegen ihres verletzten Beins zur Seite gefallen. Die Kugel jaulte als Querschläger durch den Hohlweg.
»Verfluchte Schlampen«, fluchte Arno und richtete das Gewehr erneut auf Nicoletta, als ihn der zweite Pfeil traf. Etwas brannte am Schädel und er stürzte nach vorne.
Sie schießen mit Pfeilen auf mich, können mich aber nicht töten, dachte er. Das machte ihn beinahe übermütig. »So war das nicht gedacht«, knurrte er. »Ich mache euch fertig.«
Schmerz und eine boshafte Niedertracht loderten in seinen Augen. Er ließ das Gewehr sinken und rollte sich halb herum. Wischte über den Schädel und wollte noch einmal auf das blonde Mädchen schießen. Aber da war sie schon über ihm, stach mit ihrem Stock nach ihm, traf seinen Schenkel und fügte ihm eine blutige Wunde zu. Er heulte erschrocken auf und wich zurück, hob das Gewehr hoch und schlug nach ihr. Sie fiel auf den Rücken. Daraufhin kroch er wie eine riesige Spinne auf das Hochplateau zu, sprang auf und schoss auf Myra, die mit gespanntem Bogen auf freies Schussfeld wartete. Myra kippte zur Seite und verschwand auf der anderen Seite des Grats. Triumphierend wandte sich Arno um, das Gesicht bleich vor Zorn. Er lachte böse. Eine krankhafte Grimasse.
Dann riss er die Augen vor Schreck auf und erblasste. Vor ihm stand Nicoletta. Sie hatte mit ihrem Stock weit ausgeholt und knallte ihm diesen mit aller Kraft auf den Mund.
»Du machst niemand fertig«, keuchte sie. Er ging zu Boden, fiel auf den Hinterkopf, schnappte nach Luft und spuckte blutige Blasen. Seine Finger umklammerten das Gewehr. Mit zitternden Augen drückte er ab.
Nicoletta wurde nach hinten geworfen, als ob sie ein Bulle mit den Hörnern erwischt hätte. Sie bäumte sich auf und krallte mit weit aufgerissenem Mund ihre Hände in den Bauch. Susanna, die auf das Hochplateau zurückgeklettert war, erbleichte. Entsetzt starrte sie auf Nicoletta, auf ihr Gesicht, das weiß wie kalter Marmor war. Die verschwitzten Haare, die am Schädel klebten, wie draufgepappt, ihre blutverschmierten Hände, die zuckten und bohrten, als könnten sie die Kugel herausholen und die Wunde verschließen.
»Du hast Nicoletta getötet«, schrie sie, rannte los und schnappte nach Nicolettas Stock, mit dem sie wie eine Furie auf ihn einschlug.
Plötzlich lag Arno auf dem Rücken, hob das Gewehr, konnte die meisten Schläge abwehren und rappelte sich hoch. Er drehte auf dem verletzten Bein um, das nachgab, verlor das Gleichgewicht und taumelte nach hinten.
Die braunen Augen zuckten wild. Er streckte ihr den rechten Arm entgegen, als sei es nicht zu spät, als müsse sie doch erkennen, dass er nicht auf sie schießen wollte, nur reden, und merkte plötzlich, dass kein Boden unter seinen Stiefeln war. Er fiel auf den Rücken, überschlug sich und rutschte in den Abgrund hinter ihm. Das Gewehr verhakte sich dabei in einer Wurzel und er konnte sich im letzten Augenblick daran festhalten. Seine Beine traten lose Steine und Sand in den Abgrund, während sie nach einem Halt suchten. Susanna sprang auf ihn zu und schlug mit dem Stock nach seinen Händen.
»Verdammte Schlampe, lass das«, schrie er. In seinen Augen lag so viel Hilflosigkeit, wie er sie wahrscheinlich noch nie zuvor erlebt hatte. »Ich werde dich in die Kiste sperren, bis du da drin vermoderst. Das kannst du nicht mit mir machen.«
Ihre Halsmuskeln waren angespannt und die Hände krallten sich fest um den Stock, den sie wieder und wieder herabsausen ließ. Unter ihren Schlägen knackten die Finger und lösten sich. Einer nach dem anderen. Dann fiel Arno und verschwand mit einem langen Schrei in der Tiefe. Sein Mund weit geöffnet, wie ein hungriger Vogel.
Susanna sah auf ihn hinunter, zuckte bei jedem Aufschlag zusammen, wenn er auf die Felsen krachte und hörte, wie seine Knochen brachen. Schließlich blieb er zwischen Steinen eingezwängt liegen. Ein Bein war verdreht, ein Arm ruckte unkontrolliert hin und her.
Ihr war, als würde er nach ihr rufen.
Kreischend, ängstlich, schmerzverzerrt.
Sie wartete, bis die Töne leiser wurden, vom Winde verweht und schließlich verstummten.
* * *
Für eine ganze Weile stand sie über den Abgrund gebeugt, starrte mit leeren Augen auf die Felsen, den Wald und zwei große Vögel, die am blauen Himmel erschienen waren und über der Schlucht zu kreisen begannen.
Sie bückte sich, zerrte das Gewehr aus der Wurzel und warf es dem Mann hinterher.
»Das hast du davon, du Arschloch. Jetzt bist du Futter für die Geier. Du dachtest, du könntest uns töten und bist jetzt selbst mausetot!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten, schüttelte sie und schrie so laut sie konnte, um ihren Frust, ihren Wahn loszuwerden. Dann besann sie sich plötzlich, drehte auf dem Absatz um und lief zu Nicoletta, ihr Mund fühlte sich so trocken an, wie nie zuvor.
Das Mädchen lag im kurzen trockenen Gras auf dem Hochplateau, schaute in den Himmel, während ihr Körper in unregelmäßigen Wellen zitterte.
»Oh Nicoletta«, flüsterte Susanna, kniete sich neben sie und schob eine Hand unter ihren Kopf. Mit der anderen wischte sie sich die Tränen von den Wangen.
»Mir ist so kalt, obwohl es heiß ist, nicht wahr?«
»Ja«, nickte Susanna und schluckte. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie mit staubigem Kies gegurgelt. »Es ist heiß.« Ihre Augen tasteten über das Gesicht der jungen Frau. Sie versuchte nicht auf ihre Wunde zu schauen, aus der dunkles Blut sickerte. »Möchtest du Wasser?«
»Nein. Ich habe keinen Durst, keine Schmerzen«, erwiderte Nicoletta und krallte ihre Hand in Susannas Arm. »Ist das gut oder ist das nicht gut?« Ihre Stimme klang wie die eines kleinen, verschreckten Kindes, kaum lauter als der Wind, der über die Hochebene strich.
»Das ist gut«, versicherte ihr Susanna und zog die Hand unter ihrem Kopf hervor. »Ich muss dich verbinden. Warte einen Moment. Ich brauche Verbandszeug.« Sie schaute sich um, Myra hatte sicher Verbandszeug, Myra hatte für alles eine Lösung, hatte alles Mögliche in ihren Rucksack gepackt. Aber Myra war nirgends zu sehen.
»Es ist gut, wie es ist«, wisperte Nicoletta, legte den Kopf zur Seite und drückte noch einmal Susannas Arm. Ihre Brust hatte aufgehört zu beben, ihr Mund bewegte sich, als wollte sie noch etwas sagen. Susanna beugte sich zu ihr hinunter und spürte ihren warmen Atem auf ihrem Ohr.
»Tötet die Scheißkerle. Lasst sie nicht am Leben.«
»Nein, werden wir nicht«, schüttelte Susanna den Kopf. »Der Kerl, der auf dich geschossen hat, ist bereits tot. Er ist in den Abgrund gestürzt und hat sich sämtliche Knochen gebrochen.«
»Das ist gut, das ist sehr gut.« Nicoletta bäumte sich noch einmal auf und krallte sich in Susannas Arm, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen. Dann lag sie still.
»Oh Nicoletta, nein, bleib bei uns«, schluchzte das Mädchen und drückte ihr Gesicht auf Nicolettas Brust. In ihrem Kopf drehte sich alles, als habe jemand mit der flachen Hand auf sie eingeschlagen. Sie horchte auf den Herzschlag der jungen Frau, einen Laut oder ein Zeichen, fühlte den Puls, wie sie es vom Fernsehen kannte, aber da war nichts mehr. Ein kalter Schauer erfasste ihr Herz, breitete sich in der Brust aus und jagte ihr eine Gänsehaut über Rücken und Arme.
Irgendwann setzte sie sich auf die Knie und sah sich um. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Das Plateau war leer, kein Mensch zu sehen. Ihre Wimpern flatterten wie kleine dunkle Schmetterlinge, sie ließ die Schultern fallen und weinte um Nicoletta, Katja und Vanessa, und ein wenig auch um sich selbst.
Die Sonne überflutete alles um sie herum mit tanzenden Lichtstrahlen. Das kurze, harte Gras, das knöchelhohe Gestrüpp und die in der Hitze flimmernden Steine, die von Wind und Wetter glattgeschliffen waren. Ihre Stirn war trocken und heiß. Von ihren Augenwinkeln weg liefen dünne weiße Linien, die sie älter aussehen ließen, als sie eigentlich war. Ihre Wangen waren eingefallen, feucht und salzig von den Tränen. Sie wusste nicht mehr weiter. Wusste nicht, wie sie in dieser Wildnis überleben sollte, wusste nicht, wie sie zurück in die Zivilisation finden sollte.
Im Grunde wollte sie nichts anderes, als zu ihrer Tante und ihrem Vater, vor allem zu ihm, um ihn um Verzeihung zu bitten. Sie schrie all ihren Kummer hinaus und schreckte eine Schar Vögel auf, die sich neben sie niedergelassen hatte. Sie erhoben sich in den Himmel, drehten eine Runde und flogen weiter nach Norden. Susanna sah ihnen nach und wünschte sich in diesem Augenblick nichts mehr, als es diesen kleinen Vögeln gleichzutun und einfach davonzufliegen.
Der Wind strich ihr mit einer sanften Brise über das Gesicht, spielte in ihren Haaren und sie meinte, ein leises Geräusch zu hören. Eine Stimme, die nach ihr rief.
Irritiert wandte sie sich nach links und nach rechts, konnte aber niemanden sehen.
»Myra, bist du das?«, rief sie. Erst leise, verzagt, dann lauter. »Myra, Myra wo bist du!« Sie rannte die Hochebene entlang bis zum anderen Ende und starrte auf den Grat, den Myra zuletzt gegangen war, rief erneut ihren Namen.
»Ich bin hier«, hörte sie die Stimme und legte den Kopf schief, um zu lauschen. »Auf der rechten Seite. Du musst den Grat entlanggehen, aber gib acht. Wenn du fällst, sind wir beide verloren.«
Im zweiten Drittel konnte sie die Frau endlich finden. Sie stand auf einem kleinen Felsvorsprung, nicht mehr als eine Handbreit Stein, darunter fünfzig Meter blanker Fels und über ihr eine verkümmerte Lärche, die sich irgendwann hier festgekrallt hatte, um ihr kümmerliches Dasein zu fristen. Klein genug, um mit dem zu überleben, was Wind und Wetter ihr boten und groß genug, um Myra den Halt zu bieten, der sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Susanna schätzte die Entfernung auf mindestens vier Meter, die sie zu überwinden hätte, und nirgends eine Möglichkeit, sich festzuhalten. Sie kniete sich auf den Boden, ignorierte die spitzen Steine, die sich in ihre Haut bohrten und schaute nach unten.
»Du machst es einer wie mir nicht einfach, dir zu helfen«, rief sie und musterte Myra besorgt.
»Ich habe einen Streifschuss abbekommen, unter der Achsel, nicht lebensgefährlich, aber schmerzhaft, und die Sonne und der Wind trocknen mich aus. Ich kann mich nicht mehr lange halten.« Myras Gesicht war erschöpft, von Schmerzen und Kratzern gezeichnet, ihr Haar staubig, zerzaust. In ihren Augen brannte das Wissen um ihre Lage.
»Oh Scheiße, ich komme runter und helfe dir.«
»Nein! Auf keinen Fall. Hier ist nicht genug Platz für uns beide und du kommst nicht mehr hoch. Ich hab´s schon versucht, aber der Fels ist zu glatt. Keine Chance, um dich festzuhalten. Kannst du mir ein Seil herunterwerfen?«
Susanna schaute sie skeptisch an und dachte fieberhaft darüber nach, woher sie ein Seil bekommen könnte. Ein heißer Wind fegte über den Grat und blies ihr die Haare ins Gesicht. Ärgerlich wischte sie die Strähne weg und schüttelte den Kopf.
»Ich habe kein Seil«, antwortete sie. Ihre Stimme klang rau, aber entschlossen.
»Was ist mit den Jägern, die uns verfolgt und auf uns geschossen haben? Sind sie weg oder haben sie aufgegeben?«
»Es war nur einer«, erwiderte Susanna. »Der liegt auf der anderen Seite, fünfzig Meter tiefer, zwischen Felsen eingeklemmt.«
Myras Gesicht entspannte sich, nur ein paar Augenblicke später schwammen ihre Augen in Tränen. »Ich habe ein Seil in meinem Rucksack, aber ich kann es nicht so hoch werfen. Außerdem gibt es dort oben nichts, woran man es festmachen könnte.«
Susannas Blicke huschten über den Grat, den Abgrund auf der einen Seite, den steilen Hang gegenüber und suchten erfolglos die Umgebung ab.
Da drüben wäre klettern möglich gewesen, dachte sie und kniff die Augen fest zusammen. Ein Stück weiter vorne hing Myras Bogen an einem Stein, nur am oberen Ende zu erkennen. Sie musste ihn beim Fallen verloren haben.
»Hast du noch Pfeile?«, rief sie und krabbelte bereits auf die andere Seite des Grats.
»Ja, aber die helfen mir nichts. Ich habe meinen Bogen verloren.«
Susanna konnte Myra hinter sich hören.
Sprich weiter, dachte sie, ich brauche deine Stimme, einen Halt, sonst bin ich verloren. Sie legte sich flach auf den Boden und beugte sich so weit nach vorne, bis ihre Fingerspitzen das geschwungene Ende des Bogens erreichten. Tief unter ihr konnte sie das grüne Wasser der Tara sehen, die sich schäumend durch die enge Schlucht wand. Sie wirkte im gleißenden Sonnenlicht so fern, dass ihr vom bloßen Hinsehen schwindlig wurde.
Vorsichtig streckte sie ihre Finger um das Ende des Holzes, machte sich schwer und stemmte gleichzeitig ihre Füße fest in den Boden. Es fehlten immer noch wenige Zentimeter. Ihre größte Sorge war, dass ihr das Teil, das ihre einzige Waffe war, aus den Fingern rutschen könnte. Der Abhang war nicht so steil, dass sie bei einem möglichen Absturz sterben würde, aber sie käme vermutlich schlimm zerschunden oder mit gebrochenen Knochen unten an. Und an den Rückweg auf den Grat wollte sie nicht einmal denken. Sie nahm all ihren Mut zusammen, veränderte ihre Position nach links und schnappte zu. Blieb still liegen und atmete leise aus. Erleichtert und ängstlich zugleich. Ihre Füße, die in Sportschuhen steckten, hatten den Halt verloren und kratzten langsam über den Boden. Sie konnte spüren, wie ihr Körper der Schwerkraft folgte und dem Abgrund entgegenglitt. Mit dem Mut der Verzweiflung spreizte sie die Beine, bohrte die Zehen in jede Vertiefung, die sie finden konnte und schob und zog sich mit den Händen zurück auf den Grat, wo sie schwer atmend und schweißüberströmt liegen blieb.
»Susanna! Susanna bist du noch da? Mach bloß keinen Unsinn. Susanna?«
»Ich ... ich komme gleich«, krächzte das Mädchen, rollte sich herum und kam mit zitternden Beinen hoch. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie ein kleiner Schmiedehammer, ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, aber dann schwenkte sie triumphierend den Bogen über ihren Kopf und lief zu Myra, die erleichtert die Augen schloss, während sich ihre Miene entspannte.
»Ich werfe dir den Bogen zu und du bindest das Seil an einen der Pfeile und schießt ihn hoch«, erklärte Susanna und schätzte die Entfernung und ihre Möglichkeiten.
»Nein. Das funktioniert nicht«, erwiderte Myra schnell, bevor Susanna tatsächlich den Bogen warf. »Das funktioniert nur in Filmen. Ich schaffe vielleicht einen Knoten, aber ich kann den Bogen nicht spannen. Dazu brauche ich beide Hände. Aber sobald ich die Lärche loslasse, falle ich. Keine Chance.« Sie musste all ihre Disziplin aufbringen, um nicht nach unten zu sehen. »Ich versuche an mein Seil zu kommen, binde eine Schlinge und werfe sie dir zu. Du musst sie auffangen und das Seil oben irgendwo festmachen. Dann kann ich hochklettern.«
Susanna nickte mit einer nachlässigen Kopfbewegung. »Denkst du, du schaffst das?«
Beim dritten Versuch erwischte sie endlich die Schlinge, die Myra mit letzter Kraft geworfen hatte. Ihr Gesicht war steif und kantig von der ausgestandenen Anstrengung und der Angst zu versagen, im grausamen Bewusstsein, dass es an ihr lag, ob Myra sterben oder überleben würde. Eine Verantwortung, der sie sich niemals gewachsen gefühlt hätte, hätte sie auch nur ein paar Sekunden Zeit gehabt, zu überlegen.
»Ich hab sie, ich hab sie«, schrie sie und warf sich herum. »Ich hole dich rauf.« Mit einem Ruck sprang sie hoch und lief fünf Schritte weiter den Grat entlang, schlang das Seil um einen Felsen und zog heftig daran. Es straffte sich, hielt aber der Belastung stand, und Susanna rannte zu Myra zurück.
»Es kann losgehen.«
Myra wickelte sich das Seilende um die rechte Hand, umfasste es fest und begann den Fels hochzuklettern. Erst zaghaft, prüfend, weil sie die Sicherheit des Felsvorsprungs nicht verlassen wollte, dann schneller und schneller. Ihre Beine kratzten am Fels entlang und suchten jede Stelle, jeden kleinen Vorsprung, um sich daran zu stützen, nach oben zu schieben. Der linke Arm und die verletzte Stelle unter der Achsel schmerzten, als ob ein Haken darin steckte, an dem jemand zog. Sie biss die Zähne zusammen und stieß die Luft aus, griff Hand über Hand. Die Abbruchkante kam immer näher, war gerade noch zwei Armlängen von ihr entfernt, während sie das Letzte aus sich herausholte. Quälte sich durch den Schmerz, bis sie ihn nicht mehr wahrnahm, die Augen im grellen Licht der Sonne zusammengekniffen.
Susanna beugte sich nach vorne, umklammerte Myras Handgelenk, sobald sie in Griffweite kam und zog sie mit aller Kraft nach oben. Sie spürte, wie sich jeder einzelne ihrer Muskeln anspannte. Nie hätte sie gedacht, dass es einer derartigen Anstrengung bedurfte, jemand hochzuziehen. In Filmen sah das ganz entspannt aus.
»Ich wollte den Rucksack schon fallen lassen«, keuchte Myra zwei Minuten später. Die Frau und das Mädchen lagen dicht nebeneinander und waren erleichtert. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, trotzdem grinsten sie. Ein verzerrtes erleichtertes Lachen.
»Er hat dort unten an mir gezerrt, wie ein Todesengel, aber ich wollte ihn nicht loslassen. Ich hänge an ihm.« Sie ließ ein kurzes hartes Husten hören.
»Hast du da Wasser drin?«
»Ja«, sagte Myra und holte zwei Flaschen hervor. Sie tranken im Liegen, viel zu schnell, das Wasser lief ihnen warm über die Lippen und den Hals hinunter. Dann setzten sie ab, stellten die Flaschen auf ihren Bauch und sahen sich an, während sie dem Wind lauschten, der vom Fluss heraufkam.
»Was ist mit Nicoletta?«
Susanna drehte für einen Moment den Kopf, als sie wieder zu Myra schaute, hatte sich ein gequälter Ausdruck in ihre Augen geschlichen. »Sie ist tot, Myra. Dieser Scheißkerl hat sie in den Bauch geschossen. Ich bin zu spät gekommen. Sie ist tot. Ich konnte ihr nicht helfen.«
»Du kannst nichts dafür Susanna. Hörst du. Das Schwein hat sie getötet, nicht du. Das war er, und jetzt ist er auch tot, nicht wahr? Er ist doch tot?«
»Ja«, flüsterte Susanna. »Ich habe ihm auf die Finger geschlagen, bis er losgelassen hat. Er liegt dort unten und ist Futter für die Geier.«
Myra betrachtete das Mädchen mit starrem Gesicht.
Susanna schaute mit leeren Augen den Grat entlang. »Nicoletta liegt auf der Lichtung drüben. Wir müssen sie wegbringen, vielleicht in den Wald.«
»Alles was wir müssen, ist so schnell wie möglich hier verschwinden. Die anderen Kerle haben sicher die Schüsse gehört und werden uns finden. Ein Wunder, dass sie nicht schon längst aufgetaucht sind. Wir wären ganz einfach zu erledigen.«
»Wir müssen sie verstecken oder mit irgendetwas bedecken. Wir können sie nicht liegen lassen.« Susanna fasste Myra am Arm, in ihren Augen loderte ein höllisches Feuer. »Die Geier dürfen sie nicht finden.«
»Okay«, erwiderte Myra und sah sie lange an. »Bringen wir sie in den Wald.«
Sie brauchten eine Viertelstunde, um das tote Mädchen in den Wald zu tragen und sie mit Zweigen, Steinen und Laub zu bedecken.
»Was passiert hier mit uns?«, schluchzte Susanna mit einer Stimme kleiner Mädchen, als sie fertig waren und lehnte sich an einen Baum. »Sie werden uns töten, nicht wahr?« Ihre Kraft war verbraucht, sie war am Ende. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit trübten ihren Blick.
»Komm«, sagte Myra, und schaute zurück in Richtung des Hohlwegs, den sie hochgeklettert waren und den sie die letzten Minuten nicht aus den Augen ließ.
»Wir müssen weiter, müssen sie abhängen. Du warst so tapfer. Ich dachte schon, das wäre mein Ende am Abgrund, aber du hast mich gerettet. Doch die werden uns keine weitere Chance mehr geben. Wir haben zwei von ihnen getötet. Sie werden in Zukunft auf der Hut sein und uns nicht mehr nahekommen. Sie werden uns bei der ersten Gelegenheit erschießen.«
»Wir könnten im Wald bleiben und uns ein Versteck suchen.«
»Nein. Wir haben nur das bisschen Wasser und nichts zu essen. Wir müssen über den Grat und runter zum Fluss, unsere einzige Chance, Essen zu finden und zu entkommen. Ich kann fischen oder ein Tier schießen, das zum Wasser kommt. Reiß dich am Riemen. Wir können das schaffen.«
»Wie denn?«, schrie Susanna plötzlich und sank in die Knie. »Katja, Vanessa und Nicoletta sind tot. Wir schaffen das nicht. Sie werden uns töten.«
»Wir stellen ihnen eine Falle und überwältigen sie.«
»Sie haben Gewehre, schon vergessen. Sie unterschätzen uns jetzt nicht mehr.«
»Ich habe immer noch den Bogen.« Myra presste die Faust um den hölzernen Griff und schüttelte die einzige Waffe, die sie ihren Mördern entgegensetzen konnte.
»Gegen zwei Gewehre bist du machtlos. Sie schießen uns in Fetzen, bevor du einen zweiten Pfeil aufgelegt hast. Das funktioniert nicht im richtigen Leben. Du hast uns doch bis jetzt auch nicht schützen können«, erwiderte Susanna verbittert. Sie bereute ihre Worte sofort und wandte sich ab. Ihr Gesicht brannte vor Scham.
»Du hast recht, es tut mir leid, du hast recht«, stammelte Myra und trat einen Schritt zurück. »Ich habe alles versucht und versagt. Es ist meine Schuld.«
»Es tut mir leid. Das war nicht so gemeint. Bitte verzeih mir.« Susannas Augen füllten sich mit Tränen.
Unbeholfen stand sie auf und schlang die Arme um Myra. Drückte ihr Gesicht an den schweißnassen Hals.
»Du hast mich gerettet, ich habe dich gerettet. Sie dürfen nicht gewinnen«, murmelte sie. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
Der Wind frischte auf und strich heiß wie aus einem Backofen über ihre Körper, als sie den Grat wieder entlangliefen. Myra spürte ein Kribbeln im Nacken, wagte aber nicht den Kopf nach hinten zu drehen. Solange sie liefen, gaben sie kein gutes Ziel ab, aber jeder Fehltritt konnte sie unweigerlich das Leben kosten. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz jeden Augenblick aussetzen musste, dass sie den brennenden Schmerz einer Kugel spürte, die sie zu Fall brachte. Aber nichts dergleichen geschah. Sobald sie den Wald erreichten, fanden sie einen Pfad und folgten diesem bergab. Myra war überrascht, wie kühl sich der Nadelwald anfühlte, in dem vorwiegend Tannen und Lärchen wuchsen.
»Wohin?«, rief Susanna und trabte weiter, ohne sich umzudrehen.
»Einfach bergab«, antwortete Myra. »Sobald du den Fluss siehst oder der Pfad endet, überlegen wir, wie wir vorgehen.« Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte aber keine Gefahr erkennen. Auch das Kribbeln im Nacken war weg. Entweder sie hatten ihre Verfolger abgehängt oder diese hatten ihren Kumpel entdeckt und versuchten zu ihm hinabzusteigen. Das könnte ihnen den nötigen Vorsprung verschaffen.
»Der Fluss. Da unten ist die Tara«, rief Susanna und stoppte ihren Lauf, indem sie sich an einem Baum fing und festhielt. Myra konnte eben noch zur Seite springen, bevor sie gegen Susanna prallte. Vor ihnen klaffte wieder ein Abgrund.
»Wow. So rasch hätte ich sie nicht erwartet. Sie kommt aus dem Nordwesten, muss also eine Schleife gezogen haben. Wären wir ein bisschen weiter südlich gelaufen, wären wir vermutlich eine ganze Weile länger unterwegs, bis wir sie wieder gefunden hätten.«
»Deshalb auch diese steilen Berghänge.«
»Mhm. Sie hat sich tief in die Schlucht gegraben, mit vielen Biegungen.«
»Können wir hier eine Pause machen oder die Steilwand hinunterklettern? Ich kann nicht mehr weiterlaufen. Meine Beine zittern und die Knie geben nach.«
»Besser nicht. Ich muss erst die Lage checken. Du kannst hier nicht hinunterklettern. Das sind mindestens fünfzehn Meter Steilwand, und selbst wenn du ins Wasser fällst, kannst du nicht sagen, ob da nicht Felsen sind. Außerdem ist die Strömung zu stark. Sie würde dich mitnehmen und du hättest keine Chance wieder herauszukommen.« Myra schüttelte den Kopf. »Wir müssen die Abbruchkante entlang gehen und einen Weg suchen.«
»Gib mir zehn Minuten zum Verschnaufen.«
»Okay! Aber nicht hier, am Ende des Pfades. Das ist zu gefährlich.« Myra schaute sich um und hörte auf das leise Rauschen der Lärchen und Tannen, gelegentlich unterbrochen vom dumpfen Knarren der Äste, die sich aneinanderrieben. Singvögel, die in allen möglichen Tonlagen zwitscherten, und dazwischen das Summen der Insekten und Sirren der Zikaden. Sie entdeckte etwas oberhalb ihrer Position eine Felsgruppe. »Da oben wäre ein gutes Versteck«, sagte sie, runzelte die Stirn und zeigte mit dem Bogen darauf. »Geh dorthin, verhalte dich ruhig und warte, bis ich wieder zurück bin.«
* * *
Schwer atmend kletterten Reinhard und Heimo den Hohlweg hinauf, den Arno vor ihnen gegangen war. Sie hofften, ihn bald schon einzuholen.
»Es waren vier Schüsse, also hat er alle vier erschossen oder einmal nicht getroffen«, keuchte Heimo und drückte mit zusammengebissenen Zähnen die Hand auf seine Wunde. »Das verdammte Biest schießt nicht umsonst mit einem Pfeil auf mich, das wird sie büßen. Ich hoffe für ihn, dass Arno nicht auf sie geschossen oder sie zumindest nur verwundet hat. Mit ihr habe ich noch einiges vor.«
»Spar deine Kraft und Atem, bis wir oben sind. Kann nicht mehr weit sein«, antwortete Reinhard, blieb stehen und suchte die Umgebung vor ihm ab. »Wir sind nicht eben leise. Ich möchte nicht auch einen Pfeil abbekommen. Ist möglich, dass sie diesmal besser zielt.«
»Wenn sie noch einen Bogen halten kann«, grinste Heimo mit schmerzverzerrtem Gesicht, hielt sich aber entschieden hinter Reinhard. Sie überwanden die letzte Steigung und traten in den Sonnenschein hinaus, wo sie eine leichte Brise erwartete, die trotz der Hitze kühlte. Eine graue Wolke aus kleinen Mücken tanzte über das braune Gras, das an vielen Stellen plattgedrückt war. Reinhard tastete nach seiner Feldflasche, öffnete den Verschluss und trank daraus. Das Wasser war längst warm und schal. Angewidert verzog er den Mund und fluchte leise. »Wenn wir wieder zum Fluss kommen, muss ich das verdammte Ding auffüllen. Ich schwitze wie ein Schwein. Wir sollten das Jagen in die Morgen- oder Abendstunden verlegen.«
»Sieh dir das an«, meinte Heimo, ohne auf Reinhards Worte einzugehen und starrte auf den Boden. »Alles zertrampelt. Überall Spuren.«
»Unmöglich sie zu zählen. Die sind durcheinandergelaufen wie die Hühner. Scheiße, wir haben auf sie geschossen, aber noch keine Leiche. Und wir wissen nicht, wie viele noch übrig sind. Dafür ist Jeremy tot.« Wütend spuckte Reinhard ins braune Gras, drehte sich wild herum, versuchte überall gleichzeitig hinzusehen, und hielt schließlich inne. Der Wind hatte gedreht und trug einen metallisch süßen Geruch zu ihnen herüber.
»Dort drüben ist Blut.« Er zeigte auf eine Stelle, an der das Gras großflächig niedergedrückt war und dunkle Flecken schimmerten. »Jemand muss eine Menge davon verloren haben.«
Neugierig traten sie näher und betrachteten die Stelle, an der sich bereits grün schillernde Fliegen sammelten.
»Zumindest eine hat´s erwischt. Nach der Menge von Blut dürfte sie das nicht überlebt haben. Also nicht lange.« Heimo neigte den Kopf und folgte mit seinen Blicken den verschiedenen Spuren. Er ging bis zum Rande der Lichtung und schaute in den Wald, drehte sich um und ging auf die andere Seite, die abrupt in einen Abgrund überging. Mit gleichmütiger Miene warf er einen Blick in die Tiefe, wandte sich ab und blieb zögernd stehen. Dann schaute er noch einmal in die Tiefe, hob die Hand gegen die Sonne und kniff die Augen fest zusammen.
»Da unten sitzt ein Geier und hackt auf irgendetwas herum«, rief er und ging drei Schritte zur Seite, um eine bessere Sicht zu haben. Ein undefinierbarer Laut löste sich aus seiner Kehle. Er riss den Kopf in die Höhe, schnappte nach Luft. »Gottverdammt, was ist denn das für eine Scheiße!«
»Verschwinde, du beschissener Aasfresser!« Reinhard, der neben Heimo getreten war, nahm einen Stein und schleuderte ihn nach dem Vogel, traf aber nur den toten Arno, dessen Bein zuckte, als würde er noch leben. Der Geier hüpfte auf einen anderen Felsen, ließ sich nach vorne fallen und breitete die riesigen Schwingen aus. Und während Heimo sein Gewehr hochriss und zwei schnelle Schüsse in die Tiefe jagte, die beide als Querschläger jaulend von den Felsen abprallten, schraubte er sich flügelschlagend hoch in die Luft und kreiste in sicherer Entfernung über der Schlucht.
Ungläubig schaute Reinhard auf Heimo und klopfte sich mit der flachen Hand auf sein Ohr.
»Musstest du unbedingt neben meinem Ohr auf das Biest schießen. Ich kann nichts mehr hören.« Er öffnete und schloss mehrfach den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen und schüttelte den Kopf. Seine Augen auf das Gesicht des Freundes gerichtet, versuchte er noch mehr zu sagen, doch sein Mund war wie ausgedörrt.
»Wird schon wieder«, erwiderte Heimo und starrte nach unten, als könnte er sich nicht von dem Anblick losreißen, der sich ihm bot. »Die verdammten Schlampen haben Arno erledigt. Wie erklären wir das bloß seiner Mutter.«
»Was hast du gesagt? Ich kann nichts verstehen?«
»Ach vergiss es. Wir müssen ihn dort hochbekommen.« Reinhard schaute ihn entgeistert an.
»Wir müssen Arno heraufholen«, schrie ihm Heimo ins andere Ohr, und spuckte ihm dabei kleine Tröpfchen in die Halsbeuge.
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren«, antwortete Reinhard viel zu laut und wischte mit der Hand über seinen Hals. »Das schaffen wir nicht. Dazu brauchen wir eine Kletterausrüstung. Wie willst du sonst da runterkommen, und vor allem wieder rauf?« Er riss seine Augen für einen Moment weit auf, als wäre er über seine eigenen Worte erschrocken.
»Wie erkläre ich das bloß seiner Mutter?«, fragte Heimo noch einmal, ohne tatsächlich eine Antwort zu erwarten. Sein Blick ging über die Schlucht vor ihm ins Leere.
»Wir erklären gar nichts. Wir verständigen die Ranger und geben Arno und Jeremy als vermisst aus. Sie haben sich während der Jagd von uns getrennt und vermutlich verirrt.« Reinhard tippte sich gegen die Stirn. »Denk nach. Beide sind abgestürzt. Falls man sie jemals findet, sind ihre Leichen von Tieren angefressen, zum Teil verschleppt. Wir hoffen natürlich, dass man sie findet, helfen vielleicht bei der Suche und trauern um unsere Freunde. Aber das war´s dann auch schon. Viel interessanter ist doch die Frage, von wem ist das Blut, und wo sind die verdammten Schlampen?«
Heimo lächelte milde. »Na wo schon? Unten an der Tara. Oder denkst du, sie klettern im Steilhang herum oder sind wieder in den Wald gelaufen.« Sein Gesicht zeigte die gleiche freundliche Gelassenheit, um die er sich bemühte, wenn er seine wahren Gefühle vor einem Kunden verbergen wollte.
Reinhards Miene verfinsterte sich. Er mochte es nicht leiden von jemand bloßgestellt zu werden, auch nicht von einem alten Freund, wie Heimo es war. Als er fortfahren wollte, musste er zunächst einmal schlucken.
»Wir wissen, dass sie hier waren«, sagte er. »Deshalb gehen wir nicht über den Grat, was das Naheliegende wäre, sondern nach Osten und dann nach Süden und schneiden ihnen den Weg ab.«
»Der Fluss liegt aber hinter uns«, erwiderte Heimo.
»Stimmt. Aber ich kenne die Gegend. Ich war schon einmal hier jagen. Die Blockhütte liegt nicht weit nordwestlich. Ich dachte mir damals, ich hätte mich verirrt und habe den Fluss gesucht. Er macht eine Schleife. Deshalb gehen wir nicht über den Grat, um der Tara zu folgen, wie es das Miststück, das bei ihnen das Sagen hat, sicher gemacht hat, sondern durch den Wald, schneiden ihnen den Weg ab und erwarten sie nach der Biegung.«
Susanna ließ ihre Augen durch die Gegend wandern und dachte nach. Der Geruch von Moos, von trockenem Laub und warmen Steinen lag in der Luft und erinnerte sie an den Garten ihrer Tante, wo sie einige Sommer verbracht hatte, als ihre Mutter noch am Leben war. An das kleine Häuschen beim Wald und dem Teich davor, in dem Frösche quakten und Eidechsen sich auf den Steinen tummelten, die als Abgrenzung aufgeschichtet waren. Ihr Spielplatz, an dem sie Prinzessin und Jägerin, Siegfried und Drache sein konnte, und in ihrer eigenen Welt bestand.
Eine leichte Brise blies durch die Lärchen, die bis ans Ufer der Tara standen und wiegte die Wipfel in sanftem Tanz zu einer unhörbaren Musik. Sie drehte ihr Gesicht in den Wind und sah, wie er auch die Schatten im Wald zum Tanzen brachte. Doch dann bemerkte sie, dass es nicht nur die Bäume waren, die Schatten warfen. Zwei Männer kamen am Ufer der Tara unter den Lärchen den Pfad herauf. In ihren Händen hielten sie Gewehre. Nur für Sekunden zu sehen. Im nächsten Moment waren sie wieder im Dunkel des Waldes untergetaucht. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen, starrte auf den Punkt, wo sie als nächstes zu sehen sein müssten und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie tatsächlich erschienen.
Das waren eindeutig die Männer, die sie entführt und missbraucht hatten. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Eine Art kaltes Entsetzen breitete sich in ihrem Herzen aus und sie fühlte, wie die Verbitterung in ihrem Körper hochspülte, wie Galle. Dasselbe hatte sie auch empfunden, als ihr bewusst geworden war, dass einer der Kerle ein Versicherungsvertreter aus ihrer Stadt war, der auch schon bei ihr zu Hause im Wohnzimmer gesessen hatte.
Sie sprang auf, überzeugte sich, dass sie zwischen den Felsen für die Männer unsichtbar war und suchte nach Myra, die den Kerlen entgegenkam und ihnen unweigerlich vor die Gewehre laufen würde. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sie vor ihnen sein könnten und nicht hinter ihnen waren.
Für ein paar Sekunden hatte Susanna das unheimliche Gefühl vor einer riesigen Breitbandleinwand zu sitzen und müsste wie in einem Freiluftkino verfolgen, wie ihre neue Freundin getötet wurde, ohne auch nur irgendwie eingreifen zu können.
Myra war dort unter ihr und suchte nach einem sicheren Abgang, weil sie selbst vor Erschöpfung nicht mehr weitergekonnt hatte. Nur um jetzt vielleicht in ihr Verderben zu laufen. So grausam konnte das Schicksal doch nicht sein, oder doch?
Aber das würde sie nicht zulassen. Noch konnte sie eingreifen.
Mich können sie nicht sehen, vermutete sie, überzeugt von sich selbst, wandte sich um und schaute über die Felsen. Suchte die Männer im Wald unter ihr und sah, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle richteten, sich tiefer in den Wald duckten und aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Sie haben Myra entdeckt, dachte sie, wie vom Blitz getroffen. Ihr Gesicht war verspannt, ihre Mundpartie blutleer und bleich. Ihre Nasenwände vibrierten, als sie tief Luft holte und ihr unweigerlich klar wurde, dass Myra in diesem Moment den Männern genau ins Schussfeld lief, wenn sie den Pfad weiterging und es ihr nicht gelang, sie zu warnen.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte.
Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und lief hinunter zur Abbruchkante. Hier fühlte sie sich einigermaßen sicher. Sie konnte zurückspringen, in Deckung gehen oder schnell genug im Wald verschwinden, bevor die Männer zu ihr heraufkamen.
Sie griff nach einem faustgroßen Stein, wog ihn in der Hand und warf ihn in hohem Bogen die Felswand hinunter, dort wo die Wand in einen steilen Hang überging. Der Stein knallte gegen einen Baum, rollte über den Boden und erzeugte dabei ein Geräusch, als ob jemand den Hang hinunterschlittern würde. Instinktiv fuhren die Männer herum und suchten die Umgebung ab.
Sofort sprang Susanna hoch und versuchte Myra auf sich aufmerksam zu machen, riss die Arme empor und winkte und schrie verzweifelt, um den Lärm des rauschenden Wassers, das selbst hier oben laut war, zu übertönen. Plötzlich krachte ein Schuss und sie wirbelte erschrocken herum, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Strampelnd versuchte sie vom Abgrund wegzukommen, rappelte sich hoch und wollte sich hinter einen Felsen ducken, als der nächste Schuss aufbellte und Steinsplitter über ihren Arm kratzten. Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, sprang zurück und prallte mit der Schulter gegen einen trockenen Ast, der sich unter ihre Achsel bohrte. Reflexartig warf sie sich zurück und stolperte über eine Wurzel. Im Augenwinkel konnte sie den größeren der beiden Männer sehen, der sein Gewehr auf sie gerichtet hielt und schoss. Das Gewehr zuckte kurz auf. Sie machte noch eine halbe Drehung, aber unter ihren Füßen war plötzlich kein Boden mehr, dann zogen Felsen an ihren Augen vorbei und sie schrie.
Im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, in einen eiskalten Strudel gefallen zu sein. Alles drehte und bewegte sich um sie. Sie schlug mit den Armen um sich und strampelte mit den Beinen, konnte aber kein Licht mehr sehen. Da waren nur grünes Wasser, braune Steine und ein schäumender Himmel über ihr.
Interessiert beobachteten die Männer, wie das Mädchen über die Steilwand ins tobende Wasser fiel und ließen die Gewehre sinken. Warteten gespannt, ob sie wieder auftauchen würde und schauten nur kurz hoch, als ein Blauhäherpärchen über ihnen in den Zweigen landete und ihre Schatten über sie warfen.
»Getroffen und erledigt«, grinste Reinhard und musste schreien, um das brüllende Rauschen des Flusses zu übertönen.
»Dein Schuss oder meiner?«
»Egal. Hauptsache eine weniger.« Reinhard trat aus dem Wald, um beide Ufer des Flusses einsehen zu können und riss überrascht die Augen auf. Seine linke Hand zuckte hoch.
»Scheiße, da ist sie. Nicht totzukriegen, das Miststück. Entweder wir haben schlecht getroffen oder sie ist zäher als eine Straßenkatze.«
Dreißig Meter vor der der Biegung tauchten Arme auf, die verzweifelt aufs Wasser schlugen, das in weißen Wellen über Felsen spülte und sich an den steilen Felswänden brach, die das linke Ufer bildete. Für den Bruchteil einer Sekunde konnten sie auch den Kopf sehen, ihren Mund, der weit offen nach Luft schnappte, bevor die nächste Welle sie untertauchte, dann eine Weile nichts. Und plötzlich Beine, die an einen Felsen gespült wurden und einen Körper, der sich hochzog und festklammerte.
Heimo gab einen knurrenden Laut von sich und hob das Gewehr, aber das Wasser war schneller, riss das Mädchen mit sich und tauchte sie wieder unter. Er streckte die Waffe in den Himmel und lachte abfällig.
»Die ist hinüber. Aus der Nummer kommt sie mit oder ohne Kugel im Körper nicht mehr heraus.«
»Bist du dir sicher? Vielleicht kann sie sich retten?« Ungläubig starrte Reinhard ihr nach.
»Da ist nichts mehr zu machen«, winkte Heimo ab. »Wenn sie der Fluss erst mal hat, lässt er sie nicht wieder los. Das kennen wir doch.«
»Das war die Kleine, nicht wahr? Das heißt, die Amazone lebt noch, die auf dich geschossen hat. Und von den anderen wissen wir auch nicht, wie viele noch übrig sind.«
»Um die kümmern wir uns später. Die können nicht weit sein. Ich frage mich, warum sie sich getrennt haben?« Heimo griff nach seiner Wasserflasche, bevor ihm einfiel, dass sie mittlerweile leer war. Seine Kehle fühlte sich vom Schreien an, als ob er mit Rasierklingen gegurgelt hätte.
»Vielleicht war sie dabei, die Gegend auszukundschaften. Dann kommen die anderen auch hier entlang. Wir drängen sie in den Wald ab und jagen sie nach Norden. Dort haben wir mehr Möglichkeiten, sie zusammenzutreiben und endgültig auszuschalten.«
Myra war am Ende ihrer Kräfte. Fehlender Schlaf, die brütende Hitze, die über dem Land lastete, die Sorgen um die Mädchen, die ausgestandenen Ängste und jeder einzelne Verlust, den sie mit ansehen, mitverantworten musste, zerrten an Nerven und Stärke.
Sie hatte alles gegeben und alles verloren. Konnte keines der armen Mädchen retten, die das Schicksal ihr so unversehens zur Obhut überlassen hatte.
Nicht eines.
Schluchzend sank sie neben dem Pfad zusammen, den sie eben wieder hochklettern wollte, an eine Lärche gelehnt. Zitternd umklammerte sie ihre Knie mit beiden Armen und legte den Kopf darauf. Ein heißer Wind wirbelte ihre Haare, die von Staub und Schweiß verfilzt waren, um die Beine und scheuerte über ihren bloßen Nacken wie unsichtbares Schleifpapier.
Sie hatte aus der Entfernung mit ansehen müssen, wie die Männer auf Susanna geschossen hatten. Zu weit weg, um zu helfen. Zu weit weg, um einzugreifen. Hatte gesehen, wie Susanna von der Tara mitgerissen wurde und wie sie gekämpft und verloren hatte.
»Warum?« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und schrie dem Wald ihren Kummer entgegen.
»Warum hast du mich hierhergeführt. Warum musste ich das mit ansehen, wenn ich doch nicht helfen konnte? Warum mussten sie sterben? Sie waren doch viel zu jung. Warum müssen im richtigen Leben die Guten als Erstes gehen und die Bösen kommen davon. Was soll diese Scheiße?« Sie hämmerte mit den Fäusten auf den Boden, unfähig, ihren Schmerz mit Worten zu artikulieren und schrie, bis nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle kam. Aber nur das stete Rauschen der Tara antwortete ihr, und die Lärchen wiegten sich im ewigen Tanz.
ACHT
Myra hatte sich mit der bitteren Realität zu verlieren fast abgefunden, weigerte sich aber plötzlich irgendwann auf Knien ins Jenseits zu rutschen und bei den toten Mädchen, um Vergebung zu bitten.
Sie hatte sie nicht umgebracht. Sie nicht!
Sie hatte vielleicht nicht alles für sie getan, nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Aber umgebracht hatten sie die anderen.
Die Tränen versiegten, Angst und Trauer gingen in Abscheu über, und Myra verspürte den unbändigen Wunsch, diese Missgeburten von Männern zu jagen und ihrem aufgestauten Hass auf sie freien Lauf zu lassen.
Nein, Hass war nicht das passende Wort. Für einen Moment glomm in ihren Augen ein Funke auf, den sie aus ihren früheren Jahren kannte. Es war eine animalische Wut, die man normalerweise mit misshandelten Tieren in Einklang brachte.
Wie Gespenster, die sich im dunklen Wald herumtrieben, jagten die Gedanken durch ihren Kopf und eine eiskalte Ruhe kam über sie.
Myra hob den Kopf und atmete einmal tief durch. Aus ihrem Blick sprach eine wilde Entschlossenheit. Nicoletta hatte natürlich Recht. Kein Gericht dieser Welt würde die Kerle verurteilen, weil es keine Spuren und keine Leichen gab. Also musste sie es selbst in die Hand nehmen. Sie hatte eine dunkle Vorahnung, dass schon bald ein neuer, nie geträumter Alptraum über die Männer kommen würde.
Ich muss auf niemand mehr achtgeben, dachte sie. Ich bin nur noch für mich selbst verantwortlich. Also werde ich die Kerle jagen, sie zur Strecke bringen und die Mädchen rächen.
Sie begriff aber auch, dass sie ihre Gegner nicht unterschätzen durfte. Das waren mit allen Wassern gewaschene Jäger, die diese Wildnis kannten, oft genug hier gejagt hatten.
Myra erhob sich bedächtig, tastete nach ihrem Messer und nahm den Bogen in die linke Hand. Ihre Rechte ging nach hinten und zählte die Pfeile, die ihr geblieben waren. Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte aber niemanden auf dem Pfad hinter sich sehen, niemanden hören. Der Lärm der Tara verschluckte jedes andere Geräusch. Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung, ging in den Wald, um den Pfad zu meiden und stieg schwer atmend höher. Im Wissen, dass ihre Verfolger kommen würden.
Kein richtiger Jäger würde eine Spur aufgeben, auf der sie Blut gewittert hatten. Sie brauchte sich nur die richtige Stelle suchen, auf die Lauer zu legen und warten. Und tatsächlich, schon Minuten später, eigentlich viel früher als erwartet, wurde sie belohnt.
Anfangs konnte sie nur einen Schatten ausmachen, der zwischen den Bäumen hin und her huschte, viel weiter oben als sie die Peiniger der Mädchen vermutet hatte. Er hatte dadurch einen natürlichen Vorteil, den sie in Wahrheit für sich selbst nutzen wollte.
Hast du auf Susanna geschossen, dachte sie. Aber das konnte nicht sein. Der Mann kam aus Norden, als ob er der Tara folgen würde, wie sie es getan hatten. Vielleicht war er die Nachhut, die aufräumen sollte oder verfolgte gänzlich eigene Ziele. Aber wie dem auch sei, bis er das Gegenteil beweisen konnte, war im Moment jeder im Wald ihr Feind.
Myra kauerte sich hinter einer alten Eiche nieder, linste vorsichtig um den Stamm, fest an die Rinde gedrückt, stellte aber sicher, dass sie nicht entdeckt werden konnte. Der Mann kam näher, sie konnte einen Zweig brechen hören. Geschätzte Entfernung ca. dreißig Meter.
Das reicht, murmelte sie tonlos in sich hinein, spannte den Bogen, trat hinter dem Baum hervor und ließ den Pfeil von der Sehne. In den Sonnenstrahlen, die durch die alten Eichen und die Lärchen blinzelten, tanzten Staubpartikel und die Reste morscher Blätter, als der Mann zu Boden fiel und reglos liegen blieb. Myra legte sofort einen neuen Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen und trat mit zusammengekniffenen Lippen auf ihn zu.
Im Näherkommen erkannte sie das Hemd, das er trug, den Rucksack, der ihm über den Kopf gerutscht war und den Bogen, den er immer noch in der Hand hielt.
»Du gehörst also auch dazu«, fauchte sie, und musterte ihn mit wütendem und zutiefst enttäuschten Blick. Doch dann schaute er plötzlich hoch und lächelte mit grimmig verzerrter Miene. »Nicht schießen! Ich bin es, Kyle.«
»Ich weiß. Du gehörst also auch zu den Typen, die hinter den Mädchen her sind. Warum hast du mich dann verschont und nicht umgebracht oder verschleppt, als du die Gelegenheit dazu hattest?«, herrschte sie ihn an, ohne eine Antwort zu erwarten.
Kyle mühte sich, seine Schmerzen zu verbergen. »Ich gehöre zu gar niemanden und weiß auch nichts von Mädchen. Ich habe einen Mann am Fluss gefunden. Er wurde erschlagen. Zwei andere Männer haben mich verfolgt und auf mich geschossen. Ich habe sie abgeschüttelt und bin ihnen später gefolgt, weil ich Angst um dich hatte. Es ist nicht gut hier herumzulaufen, wenn schießwütige Kerle im Wald sind. Sie haben wieder geschossen, aber ich weiß nicht auf wen oder was.« Er schob seine Arme unter sich, um aufzustehen, ließ es aber bleiben. Stattdessen wandte er den Kopf nach rechts und hustete Blut, das er als kleine Tröpfchen auf dem trockenen Waldboden rot schimmernd versprühte. »Warum sollte ich dich verschleppen?«
»Mein Gott, in was für Bullshit sind wir da hineingeraten?« Myra streifte ihren Rucksack ab, legte den Bogen zur Seite und kniete sich neben Kyle, unsicher, was als nächstes zu tun wäre.
»Wo habe ich dich getroffen?«, fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Rechte Brust«, stöhnte Kyle, rollte zur Seite, damit sie seine Verletzung untersuchen konnte und sah an sich hinunter. Die Spitze war nicht allzu tief eingedrungen, hatte sich aber offensichtlich bei seinem Sturz in die Lunge gebohrt. Er würgte und spuckte einen blutigen Klumpen aus, den er angewidert mit Laub bedeckte.
»Ich muss den Pfeil rausziehen. Er steckt wahrscheinlich nur im Muskel.«
»Nein, besser nicht. Wenn er tiefer steckt, sollte er dortbleiben, bis ich zu einem Arzt komme. Aber vielleicht kannst du ihn abbrechen, wenn ich ihn festhalte. Dann kann ich mich selbst verbinden.« Seine Lider flatterten.
Myra schaute ihn mit ernster Miene an. Aus seinem Mundwinkel sickerte Blut.
»Okay. Aber wir müssen uns beeilen. Die Männer, die auf dich geschossen haben, sind hinter mir her, weil ich ein paar Mädchen aus ihrem Folterkeller befreit habe.« Sie nahm seine linke Hand und legte sie auf seine Brust, damit er den Pfeil festhalten konnte. Mit einem überraschten Ausdruck in seinen Augen suchte er nach weiteren Antworten in ihrem Gesicht, aber sie schüttelte den Kopf.
»Später.«
Mit einem schnellen Ruck brach sie den Pfeil ab und warf ihn zur Seite.
Kyle stöhnte vor Schmerz auf und erhob sich. »Danke.«
Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss und Kyle wurde gegen Myra geworfen und zuckte mit offenem Mund als ihn ein zweiter und dritter Schuss traf. Sie hörte den Einschlag der vierten Kugel in einem Baum über ihr und einen weiteren Schuss, der jaulend von dem Stein neben ihr prallte.
Myra warf sich herum, schnappte sich ihren Bogen und Kyles Köcher und robbte nach links, hinter einen Baum. Die nächste Kugel schlug direkt vor ihr in den Boden ein. Sie rutschte zur Seite und duckte sich, drehte hektisch den Kopf herum und versuchte überall gleichzeitig hinzusehen. Kyle lag hingestreckt zwei Armlängen entfernt auf der Seite und sah sie mit toten Augen an, blicklos und leer.
Entsetzt sprang sie nach hinten und krabbelte auf dem Rücken, die Arme seitwärts, wie ein Krebs, immer weiter zurück, bis sie unter einem Gebüsch verschwand. Zweige und Blätter kratzten über ihr Gesicht. Ein unkontrollierbares Schluchzen brach aus ihrer Brust. Die Männer schienen überall gleichzeitig zu sein, schossen aus allen Rohren. Sie drehte sich herum und presste sich auf den Boden. Lag völlig reglos da.
Dann war plötzlich nur Stille um sie.
Es war totenstill. So still, dass es schien, die Bäume und Sträucher um sie herum erstickten sogar die Gedanken. Als Nächstes hörte sie das ferne Geräusch des Flusses. Ein paar Vögel flogen kreischend auf. Ihre Schreie waren aus weiter Entfernung zu hören. Ihr rasender Puls wurde langsamer und sie begann auf die Stimmen der Jäger zu achten. Auf ein Rascheln, Kratzen, Schritte oder brechende Zweige. Aber sie hörte nur den Schrei einer Rotdrossel und den Ruf einer aufgeschreckten Elster hoch über ihr.
In der Folge schluchzte sie auf. Sie hatte Kyles Beweggründen misstraut und jetzt war er tot. Erschossen von den Männern, die sie verfolgten und genauso töten wollten. Allmählich begann sie, etwas klarer zu denken. Sie war hier nicht sicher. Genauso wenig wie zuvor.
Die Jäger! Wo waren die Jäger? Irgendwo weiter unten am Hang natürlich. Sie mussten ihre Silhouetten im Wald gesehen und ohne zu überlegen gefeuert haben. Das hieß, sie würden kommen, um ihre Leichen zu suchen. Sie krabbelte weiter rückwärts. Kroch lautlos den Berg hinauf und achtete auf jede ihrer Bewegungen. So wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte. Das Gestrüpp war weiter oben nicht mehr so dicht und so konnte sie durch das Gewirr des Unterholzes sehen, ohne selbst gleich entdeckt zu werden.
Kamen sie zu zweit oder einzeln?
Vermutlich würde einer kommen und der andere ihm Deckung geben, dachte Myra. Ich muss also den Zweiten finden. Sie begann schneller zu kriechen, bewegte sich auf allen Vieren weiter und hielt in kurzen Abständen inne, um ihre Flanke zu sichern und auf die kleinste Bewegung, das winzigste Geräusch, das ihr die Position der Verfolger verraten könnte, zu achten. Ihre Nerven lagen blank, als sie aufsprang, geduckt den Hang entlanglief und dann bergab hastete, um hinter ihm zu gelangen. Als sie weit genug gekommen war, stoppte sie, legte einen Pfeil auf den Bogen und bewegte sich mit absolut geräuschloser Langsamkeit weiter. Jetzt durfte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Irgendwo hier lauerte ihr Mörder.
Dann sah sie den Stiefel. Der Mann kniete hinter einem Baum und beobachtete die Umgebung vor ihm. War völlig ahnungslos und dachte im Leben nicht daran, dass der Tod von hinten kommen könnte. Lautlos schlich sie näher, atmete tief ein und aus und horchte auf den dumpfen Schlag, den der Pfeil beim Auftreffen machte. Blitzschnell legte sie einen Neuen ein und spannte den Bogen für einen zweiten Schuss.
Heimo hatte auf einmal ein seltsames Gefühl. Als er nach unten schaute, sah er den Schaft eines Pfeils aus seiner Brust ragen. Einen Moment lang dachte er, dass sich das verdammte Miststück einen Scherz mit ihm erlaubt hätte. Wusste sie denn nicht, dass ihre Pfeile ihm nichts anhaben konnten? Dann kam ein zweiter Pfeil und er starrte mit entsetzter Faszination auf die blutigen Spitzen, die wie sorgfältig ausgerichtet aus seiner Brust gewachsen waren. Er ließ das Gewehr sinken und stand auf.
»Reinhard«, flüsterte er. »Reinhard, sieh dir diese Scheiße an.« Er fühlte, wie sich die Wärme aus der Wunde unter seinem Hemd ausbreitete. Und mit einem Mal heulte er auf und setzte zu einem Schrei an, den gewöhnlich wilde Tiere machten, wenn ihr Fuß in ein Fangeisen geriet. In seinem Fall war es allerdings weniger aus Schmerz, als aus verletztem Stolz. Sein Mund öffnete sich zu einem erstickten Protestschrei gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Er verstand nicht, warum sein Leben so plötzlich und unfair enden sollte. Dann merkte er, dass er seine Beine nicht mehr spürte und kippte nach hinten. Sein Körper schlug schwer auf die knochentrockene Erde auf und rutschte ein Stück den Berg hinab.
Myra hielt den Atem an und spürte, wie ihr Puls in der Halsbeuge pochte. Sie ließ ihren Blick über den Abhang huschen, suchte nach Schatten, einer falschen Bewegung, die nicht in den Wald gehörte und überlegte für einen Moment auch den anderen Kerl jetzt und hier zu erledigen, verwarf aber die Idee wieder. Wenn er mitbekommen hatte, was mit seinem Freund passiert war, würde er sie nicht weit genug heranlassen, um ihn zu töten. Außerdem hatte er in dem steilen Waldgelände alle Vorteile auf seiner Seite. Inklusive den, dass er hoch über ihr saß. Sie wog ihre Möglichkeiten ab und entschied sich zum Fluss zurückzukehren. Denn für sie war klar, dass er ihrer Spur folgen würde. Sie brauchte nur einen kleinen Vorsprung, um eine Falle für ihn vorzubereiten, in die er laufen konnte. Schließlich wollte sie ihm das Sterben nicht so einfach machen, wie den anderen. Und er sollte wissen, wer ihm das Leben nahm und warum.
Sie hockte sich zu dem getöteten Jäger, nahm ihm die Feldflasche und seinen Proviantbeutel ab und hastete den Berg hinab, ohne sich weiter die Mühe zu machen, leise zu sein. Wenn ihr Verfolger hörte, in welche Richtung sie flüchtete, brauchte sie keine Spuren legen, die ihm vielleicht ihre Taktik verrieten. Besser er glaubte sie flüchte Hals über Kopf. Er würde ohnehin eine Weile bei seinem Freund bleiben, sich von seinem Zustand überzeugen und die unangenehme Erkenntnis überdenken, dass er tot war.
Mit weiten Sprüngen hetzte sie von Baum zu Baum, über umgefallene Stämme und Felsen, jede Deckung nutzend, schnurstracks der Tara entgegen. Schließlich brach sie aus dem Wald und verharrte kurz, um sich zu orientieren.
Das Wasser plätscherte gegen die Steine des felsigen Ufers und sie hörte wie sandige Rinnsale die Steine hinter ihr hinunterrieselten, hörte, wie der Wind durch die Eichen blies und das Wasser in ihrer Feldflasche schwappte. Sie schaute den Fluss zurück, bis zu der Stelle, wo er zwischen hohen Felsen, die sich messerscharf vom blauen Himmel absetzten, aus einer engen Biegung drängte, sich in weiterer Folge verbreiterte und an Schwung verlor. Die Stromschnellen wurden flacher und die Tara breiter. Sie schimmerte in einem klaren, hellen Grün, das so friedlich schien, dass sie unweigerlich zum Schwimmen einlud. Kaum zu glauben ihre Wildheit, die sie ein paar Kilometer zuvor noch gezeigt hatte. Myra sprang die Steine entlang, sah hinter sich und beugte sich tief hinunter. Wusch sich Gesicht und Hände mit dem erfrischend kalten Wasser, spülte die Flasche aus und füllte sie neu. Dann kletterte sie über die Felsen, zwängte sich durch ein wildes, dichtes Gestrüpp, das bis an die Tara reichte und kam an eine kiesbedeckte Fläche, die über dreißig Schritte keine Deckung bot. Geradezu ideal für ihr Vorhaben.
Nachdenklich beobachtete sie den Strandabschnitt, der in der gleißenden Nachmittagssonne vor ihr lag, ging hinaus und schaute zurück. Der Fluss lag ruhig wie ein See. Am Uferrand, durch ein halbes Dutzend Birken getrennt, waren Spuren von alten Lagerfeuern, Ringe aus geschwärzten Steinen und angeschwemmtem oder gesammeltem Holz. Ein beliebter Platz unter Kanufahrern, die hier Pause machten oder vielfach sogar eine Nacht verbrachten. Sie lief im Zickzackkurs los, überwand die offene Fläche, sprang über Felsen und umging einen riesigen Felsbrocken, der eine natürliche Barriere bildete. Im Kopf suchte sie bereits die richtige Stelle, an der sie auf ihren Verfolger warten würde, maß die Entfernung zum Wald, schaute auf den Winkel der Sonne und prallte zurück.
Hinter dem Fels lag ein Mensch.
Klein, zusammengekrümmt, ein Häufchen Elend, das sich in Hustenkrämpfen schüttelte, wieder still lag. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig.
»Oh mein Gott!«
Myra holte tief Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, während sie zu dem Bündel Mensch rannte, die sie bereits verloren glaubte.
»Susanna«, rief sie und warf sich vor ihr auf die Knie, ignorierte den Schmerz. Das Mädchen stöhnte verhalten.
»Myra, du bist da, das ist gut.«
»Susanna! Ich dachte schon, du bist ertrunken. Du hast die Stromschnellen überlebt. Du scheinst einen guten Schutzengel zu haben.«
Das Mädchen hustete wieder und zog die Knie und Arme fest an ihren Körper. »Mir ist so kalt.«
»Kannst du gehen? Kannst du dich bewegen.« Myra betrachtete mit gerunzelter Stirn die Abschürfungen und Quetschungen, die blutigen Furchen an ihren Armen und strich ihr innerlich hin und hergerissen, über den Kopf.
Manche Menschen haben einfach mehr Glück, als sie verdienen, dachte sie und musste fast lachen. Über die Ironie des Schicksals, das Karma des Bösen oder wie immer sie das sehen sollte. Susanna hatte im Fluss überlebt, aber ihr das geplante Vorhaben vereitelt und ihrem Peiniger vorerst das Leben gerettet.
An irgendetwas muss man glauben. Das tut eigentlich jeder. Selbst Atheisten glauben an irgendetwas, und sei es nur das eigene Leben und ihre Art, die Welt zu sehen. Andernfalls würden sie wohl verrückt werden. Und Myra glaubte in diesem Moment fest daran, dass es einer höheren Bestimmung dienen musste, dass der Kerl, der hinter ihnen her war, noch eine Chance bekam.
Susanna schaute Myra an und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ja. Ja, ich denke, ich schaffe das. Es ist nichts gebrochen«, sagte sie und bewegte Arme und Beine. »So schnell bin ich nicht kleinzukriegen, nicht wahr. Sogar die Tara hat mich ausgespuckt.«
Myra lachte erleichtert.
»Ja. Du bist zäh, wie eine Katze und hast offenbar genauso viele Leben. Aber sei nicht leichtsinnig damit, auch Schutzengel müssen irgendwann schlafen, und Katzen haben nur sieben Leben, dann ist´s vorbei damit. Und jetzt komm. Wir müssen hier weg. Einer ist noch am Leben. Wir müssen in den Wald, uns verstecken.«
Sie half dem Mädchen hoch und gemeinsam kämpften sie sich bis zu den Bäumen, die das Ufer säumten und noch ein Stück höher. Von hier aus konnte Myra den Strand überblicken und würde reagieren können, wenn ihr Verfolger auftauchte. Obwohl sie in diesem Augenblick nicht wusste, was sie unternehmen könnte, außer sich zu verstecken oder ihn von Susanna fortzulocken.
»Zwei haben wir erledigt«, überlegte das Mädchen und verstummte, als hätte sie ohnehin schon zu viel preisgegeben. Sie schaute auf die Tara, die unschuldig unter ihnen in der Sonne glitzerte.
»Einen habe ich getötet«, murmelte Myra und vermied es, das Mädchen anzusehen. »Zwei Pfeile ins Herz.«
»Wir müssen den anderen auch noch töten«, sagte das Mädchen mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einer tiefen Höhle. »Er wird uns jagen und nicht in Ruhe lassen, bis er uns zur Strecke gebracht hat. Wir müssen ihm zuvorkommen.«
»Iss, du brauchst Kraft«, erwiderte Myra, ohne näher auf ihre Worte einzugehen, kramte in Heimos Provianttasche und reichte ihr einen Müsliriegel. Susanna brach ein kleines Stück ab und steckte es in den Mund.
»Er wird uns hetzen, bis wir nicht mehr weiterkönnen«, setzte sie nach.
»Er hat noch immer ein Gewehr und ich habe nur Pfeile«, entgegnete Myra und legte die Hand auf ihren Köcher, in dem noch ein halbes Dutzend steckten.
»Trotzdem,« meinte Susanna beschwörend und fixierte Myras Gesicht.
»Wir gehen nach Nordwesten, dort ist eine Stadt. Wenn wir die oder eine Straße finden, sind wir in Sicherheit«, bestimmte Myra, stützte das Mädchen beim Aufstehen und führte sie den Berg hinauf. Das Adrenalin, das sie die letzte Stunde getragen hatte, ließ nach und sie spürte allmählich jeden Knochen im Leib.
Wie muss es erst Susanna gehen, fragte sie sich und musterte das Mädchen von der Seite, das offenbar tapferer und stärker war, als jeder andere Mensch, den sie kannte.
Sie folgten einem Hirschpfad, der in einen Taleinschnitt ging, der wie eine überdimensionale Kerbe in die Landschaft geschnitten war und den Weg bergauf nicht allzu beschwerlich machte. Nach einer halben Stunde fanden sie Himbeersträucher, voll mit süßen Früchten und pflückten sie hastig und hungrig.
»Iss, soviel du kannst«, sagte Myra und zupfte die Beeren von den Sträuchern, ohne auf die Dornen oder ihre zerkratzten Arme zu achten. »Mehr als die und den Müsliriegel haben wir nicht.« Sie stopfte sich eine Handvoll in den Mund, warf aber die meisten für später in die Tasche. Der Wind hatte aufgefrischt, wehte durch Gras und Blumen und brachte den Duft nach heißen Kiefern mit. Myra neigte den Kopf und lauschte, jeden Moment darauf bedacht, Schritte hinter sich zu hören, ein Knacken von Zweigen oder andere Anzeichen, die ihren Verfolger verrieten, aber der Hunger war einfach zu groß, um die Gelegenheit vorüberziehen zu lassen. Sie warf sich die letzten Beeren in den Mund, legte dabei den Kopf zurück und betrachtete den Himmel, der so makellos glänzte, wie blaue Seide.
Gestärkt gingen sie weiter und folgten dem Hirschpfad weiter nach oben.
Auf dem Kamm angekommen, liefen sie durch Eichen und Kiefern einen leichten Abhang hinunter, bis sie zu einem schmalen Bach kamen, an dem die einzigen Spuren von Hirschen, Rehen und Wildschweinen stammten. Myra hockte sich zum Ufer, rupfte kleine grüne Blätter, wusch sie im Bach und steckte sie in den Mund.
»Brunnenkresse«, sagte sie, beugte sich nach vor und drückte Susanna ein Büschel in die Hand. »Schmeckt etwas pfeffrig, hat aber viel Vitamin C.« Sie lächelte verschmitzt und stand wieder auf.
Es war angenehm kühl hier im Schatten und roch nach frischem Gras und dem Harz der Kiefern ringsum. Die Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen, schienen sich im klaren Wasser, das über flache Steine plätscherte, in ihre Bestandteile aufzulösen und auf den winzigen Wellen zu tanzen. Nachdenklich schaute sie sich um, die Umgebung schien ihr plötzlich seltsam vertraut.
»Warum bin ich nicht früher auf die Idee gekommen?«
Irritiert sah Susanna hoch, steckte sich noch ein paar der kleinen Blätter in den Mund und verzog das Gesicht.
»Wir sind in der Nähe ihrer Hütte, dort sind auch ihre Wagen.« Myra drehte sich zur Seite und starrte zurück auf den Weg, den sie gekommen waren, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie hatte nicht den Hauch eines Zweifels, dass der Kerl, der ihnen nach dem Leben trachtete, immer noch dort hinten war und ihren Spuren folgte. Er wartete nur, dass sie in ihrer Aufmerksamkeit nachließen oder vor Erschöpfung liegen blieben.
»Ich will nicht zu der Hütte.«
»Komm schon, wenn wir einen Wagen nehmen können, sind wir in Sicherheit.«
»Ich gehe nicht zu dieser verdammten Hütte«, wiederholte Susanna kopfschüttelnd. Ihr Blick schweifte mürrisch zur Seite und sie kniff die Lippen zusammen.
»Ich verstehe, dass das nicht einfach für dich ist. Du hast bis jetzt eine innere Stärke und Mut bewiesen, der kaum zu übertreffen ist. Von Menschen wie mir schon gar nicht. Aber ich muss eine Entscheidung treffen. Wir können nicht die nächsten Tage durch diese Wälder irren und uns von Kräutern und Beeren ernähren. Der Kerl wird uns so lange jagen, bis er uns erwischt oder wir zusammenbrechen und liegen bleiben. Unsere einzige Alternative wäre, ihm eine Falle zu stellen. Aber dazu bräuchten wir eine Gelegenheit, Zeit, sowie einen Ausweg, falls er nicht in die Falle läuft. Sonst sind wir verloren und er am Ende der Sieger.«
Susanna blinzelte, vermutlich vor mühsam unterdrücktem Zorn und schaute auf ein paar welke Blätter der Eichen, die eine leichte Brise vor sich herschob und ins Wasser wehte, wo sie alsbald untergingen. Für sie war das Leben vorbei, sobald sie abgeworfen wurden. Entweder sie wurden von Hufen zermalmt, vom Wasser ertränkt oder vermoderten am Boden, um Nahrung für neues Leben zu sein. Eine Weile herrschte drückendes Schweigen.
Myra wartete auf eine Antwort, eine Reaktion, und senkte schließlich resigniert die Schultern. »Dann gehen wir bis zur Straße, du bleibst dort und ich hole dich ab. Falls ich es nicht schaffen sollte, weil der Kerl mehr Glück hat, als ich oder noch einer übrig ist, von dem wir nichts wissen, hast du wenigstens einen Anhaltspunkt und einen Weg, an dem du in die Stadt findest.«
»Klingt schön und gut. Da ist nur mehr einer hinter uns her. Und ob er bis jetzt Glück gehabt hat oder einfach seine Zeit noch nicht gekommen ist, weiß ich nicht. Aber es gibt nur diese eine Straße ins Dorf und wenn er deinen Plan durchschaut, wird er irgendwo auf uns lauern. Er braucht dann nur warten, bis wir kommen, und schießt uns ab wie ein paar herumirrende Hasen.«
»Einen Versuch ist es wert, oder nicht?«, grinste Myra mit bedrückter Miene und neigte den Kopf.
Reinhard Frost lief die Tara entlang und versuchte seine Augen überall zu haben. Sie hatten dieses Drecksstück mit ihrem Bogen unterschätzt, das aus dem Nichts gekommen war und ihre schöne Jagd ins Gegenteil verkehrt hatte. Er zwängte sich durch dichtes Unterholz, weil es ihm zu gefährlich schien, es zu umgehen. Sprang über Steine und kletterte Felsen hinauf und hinunter. Immer in Bewegung bleiben. Kein Ziel abgeben.
Seine Blicke huschten über den Boden, suchten nach Spuren, wischten über das bewaldete Ufer und verharrten auf der Tara. Er traute ihr durchaus auch zu, dass sie hinter einem Felsen hervorsprang oder sogar im Wasser saß und auf ihn lauerte, um einen ihrer verdammten Pfeile auf ihn abzuschießen.
Der Tod von Heimo, sein verdutztes Gesicht, das in eine andere Welt schaute, als ob er sich fragen würde, was er dort sollte, hatte ihn in einem Maß erschüttert, dass er nie für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich, weil es ihn an seine eigene Sterblichkeit erinnerte.
Diese falsche Schlange musste Heimo überrascht und hinterrücks auf ihn geschossen haben.
Trotz der mörderischen Hitze kroch ihm ein Frösteln über das Rückgrat bis hinauf in den Nacken. Er zog den Kopf ein und machte sich bereit bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr in Deckung zu springen.
Reinhard wollte nicht von Pfeilen aufgespießt sterben. Das wäre einfach nicht fair. Sie waren die Jäger und die Schlampen die Hasen, nicht umgekehrt.
Verdammt! Wie konnte es bloß so weit kommen, dass der Spaß, den sie all die Jahre zuvor gehabt hatten, diesmal so aus dem Ruder lief?
Zu spät bemerkte er, dass die Frau sich längst vom Fluss abgewandt haben musste, um im Wald zu entkommen. Denn er stand an einer hoch aufragenden Steilwand, vor der sich der Fluss in aufgewühlten Stromschnellen brach. Unmöglich hier weiterzukommen. Fluchend bahnte er sich über Steine und Geröll einen Weg zurück, wohl wissend, dass er ein leichtes Ziel abgab, sollte die Schlange hinter ihm sein.
Das war ein Fehler, der auch ins Auge hätte gehen können. Soviel gestand er sich ein, als er schwitzend und keuchend auf den Platz mit den Birken zurückgekehrt war und sich umsah. Die Sonne warf ein Netz aus Licht und Schatten vor ihm auf den Boden.
Denk nach, sagte er sich. Wohin würdest du gehen? Wohin würdest du dich wenden? Du wirst verfolgt. Du bist der Gejagte.
Und dann war alles plötzlich ganz klar. Sie war diesen Taleinschnitt hinaufgegangen, der einzige Weg, der hier herausführte. Mit wenigen Schritten tauchte Reinhard im Wald unter. Er hörte den Wind, der in den Baumkronen wehte und fand auch sofort den Hirschpfad.
Deine Zeit ist gekommen, triumphierte er eine halbe Stunde später und betrachtete verzückt den Schuhabdruck, den er am Bach gefunden hatte.
Sie war also hier, der Abdruck im feuchten Erdreich war noch frisch, kein bisschen angetrocknet.
In seinen Ohren pochte das Blut und eine wilde Freude bemächtigte sich seiner. Das Schicksal hatte sein Leben wieder auf die rechte Bahn geführt. Er war der Jäger und das Miststück die Gejagte.
Gelassen kniete er sich am Bach nieder und gab acht, den Fußabdruck sorgfältig zu vernichten. Sollte zufällig ein Wanderer hier vorbeikommen, durfte er keinesfalls merken, dass hier ein Mädchen seinen Weg gekreuzt hätte. Er schöpfte mit beiden Händen Wasser, trank es genussvoll und ließ es sich dann über den Kopf laufen. Sein Gesicht war nachdenklich, beinahe friedlich, als er die Umgebung betrachtete und überlegte, wohin sie sich gewandt haben könnte. Der Wind blies Blätter von den Bäumen und ließ sie in nördliche Richtung schweben. Reinhard nickte versöhnlich und setzte sich in Bewegung.
* * *
»Keine Chance, ich habe keinen Empfang.« Zoran Novak klappte sein kleines blaues Handy zu, steckte es weg und griff wieder nach dem Funkgerät auf dem Armaturenbrett seines Wagens. Er stellte einen Fuß in die geöffnete Beifahrertür und legte die linke Hand auf das Autodach. Sein Blick wanderte die Straße entlang, streifte die Bäume am Rand, die staubigen Sträucher und verlor sich in der nächsten Kurve, ohne tatsächlich etwas zu sehen.
»Stefan. Stefan bitte kommen.« Nur das statische Rauschen der Elektronik, das aus den unendlichen Wäldern, die sie umgaben, zu kommen schien, antwortete ihm.
Missmutig drehte er an Knöpfen, verstellte die Tonstärke und wechselte den Kanal.
Nichts.
»Entweder er ist in einem Funkloch und nicht erreichbar, sein Gerät ist defekt, ohne Akku oder er hat ein Problem.« Zoran musterte den hageren Mann vor ihm, der rastlos die Straße auf und ablief und seine Hände tief in den Hosentaschen vergrub. Sich über den Kopf fuhr oder an den Seiten seiner abgewetzten Jeans abwischte, weil er nicht wusste, wohin damit. Zu den Jeans trug er ein durchscheinendes weißes Hemd und ausgetretene Sportschuhe ohne Socken.
Vielleicht hat er das Funkgerät aber auch, wie so oft, einfach im Wagen liegen gelassen, dachte Zoran. Weil Stefan es hasste, wenn er unterwegs war und Wanderer, Touristen oder Jäger beobachtete, und das Ding plötzlich zum Leben erwachte und ihn für alle Welt sichtbar machte.
Er griff nach den Zigaretten, zog eine mit dem Mund heraus, zündete sie mit seinem Zippo an und ließ den Deckel zuschnappen. Der Mann schaute kurz zu ihm herüber, dann richtete sich sein Blick in die Ferne.
»Wollen sie auch eine Zigarette?«, winkte Zoran und wedelte mit der Packung. Erleichter nickte der Mann und nahm dankbar die Zigaretten.
»Ich habe meine im Hotel vergessen. Ich bin im Moment etwas durch den Wind, müssen sie wissen.« Er klopfte sich eine aus der Schachtel und ließ sich von Zoran Feuer geben. Dabei behielt er den Mann im Auge, während der Rauch aus seinem Mund rollte und in die Luft wirbelte. Eine Weile war es still, bis auf die Vögel, die in den Zweigen lärmten und die Zikaden in den Sträuchern, die ihr Nachmittagskonzert anstimmten. Zoran verwünschte Sally, ihre Bürohilfe, die ihn gebeten hatte, den Mann in die Wälder mitzunehmen, weil er sich nicht und nicht mit den Antworten zufriedengeben wollte, die sie für ihn hatte. Er war seit zwei Tagen bei ihr im Büro und ließ sich nicht abwimmeln. Seine Augen voller Schmerz, aber auch mit dem argwöhnischen Funkeln eines Menschen, der wahrscheinlich schon öfter vom Leben hintergangen wurde.
Nur deshalb war er hier. Um Sally eine Pause zu gönnen. Zoran nahm einen letzten tiefen Zug von der Zigarette, warf sie Funken sprühend auf den Asphalt und trat mit dem Stiefelabsatz drauf.
Er griff wieder zum Funkgerät und rief in der Zentrale an.
»Hallo Sally, hast du in der Zwischenzeit von Stefan gehört? Ich bekomme ihn auch hier oben nicht ans Gerät.« Seine Miene wurde ausdruckslos, ohne dass er sich dessen bewusst zu sein schien.
»Nein. Er hat sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet und ich kann ihn nicht erreichen. Was denkst du denn?«, antwortete die dunkle Stimme der Frau. Und selbst über die Entfernung und das Knacken und Rauschen der schlechten Verbindung konnte er hören, wie verzagt sie klang.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber du kennst Stefan, er meldet sich auch schon mal drei Tage nicht, steht dann im Büro und tut, als ob er nur kurz draußen gewesen wäre.«
»Bring ihn nach Hause, okay?«, erwiderte Sally, und Zoran spürte das kalte Brennen einer Ahnung in seinem Herzen, wagte aber nicht, ihr zu widersprechen. Er wandte die Augen von dem Mann ab, um ihn die Sorge darin nicht lesen zu lassen. Schließlich war er hier, weil seine Tochter seit Tagen vermisst war.
»Es gibt da oben noch eine Hütte«, sagte Sally schnell, bevor Zoran die Verbindung unterbrechen konnte. »Die Besitzer kommen nur ein oder zwei Mal im Jahr zur Jagd hierher. Meist im Frühjahr oder Herbst. Im Sommer habe ich sie noch nie in der Stadt gesehen. Ich weiß nicht, ob sie zurzeit da sind.« Zoran meinte so etwas wie leise Hoffnung in ihren Worten zu hören. »Vielleicht hat der Sturm letzten Monat irgendetwas an ihrem Haus zerstört, dass er provisorisch reparieren wollte, um schlimmere Schäden zu vermeiden und ist damit aufgehalten. Immerhin liegt das Haus in der äußersten Ecke des Parks weitab der Straße, aber die Besitzer kommen in den Ort zum Einkaufen und sind immer freundlich und höflich. Du weißt, wie Stefan ist, wenn er helfen kann, fragt er nicht lange.«
»Du hast recht, das ist eine größere Blockhütte, soviel ich weiß. Wir schauen dort auch noch vorbei«, antwortete Zoran. »Ich melde mich dann später wieder.«
Karl Michaelis musterte Zoran einen Moment lang prüfend, dann schüttelte er den Kopf und ging über die Straße. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. »Wir waren den ganzen Tag unterwegs und haben weder ihren Kollegen noch sonst jemand, und erst recht nicht meine Tochter gefunden. Wir haben den halben Wald durchkämmt. Ich denke, wir sollten in die Stadt zurückkehren. Nichts für ungut, aber die Spur ist kalt. Ich muss mein Mädchen woanders suchen.«
Gedankenverloren massierte er seinen Nacken, drehte sich um, schaute über das Meer von Bäumen unter ihm und seufzte resigniert. Das Tal vor ihm war praktisch unbewohnt und zeigte keinerlei Spuren von Zivilisation.
»Dieser Wald ist riesig«, sagte Zoran und trat neben ihn. Wir haben nur einen kleinen Teil davon angekratzt. Wenn sie hier irgendwo ist, könnte sie hinter jeder Biegung, hinter jedem Felsen, hinter jedem Baum sein, und wir laufen an ihr vorbei.« Er schlug nach ein paar Mücken, die sich auf seinem Hals niedergelassen hatten, um sein Blut zu saugen. »Ich habe es ihnen gesagt, bevor wir weggefahren sind, dass die Chancen sie zu finden, sehr, sehr klein sind.« Er sah ein Zucken in Karls aufgesetzter Geduld, bevor sich dieser abwandte und mit dem Finger auf das Tal zeigte.
»Dort unten ist doch irgendwo ein Fluss, nicht wahr?«
»Ja, die Tara«, antwortete Zoran, und fragte sich, worauf der Mann hinauswollte.
»Können wir nicht Hubschrauber oder Suchhunde einsetzen?«
Der Ranger lachte ein bitteres Lachen, verstummte aber sofort wieder, als er in Karls zusammengekniffenes Gesicht schaute und den Schmerz darin sah.
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 8 und damit das Ende
								»Hast du sie erwischt?«, fragte Susanna trocken.
Myra schüttelte leise den Kopf. »Einen. Aber ich bin mir nicht sicher. Wir müssen weg hier. So schnell wie möglich. Sie haben sich vorerst zurückgezogen, aber es wird nicht lange dauern, bis sie wiederkommen, um uns den Rest zu geben.«
Nicoletta sah sie ungläubig an, die Augen weiß vor Schmerz und Angst. »Was ist mit Katja?«
Myra schüttelte wieder den Kopf und Nicoletta stieß einen leisen wimmernden Laut aus.
»Wir müssen sie begraben oder besser noch mitnehmen. Wir können sie nicht zurücklassen, du hast gesagt, wir lassen niemand zurück«, stöhnte sie verzweifelt.
»Sie ist tot. Katja ist tot, da ist nichts mehr zu machen. Wir können sie nicht begraben, dass kostet zu viel Zeit, die wir nicht haben. Und wir können ihre Leiche nicht mitschleppen, wir müssen uns später darum kümmern. Ich muss erst euch in Sicherheit bringen.« Myra schluckte die aufsteigende Welle von Hass gegen die Kerle hinunter, die sie in diese Situation gebracht hatten, ließ sich aber nichts anmerken.
»Ich habe sie mit Laub bedeckt«, setzte sie nach. »Ich konnte nicht genug Steine finden.« Es hatte keinen Sinn, ihre Gefühle zu zeigen.
Sie betrachtete Nicoletta, die neben Susanna saß. »Kannst du gehen? Schaffst du es hochzukommen oder sollen wir dich tragen? Wir müssten ein Travois bauen, so wie Indianer sie früher benutzt haben, um ihre Habseligkeiten zu transportieren.«
Nicoletta zögerte, rieb die Hände über ihren gesunden Schenkel. »Haben wir denn dafür Zeit, so ein Ding zu bauen?«
»Nein!«, erwiderte Myra ernst und sah sie an. Die Haare hingen ihr ins Gesicht. Wind kam auf und ließ die Blätter über ihnen rascheln. Nicoletta zuckte zusammen. »Ich will sie tot sehen.«
»Nicoletta, nein. Sag so etwas nicht. Das macht dich zu ihresgleichen. Wir müssen uns an die Regeln halten und die Polizei verständigen. Die werden sie ausfindig machen und festnehmen, damit sie sich vor einem Richter verantworten. Wir dürfen nicht ihre Richter sein.« Myras Mund wurde schmal, ihr versagte die Stimme.
»Die Richter sperren sie für ein paar Jahre weg, dann sind sie wieder frei und morden weiter. Das Gefängnis ist für die keine Strafe. Sie müssen in der Hölle schmoren.« Nicoletta erhob sich schwerfällig und schwankte, fiel aber nicht hin, hielt die Hand auf ihre blutige Hose, knapp über dem Verband gedrückt. Ihr Gesicht schimmerte im Zwielicht des Waldes maskenhaft hart. Um ihren Mund lag ein entschlossener Zug, der vorher nicht da gewesen war.
»Gehen wir«, sagte sie, und schaute sich um. »Ich brauche einen Stock, dann bin ich bereit.«
* * *
»Scheiße, da seid ihr ja. Ich habe die Schüsse gehört. Habt ihr sie erledigt oder habt ihr eine für mich übriggelassen«, rief Arno Daniels von weit oben, wo er einem Wildpfad gefolgt war und sprang geschickt die Böschung herunter, das Gewehr lässig über die Schulter gelegt. Im Gesicht ein selbstzufriedenes Grinsen. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn und an seinem Hals liefen kleine Tropfen herab. Er roch wie ein brünstiger Esel.
»Das verdammte Weibsstück hat auf mich geschossen. Sie hat mir einen Pfeil in die Brust gejagt«, klagte Heimo, legte eine Hand auf seine Wunde und stöhnte verhalten. Arno hockte sich vor ihn hin und schaute ihn mit einem Ausdruck zwischen Mitleid und Zorn an. »Soll ich einen Krankenwagen rufen«, fragte er mit zynischem Lächeln und hob mit spitzen Fingern Heimos blutdurchtränktes Hemd an, das an seiner Brust klebte.
»Hey, lass das. Das tut weh«, sagte der und stöhnte wieder. Reinhard schüttelte missbilligend den Kopf.
»Da war eine Frau bei ihnen. Sie hat mit einem Bogen auf uns geschossen und ihn erwischt.«
»Einen Bogen, mehr nicht?«, fragte Arno ungläubig. Er drehte sich halb zur Seite und grinste. »Ihr habt Gewehre, ihr seid klar im Vorteil. Was hat euch gehindert, sie abzuknallen.«
»Blödmann«, knurrte Reinhard, nahm einen dürren Ast zur Hand und kratzte damit im Laub herum. »Sie hat uns aus einer Entfernung von fünfzig Metern mit Pfeilen eingedeckt, obwohl ich auf sie gefeuert habe. Die hatte keine Angst.« Er ließ den Ast fallen, hielt seine Hand vor Arnos Augen und presste Daumen und Zeigefinger aufeinander. »Nicht mal so viel Scheißangst, obwohl ihr die Kugeln um die Ohren geflogen sind.« Pfeifend atmete er aus, ließ die Schultern sinken und hielt Arno den Rucksack, in dem noch immer der Pfeil steckte, als Beweis entgegen. »Vielleicht stand sie unter Drogen.« Dann räusperte er sich, sagte aber nichts mehr.
»Wo ist dieses Miststück. Ich erledige sie. Ich jage sie bis ans Ende der Welt.« Arnos Blicke wanderten vom Rucksack zu Heimo, wieder zum Rucksack und blieben auf Reinhard liegen, der in Gedanken versunken mit den Fingern über die Federn am Schaftende des Pfeils strich.
»Bis ans Ende des Waldes würde genügen. Sie sind da lang, vermute ich.« Reinhard hob die Hand und richtete sie nach Osten, den Fluss entlang, schaute aber nicht hin. Seine Augen waren immer noch auf den Pfeil gerichtet, der ihn nur um einen Fingerbreit verfehlt hatte. Er griff sich ans Ohr und betrachtete verwundert das frische Blut zwischen den braun getrockneten Schlieren in seiner Hand. Sie hatten sich ein Stück oberhalb der Tara zurückgezogen, die hier nur noch schwach zu hören war. Ein leises Raunen, wenn sie sich still verhielten, aber weit genug, um in Sicherheit zu sein.
»Habt ihr sie nicht verfolgt?«
»Ich musste mich um Heimo kümmern«, antwortete Reinhard und versuchte seine Verlegenheit hinter einem schiefen Grinsen zu verbergen. Er tastete wieder nach dem Ohr, als brauchte er einen schmerzenden Beweis, dass die ganze verkackte Situation kein blöder Traum wäre.
»Wir dürfen ihnen nicht zu viel Vorsprung lassen. Sie sollen keine Pause haben. Was ist los mit dieser Frau? Woher kommt sie und wie kommt sie dazu, auf euch zu schießen, verdammt?«
Wütend wischte Arno mit der Hand durch die Luft und starrte auf die Äste über ihm. Sein Gesicht hatte die fahle Farbe von ausgeblichener Buchenrinde angenommen, die Kiefermuskeln bewegten sich unstet. In seinen Augen lag ein wildes Funkeln. Er konnte nicht verstehen, warum Reinhard scheinbar desinteressiert herumsaß, während die Mädchen durch den Wald liefen und mit jedem Schritt weiter ihrem Zugriff entkamen.
»Keine Ahnung«, antwortete Reinhard auf seine Frage und sah Heimo an.
Der blinzelte, atmete tief ein und zupfte an seinem Hemd. »Entweder sie haben das Miststück unterwegs aufgegabelt und sie hat sich spontan entschieden ihnen beizustehen oder sie hatten ohnehin vor, sich in der Gegend zu treffen.« Er kratzte sich am Kopf, dachte nach. »Vielleicht ist sie eine Einheimische«, überlegte er laut. »Womöglich hat sie auch die beiden anderen befreit.« Er verstummte einen Moment und hob den Kopf. In seiner Miene spiegelte sich die Erkenntnis seiner Gedanken wider.
»Scheiße. Dann wird sie vermutlich den kürzesten Weg in das nächste Dorf kennen. Wir müssen sie so schnell wie möglich ausschalten. Sie darf auf keinen Fall entkommen.« Er rappelte sich auf, an den Baum gestützt, an dem er gelehnt war und nickte Arno zu.
»Nur die Ruhe«, winkte Reinhard ab, nahm den Ast wieder auf und klopfte damit auf den Waldboden, um seine Worte zu unterstreichen. »Wir haben eine oder zwei von ihnen erwischt. Getötet oder verletzt wissen wir noch nicht. Aber zumindest sind sie in Panik und denken nicht rational. Ich nehme also an, sie laufen zur Tara hinunter und versuchen Kajakfahrer auf sich aufmerksam zu machen.«
»Panik würde ich das nicht gerade nennen«, zeigte Arno auf Heimo, nahm sein Gewehr als Stütze, stand mit knackenden Gelenken auf und grinste grimmig.
»Was ist übrigens mit dem Kerl, den du verfolgt hast?« Reinhard sah Arno von unten an und hob die Augenbrauen, seine Augen glitzerten im Schatten.
Arno winkte mit einer wegwerfenden Bewegung, erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich hab ihn nicht gefunden. Er hat sich entweder irgendwo versteckt oder er ist tief in den Wald gelaufen. Ich hoffe er verirrt sich dort. Ist vermutlich nur ein Wanderer, der zufällig die Tara entlang gegangen ist und Jeremy gefunden hat. Falls er ihn gesehen hat, was nicht sicher ist. Wenn er irgendwann wieder in die Zivilisation zurückfindet und seinen Fund meldet, haben wir Jeremy längst entsorgt. Wie auch immer. Wichtiger ist jetzt erst mal, die Schlampen zur Strecke zu bringen.« Ein Windstoß wirbelte Blätter um sie herum auf.
Reinhard kratzte mit seinem Stock durch das Laub und warf selbst Blätter hoch, als müsste er es dem Wind gleichtun. »Mach du, ich bleibe vorerst bei Heimo, um ihn anständig zu verbinden. Wir wissen nicht, wie schlimm seine Verletzung ist und ich möchte nicht riskieren, dass er zusammenklappt. Hinterlass mir eine Spur oder Zeichen, damit wir dich finden.«
»Ich bin wieder in Ordnung. Der Pfeil hat nicht allzu viel angerichtet.« Heimo lachte in sich hinein. »Sie müssen größere Geschütze gegen mich auffahren, um mich zur Strecke zu bringen.« Seine Faust zuckte hoch und er konnte sie eben noch stoppen, bevor er sich auf die Brust klopfte.
* * *
Die Sonne hing wie eine glühende Scheibe hoch über dem Land und brannte unbarmherzig auf alles nieder, was sich nicht rechtzeitig unter einem Schatten versteckt hielt oder in Höhlen geflüchtet war. Unter dem Blätterdach des Waldes war es dunkel und die Hitze stand wie eine kompakte Masse zwischen den Bäumen. Myra überprüfte den Verband, den Susanna Nicoletta angelegt hatte und klopfte ihr mit der flachen Hand sachte auf den Schenkel.
»Wir müssen weiter. Sie werden eine Weile ihre Wunden lecken und sich fragen, wer ich bin und warum ich euch helfe. Dann werden sie zu der Ansicht kommen, dass mein Bogen keine rechte Gefahr für sie darstellt. Aber sie werden vorsichtiger sein. Gefährlicher und entschlossener. Sie wissen jetzt, dass ihr Wild sich wehren kann. Das macht die Jagd für sie vielleicht spannender, kann aber auch sein, dass der eine oder andere zögert. Das ist dann unsere Chance.« Sie schaute auf Susanna und fühlte einen kalten Druck in ihrer Brust, als ob ein Eiszapfen in ihrem Herz stecken würde. In ihren Augen brannte der Schweiß.
»Halte Ausschau nach zwei Stöcken. Einen für Nicoletta und einen für dich. Ich spitze sie zu, damit ihr sie als Waffe verwenden könnt.«
Keine zwei Kilometer später, die sie mehr gestolpert als gelaufen waren, hielt Nicoletta an und klammerte sich mit einer Hand an ein armdickes Bäumchen. Sie war kalkweiß, das Wasser lief ihr in Strömen über das Gesicht und sie wankte, wie ein junges Schilfrohr im Wind.
»Ich kann nicht schneller, mein Bein wird immer steifer, ich habe keine Kraft mehr«, heulte sie und biss sich auf die Lippen. Sie schwang ihr Bein vor und zurück und setzte es vorsichtig auf, damit es möglichst wenig schmerzte. Susanna hielt hinter ihr und schaute sie an, ihre Augen waren voller Mitleid.
»Ich kann dich stützen.« Sie rief nach Myra, die voranging, den Bogen leicht gespannt mit schussbereitem Pfeil in der Hand, aufmerksam horchend.
»Seid still!«, zischte Myra und lauschte in den Wind, der mit den Blättern über ihnen spielte, den Zikaden, die vereinzelt lustlos zirpten und auf die Tara, die weit unter ihnen durch das Tal rauschte. Selbst die Vögel waren bei der Hitze verstummt und hockten träge in den Ästen.
»Sie sind hinter uns her und holen auf, wir müssen weiter«, sagte sie und musterte Nicoletta von oben bis unten. »Du bist zu schwer für mich, ich kann dich nicht tragen. Wir schlagen einen Haken und gehen weiter weg vom Fluss weg, tiefer in den Wald hinein. Dort sind wir sicherer und ich hoffe, dass wir sie so abhängen können und uns nicht verirren. Wenn wir nicht zum Fluss zurückfinden, sind wir ohnehin verloren. Wir brauchen Wasser und später zu essen.«
»Lass mir ein paar Minuten«, bettelte Nicoletta.
Susanna schaute den Berg hinab. »Ich könnte Wasser holen. Das dauert auch nur ein paar Minuten.« Sie zuckte mit der Schulter. »Ich meine, bis Nicoletta wieder zu Atem gekommen ist, kann ich mich doch nützlich machen.«
»Wenn du meinst, du schaffst es.« Myra runzelte die Stirn. Sie starrte den Pfad entlang, den sie gekommen waren, blickte den Wald hinauf und den Hang hinunter. Nirgends war eine Bewegung zu sehen. Beinahe widerwillig hockte sie sich nieder und bedeutete auch den Mädchen, sich zu setzen. »Drei Minuten bis zum Fluss, drei Minuten für die Flaschen und fünf Minuten, bis du wieder hier bist. Länger darf es nicht dauern.« Susanna nickte heftig, ganz erfüllt von ihrer Aufgabe, sprang hoch und wollte bereits laufen.
»Halt!«, rief Myra und hielt sie zurück. »Die Flaschen.« Susanna grinste verlegen und nahm den Rucksack von Myra entgegen, warf ihn über die Schulter.
»Wir warten fünf Minuten und gehen dort vorne hinauf«, zeigte die Frau dem Mädchen eine ausgewaschene Rinne, von heftigen Regenfällen in den Boden gegraben, die eine Schneise im Wald bildete. »Folge uns auf der anderen Seite, fünf Schritte parallel dazu. Damit bist du unsichtbar, siehst aber, wenn jemand die Rinne hochkommt. Wir verstecken uns oben. Ich gebe dir ein Zeichen.« Susanna lief los, sprang behände über Steine und Wurzeln und war gleich darauf zwischen Sträuchern verschwunden. Sie konnten lose Steine hören, die den Wald hinabkullerten.
»Komm! Wir müssen weiter.« Die fünf Minuten waren um. Myra trat zu Nicoletta, half ihr hoch.
»Ich kann da nicht hinauf, ich schaffe das nicht.«
»Doch, du schaffst das. Weil dir gar nichts anderes übrig bleibt. Ich werde nicht zulassen, dass die Kerle dich kriegen. Vanessa und Katja sind tot, aber Susanna und du, ihr werdet überleben und sie ins Gefängnis bringen. Oder willst du sie davonkommen lassen?«
»Nein! Natürlich nicht«, schniefte Nicoletta, und ihre Miene verdunkelte sich. Sie schwankte und drückte eine Hand gegen den Baum. Ächzend streckte sie den Rücken durch und betrachtete die Strahlen der Sonne, die durch die Baumkronen fielen. Sie wischte sich die Finger an ihrer Hose ab und atmete tief ein und aus.
Eine Viertelstunde später standen sie am Fuß eines Hohlweges. Zwei riesige Felsen standen zueinander geneigt und bildeten mit einem großen Dreieck den Abschluss und Ausgang. Nicolettas Herz raste wie verrückt. Das Gewicht hatte sie auf ihr gesundes Bein verlagert, die Hose war tief auf die Hüfte gerutscht. Das nasse T-Shirt klebte an ihrem Körper. Die Erschöpfung hatte tiefe Spuren in ihr Gesicht gegraben.
»Hier haben wir Deckung«, schnaubte Myra erleichtert, hielt Ausschau nach Susanna und führte gleichzeitig Nicoletta hinter den Stamm einer riesigen Eiche.
Die muss mehr als hundert Jahre alt sein, dachte sie, und schätzte den Umfang. Selbst zu dritt würden sie den Stamm nicht umfassen können.
Nicoletta bohrte ihren Stock mit beiden Händen fest in die Erde und ließ sich auf den Boden sinken. Ein Schwarm Mücken erhob sich aus niedrigen Büschen und umschwirrte die beiden. Nicoletta wedelte sie müde weg und schaute Hilfe suchend auf Myra, aber die konzentrierte sich auf den Abhang unter ihr.
Durch die Bäume konnte sie einen hellen Fleck sehen, der hin und her sprang und unaufhaltsam näherkam. Zu behände, um ein Jäger zu sein, der ihren Spuren folgte. So schnell kletterte nur ein junges Mädchen, das sich im kalten Wasser erfrischt hatte und ganz genau wusste, wohin es wollte.
»Wir müssen weiter nach oben. Ich muss ein Versteck für uns finden«, sagte Myra, einen Fuß gegen den Hang gestemmt und legte den Kopf in den Nacken. Prüfend ließ sie ihre Augen über die Sträucher wandern, die den Rand des Hohlweges bildeten. »Du siehst aus, als könntest du echt nicht weiter und brauchst eine Verschnaufpause, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Nicoletta nickte auf eine unschuldige Art, die Myra betroffen machte.
»Kann ich nicht hierbleiben und mich ausruhen? Nur ein paar Minuten.«
»Nein Nicoletta«, erwiderte sie, und presste die Lippen zusammen. Das Mädchen tat ihr leid, und doch musste sie ihr alles abverlangen. »Falls die Kerle auftauchen, haben wir keine richtige Deckung. Hier sind wir ihnen ausgeliefert. Wir müssen da hochklettern, dann sehen wir weiter.«
Nicoletta schluckte und schaute den Hang hinauf, ihre Augen schwammen in Tränen.
Tapfer kletterte sie hinter Myra die Felsen hoch, suchte nach sicherem Tritt und verwünschte jeden Stein, den sie lostrat. Der Lärm, den sie verursachte, schien weithin zu hören sein und jeden Verfolger augenblicklich auf ihre Spur zu führen. Immer wieder sah sie nach unten, um zu sehen, ob sie bereits hinter ihnen auftauchten.
Endlich kamen sie auf ein Hochplateau, überwanden den Rand, der von knöchelhohem, hartem Gestrüpp bedeckt war und schauten nach unten. Der Fluss lag weit unter ihnen, wand sich wie ein türkises Band in einer halben Schleife, bevor er zwischen Wald und Felsen verschwand.
Myra ließ ihre Augen über das Plateau wandern, das eine Art hoch gelegener Lichtung war, fünf Schritte in der Länge und drei in der Breite, dahinter ein tiefer Abgrund. Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein schmaler Grat von dem Plateau weg, den sie überwinden mussten. Dann kam ein dichter Nadelwald, die Berge im Hintergrund türmten sich höher und höher dem Himmel entgegen. Dort konnten sie sich verstecken.
»Wir warten auf Susanna, ich brauche was zu trinken und du sicher auch. Sie kommt dort drüben hoch, wie ich gesehen habe.«
Nicoletta verzog das Gesicht. Kein Luftzug war zu spüren, die Bäume unter ihnen standen grün und bewegungslos in der brennenden Hitze. Weit im Osten stieg ein Schwarm Vögel in den heißen Himmel. Aber was immer sie aufgescheucht hatte, es war zu weit weg, um ihnen gefährlich oder gar Hilfe zu sein. Sie ließ sich zu Boden sinken, versuchte ein furchtloses Grinsen, das gänzlich misslang und blinzelte erschrocken zu Susanna hoch, die plötzlich vor ihr stand.
»Hier bitte«, keuchte sie und drückte Nicoletta eine Flasche mit Wasser in die Hand, die noch feucht vom Fluss war. »Frisch und eiskalt.« Ihre Haut wirkte vom Schweiß wie eingeölt, die Augen von der Anspannung des Kletterns groß. Sie holte noch zwei Flaschen heraus und warf Myra eine zu, bevor sie auch trank.
»Langsam trinken«, sagte Myra. »Sonst schwitzt ihr alles wieder raus.« Die Mädchen sahen sich an und lächelten.
»Am liebsten würde ich baden darin«, meinte Nicoletta, dann lachten die beiden leise.
Myra nahm Susanna den Rucksack ab und verstaute unter zaghaftem Protest von Nicoletta die Flaschen darin.
»Du wirst es später noch brauchen und wir wissen nicht, wann wir wieder Wasser finden.« Sie drehte sich herum und ihr Blick schweifte über das Plateau, das in der Sonne flimmerte. »Ich gehe den Grat entlang und gebe euch von drüben Deckung. Am Grat habe ich einen guten Überblick und kann mögliche Verfolger ausmachen. Sobald ich drüben bin, folgt ihr mir.«
»Sollen wir nicht zusammenbleiben?«, fragte Susanna und runzelte die Stirn.
»Nein, zusammen sind wir am Grat so unübersehbar wie Schießbudenfiguren. Außerdem würden wir uns gegenseitig behindern.«
Leise fluchend kletterte Arno die ausgewaschene Rinne hoch, bis er an den Hohlweg kam. Verharrte kurz, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und atmete schwer. In einer matten Bewegung zog er einen Hemdzipfel aus der Hose und wischte den Schweiß aus dem Gesicht. Versuchte tief durchzuatmen, riss die Augen auf und konzentrierte sich auf die Einzelheiten um sich herum. Hier waren sie wieder, die Fußabdrücke, nach denen er gesucht hatte. Die Schlampen hatten entweder keine Ahnung von der Jagd oder es war ihnen völlig egal, dass sie überall ihre Spuren hinterließen. Er senkte den Kopf zwischen die Knie und stützte sich schwer auf sein Gewehr.
Stadtmenschen, dachte Arno und grunzte abfällig. Erhob sich stöhnend, lehnte seine Flinte an den Stamm der riesigen Eiche und griff nach der Feldflasche, um einen ordentlichen Schluck Whiskey zu nehmen. Die Hitze machte ihm weit mehr zu schaffen, als er sich selbst eingestehen wollte. Ihm brummte der Schädel von der Sonne und dem Whiskey, den er im Laufe des Tages getrunken hatte. Sein Gesicht kribbelte und er konnte die staubige Luft in seinem Mund schmecken, die bei jedem Schritt vom ausgedörrten Boden aufstieg. Er versuchte einen endgültigen Plan zu fassen. Überlegte kurz der Versuchung nachzugeben und im Schatten sitzend, auf seine Freunde zu warten.
Die Schlampen würden ihnen nicht entkommen. Ihr Tod war so sicher, wie der Sonnenuntergang, den er heute noch sehen würde. Er starrte den Hohlweg entlang und schüttelte seine Feldflasche. Viel war nicht mehr übrig.
Arno spürte, wie plötzlich die Wut in seinem Kopf pulsierte und die Venen an seinem Hals anschwollen. Sie hatten Jeremy erschlagen und sie hetzten ihn durch diese Scheißhitze, sie mussten sterben und zwar in der nächsten Stunde. Aus seinen Augen strahlte der Hass, und er dachte daran, dass er sie am liebsten mit einer Axt zerstückelt hätte. Nach einem weiteren Schluck aus der Flasche, der das Feuer in ihm neu entzündete, schnappte er sein Gewehr und stapfte den Hohlweg weiter hinauf.
Susanna konnte ihn bereits hören, als er noch nicht zu sehen war. Er machte keine Anstalten leise zu sein, war sich seiner Sache völlig sicher. Sie hatten mit Nicoletta eine breite Spur hinterlassen, die leicht zu verfolgen war. Sie sprang auf die Beine und lief drei Schritte zurück, um in den Hohlweg zu schauen. Spähte geschützt hinter einem Felsen hervor und entdeckte den Kerl sofort. Er stand am oberen Rand der Böschung, keine fünf Schritte vor ihr, von dem aus er Myra auf dem Grat nur allzu deutlich sehen konnte. Mit einem schäbigen Lächeln hob er das Gewehr, zielte und wartete als würde er seine Lage genießen.
Bis sie sich umdreht und den Bogen spannt, hat sie zwei Kugeln in der Brust, dachte Arno.
Er bewunderte die schöne Frau, die mit geschmeidigen Bewegungen den Grat entlangging, ihre langen Beine, die schlanke Figur. Und er wünschte, er könnte sie in den Keller schaffen, um sich mit ihr zu vergnügen und müsste sie nicht töten, zumindest nicht sofort. Vielleicht war sie auch keine Beteiligte, dachte er, korrigierte sich in Gedanken aber sofort. Der Bogen, den sie in der Hand hielt, verriet sie als Schützin.
Susanna setzte zu einem Schrei an, merkte aber, dass sie Myra damit weder warnen noch ihr helfen konnte. Also stürzte sie wie eine Irre auf ihn zu, den angespitzten Stock mit beiden Händen über dem Kopf und schrie ihm all ihre Angst, ihren Hass entgegen, der sich in ihr aufgestaut hatte.
Arno sah sie aus dem Augenwinkel, noch bevor er ihren Schrei vernahm. Überrascht warf er sich herum und riss instinktiv das Gewehr hoch, um den Stoß mit dem Stock abzuwehren. Er wich zur Seite und trat nach Susanna, die ihr eigener Schwung zu Sturz brachte, über den Boden schrammte und den Abhang hinunterrutschte. Arno hob das Gewehr, wollte ihr den Rest geben, er hatte doch tatsächlich auf sie vergessen. In diesem Moment traf ihn ein Pfeil in die Seite und der Schuss ging ins Leere. Er taumelte, drehte sich einmal um die eigene Achse und richtete sein Gewehr wieder auf Myra, verharrte aber, weil Nicoletta einen Stein nach ihm warf. Er zog den Kopf ein und duckte sich, der Stein traf ihn an der Schulter und Arno grunzte empört. Er hob das Gewehr, es krachte ohrenbetäubend. Nur ein Moment war vergangen, aber Nicoletta war wegen ihres verletzten Beins zur Seite gefallen. Die Kugel jaulte als Querschläger durch den Hohlweg.
»Verfluchte Schlampen«, fluchte Arno und richtete das Gewehr erneut auf Nicoletta, als ihn der zweite Pfeil traf. Etwas brannte am Schädel und er stürzte nach vorne.
Sie schießen mit Pfeilen auf mich, können mich aber nicht töten, dachte er. Das machte ihn beinahe übermütig. »So war das nicht gedacht«, knurrte er. »Ich mache euch fertig.«
Schmerz und eine boshafte Niedertracht loderten in seinen Augen. Er ließ das Gewehr sinken und rollte sich halb herum. Wischte über den Schädel und wollte noch einmal auf das blonde Mädchen schießen. Aber da war sie schon über ihm, stach mit ihrem Stock nach ihm, traf seinen Schenkel und fügte ihm eine blutige Wunde zu. Er heulte erschrocken auf und wich zurück, hob das Gewehr hoch und schlug nach ihr. Sie fiel auf den Rücken. Daraufhin kroch er wie eine riesige Spinne auf das Hochplateau zu, sprang auf und schoss auf Myra, die mit gespanntem Bogen auf freies Schussfeld wartete. Myra kippte zur Seite und verschwand auf der anderen Seite des Grats. Triumphierend wandte sich Arno um, das Gesicht bleich vor Zorn. Er lachte böse. Eine krankhafte Grimasse.
Dann riss er die Augen vor Schreck auf und erblasste. Vor ihm stand Nicoletta. Sie hatte mit ihrem Stock weit ausgeholt und knallte ihm diesen mit aller Kraft auf den Mund.
»Du machst niemand fertig«, keuchte sie. Er ging zu Boden, fiel auf den Hinterkopf, schnappte nach Luft und spuckte blutige Blasen. Seine Finger umklammerten das Gewehr. Mit zitternden Augen drückte er ab.
Nicoletta wurde nach hinten geworfen, als ob sie ein Bulle mit den Hörnern erwischt hätte. Sie bäumte sich auf und krallte mit weit aufgerissenem Mund ihre Hände in den Bauch. Susanna, die auf das Hochplateau zurückgeklettert war, erbleichte. Entsetzt starrte sie auf Nicoletta, auf ihr Gesicht, das weiß wie kalter Marmor war. Die verschwitzten Haare, die am Schädel klebten, wie draufgepappt, ihre blutverschmierten Hände, die zuckten und bohrten, als könnten sie die Kugel herausholen und die Wunde verschließen.
»Du hast Nicoletta getötet«, schrie sie, rannte los und schnappte nach Nicolettas Stock, mit dem sie wie eine Furie auf ihn einschlug.
Plötzlich lag Arno auf dem Rücken, hob das Gewehr, konnte die meisten Schläge abwehren und rappelte sich hoch. Er drehte auf dem verletzten Bein um, das nachgab, verlor das Gleichgewicht und taumelte nach hinten.
Die braunen Augen zuckten wild. Er streckte ihr den rechten Arm entgegen, als sei es nicht zu spät, als müsse sie doch erkennen, dass er nicht auf sie schießen wollte, nur reden, und merkte plötzlich, dass kein Boden unter seinen Stiefeln war. Er fiel auf den Rücken, überschlug sich und rutschte in den Abgrund hinter ihm. Das Gewehr verhakte sich dabei in einer Wurzel und er konnte sich im letzten Augenblick daran festhalten. Seine Beine traten lose Steine und Sand in den Abgrund, während sie nach einem Halt suchten. Susanna sprang auf ihn zu und schlug mit dem Stock nach seinen Händen.
»Verdammte Schlampe, lass das«, schrie er. In seinen Augen lag so viel Hilflosigkeit, wie er sie wahrscheinlich noch nie zuvor erlebt hatte. »Ich werde dich in die Kiste sperren, bis du da drin vermoderst. Das kannst du nicht mit mir machen.«
Ihre Halsmuskeln waren angespannt und die Hände krallten sich fest um den Stock, den sie wieder und wieder herabsausen ließ. Unter ihren Schlägen knackten die Finger und lösten sich. Einer nach dem anderen. Dann fiel Arno und verschwand mit einem langen Schrei in der Tiefe. Sein Mund weit geöffnet, wie ein hungriger Vogel.
Susanna sah auf ihn hinunter, zuckte bei jedem Aufschlag zusammen, wenn er auf die Felsen krachte und hörte, wie seine Knochen brachen. Schließlich blieb er zwischen Steinen eingezwängt liegen. Ein Bein war verdreht, ein Arm ruckte unkontrolliert hin und her.
Ihr war, als würde er nach ihr rufen.
Kreischend, ängstlich, schmerzverzerrt.
Sie wartete, bis die Töne leiser wurden, vom Winde verweht und schließlich verstummten.
* * *
Für eine ganze Weile stand sie über den Abgrund gebeugt, starrte mit leeren Augen auf die Felsen, den Wald und zwei große Vögel, die am blauen Himmel erschienen waren und über der Schlucht zu kreisen begannen.
Sie bückte sich, zerrte das Gewehr aus der Wurzel und warf es dem Mann hinterher.
»Das hast du davon, du Arschloch. Jetzt bist du Futter für die Geier. Du dachtest, du könntest uns töten und bist jetzt selbst mausetot!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten, schüttelte sie und schrie so laut sie konnte, um ihren Frust, ihren Wahn loszuwerden. Dann besann sie sich plötzlich, drehte auf dem Absatz um und lief zu Nicoletta, ihr Mund fühlte sich so trocken an, wie nie zuvor.
Das Mädchen lag im kurzen trockenen Gras auf dem Hochplateau, schaute in den Himmel, während ihr Körper in unregelmäßigen Wellen zitterte.
»Oh Nicoletta«, flüsterte Susanna, kniete sich neben sie und schob eine Hand unter ihren Kopf. Mit der anderen wischte sie sich die Tränen von den Wangen.
»Mir ist so kalt, obwohl es heiß ist, nicht wahr?«
»Ja«, nickte Susanna und schluckte. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie mit staubigem Kies gegurgelt. »Es ist heiß.« Ihre Augen tasteten über das Gesicht der jungen Frau. Sie versuchte nicht auf ihre Wunde zu schauen, aus der dunkles Blut sickerte. »Möchtest du Wasser?«
»Nein. Ich habe keinen Durst, keine Schmerzen«, erwiderte Nicoletta und krallte ihre Hand in Susannas Arm. »Ist das gut oder ist das nicht gut?« Ihre Stimme klang wie die eines kleinen, verschreckten Kindes, kaum lauter als der Wind, der über die Hochebene strich.
»Das ist gut«, versicherte ihr Susanna und zog die Hand unter ihrem Kopf hervor. »Ich muss dich verbinden. Warte einen Moment. Ich brauche Verbandszeug.« Sie schaute sich um, Myra hatte sicher Verbandszeug, Myra hatte für alles eine Lösung, hatte alles Mögliche in ihren Rucksack gepackt. Aber Myra war nirgends zu sehen.
»Es ist gut, wie es ist«, wisperte Nicoletta, legte den Kopf zur Seite und drückte noch einmal Susannas Arm. Ihre Brust hatte aufgehört zu beben, ihr Mund bewegte sich, als wollte sie noch etwas sagen. Susanna beugte sich zu ihr hinunter und spürte ihren warmen Atem auf ihrem Ohr.
»Tötet die Scheißkerle. Lasst sie nicht am Leben.«
»Nein, werden wir nicht«, schüttelte Susanna den Kopf. »Der Kerl, der auf dich geschossen hat, ist bereits tot. Er ist in den Abgrund gestürzt und hat sich sämtliche Knochen gebrochen.«
»Das ist gut, das ist sehr gut.« Nicoletta bäumte sich noch einmal auf und krallte sich in Susannas Arm, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen. Dann lag sie still.
»Oh Nicoletta, nein, bleib bei uns«, schluchzte das Mädchen und drückte ihr Gesicht auf Nicolettas Brust. In ihrem Kopf drehte sich alles, als habe jemand mit der flachen Hand auf sie eingeschlagen. Sie horchte auf den Herzschlag der jungen Frau, einen Laut oder ein Zeichen, fühlte den Puls, wie sie es vom Fernsehen kannte, aber da war nichts mehr. Ein kalter Schauer erfasste ihr Herz, breitete sich in der Brust aus und jagte ihr eine Gänsehaut über Rücken und Arme.
Irgendwann setzte sie sich auf die Knie und sah sich um. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Das Plateau war leer, kein Mensch zu sehen. Ihre Wimpern flatterten wie kleine dunkle Schmetterlinge, sie ließ die Schultern fallen und weinte um Nicoletta, Katja und Vanessa, und ein wenig auch um sich selbst.
Die Sonne überflutete alles um sie herum mit tanzenden Lichtstrahlen. Das kurze, harte Gras, das knöchelhohe Gestrüpp und die in der Hitze flimmernden Steine, die von Wind und Wetter glattgeschliffen waren. Ihre Stirn war trocken und heiß. Von ihren Augenwinkeln weg liefen dünne weiße Linien, die sie älter aussehen ließen, als sie eigentlich war. Ihre Wangen waren eingefallen, feucht und salzig von den Tränen. Sie wusste nicht mehr weiter. Wusste nicht, wie sie in dieser Wildnis überleben sollte, wusste nicht, wie sie zurück in die Zivilisation finden sollte.
Im Grunde wollte sie nichts anderes, als zu ihrer Tante und ihrem Vater, vor allem zu ihm, um ihn um Verzeihung zu bitten. Sie schrie all ihren Kummer hinaus und schreckte eine Schar Vögel auf, die sich neben sie niedergelassen hatte. Sie erhoben sich in den Himmel, drehten eine Runde und flogen weiter nach Norden. Susanna sah ihnen nach und wünschte sich in diesem Augenblick nichts mehr, als es diesen kleinen Vögeln gleichzutun und einfach davonzufliegen.
Der Wind strich ihr mit einer sanften Brise über das Gesicht, spielte in ihren Haaren und sie meinte, ein leises Geräusch zu hören. Eine Stimme, die nach ihr rief.
Irritiert wandte sie sich nach links und nach rechts, konnte aber niemanden sehen.
»Myra, bist du das?«, rief sie. Erst leise, verzagt, dann lauter. »Myra, Myra wo bist du!« Sie rannte die Hochebene entlang bis zum anderen Ende und starrte auf den Grat, den Myra zuletzt gegangen war, rief erneut ihren Namen.
»Ich bin hier«, hörte sie die Stimme und legte den Kopf schief, um zu lauschen. »Auf der rechten Seite. Du musst den Grat entlanggehen, aber gib acht. Wenn du fällst, sind wir beide verloren.«
Im zweiten Drittel konnte sie die Frau endlich finden. Sie stand auf einem kleinen Felsvorsprung, nicht mehr als eine Handbreit Stein, darunter fünfzig Meter blanker Fels und über ihr eine verkümmerte Lärche, die sich irgendwann hier festgekrallt hatte, um ihr kümmerliches Dasein zu fristen. Klein genug, um mit dem zu überleben, was Wind und Wetter ihr boten und groß genug, um Myra den Halt zu bieten, der sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Susanna schätzte die Entfernung auf mindestens vier Meter, die sie zu überwinden hätte, und nirgends eine Möglichkeit, sich festzuhalten. Sie kniete sich auf den Boden, ignorierte die spitzen Steine, die sich in ihre Haut bohrten und schaute nach unten.
»Du machst es einer wie mir nicht einfach, dir zu helfen«, rief sie und musterte Myra besorgt.
»Ich habe einen Streifschuss abbekommen, unter der Achsel, nicht lebensgefährlich, aber schmerzhaft, und die Sonne und der Wind trocknen mich aus. Ich kann mich nicht mehr lange halten.« Myras Gesicht war erschöpft, von Schmerzen und Kratzern gezeichnet, ihr Haar staubig, zerzaust. In ihren Augen brannte das Wissen um ihre Lage.
»Oh Scheiße, ich komme runter und helfe dir.«
»Nein! Auf keinen Fall. Hier ist nicht genug Platz für uns beide und du kommst nicht mehr hoch. Ich hab´s schon versucht, aber der Fels ist zu glatt. Keine Chance, um dich festzuhalten. Kannst du mir ein Seil herunterwerfen?«
Susanna schaute sie skeptisch an und dachte fieberhaft darüber nach, woher sie ein Seil bekommen könnte. Ein heißer Wind fegte über den Grat und blies ihr die Haare ins Gesicht. Ärgerlich wischte sie die Strähne weg und schüttelte den Kopf.
»Ich habe kein Seil«, antwortete sie. Ihre Stimme klang rau, aber entschlossen.
»Was ist mit den Jägern, die uns verfolgt und auf uns geschossen haben? Sind sie weg oder haben sie aufgegeben?«
»Es war nur einer«, erwiderte Susanna. »Der liegt auf der anderen Seite, fünfzig Meter tiefer, zwischen Felsen eingeklemmt.«
Myras Gesicht entspannte sich, nur ein paar Augenblicke später schwammen ihre Augen in Tränen. »Ich habe ein Seil in meinem Rucksack, aber ich kann es nicht so hoch werfen. Außerdem gibt es dort oben nichts, woran man es festmachen könnte.«
Susannas Blicke huschten über den Grat, den Abgrund auf der einen Seite, den steilen Hang gegenüber und suchten erfolglos die Umgebung ab.
Da drüben wäre klettern möglich gewesen, dachte sie und kniff die Augen fest zusammen. Ein Stück weiter vorne hing Myras Bogen an einem Stein, nur am oberen Ende zu erkennen. Sie musste ihn beim Fallen verloren haben.
»Hast du noch Pfeile?«, rief sie und krabbelte bereits auf die andere Seite des Grats.
»Ja, aber die helfen mir nichts. Ich habe meinen Bogen verloren.«
Susanna konnte Myra hinter sich hören.
Sprich weiter, dachte sie, ich brauche deine Stimme, einen Halt, sonst bin ich verloren. Sie legte sich flach auf den Boden und beugte sich so weit nach vorne, bis ihre Fingerspitzen das geschwungene Ende des Bogens erreichten. Tief unter ihr konnte sie das grüne Wasser der Tara sehen, die sich schäumend durch die enge Schlucht wand. Sie wirkte im gleißenden Sonnenlicht so fern, dass ihr vom bloßen Hinsehen schwindlig wurde.
Vorsichtig streckte sie ihre Finger um das Ende des Holzes, machte sich schwer und stemmte gleichzeitig ihre Füße fest in den Boden. Es fehlten immer noch wenige Zentimeter. Ihre größte Sorge war, dass ihr das Teil, das ihre einzige Waffe war, aus den Fingern rutschen könnte. Der Abhang war nicht so steil, dass sie bei einem möglichen Absturz sterben würde, aber sie käme vermutlich schlimm zerschunden oder mit gebrochenen Knochen unten an. Und an den Rückweg auf den Grat wollte sie nicht einmal denken. Sie nahm all ihren Mut zusammen, veränderte ihre Position nach links und schnappte zu. Blieb still liegen und atmete leise aus. Erleichtert und ängstlich zugleich. Ihre Füße, die in Sportschuhen steckten, hatten den Halt verloren und kratzten langsam über den Boden. Sie konnte spüren, wie ihr Körper der Schwerkraft folgte und dem Abgrund entgegenglitt. Mit dem Mut der Verzweiflung spreizte sie die Beine, bohrte die Zehen in jede Vertiefung, die sie finden konnte und schob und zog sich mit den Händen zurück auf den Grat, wo sie schwer atmend und schweißüberströmt liegen blieb.
»Susanna! Susanna bist du noch da? Mach bloß keinen Unsinn. Susanna?«
»Ich ... ich komme gleich«, krächzte das Mädchen, rollte sich herum und kam mit zitternden Beinen hoch. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie ein kleiner Schmiedehammer, ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, aber dann schwenkte sie triumphierend den Bogen über ihren Kopf und lief zu Myra, die erleichtert die Augen schloss, während sich ihre Miene entspannte.
»Ich werfe dir den Bogen zu und du bindest das Seil an einen der Pfeile und schießt ihn hoch«, erklärte Susanna und schätzte die Entfernung und ihre Möglichkeiten.
»Nein. Das funktioniert nicht«, erwiderte Myra schnell, bevor Susanna tatsächlich den Bogen warf. »Das funktioniert nur in Filmen. Ich schaffe vielleicht einen Knoten, aber ich kann den Bogen nicht spannen. Dazu brauche ich beide Hände. Aber sobald ich die Lärche loslasse, falle ich. Keine Chance.« Sie musste all ihre Disziplin aufbringen, um nicht nach unten zu sehen. »Ich versuche an mein Seil zu kommen, binde eine Schlinge und werfe sie dir zu. Du musst sie auffangen und das Seil oben irgendwo festmachen. Dann kann ich hochklettern.«
Susanna nickte mit einer nachlässigen Kopfbewegung. »Denkst du, du schaffst das?«
Beim dritten Versuch erwischte sie endlich die Schlinge, die Myra mit letzter Kraft geworfen hatte. Ihr Gesicht war steif und kantig von der ausgestandenen Anstrengung und der Angst zu versagen, im grausamen Bewusstsein, dass es an ihr lag, ob Myra sterben oder überleben würde. Eine Verantwortung, der sie sich niemals gewachsen gefühlt hätte, hätte sie auch nur ein paar Sekunden Zeit gehabt, zu überlegen.
»Ich hab sie, ich hab sie«, schrie sie und warf sich herum. »Ich hole dich rauf.« Mit einem Ruck sprang sie hoch und lief fünf Schritte weiter den Grat entlang, schlang das Seil um einen Felsen und zog heftig daran. Es straffte sich, hielt aber der Belastung stand, und Susanna rannte zu Myra zurück.
»Es kann losgehen.«
Myra wickelte sich das Seilende um die rechte Hand, umfasste es fest und begann den Fels hochzuklettern. Erst zaghaft, prüfend, weil sie die Sicherheit des Felsvorsprungs nicht verlassen wollte, dann schneller und schneller. Ihre Beine kratzten am Fels entlang und suchten jede Stelle, jeden kleinen Vorsprung, um sich daran zu stützen, nach oben zu schieben. Der linke Arm und die verletzte Stelle unter der Achsel schmerzten, als ob ein Haken darin steckte, an dem jemand zog. Sie biss die Zähne zusammen und stieß die Luft aus, griff Hand über Hand. Die Abbruchkante kam immer näher, war gerade noch zwei Armlängen von ihr entfernt, während sie das Letzte aus sich herausholte. Quälte sich durch den Schmerz, bis sie ihn nicht mehr wahrnahm, die Augen im grellen Licht der Sonne zusammengekniffen.
Susanna beugte sich nach vorne, umklammerte Myras Handgelenk, sobald sie in Griffweite kam und zog sie mit aller Kraft nach oben. Sie spürte, wie sich jeder einzelne ihrer Muskeln anspannte. Nie hätte sie gedacht, dass es einer derartigen Anstrengung bedurfte, jemand hochzuziehen. In Filmen sah das ganz entspannt aus.
»Ich wollte den Rucksack schon fallen lassen«, keuchte Myra zwei Minuten später. Die Frau und das Mädchen lagen dicht nebeneinander und waren erleichtert. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, trotzdem grinsten sie. Ein verzerrtes erleichtertes Lachen.
»Er hat dort unten an mir gezerrt, wie ein Todesengel, aber ich wollte ihn nicht loslassen. Ich hänge an ihm.« Sie ließ ein kurzes hartes Husten hören.
»Hast du da Wasser drin?«
»Ja«, sagte Myra und holte zwei Flaschen hervor. Sie tranken im Liegen, viel zu schnell, das Wasser lief ihnen warm über die Lippen und den Hals hinunter. Dann setzten sie ab, stellten die Flaschen auf ihren Bauch und sahen sich an, während sie dem Wind lauschten, der vom Fluss heraufkam.
»Was ist mit Nicoletta?«
Susanna drehte für einen Moment den Kopf, als sie wieder zu Myra schaute, hatte sich ein gequälter Ausdruck in ihre Augen geschlichen. »Sie ist tot, Myra. Dieser Scheißkerl hat sie in den Bauch geschossen. Ich bin zu spät gekommen. Sie ist tot. Ich konnte ihr nicht helfen.«
»Du kannst nichts dafür Susanna. Hörst du. Das Schwein hat sie getötet, nicht du. Das war er, und jetzt ist er auch tot, nicht wahr? Er ist doch tot?«
»Ja«, flüsterte Susanna. »Ich habe ihm auf die Finger geschlagen, bis er losgelassen hat. Er liegt dort unten und ist Futter für die Geier.«
Myra betrachtete das Mädchen mit starrem Gesicht.
Susanna schaute mit leeren Augen den Grat entlang. »Nicoletta liegt auf der Lichtung drüben. Wir müssen sie wegbringen, vielleicht in den Wald.«
»Alles was wir müssen, ist so schnell wie möglich hier verschwinden. Die anderen Kerle haben sicher die Schüsse gehört und werden uns finden. Ein Wunder, dass sie nicht schon längst aufgetaucht sind. Wir wären ganz einfach zu erledigen.«
»Wir müssen sie verstecken oder mit irgendetwas bedecken. Wir können sie nicht liegen lassen.« Susanna fasste Myra am Arm, in ihren Augen loderte ein höllisches Feuer. »Die Geier dürfen sie nicht finden.«
»Okay«, erwiderte Myra und sah sie lange an. »Bringen wir sie in den Wald.«
Sie brauchten eine Viertelstunde, um das tote Mädchen in den Wald zu tragen und sie mit Zweigen, Steinen und Laub zu bedecken.
»Was passiert hier mit uns?«, schluchzte Susanna mit einer Stimme kleiner Mädchen, als sie fertig waren und lehnte sich an einen Baum. »Sie werden uns töten, nicht wahr?« Ihre Kraft war verbraucht, sie war am Ende. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit trübten ihren Blick.
»Komm«, sagte Myra, und schaute zurück in Richtung des Hohlwegs, den sie hochgeklettert waren und den sie die letzten Minuten nicht aus den Augen ließ.
»Wir müssen weiter, müssen sie abhängen. Du warst so tapfer. Ich dachte schon, das wäre mein Ende am Abgrund, aber du hast mich gerettet. Doch die werden uns keine weitere Chance mehr geben. Wir haben zwei von ihnen getötet. Sie werden in Zukunft auf der Hut sein und uns nicht mehr nahekommen. Sie werden uns bei der ersten Gelegenheit erschießen.«
»Wir könnten im Wald bleiben und uns ein Versteck suchen.«
»Nein. Wir haben nur das bisschen Wasser und nichts zu essen. Wir müssen über den Grat und runter zum Fluss, unsere einzige Chance, Essen zu finden und zu entkommen. Ich kann fischen oder ein Tier schießen, das zum Wasser kommt. Reiß dich am Riemen. Wir können das schaffen.«
»Wie denn?«, schrie Susanna plötzlich und sank in die Knie. »Katja, Vanessa und Nicoletta sind tot. Wir schaffen das nicht. Sie werden uns töten.«
»Wir stellen ihnen eine Falle und überwältigen sie.«
»Sie haben Gewehre, schon vergessen. Sie unterschätzen uns jetzt nicht mehr.«
»Ich habe immer noch den Bogen.« Myra presste die Faust um den hölzernen Griff und schüttelte die einzige Waffe, die sie ihren Mördern entgegensetzen konnte.
»Gegen zwei Gewehre bist du machtlos. Sie schießen uns in Fetzen, bevor du einen zweiten Pfeil aufgelegt hast. Das funktioniert nicht im richtigen Leben. Du hast uns doch bis jetzt auch nicht schützen können«, erwiderte Susanna verbittert. Sie bereute ihre Worte sofort und wandte sich ab. Ihr Gesicht brannte vor Scham.
»Du hast recht, es tut mir leid, du hast recht«, stammelte Myra und trat einen Schritt zurück. »Ich habe alles versucht und versagt. Es ist meine Schuld.«
»Es tut mir leid. Das war nicht so gemeint. Bitte verzeih mir.« Susannas Augen füllten sich mit Tränen.
Unbeholfen stand sie auf und schlang die Arme um Myra. Drückte ihr Gesicht an den schweißnassen Hals.
»Du hast mich gerettet, ich habe dich gerettet. Sie dürfen nicht gewinnen«, murmelte sie. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
Der Wind frischte auf und strich heiß wie aus einem Backofen über ihre Körper, als sie den Grat wieder entlangliefen. Myra spürte ein Kribbeln im Nacken, wagte aber nicht den Kopf nach hinten zu drehen. Solange sie liefen, gaben sie kein gutes Ziel ab, aber jeder Fehltritt konnte sie unweigerlich das Leben kosten. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz jeden Augenblick aussetzen musste, dass sie den brennenden Schmerz einer Kugel spürte, die sie zu Fall brachte. Aber nichts dergleichen geschah. Sobald sie den Wald erreichten, fanden sie einen Pfad und folgten diesem bergab. Myra war überrascht, wie kühl sich der Nadelwald anfühlte, in dem vorwiegend Tannen und Lärchen wuchsen.
»Wohin?«, rief Susanna und trabte weiter, ohne sich umzudrehen.
»Einfach bergab«, antwortete Myra. »Sobald du den Fluss siehst oder der Pfad endet, überlegen wir, wie wir vorgehen.« Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte aber keine Gefahr erkennen. Auch das Kribbeln im Nacken war weg. Entweder sie hatten ihre Verfolger abgehängt oder diese hatten ihren Kumpel entdeckt und versuchten zu ihm hinabzusteigen. Das könnte ihnen den nötigen Vorsprung verschaffen.
»Der Fluss. Da unten ist die Tara«, rief Susanna und stoppte ihren Lauf, indem sie sich an einem Baum fing und festhielt. Myra konnte eben noch zur Seite springen, bevor sie gegen Susanna prallte. Vor ihnen klaffte wieder ein Abgrund.
»Wow. So rasch hätte ich sie nicht erwartet. Sie kommt aus dem Nordwesten, muss also eine Schleife gezogen haben. Wären wir ein bisschen weiter südlich gelaufen, wären wir vermutlich eine ganze Weile länger unterwegs, bis wir sie wieder gefunden hätten.«
»Deshalb auch diese steilen Berghänge.«
»Mhm. Sie hat sich tief in die Schlucht gegraben, mit vielen Biegungen.«
»Können wir hier eine Pause machen oder die Steilwand hinunterklettern? Ich kann nicht mehr weiterlaufen. Meine Beine zittern und die Knie geben nach.«
»Besser nicht. Ich muss erst die Lage checken. Du kannst hier nicht hinunterklettern. Das sind mindestens fünfzehn Meter Steilwand, und selbst wenn du ins Wasser fällst, kannst du nicht sagen, ob da nicht Felsen sind. Außerdem ist die Strömung zu stark. Sie würde dich mitnehmen und du hättest keine Chance wieder herauszukommen.« Myra schüttelte den Kopf. »Wir müssen die Abbruchkante entlang gehen und einen Weg suchen.«
»Gib mir zehn Minuten zum Verschnaufen.«
»Okay! Aber nicht hier, am Ende des Pfades. Das ist zu gefährlich.« Myra schaute sich um und hörte auf das leise Rauschen der Lärchen und Tannen, gelegentlich unterbrochen vom dumpfen Knarren der Äste, die sich aneinanderrieben. Singvögel, die in allen möglichen Tonlagen zwitscherten, und dazwischen das Summen der Insekten und Sirren der Zikaden. Sie entdeckte etwas oberhalb ihrer Position eine Felsgruppe. »Da oben wäre ein gutes Versteck«, sagte sie, runzelte die Stirn und zeigte mit dem Bogen darauf. »Geh dorthin, verhalte dich ruhig und warte, bis ich wieder zurück bin.«
* * *
Schwer atmend kletterten Reinhard und Heimo den Hohlweg hinauf, den Arno vor ihnen gegangen war. Sie hofften, ihn bald schon einzuholen.
»Es waren vier Schüsse, also hat er alle vier erschossen oder einmal nicht getroffen«, keuchte Heimo und drückte mit zusammengebissenen Zähnen die Hand auf seine Wunde. »Das verdammte Biest schießt nicht umsonst mit einem Pfeil auf mich, das wird sie büßen. Ich hoffe für ihn, dass Arno nicht auf sie geschossen oder sie zumindest nur verwundet hat. Mit ihr habe ich noch einiges vor.«
»Spar deine Kraft und Atem, bis wir oben sind. Kann nicht mehr weit sein«, antwortete Reinhard, blieb stehen und suchte die Umgebung vor ihm ab. »Wir sind nicht eben leise. Ich möchte nicht auch einen Pfeil abbekommen. Ist möglich, dass sie diesmal besser zielt.«
»Wenn sie noch einen Bogen halten kann«, grinste Heimo mit schmerzverzerrtem Gesicht, hielt sich aber entschieden hinter Reinhard. Sie überwanden die letzte Steigung und traten in den Sonnenschein hinaus, wo sie eine leichte Brise erwartete, die trotz der Hitze kühlte. Eine graue Wolke aus kleinen Mücken tanzte über das braune Gras, das an vielen Stellen plattgedrückt war. Reinhard tastete nach seiner Feldflasche, öffnete den Verschluss und trank daraus. Das Wasser war längst warm und schal. Angewidert verzog er den Mund und fluchte leise. »Wenn wir wieder zum Fluss kommen, muss ich das verdammte Ding auffüllen. Ich schwitze wie ein Schwein. Wir sollten das Jagen in die Morgen- oder Abendstunden verlegen.«
»Sieh dir das an«, meinte Heimo, ohne auf Reinhards Worte einzugehen und starrte auf den Boden. »Alles zertrampelt. Überall Spuren.«
»Unmöglich sie zu zählen. Die sind durcheinandergelaufen wie die Hühner. Scheiße, wir haben auf sie geschossen, aber noch keine Leiche. Und wir wissen nicht, wie viele noch übrig sind. Dafür ist Jeremy tot.« Wütend spuckte Reinhard ins braune Gras, drehte sich wild herum, versuchte überall gleichzeitig hinzusehen, und hielt schließlich inne. Der Wind hatte gedreht und trug einen metallisch süßen Geruch zu ihnen herüber.
»Dort drüben ist Blut.« Er zeigte auf eine Stelle, an der das Gras großflächig niedergedrückt war und dunkle Flecken schimmerten. »Jemand muss eine Menge davon verloren haben.«
Neugierig traten sie näher und betrachteten die Stelle, an der sich bereits grün schillernde Fliegen sammelten.
»Zumindest eine hat´s erwischt. Nach der Menge von Blut dürfte sie das nicht überlebt haben. Also nicht lange.« Heimo neigte den Kopf und folgte mit seinen Blicken den verschiedenen Spuren. Er ging bis zum Rande der Lichtung und schaute in den Wald, drehte sich um und ging auf die andere Seite, die abrupt in einen Abgrund überging. Mit gleichmütiger Miene warf er einen Blick in die Tiefe, wandte sich ab und blieb zögernd stehen. Dann schaute er noch einmal in die Tiefe, hob die Hand gegen die Sonne und kniff die Augen fest zusammen.
»Da unten sitzt ein Geier und hackt auf irgendetwas herum«, rief er und ging drei Schritte zur Seite, um eine bessere Sicht zu haben. Ein undefinierbarer Laut löste sich aus seiner Kehle. Er riss den Kopf in die Höhe, schnappte nach Luft. »Gottverdammt, was ist denn das für eine Scheiße!«
»Verschwinde, du beschissener Aasfresser!« Reinhard, der neben Heimo getreten war, nahm einen Stein und schleuderte ihn nach dem Vogel, traf aber nur den toten Arno, dessen Bein zuckte, als würde er noch leben. Der Geier hüpfte auf einen anderen Felsen, ließ sich nach vorne fallen und breitete die riesigen Schwingen aus. Und während Heimo sein Gewehr hochriss und zwei schnelle Schüsse in die Tiefe jagte, die beide als Querschläger jaulend von den Felsen abprallten, schraubte er sich flügelschlagend hoch in die Luft und kreiste in sicherer Entfernung über der Schlucht.
Ungläubig schaute Reinhard auf Heimo und klopfte sich mit der flachen Hand auf sein Ohr.
»Musstest du unbedingt neben meinem Ohr auf das Biest schießen. Ich kann nichts mehr hören.« Er öffnete und schloss mehrfach den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen und schüttelte den Kopf. Seine Augen auf das Gesicht des Freundes gerichtet, versuchte er noch mehr zu sagen, doch sein Mund war wie ausgedörrt.
»Wird schon wieder«, erwiderte Heimo und starrte nach unten, als könnte er sich nicht von dem Anblick losreißen, der sich ihm bot. »Die verdammten Schlampen haben Arno erledigt. Wie erklären wir das bloß seiner Mutter.«
»Was hast du gesagt? Ich kann nichts verstehen?«
»Ach vergiss es. Wir müssen ihn dort hochbekommen.« Reinhard schaute ihn entgeistert an.
»Wir müssen Arno heraufholen«, schrie ihm Heimo ins andere Ohr, und spuckte ihm dabei kleine Tröpfchen in die Halsbeuge.
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren«, antwortete Reinhard viel zu laut und wischte mit der Hand über seinen Hals. »Das schaffen wir nicht. Dazu brauchen wir eine Kletterausrüstung. Wie willst du sonst da runterkommen, und vor allem wieder rauf?« Er riss seine Augen für einen Moment weit auf, als wäre er über seine eigenen Worte erschrocken.
»Wie erkläre ich das bloß seiner Mutter?«, fragte Heimo noch einmal, ohne tatsächlich eine Antwort zu erwarten. Sein Blick ging über die Schlucht vor ihm ins Leere.
»Wir erklären gar nichts. Wir verständigen die Ranger und geben Arno und Jeremy als vermisst aus. Sie haben sich während der Jagd von uns getrennt und vermutlich verirrt.« Reinhard tippte sich gegen die Stirn. »Denk nach. Beide sind abgestürzt. Falls man sie jemals findet, sind ihre Leichen von Tieren angefressen, zum Teil verschleppt. Wir hoffen natürlich, dass man sie findet, helfen vielleicht bei der Suche und trauern um unsere Freunde. Aber das war´s dann auch schon. Viel interessanter ist doch die Frage, von wem ist das Blut, und wo sind die verdammten Schlampen?«
Heimo lächelte milde. »Na wo schon? Unten an der Tara. Oder denkst du, sie klettern im Steilhang herum oder sind wieder in den Wald gelaufen.« Sein Gesicht zeigte die gleiche freundliche Gelassenheit, um die er sich bemühte, wenn er seine wahren Gefühle vor einem Kunden verbergen wollte.
Reinhards Miene verfinsterte sich. Er mochte es nicht leiden von jemand bloßgestellt zu werden, auch nicht von einem alten Freund, wie Heimo es war. Als er fortfahren wollte, musste er zunächst einmal schlucken.
»Wir wissen, dass sie hier waren«, sagte er. »Deshalb gehen wir nicht über den Grat, was das Naheliegende wäre, sondern nach Osten und dann nach Süden und schneiden ihnen den Weg ab.«
»Der Fluss liegt aber hinter uns«, erwiderte Heimo.
»Stimmt. Aber ich kenne die Gegend. Ich war schon einmal hier jagen. Die Blockhütte liegt nicht weit nordwestlich. Ich dachte mir damals, ich hätte mich verirrt und habe den Fluss gesucht. Er macht eine Schleife. Deshalb gehen wir nicht über den Grat, um der Tara zu folgen, wie es das Miststück, das bei ihnen das Sagen hat, sicher gemacht hat, sondern durch den Wald, schneiden ihnen den Weg ab und erwarten sie nach der Biegung.«
Susanna ließ ihre Augen durch die Gegend wandern und dachte nach. Der Geruch von Moos, von trockenem Laub und warmen Steinen lag in der Luft und erinnerte sie an den Garten ihrer Tante, wo sie einige Sommer verbracht hatte, als ihre Mutter noch am Leben war. An das kleine Häuschen beim Wald und dem Teich davor, in dem Frösche quakten und Eidechsen sich auf den Steinen tummelten, die als Abgrenzung aufgeschichtet waren. Ihr Spielplatz, an dem sie Prinzessin und Jägerin, Siegfried und Drache sein konnte, und in ihrer eigenen Welt bestand.
Eine leichte Brise blies durch die Lärchen, die bis ans Ufer der Tara standen und wiegte die Wipfel in sanftem Tanz zu einer unhörbaren Musik. Sie drehte ihr Gesicht in den Wind und sah, wie er auch die Schatten im Wald zum Tanzen brachte. Doch dann bemerkte sie, dass es nicht nur die Bäume waren, die Schatten warfen. Zwei Männer kamen am Ufer der Tara unter den Lärchen den Pfad herauf. In ihren Händen hielten sie Gewehre. Nur für Sekunden zu sehen. Im nächsten Moment waren sie wieder im Dunkel des Waldes untergetaucht. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen, starrte auf den Punkt, wo sie als nächstes zu sehen sein müssten und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie tatsächlich erschienen.
Das waren eindeutig die Männer, die sie entführt und missbraucht hatten. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Eine Art kaltes Entsetzen breitete sich in ihrem Herzen aus und sie fühlte, wie die Verbitterung in ihrem Körper hochspülte, wie Galle. Dasselbe hatte sie auch empfunden, als ihr bewusst geworden war, dass einer der Kerle ein Versicherungsvertreter aus ihrer Stadt war, der auch schon bei ihr zu Hause im Wohnzimmer gesessen hatte.
Sie sprang auf, überzeugte sich, dass sie zwischen den Felsen für die Männer unsichtbar war und suchte nach Myra, die den Kerlen entgegenkam und ihnen unweigerlich vor die Gewehre laufen würde. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sie vor ihnen sein könnten und nicht hinter ihnen waren.
Für ein paar Sekunden hatte Susanna das unheimliche Gefühl vor einer riesigen Breitbandleinwand zu sitzen und müsste wie in einem Freiluftkino verfolgen, wie ihre neue Freundin getötet wurde, ohne auch nur irgendwie eingreifen zu können.
Myra war dort unter ihr und suchte nach einem sicheren Abgang, weil sie selbst vor Erschöpfung nicht mehr weitergekonnt hatte. Nur um jetzt vielleicht in ihr Verderben zu laufen. So grausam konnte das Schicksal doch nicht sein, oder doch?
Aber das würde sie nicht zulassen. Noch konnte sie eingreifen.
Mich können sie nicht sehen, vermutete sie, überzeugt von sich selbst, wandte sich um und schaute über die Felsen. Suchte die Männer im Wald unter ihr und sah, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle richteten, sich tiefer in den Wald duckten und aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Sie haben Myra entdeckt, dachte sie, wie vom Blitz getroffen. Ihr Gesicht war verspannt, ihre Mundpartie blutleer und bleich. Ihre Nasenwände vibrierten, als sie tief Luft holte und ihr unweigerlich klar wurde, dass Myra in diesem Moment den Männern genau ins Schussfeld lief, wenn sie den Pfad weiterging und es ihr nicht gelang, sie zu warnen.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte.
Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und lief hinunter zur Abbruchkante. Hier fühlte sie sich einigermaßen sicher. Sie konnte zurückspringen, in Deckung gehen oder schnell genug im Wald verschwinden, bevor die Männer zu ihr heraufkamen.
Sie griff nach einem faustgroßen Stein, wog ihn in der Hand und warf ihn in hohem Bogen die Felswand hinunter, dort wo die Wand in einen steilen Hang überging. Der Stein knallte gegen einen Baum, rollte über den Boden und erzeugte dabei ein Geräusch, als ob jemand den Hang hinunterschlittern würde. Instinktiv fuhren die Männer herum und suchten die Umgebung ab.
Sofort sprang Susanna hoch und versuchte Myra auf sich aufmerksam zu machen, riss die Arme empor und winkte und schrie verzweifelt, um den Lärm des rauschenden Wassers, das selbst hier oben laut war, zu übertönen. Plötzlich krachte ein Schuss und sie wirbelte erschrocken herum, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Strampelnd versuchte sie vom Abgrund wegzukommen, rappelte sich hoch und wollte sich hinter einen Felsen ducken, als der nächste Schuss aufbellte und Steinsplitter über ihren Arm kratzten. Sie verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, sprang zurück und prallte mit der Schulter gegen einen trockenen Ast, der sich unter ihre Achsel bohrte. Reflexartig warf sie sich zurück und stolperte über eine Wurzel. Im Augenwinkel konnte sie den größeren der beiden Männer sehen, der sein Gewehr auf sie gerichtet hielt und schoss. Das Gewehr zuckte kurz auf. Sie machte noch eine halbe Drehung, aber unter ihren Füßen war plötzlich kein Boden mehr, dann zogen Felsen an ihren Augen vorbei und sie schrie.
Im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, in einen eiskalten Strudel gefallen zu sein. Alles drehte und bewegte sich um sie. Sie schlug mit den Armen um sich und strampelte mit den Beinen, konnte aber kein Licht mehr sehen. Da waren nur grünes Wasser, braune Steine und ein schäumender Himmel über ihr.
Interessiert beobachteten die Männer, wie das Mädchen über die Steilwand ins tobende Wasser fiel und ließen die Gewehre sinken. Warteten gespannt, ob sie wieder auftauchen würde und schauten nur kurz hoch, als ein Blauhäherpärchen über ihnen in den Zweigen landete und ihre Schatten über sie warfen.
»Getroffen und erledigt«, grinste Reinhard und musste schreien, um das brüllende Rauschen des Flusses zu übertönen.
»Dein Schuss oder meiner?«
»Egal. Hauptsache eine weniger.« Reinhard trat aus dem Wald, um beide Ufer des Flusses einsehen zu können und riss überrascht die Augen auf. Seine linke Hand zuckte hoch.
»Scheiße, da ist sie. Nicht totzukriegen, das Miststück. Entweder wir haben schlecht getroffen oder sie ist zäher als eine Straßenkatze.«
Dreißig Meter vor der der Biegung tauchten Arme auf, die verzweifelt aufs Wasser schlugen, das in weißen Wellen über Felsen spülte und sich an den steilen Felswänden brach, die das linke Ufer bildete. Für den Bruchteil einer Sekunde konnten sie auch den Kopf sehen, ihren Mund, der weit offen nach Luft schnappte, bevor die nächste Welle sie untertauchte, dann eine Weile nichts. Und plötzlich Beine, die an einen Felsen gespült wurden und einen Körper, der sich hochzog und festklammerte.
Heimo gab einen knurrenden Laut von sich und hob das Gewehr, aber das Wasser war schneller, riss das Mädchen mit sich und tauchte sie wieder unter. Er streckte die Waffe in den Himmel und lachte abfällig.
»Die ist hinüber. Aus der Nummer kommt sie mit oder ohne Kugel im Körper nicht mehr heraus.«
»Bist du dir sicher? Vielleicht kann sie sich retten?« Ungläubig starrte Reinhard ihr nach.
»Da ist nichts mehr zu machen«, winkte Heimo ab. »Wenn sie der Fluss erst mal hat, lässt er sie nicht wieder los. Das kennen wir doch.«
»Das war die Kleine, nicht wahr? Das heißt, die Amazone lebt noch, die auf dich geschossen hat. Und von den anderen wissen wir auch nicht, wie viele noch übrig sind.«
»Um die kümmern wir uns später. Die können nicht weit sein. Ich frage mich, warum sie sich getrennt haben?« Heimo griff nach seiner Wasserflasche, bevor ihm einfiel, dass sie mittlerweile leer war. Seine Kehle fühlte sich vom Schreien an, als ob er mit Rasierklingen gegurgelt hätte.
»Vielleicht war sie dabei, die Gegend auszukundschaften. Dann kommen die anderen auch hier entlang. Wir drängen sie in den Wald ab und jagen sie nach Norden. Dort haben wir mehr Möglichkeiten, sie zusammenzutreiben und endgültig auszuschalten.«
Myra war am Ende ihrer Kräfte. Fehlender Schlaf, die brütende Hitze, die über dem Land lastete, die Sorgen um die Mädchen, die ausgestandenen Ängste und jeder einzelne Verlust, den sie mit ansehen, mitverantworten musste, zerrten an Nerven und Stärke.
Sie hatte alles gegeben und alles verloren. Konnte keines der armen Mädchen retten, die das Schicksal ihr so unversehens zur Obhut überlassen hatte.
Nicht eines.
Schluchzend sank sie neben dem Pfad zusammen, den sie eben wieder hochklettern wollte, an eine Lärche gelehnt. Zitternd umklammerte sie ihre Knie mit beiden Armen und legte den Kopf darauf. Ein heißer Wind wirbelte ihre Haare, die von Staub und Schweiß verfilzt waren, um die Beine und scheuerte über ihren bloßen Nacken wie unsichtbares Schleifpapier.
Sie hatte aus der Entfernung mit ansehen müssen, wie die Männer auf Susanna geschossen hatten. Zu weit weg, um zu helfen. Zu weit weg, um einzugreifen. Hatte gesehen, wie Susanna von der Tara mitgerissen wurde und wie sie gekämpft und verloren hatte.
»Warum?« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und schrie dem Wald ihren Kummer entgegen.
»Warum hast du mich hierhergeführt. Warum musste ich das mit ansehen, wenn ich doch nicht helfen konnte? Warum mussten sie sterben? Sie waren doch viel zu jung. Warum müssen im richtigen Leben die Guten als Erstes gehen und die Bösen kommen davon. Was soll diese Scheiße?« Sie hämmerte mit den Fäusten auf den Boden, unfähig, ihren Schmerz mit Worten zu artikulieren und schrie, bis nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle kam. Aber nur das stete Rauschen der Tara antwortete ihr, und die Lärchen wiegten sich im ewigen Tanz.
ACHT
Myra hatte sich mit der bitteren Realität zu verlieren fast abgefunden, weigerte sich aber plötzlich irgendwann auf Knien ins Jenseits zu rutschen und bei den toten Mädchen, um Vergebung zu bitten.
Sie hatte sie nicht umgebracht. Sie nicht!
Sie hatte vielleicht nicht alles für sie getan, nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Aber umgebracht hatten sie die anderen.
Die Tränen versiegten, Angst und Trauer gingen in Abscheu über, und Myra verspürte den unbändigen Wunsch, diese Missgeburten von Männern zu jagen und ihrem aufgestauten Hass auf sie freien Lauf zu lassen.
Nein, Hass war nicht das passende Wort. Für einen Moment glomm in ihren Augen ein Funke auf, den sie aus ihren früheren Jahren kannte. Es war eine animalische Wut, die man normalerweise mit misshandelten Tieren in Einklang brachte.
Wie Gespenster, die sich im dunklen Wald herumtrieben, jagten die Gedanken durch ihren Kopf und eine eiskalte Ruhe kam über sie.
Myra hob den Kopf und atmete einmal tief durch. Aus ihrem Blick sprach eine wilde Entschlossenheit. Nicoletta hatte natürlich Recht. Kein Gericht dieser Welt würde die Kerle verurteilen, weil es keine Spuren und keine Leichen gab. Also musste sie es selbst in die Hand nehmen. Sie hatte eine dunkle Vorahnung, dass schon bald ein neuer, nie geträumter Alptraum über die Männer kommen würde.
Ich muss auf niemand mehr achtgeben, dachte sie. Ich bin nur noch für mich selbst verantwortlich. Also werde ich die Kerle jagen, sie zur Strecke bringen und die Mädchen rächen.
Sie begriff aber auch, dass sie ihre Gegner nicht unterschätzen durfte. Das waren mit allen Wassern gewaschene Jäger, die diese Wildnis kannten, oft genug hier gejagt hatten.
Myra erhob sich bedächtig, tastete nach ihrem Messer und nahm den Bogen in die linke Hand. Ihre Rechte ging nach hinten und zählte die Pfeile, die ihr geblieben waren. Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte aber niemanden auf dem Pfad hinter sich sehen, niemanden hören. Der Lärm der Tara verschluckte jedes andere Geräusch. Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung, ging in den Wald, um den Pfad zu meiden und stieg schwer atmend höher. Im Wissen, dass ihre Verfolger kommen würden.
Kein richtiger Jäger würde eine Spur aufgeben, auf der sie Blut gewittert hatten. Sie brauchte sich nur die richtige Stelle suchen, auf die Lauer zu legen und warten. Und tatsächlich, schon Minuten später, eigentlich viel früher als erwartet, wurde sie belohnt.
Anfangs konnte sie nur einen Schatten ausmachen, der zwischen den Bäumen hin und her huschte, viel weiter oben als sie die Peiniger der Mädchen vermutet hatte. Er hatte dadurch einen natürlichen Vorteil, den sie in Wahrheit für sich selbst nutzen wollte.
Hast du auf Susanna geschossen, dachte sie. Aber das konnte nicht sein. Der Mann kam aus Norden, als ob er der Tara folgen würde, wie sie es getan hatten. Vielleicht war er die Nachhut, die aufräumen sollte oder verfolgte gänzlich eigene Ziele. Aber wie dem auch sei, bis er das Gegenteil beweisen konnte, war im Moment jeder im Wald ihr Feind.
Myra kauerte sich hinter einer alten Eiche nieder, linste vorsichtig um den Stamm, fest an die Rinde gedrückt, stellte aber sicher, dass sie nicht entdeckt werden konnte. Der Mann kam näher, sie konnte einen Zweig brechen hören. Geschätzte Entfernung ca. dreißig Meter.
Das reicht, murmelte sie tonlos in sich hinein, spannte den Bogen, trat hinter dem Baum hervor und ließ den Pfeil von der Sehne. In den Sonnenstrahlen, die durch die alten Eichen und die Lärchen blinzelten, tanzten Staubpartikel und die Reste morscher Blätter, als der Mann zu Boden fiel und reglos liegen blieb. Myra legte sofort einen neuen Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen und trat mit zusammengekniffenen Lippen auf ihn zu.
Im Näherkommen erkannte sie das Hemd, das er trug, den Rucksack, der ihm über den Kopf gerutscht war und den Bogen, den er immer noch in der Hand hielt.
»Du gehörst also auch dazu«, fauchte sie, und musterte ihn mit wütendem und zutiefst enttäuschten Blick. Doch dann schaute er plötzlich hoch und lächelte mit grimmig verzerrter Miene. »Nicht schießen! Ich bin es, Kyle.«
»Ich weiß. Du gehörst also auch zu den Typen, die hinter den Mädchen her sind. Warum hast du mich dann verschont und nicht umgebracht oder verschleppt, als du die Gelegenheit dazu hattest?«, herrschte sie ihn an, ohne eine Antwort zu erwarten.
Kyle mühte sich, seine Schmerzen zu verbergen. »Ich gehöre zu gar niemanden und weiß auch nichts von Mädchen. Ich habe einen Mann am Fluss gefunden. Er wurde erschlagen. Zwei andere Männer haben mich verfolgt und auf mich geschossen. Ich habe sie abgeschüttelt und bin ihnen später gefolgt, weil ich Angst um dich hatte. Es ist nicht gut hier herumzulaufen, wenn schießwütige Kerle im Wald sind. Sie haben wieder geschossen, aber ich weiß nicht auf wen oder was.« Er schob seine Arme unter sich, um aufzustehen, ließ es aber bleiben. Stattdessen wandte er den Kopf nach rechts und hustete Blut, das er als kleine Tröpfchen auf dem trockenen Waldboden rot schimmernd versprühte. »Warum sollte ich dich verschleppen?«
»Mein Gott, in was für Bullshit sind wir da hineingeraten?« Myra streifte ihren Rucksack ab, legte den Bogen zur Seite und kniete sich neben Kyle, unsicher, was als nächstes zu tun wäre.
»Wo habe ich dich getroffen?«, fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Rechte Brust«, stöhnte Kyle, rollte zur Seite, damit sie seine Verletzung untersuchen konnte und sah an sich hinunter. Die Spitze war nicht allzu tief eingedrungen, hatte sich aber offensichtlich bei seinem Sturz in die Lunge gebohrt. Er würgte und spuckte einen blutigen Klumpen aus, den er angewidert mit Laub bedeckte.
»Ich muss den Pfeil rausziehen. Er steckt wahrscheinlich nur im Muskel.«
»Nein, besser nicht. Wenn er tiefer steckt, sollte er dortbleiben, bis ich zu einem Arzt komme. Aber vielleicht kannst du ihn abbrechen, wenn ich ihn festhalte. Dann kann ich mich selbst verbinden.« Seine Lider flatterten.
Myra schaute ihn mit ernster Miene an. Aus seinem Mundwinkel sickerte Blut.
»Okay. Aber wir müssen uns beeilen. Die Männer, die auf dich geschossen haben, sind hinter mir her, weil ich ein paar Mädchen aus ihrem Folterkeller befreit habe.« Sie nahm seine linke Hand und legte sie auf seine Brust, damit er den Pfeil festhalten konnte. Mit einem überraschten Ausdruck in seinen Augen suchte er nach weiteren Antworten in ihrem Gesicht, aber sie schüttelte den Kopf.
»Später.«
Mit einem schnellen Ruck brach sie den Pfeil ab und warf ihn zur Seite.
Kyle stöhnte vor Schmerz auf und erhob sich. »Danke.«
Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss und Kyle wurde gegen Myra geworfen und zuckte mit offenem Mund als ihn ein zweiter und dritter Schuss traf. Sie hörte den Einschlag der vierten Kugel in einem Baum über ihr und einen weiteren Schuss, der jaulend von dem Stein neben ihr prallte.
Myra warf sich herum, schnappte sich ihren Bogen und Kyles Köcher und robbte nach links, hinter einen Baum. Die nächste Kugel schlug direkt vor ihr in den Boden ein. Sie rutschte zur Seite und duckte sich, drehte hektisch den Kopf herum und versuchte überall gleichzeitig hinzusehen. Kyle lag hingestreckt zwei Armlängen entfernt auf der Seite und sah sie mit toten Augen an, blicklos und leer.
Entsetzt sprang sie nach hinten und krabbelte auf dem Rücken, die Arme seitwärts, wie ein Krebs, immer weiter zurück, bis sie unter einem Gebüsch verschwand. Zweige und Blätter kratzten über ihr Gesicht. Ein unkontrollierbares Schluchzen brach aus ihrer Brust. Die Männer schienen überall gleichzeitig zu sein, schossen aus allen Rohren. Sie drehte sich herum und presste sich auf den Boden. Lag völlig reglos da.
Dann war plötzlich nur Stille um sie.
Es war totenstill. So still, dass es schien, die Bäume und Sträucher um sie herum erstickten sogar die Gedanken. Als Nächstes hörte sie das ferne Geräusch des Flusses. Ein paar Vögel flogen kreischend auf. Ihre Schreie waren aus weiter Entfernung zu hören. Ihr rasender Puls wurde langsamer und sie begann auf die Stimmen der Jäger zu achten. Auf ein Rascheln, Kratzen, Schritte oder brechende Zweige. Aber sie hörte nur den Schrei einer Rotdrossel und den Ruf einer aufgeschreckten Elster hoch über ihr.
In der Folge schluchzte sie auf. Sie hatte Kyles Beweggründen misstraut und jetzt war er tot. Erschossen von den Männern, die sie verfolgten und genauso töten wollten. Allmählich begann sie, etwas klarer zu denken. Sie war hier nicht sicher. Genauso wenig wie zuvor.
Die Jäger! Wo waren die Jäger? Irgendwo weiter unten am Hang natürlich. Sie mussten ihre Silhouetten im Wald gesehen und ohne zu überlegen gefeuert haben. Das hieß, sie würden kommen, um ihre Leichen zu suchen. Sie krabbelte weiter rückwärts. Kroch lautlos den Berg hinauf und achtete auf jede ihrer Bewegungen. So wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte. Das Gestrüpp war weiter oben nicht mehr so dicht und so konnte sie durch das Gewirr des Unterholzes sehen, ohne selbst gleich entdeckt zu werden.
Kamen sie zu zweit oder einzeln?
Vermutlich würde einer kommen und der andere ihm Deckung geben, dachte Myra. Ich muss also den Zweiten finden. Sie begann schneller zu kriechen, bewegte sich auf allen Vieren weiter und hielt in kurzen Abständen inne, um ihre Flanke zu sichern und auf die kleinste Bewegung, das winzigste Geräusch, das ihr die Position der Verfolger verraten könnte, zu achten. Ihre Nerven lagen blank, als sie aufsprang, geduckt den Hang entlanglief und dann bergab hastete, um hinter ihm zu gelangen. Als sie weit genug gekommen war, stoppte sie, legte einen Pfeil auf den Bogen und bewegte sich mit absolut geräuschloser Langsamkeit weiter. Jetzt durfte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Irgendwo hier lauerte ihr Mörder.
Dann sah sie den Stiefel. Der Mann kniete hinter einem Baum und beobachtete die Umgebung vor ihm. War völlig ahnungslos und dachte im Leben nicht daran, dass der Tod von hinten kommen könnte. Lautlos schlich sie näher, atmete tief ein und aus und horchte auf den dumpfen Schlag, den der Pfeil beim Auftreffen machte. Blitzschnell legte sie einen Neuen ein und spannte den Bogen für einen zweiten Schuss.
Heimo hatte auf einmal ein seltsames Gefühl. Als er nach unten schaute, sah er den Schaft eines Pfeils aus seiner Brust ragen. Einen Moment lang dachte er, dass sich das verdammte Miststück einen Scherz mit ihm erlaubt hätte. Wusste sie denn nicht, dass ihre Pfeile ihm nichts anhaben konnten? Dann kam ein zweiter Pfeil und er starrte mit entsetzter Faszination auf die blutigen Spitzen, die wie sorgfältig ausgerichtet aus seiner Brust gewachsen waren. Er ließ das Gewehr sinken und stand auf.
»Reinhard«, flüsterte er. »Reinhard, sieh dir diese Scheiße an.« Er fühlte, wie sich die Wärme aus der Wunde unter seinem Hemd ausbreitete. Und mit einem Mal heulte er auf und setzte zu einem Schrei an, den gewöhnlich wilde Tiere machten, wenn ihr Fuß in ein Fangeisen geriet. In seinem Fall war es allerdings weniger aus Schmerz, als aus verletztem Stolz. Sein Mund öffnete sich zu einem erstickten Protestschrei gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Er verstand nicht, warum sein Leben so plötzlich und unfair enden sollte. Dann merkte er, dass er seine Beine nicht mehr spürte und kippte nach hinten. Sein Körper schlug schwer auf die knochentrockene Erde auf und rutschte ein Stück den Berg hinab.
Myra hielt den Atem an und spürte, wie ihr Puls in der Halsbeuge pochte. Sie ließ ihren Blick über den Abhang huschen, suchte nach Schatten, einer falschen Bewegung, die nicht in den Wald gehörte und überlegte für einen Moment auch den anderen Kerl jetzt und hier zu erledigen, verwarf aber die Idee wieder. Wenn er mitbekommen hatte, was mit seinem Freund passiert war, würde er sie nicht weit genug heranlassen, um ihn zu töten. Außerdem hatte er in dem steilen Waldgelände alle Vorteile auf seiner Seite. Inklusive den, dass er hoch über ihr saß. Sie wog ihre Möglichkeiten ab und entschied sich zum Fluss zurückzukehren. Denn für sie war klar, dass er ihrer Spur folgen würde. Sie brauchte nur einen kleinen Vorsprung, um eine Falle für ihn vorzubereiten, in die er laufen konnte. Schließlich wollte sie ihm das Sterben nicht so einfach machen, wie den anderen. Und er sollte wissen, wer ihm das Leben nahm und warum.
Sie hockte sich zu dem getöteten Jäger, nahm ihm die Feldflasche und seinen Proviantbeutel ab und hastete den Berg hinab, ohne sich weiter die Mühe zu machen, leise zu sein. Wenn ihr Verfolger hörte, in welche Richtung sie flüchtete, brauchte sie keine Spuren legen, die ihm vielleicht ihre Taktik verrieten. Besser er glaubte sie flüchte Hals über Kopf. Er würde ohnehin eine Weile bei seinem Freund bleiben, sich von seinem Zustand überzeugen und die unangenehme Erkenntnis überdenken, dass er tot war.
Mit weiten Sprüngen hetzte sie von Baum zu Baum, über umgefallene Stämme und Felsen, jede Deckung nutzend, schnurstracks der Tara entgegen. Schließlich brach sie aus dem Wald und verharrte kurz, um sich zu orientieren.
Das Wasser plätscherte gegen die Steine des felsigen Ufers und sie hörte wie sandige Rinnsale die Steine hinter ihr hinunterrieselten, hörte, wie der Wind durch die Eichen blies und das Wasser in ihrer Feldflasche schwappte. Sie schaute den Fluss zurück, bis zu der Stelle, wo er zwischen hohen Felsen, die sich messerscharf vom blauen Himmel absetzten, aus einer engen Biegung drängte, sich in weiterer Folge verbreiterte und an Schwung verlor. Die Stromschnellen wurden flacher und die Tara breiter. Sie schimmerte in einem klaren, hellen Grün, das so friedlich schien, dass sie unweigerlich zum Schwimmen einlud. Kaum zu glauben ihre Wildheit, die sie ein paar Kilometer zuvor noch gezeigt hatte. Myra sprang die Steine entlang, sah hinter sich und beugte sich tief hinunter. Wusch sich Gesicht und Hände mit dem erfrischend kalten Wasser, spülte die Flasche aus und füllte sie neu. Dann kletterte sie über die Felsen, zwängte sich durch ein wildes, dichtes Gestrüpp, das bis an die Tara reichte und kam an eine kiesbedeckte Fläche, die über dreißig Schritte keine Deckung bot. Geradezu ideal für ihr Vorhaben.
Nachdenklich beobachtete sie den Strandabschnitt, der in der gleißenden Nachmittagssonne vor ihr lag, ging hinaus und schaute zurück. Der Fluss lag ruhig wie ein See. Am Uferrand, durch ein halbes Dutzend Birken getrennt, waren Spuren von alten Lagerfeuern, Ringe aus geschwärzten Steinen und angeschwemmtem oder gesammeltem Holz. Ein beliebter Platz unter Kanufahrern, die hier Pause machten oder vielfach sogar eine Nacht verbrachten. Sie lief im Zickzackkurs los, überwand die offene Fläche, sprang über Felsen und umging einen riesigen Felsbrocken, der eine natürliche Barriere bildete. Im Kopf suchte sie bereits die richtige Stelle, an der sie auf ihren Verfolger warten würde, maß die Entfernung zum Wald, schaute auf den Winkel der Sonne und prallte zurück.
Hinter dem Fels lag ein Mensch.
Klein, zusammengekrümmt, ein Häufchen Elend, das sich in Hustenkrämpfen schüttelte, wieder still lag. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig.
»Oh mein Gott!«
Myra holte tief Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, während sie zu dem Bündel Mensch rannte, die sie bereits verloren glaubte.
»Susanna«, rief sie und warf sich vor ihr auf die Knie, ignorierte den Schmerz. Das Mädchen stöhnte verhalten.
»Myra, du bist da, das ist gut.«
»Susanna! Ich dachte schon, du bist ertrunken. Du hast die Stromschnellen überlebt. Du scheinst einen guten Schutzengel zu haben.«
Das Mädchen hustete wieder und zog die Knie und Arme fest an ihren Körper. »Mir ist so kalt.«
»Kannst du gehen? Kannst du dich bewegen.« Myra betrachtete mit gerunzelter Stirn die Abschürfungen und Quetschungen, die blutigen Furchen an ihren Armen und strich ihr innerlich hin und hergerissen, über den Kopf.
Manche Menschen haben einfach mehr Glück, als sie verdienen, dachte sie und musste fast lachen. Über die Ironie des Schicksals, das Karma des Bösen oder wie immer sie das sehen sollte. Susanna hatte im Fluss überlebt, aber ihr das geplante Vorhaben vereitelt und ihrem Peiniger vorerst das Leben gerettet.
An irgendetwas muss man glauben. Das tut eigentlich jeder. Selbst Atheisten glauben an irgendetwas, und sei es nur das eigene Leben und ihre Art, die Welt zu sehen. Andernfalls würden sie wohl verrückt werden. Und Myra glaubte in diesem Moment fest daran, dass es einer höheren Bestimmung dienen musste, dass der Kerl, der hinter ihnen her war, noch eine Chance bekam.
Susanna schaute Myra an und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ja. Ja, ich denke, ich schaffe das. Es ist nichts gebrochen«, sagte sie und bewegte Arme und Beine. »So schnell bin ich nicht kleinzukriegen, nicht wahr. Sogar die Tara hat mich ausgespuckt.«
Myra lachte erleichtert.
»Ja. Du bist zäh, wie eine Katze und hast offenbar genauso viele Leben. Aber sei nicht leichtsinnig damit, auch Schutzengel müssen irgendwann schlafen, und Katzen haben nur sieben Leben, dann ist´s vorbei damit. Und jetzt komm. Wir müssen hier weg. Einer ist noch am Leben. Wir müssen in den Wald, uns verstecken.«
Sie half dem Mädchen hoch und gemeinsam kämpften sie sich bis zu den Bäumen, die das Ufer säumten und noch ein Stück höher. Von hier aus konnte Myra den Strand überblicken und würde reagieren können, wenn ihr Verfolger auftauchte. Obwohl sie in diesem Augenblick nicht wusste, was sie unternehmen könnte, außer sich zu verstecken oder ihn von Susanna fortzulocken.
»Zwei haben wir erledigt«, überlegte das Mädchen und verstummte, als hätte sie ohnehin schon zu viel preisgegeben. Sie schaute auf die Tara, die unschuldig unter ihnen in der Sonne glitzerte.
»Einen habe ich getötet«, murmelte Myra und vermied es, das Mädchen anzusehen. »Zwei Pfeile ins Herz.«
»Wir müssen den anderen auch noch töten«, sagte das Mädchen mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einer tiefen Höhle. »Er wird uns jagen und nicht in Ruhe lassen, bis er uns zur Strecke gebracht hat. Wir müssen ihm zuvorkommen.«
»Iss, du brauchst Kraft«, erwiderte Myra, ohne näher auf ihre Worte einzugehen, kramte in Heimos Provianttasche und reichte ihr einen Müsliriegel. Susanna brach ein kleines Stück ab und steckte es in den Mund.
»Er wird uns hetzen, bis wir nicht mehr weiterkönnen«, setzte sie nach.
»Er hat noch immer ein Gewehr und ich habe nur Pfeile«, entgegnete Myra und legte die Hand auf ihren Köcher, in dem noch ein halbes Dutzend steckten.
»Trotzdem,« meinte Susanna beschwörend und fixierte Myras Gesicht.
»Wir gehen nach Nordwesten, dort ist eine Stadt. Wenn wir die oder eine Straße finden, sind wir in Sicherheit«, bestimmte Myra, stützte das Mädchen beim Aufstehen und führte sie den Berg hinauf. Das Adrenalin, das sie die letzte Stunde getragen hatte, ließ nach und sie spürte allmählich jeden Knochen im Leib.
Wie muss es erst Susanna gehen, fragte sie sich und musterte das Mädchen von der Seite, das offenbar tapferer und stärker war, als jeder andere Mensch, den sie kannte.
Sie folgten einem Hirschpfad, der in einen Taleinschnitt ging, der wie eine überdimensionale Kerbe in die Landschaft geschnitten war und den Weg bergauf nicht allzu beschwerlich machte. Nach einer halben Stunde fanden sie Himbeersträucher, voll mit süßen Früchten und pflückten sie hastig und hungrig.
»Iss, soviel du kannst«, sagte Myra und zupfte die Beeren von den Sträuchern, ohne auf die Dornen oder ihre zerkratzten Arme zu achten. »Mehr als die und den Müsliriegel haben wir nicht.« Sie stopfte sich eine Handvoll in den Mund, warf aber die meisten für später in die Tasche. Der Wind hatte aufgefrischt, wehte durch Gras und Blumen und brachte den Duft nach heißen Kiefern mit. Myra neigte den Kopf und lauschte, jeden Moment darauf bedacht, Schritte hinter sich zu hören, ein Knacken von Zweigen oder andere Anzeichen, die ihren Verfolger verrieten, aber der Hunger war einfach zu groß, um die Gelegenheit vorüberziehen zu lassen. Sie warf sich die letzten Beeren in den Mund, legte dabei den Kopf zurück und betrachtete den Himmel, der so makellos glänzte, wie blaue Seide.
Gestärkt gingen sie weiter und folgten dem Hirschpfad weiter nach oben.
Auf dem Kamm angekommen, liefen sie durch Eichen und Kiefern einen leichten Abhang hinunter, bis sie zu einem schmalen Bach kamen, an dem die einzigen Spuren von Hirschen, Rehen und Wildschweinen stammten. Myra hockte sich zum Ufer, rupfte kleine grüne Blätter, wusch sie im Bach und steckte sie in den Mund.
»Brunnenkresse«, sagte sie, beugte sich nach vor und drückte Susanna ein Büschel in die Hand. »Schmeckt etwas pfeffrig, hat aber viel Vitamin C.« Sie lächelte verschmitzt und stand wieder auf.
Es war angenehm kühl hier im Schatten und roch nach frischem Gras und dem Harz der Kiefern ringsum. Die Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen, schienen sich im klaren Wasser, das über flache Steine plätscherte, in ihre Bestandteile aufzulösen und auf den winzigen Wellen zu tanzen. Nachdenklich schaute sie sich um, die Umgebung schien ihr plötzlich seltsam vertraut.
»Warum bin ich nicht früher auf die Idee gekommen?«
Irritiert sah Susanna hoch, steckte sich noch ein paar der kleinen Blätter in den Mund und verzog das Gesicht.
»Wir sind in der Nähe ihrer Hütte, dort sind auch ihre Wagen.« Myra drehte sich zur Seite und starrte zurück auf den Weg, den sie gekommen waren, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie hatte nicht den Hauch eines Zweifels, dass der Kerl, der ihnen nach dem Leben trachtete, immer noch dort hinten war und ihren Spuren folgte. Er wartete nur, dass sie in ihrer Aufmerksamkeit nachließen oder vor Erschöpfung liegen blieben.
»Ich will nicht zu der Hütte.«
»Komm schon, wenn wir einen Wagen nehmen können, sind wir in Sicherheit.«
»Ich gehe nicht zu dieser verdammten Hütte«, wiederholte Susanna kopfschüttelnd. Ihr Blick schweifte mürrisch zur Seite und sie kniff die Lippen zusammen.
»Ich verstehe, dass das nicht einfach für dich ist. Du hast bis jetzt eine innere Stärke und Mut bewiesen, der kaum zu übertreffen ist. Von Menschen wie mir schon gar nicht. Aber ich muss eine Entscheidung treffen. Wir können nicht die nächsten Tage durch diese Wälder irren und uns von Kräutern und Beeren ernähren. Der Kerl wird uns so lange jagen, bis er uns erwischt oder wir zusammenbrechen und liegen bleiben. Unsere einzige Alternative wäre, ihm eine Falle zu stellen. Aber dazu bräuchten wir eine Gelegenheit, Zeit, sowie einen Ausweg, falls er nicht in die Falle läuft. Sonst sind wir verloren und er am Ende der Sieger.«
Susanna blinzelte, vermutlich vor mühsam unterdrücktem Zorn und schaute auf ein paar welke Blätter der Eichen, die eine leichte Brise vor sich herschob und ins Wasser wehte, wo sie alsbald untergingen. Für sie war das Leben vorbei, sobald sie abgeworfen wurden. Entweder sie wurden von Hufen zermalmt, vom Wasser ertränkt oder vermoderten am Boden, um Nahrung für neues Leben zu sein. Eine Weile herrschte drückendes Schweigen.
Myra wartete auf eine Antwort, eine Reaktion, und senkte schließlich resigniert die Schultern. »Dann gehen wir bis zur Straße, du bleibst dort und ich hole dich ab. Falls ich es nicht schaffen sollte, weil der Kerl mehr Glück hat, als ich oder noch einer übrig ist, von dem wir nichts wissen, hast du wenigstens einen Anhaltspunkt und einen Weg, an dem du in die Stadt findest.«
»Klingt schön und gut. Da ist nur mehr einer hinter uns her. Und ob er bis jetzt Glück gehabt hat oder einfach seine Zeit noch nicht gekommen ist, weiß ich nicht. Aber es gibt nur diese eine Straße ins Dorf und wenn er deinen Plan durchschaut, wird er irgendwo auf uns lauern. Er braucht dann nur warten, bis wir kommen, und schießt uns ab wie ein paar herumirrende Hasen.«
»Einen Versuch ist es wert, oder nicht?«, grinste Myra mit bedrückter Miene und neigte den Kopf.
Reinhard Frost lief die Tara entlang und versuchte seine Augen überall zu haben. Sie hatten dieses Drecksstück mit ihrem Bogen unterschätzt, das aus dem Nichts gekommen war und ihre schöne Jagd ins Gegenteil verkehrt hatte. Er zwängte sich durch dichtes Unterholz, weil es ihm zu gefährlich schien, es zu umgehen. Sprang über Steine und kletterte Felsen hinauf und hinunter. Immer in Bewegung bleiben. Kein Ziel abgeben.
Seine Blicke huschten über den Boden, suchten nach Spuren, wischten über das bewaldete Ufer und verharrten auf der Tara. Er traute ihr durchaus auch zu, dass sie hinter einem Felsen hervorsprang oder sogar im Wasser saß und auf ihn lauerte, um einen ihrer verdammten Pfeile auf ihn abzuschießen.
Der Tod von Heimo, sein verdutztes Gesicht, das in eine andere Welt schaute, als ob er sich fragen würde, was er dort sollte, hatte ihn in einem Maß erschüttert, dass er nie für möglich gehalten hätte. Wahrscheinlich, weil es ihn an seine eigene Sterblichkeit erinnerte.
Diese falsche Schlange musste Heimo überrascht und hinterrücks auf ihn geschossen haben.
Trotz der mörderischen Hitze kroch ihm ein Frösteln über das Rückgrat bis hinauf in den Nacken. Er zog den Kopf ein und machte sich bereit bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr in Deckung zu springen.
Reinhard wollte nicht von Pfeilen aufgespießt sterben. Das wäre einfach nicht fair. Sie waren die Jäger und die Schlampen die Hasen, nicht umgekehrt.
Verdammt! Wie konnte es bloß so weit kommen, dass der Spaß, den sie all die Jahre zuvor gehabt hatten, diesmal so aus dem Ruder lief?
Zu spät bemerkte er, dass die Frau sich längst vom Fluss abgewandt haben musste, um im Wald zu entkommen. Denn er stand an einer hoch aufragenden Steilwand, vor der sich der Fluss in aufgewühlten Stromschnellen brach. Unmöglich hier weiterzukommen. Fluchend bahnte er sich über Steine und Geröll einen Weg zurück, wohl wissend, dass er ein leichtes Ziel abgab, sollte die Schlange hinter ihm sein.
Das war ein Fehler, der auch ins Auge hätte gehen können. Soviel gestand er sich ein, als er schwitzend und keuchend auf den Platz mit den Birken zurückgekehrt war und sich umsah. Die Sonne warf ein Netz aus Licht und Schatten vor ihm auf den Boden.
Denk nach, sagte er sich. Wohin würdest du gehen? Wohin würdest du dich wenden? Du wirst verfolgt. Du bist der Gejagte.
Und dann war alles plötzlich ganz klar. Sie war diesen Taleinschnitt hinaufgegangen, der einzige Weg, der hier herausführte. Mit wenigen Schritten tauchte Reinhard im Wald unter. Er hörte den Wind, der in den Baumkronen wehte und fand auch sofort den Hirschpfad.
Deine Zeit ist gekommen, triumphierte er eine halbe Stunde später und betrachtete verzückt den Schuhabdruck, den er am Bach gefunden hatte.
Sie war also hier, der Abdruck im feuchten Erdreich war noch frisch, kein bisschen angetrocknet.
In seinen Ohren pochte das Blut und eine wilde Freude bemächtigte sich seiner. Das Schicksal hatte sein Leben wieder auf die rechte Bahn geführt. Er war der Jäger und das Miststück die Gejagte.
Gelassen kniete er sich am Bach nieder und gab acht, den Fußabdruck sorgfältig zu vernichten. Sollte zufällig ein Wanderer hier vorbeikommen, durfte er keinesfalls merken, dass hier ein Mädchen seinen Weg gekreuzt hätte. Er schöpfte mit beiden Händen Wasser, trank es genussvoll und ließ es sich dann über den Kopf laufen. Sein Gesicht war nachdenklich, beinahe friedlich, als er die Umgebung betrachtete und überlegte, wohin sie sich gewandt haben könnte. Der Wind blies Blätter von den Bäumen und ließ sie in nördliche Richtung schweben. Reinhard nickte versöhnlich und setzte sich in Bewegung.
* * *
»Keine Chance, ich habe keinen Empfang.« Zoran Novak klappte sein kleines blaues Handy zu, steckte es weg und griff wieder nach dem Funkgerät auf dem Armaturenbrett seines Wagens. Er stellte einen Fuß in die geöffnete Beifahrertür und legte die linke Hand auf das Autodach. Sein Blick wanderte die Straße entlang, streifte die Bäume am Rand, die staubigen Sträucher und verlor sich in der nächsten Kurve, ohne tatsächlich etwas zu sehen.
»Stefan. Stefan bitte kommen.« Nur das statische Rauschen der Elektronik, das aus den unendlichen Wäldern, die sie umgaben, zu kommen schien, antwortete ihm.
Missmutig drehte er an Knöpfen, verstellte die Tonstärke und wechselte den Kanal.
Nichts.
»Entweder er ist in einem Funkloch und nicht erreichbar, sein Gerät ist defekt, ohne Akku oder er hat ein Problem.« Zoran musterte den hageren Mann vor ihm, der rastlos die Straße auf und ablief und seine Hände tief in den Hosentaschen vergrub. Sich über den Kopf fuhr oder an den Seiten seiner abgewetzten Jeans abwischte, weil er nicht wusste, wohin damit. Zu den Jeans trug er ein durchscheinendes weißes Hemd und ausgetretene Sportschuhe ohne Socken.
Vielleicht hat er das Funkgerät aber auch, wie so oft, einfach im Wagen liegen gelassen, dachte Zoran. Weil Stefan es hasste, wenn er unterwegs war und Wanderer, Touristen oder Jäger beobachtete, und das Ding plötzlich zum Leben erwachte und ihn für alle Welt sichtbar machte.
Er griff nach den Zigaretten, zog eine mit dem Mund heraus, zündete sie mit seinem Zippo an und ließ den Deckel zuschnappen. Der Mann schaute kurz zu ihm herüber, dann richtete sich sein Blick in die Ferne.
»Wollen sie auch eine Zigarette?«, winkte Zoran und wedelte mit der Packung. Erleichter nickte der Mann und nahm dankbar die Zigaretten.
»Ich habe meine im Hotel vergessen. Ich bin im Moment etwas durch den Wind, müssen sie wissen.« Er klopfte sich eine aus der Schachtel und ließ sich von Zoran Feuer geben. Dabei behielt er den Mann im Auge, während der Rauch aus seinem Mund rollte und in die Luft wirbelte. Eine Weile war es still, bis auf die Vögel, die in den Zweigen lärmten und die Zikaden in den Sträuchern, die ihr Nachmittagskonzert anstimmten. Zoran verwünschte Sally, ihre Bürohilfe, die ihn gebeten hatte, den Mann in die Wälder mitzunehmen, weil er sich nicht und nicht mit den Antworten zufriedengeben wollte, die sie für ihn hatte. Er war seit zwei Tagen bei ihr im Büro und ließ sich nicht abwimmeln. Seine Augen voller Schmerz, aber auch mit dem argwöhnischen Funkeln eines Menschen, der wahrscheinlich schon öfter vom Leben hintergangen wurde.
Nur deshalb war er hier. Um Sally eine Pause zu gönnen. Zoran nahm einen letzten tiefen Zug von der Zigarette, warf sie Funken sprühend auf den Asphalt und trat mit dem Stiefelabsatz drauf.
Er griff wieder zum Funkgerät und rief in der Zentrale an.
»Hallo Sally, hast du in der Zwischenzeit von Stefan gehört? Ich bekomme ihn auch hier oben nicht ans Gerät.« Seine Miene wurde ausdruckslos, ohne dass er sich dessen bewusst zu sein schien.
»Nein. Er hat sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet und ich kann ihn nicht erreichen. Was denkst du denn?«, antwortete die dunkle Stimme der Frau. Und selbst über die Entfernung und das Knacken und Rauschen der schlechten Verbindung konnte er hören, wie verzagt sie klang.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber du kennst Stefan, er meldet sich auch schon mal drei Tage nicht, steht dann im Büro und tut, als ob er nur kurz draußen gewesen wäre.«
»Bring ihn nach Hause, okay?«, erwiderte Sally, und Zoran spürte das kalte Brennen einer Ahnung in seinem Herzen, wagte aber nicht, ihr zu widersprechen. Er wandte die Augen von dem Mann ab, um ihn die Sorge darin nicht lesen zu lassen. Schließlich war er hier, weil seine Tochter seit Tagen vermisst war.
»Es gibt da oben noch eine Hütte«, sagte Sally schnell, bevor Zoran die Verbindung unterbrechen konnte. »Die Besitzer kommen nur ein oder zwei Mal im Jahr zur Jagd hierher. Meist im Frühjahr oder Herbst. Im Sommer habe ich sie noch nie in der Stadt gesehen. Ich weiß nicht, ob sie zurzeit da sind.« Zoran meinte so etwas wie leise Hoffnung in ihren Worten zu hören. »Vielleicht hat der Sturm letzten Monat irgendetwas an ihrem Haus zerstört, dass er provisorisch reparieren wollte, um schlimmere Schäden zu vermeiden und ist damit aufgehalten. Immerhin liegt das Haus in der äußersten Ecke des Parks weitab der Straße, aber die Besitzer kommen in den Ort zum Einkaufen und sind immer freundlich und höflich. Du weißt, wie Stefan ist, wenn er helfen kann, fragt er nicht lange.«
»Du hast recht, das ist eine größere Blockhütte, soviel ich weiß. Wir schauen dort auch noch vorbei«, antwortete Zoran. »Ich melde mich dann später wieder.«
Karl Michaelis musterte Zoran einen Moment lang prüfend, dann schüttelte er den Kopf und ging über die Straße. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. »Wir waren den ganzen Tag unterwegs und haben weder ihren Kollegen noch sonst jemand, und erst recht nicht meine Tochter gefunden. Wir haben den halben Wald durchkämmt. Ich denke, wir sollten in die Stadt zurückkehren. Nichts für ungut, aber die Spur ist kalt. Ich muss mein Mädchen woanders suchen.«
Gedankenverloren massierte er seinen Nacken, drehte sich um, schaute über das Meer von Bäumen unter ihm und seufzte resigniert. Das Tal vor ihm war praktisch unbewohnt und zeigte keinerlei Spuren von Zivilisation.
»Dieser Wald ist riesig«, sagte Zoran und trat neben ihn. Wir haben nur einen kleinen Teil davon angekratzt. Wenn sie hier irgendwo ist, könnte sie hinter jeder Biegung, hinter jedem Felsen, hinter jedem Baum sein, und wir laufen an ihr vorbei.« Er schlug nach ein paar Mücken, die sich auf seinem Hals niedergelassen hatten, um sein Blut zu saugen. »Ich habe es ihnen gesagt, bevor wir weggefahren sind, dass die Chancen sie zu finden, sehr, sehr klein sind.« Er sah ein Zucken in Karls aufgesetzter Geduld, bevor sich dieser abwandte und mit dem Finger auf das Tal zeigte.
»Dort unten ist doch irgendwo ein Fluss, nicht wahr?«
»Ja, die Tara«, antwortete Zoran, und fragte sich, worauf der Mann hinauswollte.
»Können wir nicht Hubschrauber oder Suchhunde einsetzen?«
Der Ranger lachte ein bitteres Lachen, verstummte aber sofort wieder, als er in Karls zusammengekniffenes Gesicht schaute und den Schmerz darin sah.
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 8 und damit das Ende
								
									Zuletzt bearbeitet: